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Document 62013CJ0314

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 12. Juni 2014.
Užsienio reikalų ministerija und Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba gegen Vladimir Peftiev u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas.
Vorabentscheidungsersuchen – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen gegen Belarus – Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen – Ausnahmen – Zahlung von Honoraren im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen – Ermessen der zuständigen nationalen Behörde – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Einfluss der rechtswidrigen Herkunft der Gelder – Fehlen.
Rechtssache C‑314/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:1645

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

12. Juni 2014 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik — Restriktive Maßnahmen gegen Belarus — Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen — Ausnahmen — Zahlung von Honoraren im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen — Ermessen der zuständigen nationalen Behörde — Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz — Einfluss der rechtswidrigen Herkunft der Gelder — Fehlen“

In der Rechtssache C‑314/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Litauen) mit Entscheidung vom 3. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juni 2013, in dem Verfahren

Užsienio reikalų ministerija,

Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba

gegen

Vladimir Peftiev,

BelTechExport ZAO,

Sport-Pari ZAO,

BT Telecommunications PUE

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Peftiev, der BelTechExport ZAO, der Sport-Pari ZAO und der BT Telecommunications PUE, vertreten durch V. Vaitkutė Pavan und E. Matulionytė, advokatės,

der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und J. Nasutavičienė als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Konstantinidis und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18. Mai 2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus (ABl. L 134, S. 1) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 84/2011 des Rates vom 31. Januar 2011 (ABl. L 28, S. 17) und die Verordnung (EU) Nr. 588/2011 des Rates vom 20. Juni 2011 (ABl. L 161, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 765/2006).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits des Užsienio reikalų ministerija (Ministerium für auswärtige Angelegenheiten) und des Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba (Ermittlungsdienst für Finanzstraftaten beim Ministerium des Inneren) gegen Herrn Peftiev, die BelTechExport ZAO, die Sport-Pari ZAO und die BT Telecommunications PUE (im Folgenden: Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens), bei dem es um restriktive Maßnahmen gegen die Letztgenannten geht.

Rechtlicher Rahmen

3

Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 765/2006 lautet:

„Am 24. März 2006 bedauerte der Europäische Rat, dass die Regierung von Belarus die [Verpflichtungen im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)] zu demokratischen Wahlen nicht eingehalten hat, war der Ansicht, dass die Präsidentschaftswahlen vom 19. März 2006 mit grundlegenden Mängeln behaftet waren, und verurteilte das Vorgehen der belarussischen Behörden, die an jenem Tag friedliche Demonstranten festnahmen, die ihr legitimes Recht auf Versammlungsfreiheit wahrgenommen hatten, um gegen den Ablauf der Präsidentschaftswahlen zu protestieren. Der Europäische Rat beschloss daher, dass restriktive Maßnahmen gegen diejenigen ergriffen werden sollten, die für die Verletzung internationaler Wahlstandards verantwortlich sind.“

4

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2006 sieht vor, dass sämtliche Finanzmittel und wirtschaftlichen Ressourcen, die Präsident Lukaschenko und bestimmten anderen belarussischen Amtsträgern sowie den natürlichen und juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die mit diesen in Verbindung stehen, wie in Anhang I aufgeführt, gehören, eingefroren werden.

5

Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 765/2006 dürfen den in der Liste in Anhang I aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.

6

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 765/2006 bestimmt:

„Abweichend von Artikel 2 können die auf den Websites in Anhang II angegebenen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Freigabe bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen oder die Bereitstellung bestimmter eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen unter ihnen angemessen erscheinenden Bedingungen genehmigen, nachdem sie festgestellt haben, dass diese Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen

a)

zur Befriedigung der Grundbedürfnisse der in Anhang I bzw. Anhang IA aufgeführten Personen und ihrer unterhaltsberechtigten Familienangehörigen, unter anderem für die Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten oder Hypotheken, Medikamenten und medizinischer Behandlung, Steuern, Versicherungsprämien und Gebühren öffentlicher Versorgungseinrichtungen, erforderlich sind;

b)

ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen …

…“

7

Nach Anhang II der Verordnung Nr. 765/2006 ist die zuständige Behörde für Litauen das Užsienio reikalų ministerija.

8

Nach Nr. 3 des Dokuments „Bewährte Praktiken der EU für die wirksame Umsetzung restriktiver Maßnahmen“ in der Fassung vom 24. April 2008 (Dokument 8666/1/08 REV 1, im Folgenden: die bewährten Praktiken) sind diese als nichterschöpfende Empfehlungen allgemeiner Natur für die wirksame Umsetzung restriktiver Maßnahmen im Einklang mit dem geltenden Gemeinschafts-/Unionsrecht und einzelstaatlichen Recht zu betrachten. Sie sind nicht rechtlich bindend und sollten nicht als Empfehlung für Maßnahmen aufgefasst werden, die mit dem geltenden Gemeinschafts-/Unionsrecht oder einzelstaatlichen Recht, einschließlich Datenschutzvorschriften, unvereinbar wären.

9

Die Nrn. 54 und 55 von Titel C Kapitel VII („Befreiungen aus humanitären Gründen“) der bewährten Praktiken lauten:

„54

In diesem Abschnitt geht es nur um die Anwendung der sogenannten Befreiung aus humanitären Gründen, mit der dazu beigetragen werden sollte, dass die Grundbedürfnisse gelisteter Personen gedeckt werden können, und nicht um andere Befreiungen (z. B. von Ausgaben für Rechtsdienstleistungen oder außerordentliche Ausgaben).

55

Die zuständige Behörde hat zwar im Einklang mit Buchstaben und Geist der Verordnungen zu handeln, muss bei der Gewährung von Befreiungen zwecks Deckung der Grundbedürfnisse aber die Grundrechte berücksichtigen.“

10

Die Nrn. 57 und 59 bis 61 von Titel C Kapitel VIII („Leitlinien für die Prüfung von Anträgen auf Befreiung“) lauten:

„57

Gelistete Personen und Vereinigungen können eine Genehmigung für die Verwendung ihrer eingefrorenen Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen, z. B. zur Befriedigung eines Gläubigers, beantragen. …

59

Eine Person oder Vereinigung, die einer gelisteten Person oder Vereinigung Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen bereitstellen will, muss eine Genehmigung dafür beantragen. Bei der Prüfung solcher Anträge sollten die zuständigen Behörden u. a. zur Begründung des Antrags vorgelegte Nachweise berücksichtigen wie auch die Frage, ob die Beziehungen des Antragstellers zur gelisteten Person oder Vereinigung dergestalt sind, dass sie nahe legen, dass beide möglicherweise zur Umgehung der Einfriermaßnahmen zusammenarbeiten.

60

Bei der Prüfung von Anträgen auf Genehmigung der Verwendung eingefrorener Gelder oder wirtschaftlicher Ressourcen oder der Bereitstellung von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen sollten die zuständigen Behörden alle weiteren Nachforschungen anstellen, die sie unter den gegebenen Umständen für angebracht halten, wozu auch die Konsultation anderer Mitgliedstaaten mit einem einschlägigen Interesse gehören kann. Auch sollten die zuständigen Behörden Bedingungen oder Sicherheiten in Betracht ziehen, um zu verhindern, dass freigegebene Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen für Zwecke verwendet werden, die mit der Befreiung unvereinbar sind. So wären beispielsweise direkte Banküberweisungen Barauszahlungen vorzuziehen.

Bei der Erteilung einer Genehmigung sollten erforderlichenfalls auch entsprechende Bedingungen oder Beschränkungen erwogen werden (z. B. in Bezug auf den Umfang oder den Wiederverkaufswert von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen, die jeden Monat bereitgestellt werden können), wobei die in den Verordnungen festgelegten Kriterien zu berücksichtigen sind. Jede Genehmigung sollte schriftlich erteilt werden, und zwar vor Verwendung oder Bereitstellung der betreffenden Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen.

61

Die Verordnungen verpflichten die zuständigen Behörden, den Antragsteller und die anderen Mitgliedstaaten davon zu unterrichten, ob der Antrag bewilligt wurde. …“

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

11

Durch die Verordnung Nr. 588/2011 und durch den Beschluss 2011/357/GASP des Rates vom 20. Juni 2011 zur Änderung des Beschlusses 2010/639/GASP über restriktive Maßnahmen gegen einzelne belarussische Amtsträger (ABl. L 161, S. 25) wurden die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens in die Liste der Personen aufgenommen, gegen die restriktive Maßnahmen erlassen wurden, die in den Mitgliedstaaten der Union anwendbar sind.

12

Um gegen diese restriktiven Maßnahmen anzugehen, wandten sie sich an eine litauische Anwaltskanzlei, die Nichtigkeitsklagen beim Gericht der Europäischen Union erhob (Rechtssachen BelTechExport/Rat, T‑438/11 [ABl. 2011, C 290, S. 15], Sport-Pari/Rat, T‑439/11 [ABl. 2011, C 290, S. 15], BT Telecommunications/Rat, T‑440/11 [ABl. 2011, C 290 S. 16] und Peftiev/Rat, T‑441/11 [ABl. 2011, C 290, S. 17]).

13

Am 3. August 2011 stellte die Anwaltskanzlei im Namen der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens vier Rechnungen für die erbrachten juristischen Dienstleistungen aus, aufgrund deren die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens auf das Bankkonto dieser Kanzlei die entsprechenden Beträge überwiesen. Die überwiesenen Beträge wurden jedoch auf dem Bankkonto der betreffenden Anwaltskanzlei gemäß den von der Union erlassenen restriktiven Maßnahmen eingefroren.

14

Nach Art. 3 der Verordnung Nr. 765/2006 beantragten die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens in der Zeit vom 2. bis zum 6. Dezember 2011 beim Užsienio reikalų ministerija und beim Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba, die Maßnahmen des Einfrierens der finanziellen Mittel nicht anzuwenden, soweit diese notwendig seien, um die in Rede stehenden juristischen Dienstleistungen zu bezahlen.

15

Mit Bescheiden vom 4. Januar 2012 entschied das Užsienio reikalų ministerija, den Rechtsmittelgegnern des Ausgangsverfahrens die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 vorgesehene Ausnahme nicht zu bewilligen. In diesen Bescheiden wird ausgeführt, dass „sämtliche rechtlichen und politischen Umstände berücksichtigt worden [sind]“. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hat das Užsienio reikalų ministerija bei der Prüfung des Verwaltungsvorgangs angegeben, es besitze Informationen, wonach die Gelder der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens, die zur Vergütung der von der betreffenden Anwaltskanzlei erbrachten juristischen Dienstleistungen bestimmt seien, unrechtmäßig erworben worden seien.

16

Am 19. Januar 2012 erließ der Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba Bescheide, in denen er ausführte, er könne den Anträgen der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens auf Ausnahmebewilligung wegen der Weigerung des Užsienio reikalų ministerija nicht stattgeben.

17

Die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens erhoben beim Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionales Verwaltungsgericht Vilnius) Klage mit dem Antrag, die Bescheide des Užsienio reikalų ministerija vom 4. Januar 2012 sowie die Bescheide des Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba vom 19. Januar 2012 aufzuheben und den Beklagten aufzugeben, ihre Anträge erneut zu prüfen und begründete Entscheidungen zu fällen, mit denen das geltende Recht berücksichtigt werde.

18

Mit Urteil vom 27. August 2012 gab das Vilniaus apygardos administracinis teismas den Klagen der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens in vollem Umfang statt und verwies ihre Anträge an das Užsienio reikalų ministerija und den Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba zu neuer Prüfung.

19

Das Užsienio reikalų ministerija legte gegen das Urteil des Vilniaus apygardos administracinis teismas Rechtsmittel beim Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberster Verwaltungsgerichtshof Litauens) ein und beantragte die Aufhebung dieses Urteils sowie den Erlass eines neuen Urteils. Der Finansinių nusikaltimų tyrimo tarnyba stellte ebenfalls einen solchen Antrag.

20

Vor dem vorlegenden Gericht macht das Užsienio reikalų ministerija unter Berufung auf den Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 geltend, dass es über ein freies Ermessen für die Entscheidung verfüge, ob es die in Rede stehende Ausnahme bewillige. Diese Auslegung werde dadurch bestätigt, dass es um politische Belange gehe, die die auswärtigen Beziehungen der Mitgliedstaaten mit anderen Staaten berührten, und auf diesem Gebiet müssten die Mitgliedstaaten über einen größeren Handlungsspielraum verfügen.

21

Das vorlegende Gericht vertritt jedoch die Ansicht, dass in Anbetracht der bewährten Praktiken und der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Auslegung dieser Bestimmung der Notwendigkeit Rechnung tragen müsse, den Schutz der Grundrechte zu gewährleisten, zu denen der Anspruch auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf gehöre. In dieser Hinsicht sei die einzige Möglichkeit, die Aufhebung der restriktiven Maßnahmen zu erwirken, die Erhebung einer Klage beim Gericht, doch dafür sei nach den Art. 43 und 44 der Verfahrensordnung des Gerichts die Vertretung durch einen Rechtsanwalt unerlässlich. In Rechtssachen dieser Art gehe das Gericht umfassend auf Prozesskostenhilfeanträge der Kläger ein und gewähre diese im Bedarfsfall auch.

22

Der Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen, dass die Behörde, die für die Gewährung einer Ausnahme nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung zuständig ist, nach freiem Ermessen über die Gewährung dieser Ausnahme entscheidet?

2.

Bei Verneinung der ersten Frage: Nach welchen Kriterien sollte die Behörde vorgehen und an welche Kriterien ist sie gebunden, wenn sie eine Entscheidung über die Gewährung einer Ausnahme nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 trifft?

3.

Ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen, dass die Behörde, die für die Gewährung der genannten Ausnahme zuständig ist, berechtigt oder verpflichtet ist, bei der Prüfung der Frage, ob die beantragte Ausnahme zu gewähren ist, u. a. zu berücksichtigen, dass die Antragsteller ihre Grundrechte durchsetzen wollen (in diesem Fall ihr Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz), obwohl sie auch sicherstellen muss, dass, wenn im konkreten Fall eine Ausnahme gewährt wird, das Ziel der vorgesehenen Sanktion nicht unterlaufen und die Ausnahme nicht missbraucht wird (beispielsweise wenn der für die Sicherstellung des gerichtlichen Rechtsschutzes vorgesehene Betrag in keinerlei Verhältnis zu den erbrachten juristischen Dienstleistungen stünde)?

4.

Ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen, dass einer der Rechtfertigungsgründe für die Versagung der Ausnahme nach dieser Vorschrift sein kann, dass die Gelder, für deren Verwendung von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht werden soll, unrechtmäßig erworben wurden?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 1 bis 3

23

Mit seinen Fragen 1 bis 3, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen ist, dass die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung über einen Antrag auf Ausnahmebewilligung, der nach dieser Bestimmung für die Einreichung einer Klage gestellt wird, mit der die Rechtmäßigkeit von der Union verhängter restriktiver Maßnahmen angefochten werden soll, über ein freies Ermessen verfügt, und verneinendenfalls, welche Umstände und welche Kriterien diese Behörde zu berücksichtigen hat.

24

Entscheidet die zuständige nationale Behörde nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 über einen Antrag auf Freigabe eingefrorener Gelder, so setzt sie Unionsrecht um. Daher ist sie gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gehalten, diese zu beachten.

25

Da mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 bezweckt ist, den Zugang zu juristischen Dienstleistungen zu erleichtern, ist diese Bestimmung im Einklang mit den Anforderungen auszulegen, die sich aus Art. 47 der Charta ergeben. Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf betrifft, sieht vor, dass sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen kann. Art. 47 Abs. 3 der Charta sieht ausdrücklich vor, dass Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, Prozesskostenhilfe bewilligt wird, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.

26

Daher ist Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 im Einklang mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein Einfrieren von Geldern nicht zur Folge haben darf, dass Personen, deren Gelder eingefroren worden sind, ein wirksamer Zugang zu den Gerichten versagt wird.

27

Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 19 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 43 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichts eine Klage wie die, die von den Rechtsmittelgegnern des Ausgangsverfahrens eingereicht worden ist und um die es in der Vorlageentscheidung geht, nur von einem Anwalt unterzeichnet werden darf.

28

Das in Art. 19 der Satzung des Gerichtshofs normierte Erfordernis hat seinen Grund darin, dass der Anwalt als ein Mitgestalter der Rechtspflege betrachtet wird, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt (vgl. in diesem Sinne Urteile AM & S Europe/Kommission, 155/79, EU:C:1982:157, Rn. 24, Akzo Nobel Chemicals und Akcros Chemicals/Kommission, C‑550/07 P, EU:C:2010:512, Rn. 42, sowie Prezes Urzędu Komunikacji Elektronicznej und Polen/Kommission, C‑422/11 P und C‑423/11 P, EU:C:2012:553, Rn. 23). Wie der Gerichtshof im Übrigen bereits entschieden hat, ist in der Satzung des Gerichtshofs oder dessen Verfahrensordnung keine Abweichung oder Ausnahme von dieser Pflicht vorgesehen, so dass die Vorlage einer vom Kläger selbst unterzeichneten Klageschrift nicht für die Zwecke der Einreichung einer Klage ausreichen kann (vgl. Beschluss Correia de Matos/Parlament, C‑502/06 P, EU:C:2007:696, Rn. 12).

29

Aus alledem folgt, dass die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung über einen Antrag auf Freigabe eingefrorener Gelder und wirtschaftlicher Ressourcen nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 nicht über ein freies Ermessen verfügt, sondern ihre Zuständigkeiten unter Beachtung der in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta vorgesehenen Rechte und – in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren – der Unerlässlichkeit der Vertretung durch einen Anwalt für die Einreichung einer Klage, mit der die Rechtmäßigkeit restriktiver Maßnahmen angefochten werden soll, auszuüben hat.

30

Die litauische Regierung macht geltend, dass die Weigerung selbst, die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 vorgesehene Ausnahme zu bewilligen, das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in seinem Kern nicht beeinträchtige, da die natürliche oder juristische Person, die die juristischen Dienstleistungen erbringe, über finanzielle Ressourcen verfügen könne, die ihr nach der Freigabe der eingefrorenen Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen geschuldet würden. Dieses Vorbringen wird jedoch auf die Annahme des Erfolgs der eingereichten Klage gestützt, während eine solche Klage abgewiesen werden kann. Ferner kann ein Mitgliedstaat nicht von einem berufsmäßigen Erbringer juristischer Dienstleistungen verlangen, dass er ein solches Risiko und solche Kosten trägt, obwohl Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 die Gewährung einer Ausnahme vom Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen zum Zweck der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen vorsieht.

31

Was den Einwand der litauischen Regierung angeht, dass die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens die im nationalen Recht vorgesehene Prozesskostenhilfe hätten beantragen können, um den Beistand eines Anwalts zu erhalten, ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 ein kohärentes System eingeführt hat, das es erlaubt, die Wahrung der durch Art. 47 der Charta garantierten Rechte unbeschadet des Einfrierens der Gelder zu gewährleisten. Muss eine in der Anhang I dieser Verordnung darstellenden Liste aufgeführte Person die juristischen Dienstleistungen erhalten, deren sie bedarf, so kann sie nicht als aufgrund dieses Einfrierens bedürftig betrachtet werden, sondern muss vielmehr zu diesem Zweck die Freigabe bestimmter eingefrorener Mittel oder Ressourcen beantragen, wenn sämtliche in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind. Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 untersagt es auf diese Weise der zuständigen nationalen Behörde, die Freigabe von Mitteln mit der Begründung zu verweigern, dass eine solche Person Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen könnte.

32

Was die Kriterien angeht, die die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung über einen Antrag auf Ausnahmebewilligung zu berücksichtigen hat, gilt, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 Beschränkungen der Verwendung der Gelder vorsieht, denn diese dürfen ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen.

33

Schließlich kann die zuständige nationale Behörde, um die Verwendung der freigegebenen Gelder besser kontrollieren zu können, die in Titel C Kapitel VII der bewährten Praktiken vorgesehenen Empfehlungen für Befreiungen aus humanitären Gründen berücksichtigen, die auf den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Antrag auf Ausnahmebewilligung entsprechend anwendbar sind, da mit diesem die Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes durch Einreichung einer Klage gegen die restriktiven Maßnahmen, die gegen die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens verhängt worden sind, bezweckt ist. Nach den bewährten Praktiken kann die zuständige nationale Behörde die Bedingungen festlegen, die sie als geeignet erachtet, um insbesondere zu gewährleisten, dass das Ziel der verhängten Sanktionen nicht verfehlt wird und dass die gewährte Ausnahme nicht missbraucht wird. Insbesondere kann diese Behörde Banküberweisungen den Vorrang gegenüber Barauszahlungen einräumen.

34

Nach alledem sind die Fragen 1 bis 3 wie folgt zu beantworten:

Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 ist dahin auszulegen, dass die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung über einen Antrag auf Ausnahmebewilligung, der nach dieser Bestimmung für die Einreichung einer Klage gestellt wird, mit der die Rechtmäßigkeit von der Union verhängter restriktiver Maßnahmen angefochten werden soll, nicht über ein freies Ermessen verfügt, sondern ihre Zuständigkeiten unter Beachtung der in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta vorgesehenen Rechte und der Unerlässlichkeit der Vertretung durch einen Anwalt für die Einreichung einer solchen Klage beim Gericht auszuüben hat.

Die zuständige nationale Behörde ist berechtigt, zu prüfen, ob die Mittel, deren Freigabe beantragt wird, ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen. Sie kann auch die Bedingungen festlegen, die sie als geeignet erachtet, um insbesondere zu gewährleisten, dass das Ziel der verhängten Sanktionen nicht verfehlt wird und dass die bewilligte Ausnahme nicht missbraucht wird.

Zur vierten Frage

35

Mit seiner vierten Frage begehrt das nationale Gericht Auskunft darüber, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen ist, dass einer der Rechtfertigungsgründe für die Versagung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Ausnahme die Rechtswidrigkeit des Erwerbs der Gelder sein kann, für deren Verwendung von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht werden soll.

36

Wie die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission geltend machen, kann eine Pfändung oder Beschlagnahme rechtswidrig erworbener Gelder aufgrund verschiedener Regelungen erfolgen, die ihren Ursprung sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht haben.

37

Diese Regelungen unterscheiden sich von der Verordnung Nr. 765/2006, in deren Anwendung die Gelder der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens eingefroren worden sind. Zweck dieser Verordnung ist nämlich nicht die Ahndung eines illegalen Erwerbs von Geldern, sondern, wie aus deren erstem Erwägungsgrund hervorgeht, die Ergreifung restriktiver Maßnahmen gegen diejenigen, die für die Verletzung internationaler Wahlstandards bei den Wahlen vom 19. März 2006 in Belarus verantwortlich sind.

38

Das Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens hat daher gemäß den Bestimmungen der Verordnung Nr. 765/2006 zu erfolgen, die die Einzelheiten des Einfrierens der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen und die auf diese Gelder und diese wirtschaftlichen Ressourcen anwendbaren Regelungen vorsieht.

39

Daher ist eine Ausnahme vom Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen zum Zweck der Bezahlung juristischer Dienstleistungen im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 zu beurteilen, der nicht auf die Herkunft der Gelder und deren möglicherweise rechtswidrigen Erwerb abstellt.

40

Somit ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 dahin auszulegen ist, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen auf diese Verordnung gestützt wird, eine Ausnahme vom Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen zum Zweck der Bezahlung juristischer Dienstleistungen im Einklang mit dieser Bestimmung zu beurteilen ist, die nicht auf die Herkunft der Gelder und deren möglicherweise rechtswidrigen Erwerb abstellt.

Kosten

41

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 765/2006 des Rates vom 18. Mai 2006 über restriktive Maßnahmen gegen Belarus in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 84/2011 des Rates vom 31. Januar 2011 und die Verordnung (EU) Nr. 588/2011 des Rates vom 20. Juni 2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die zuständige nationale Behörde bei der Entscheidung über einen Antrag auf Ausnahmebewilligung, der nach dieser Bestimmung für die Einreichung einer Klage gestellt wird, mit der die Rechtmäßigkeit von der Union verhängter restriktiver Maßnahmen angefochten werden soll, nicht über ein freies Ermessen verfügt, sondern ihre Zuständigkeiten unter Beachtung der in Art. 47 Abs. 2 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vorgesehenen Rechte und der Unerlässlichkeit der Vertretung durch einen Anwalt für die Einreichung einer solchen Klage beim Gericht der Europäischen Union auszuüben hat.

Die zuständige nationale Behörde ist berechtigt, zu prüfen, ob die Mittel, deren Freigabe beantragt wird, ausschließlich der Bezahlung angemessener Honorare und der Erstattung von Kosten im Zusammenhang mit der Erbringung juristischer Dienstleistungen dienen. Sie kann auch die Bedingungen festlegen, die sie als geeignet erachtet, um insbesondere zu gewährleisten, dass das Ziel der verhängten Sanktionen nicht verfehlt wird und dass die bewilligte Ausnahme nicht missbraucht wird.

 

2.

Art. 3 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 765/2006 in der durch die Durchführungsverordnung Nr. 84/2011 und die Verordnung Nr. 588/2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen auf diese Verordnung gestützt wird, eine Ausnahme vom Einfrieren der Gelder und der wirtschaftlichen Ressourcen zum Zweck der Bezahlung juristischer Dienstleistungen im Einklang mit dieser Bestimmung zu beurteilen ist, die nicht auf die Herkunft der Gelder und deren möglicherweise rechtswidrigen Erwerb abstellt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Litauisch.

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