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Document 62013CC0554

Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 12. Februar 2015.
Z. Zh. gegen Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie und Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie gegen I. O..
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Vorlage zur Vorabentscheidung - Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - Richtlinie 2008/115/EG - Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Art. 7 Abs. 4 - Begriff ‚Risiko für die öffentliche Ordnung‘ - Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen können.
Rechtssache C-554/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:94

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 12. Februar 2015 ( 1 )

Rechtssache C‑554/13

Z. Zh. und O.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Richtlinie 2008/115/EG — Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 7 Abs. 4 — Entscheidung, mit der eine Frist für die freiwillige Ausreise versagt wird — Gefahr für die öffentliche Ordnung“

1. 

Die Richtlinie 2008/115/EG ( 2 ) legt gemeinsame Normen und Verfahren fest, die die Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger aus der Europäischen Union beispielsweise in ihr Herkunftsland anzuwenden haben. Wird eine Rückkehrentscheidung nach dieser Richtlinie erlassen, muss der jeweilige Mitgliedstaat der betreffenden Person eine angemessene Frist (zwischen sieben und 30 Tagen) für die freiwillige Ausreise gewähren. Die Mitgliedstaaten können jedoch nach Art. 7 Abs. 4 aus bestimmten Gründen von dieser Regelung abweichen und von der Gewährung einer solchen Frist absehen (bzw. eine Frist von weniger als sieben Tagen gewähren), insbesondere wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt ( 3 ).

2. 

Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ersucht der Raad van State (Niederlande) den Gerichtshof um Hinweise zur Bedeutung von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie, insbesondere zur Bedeutung der Formulierung „eine Gefahr für die öffentliche Ordnung [darstellt]“.

Unionsrecht

Schengen-Besitzstand

3.

Der Schengen-Raum beruht auf dem Schengener Abkommen von 1985 ( 4 ), mit dem die Vertragsstaaten die Abschaffung sämtlicher Binnengrenzen und die Errichtung einer einzigen Außengrenze vereinbarten. Innerhalb des Schengen-Raums gelten gemeinsame Regelungen und Verfahren u. a. für Grenzkontrollen. Art. 1 des Durchführungsübereinkommens ( 5 ) definiert als „Drittausländer“ eine Person, die nicht Staatsangehöriger eines der Mitgliedstaaten ist ( 6 ). Nach Art. 4 Abs. 1 unterliegen Reisende eines Binnenflugs, die auf einen Flug in ein Drittland umsteigen, zuvor den entsprechenden Kontrollen bei der Ausreise im Ausgangsflughafen des Drittlandflugs. Nach Art. 5 Abs. 1 kann der jeweiligen Person für die Dauer von bis zu drei Monaten die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien gestattet werden, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllt, insbesondere wenn sie im Besitz gültiger Grenzübertrittspapiere ist (Art. 5 Abs. 1 Buchst. a) oder keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die nationale Sicherheit oder die internationalen Beziehungen der Vertragsparteien darstellt (Art. 5 Abs. 1 Buchst. e). Einer Person, die die in Art. 5 Abs. 1 aufgeführten Voraussetzungen nicht erfüllt, müssen die Vertragsparteien jedoch grundsätzlich die Einreise verweigern ( 7 ). Der grenzüberschreitende Verkehr an den Außengrenzen unterliegt der Kontrolle durch die zuständigen nationalen Behörden nach einheitlichen Grundsätzen, die in Art. 6 Abs. 2 aufgeführt sind ( 8 ). Diese umfassen nicht nur die Überprüfung der Grenzübertrittspapiere und der anderen Voraussetzungen für die Einreise, den Aufenthalt, die Arbeitsaufnahme und die Ausreise, sondern auch die fahndungstechnische Überprüfung sowie die Abwehr von Gefahren für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung der Vertragsparteien ( 9 ).

4.

Das Schengener Informationssystem (im Folgenden: SIS) wurde aufgrund von Art. 92 des Durchführungsübereinkommens eingerichtet. Es gewährt den Mitgliedstaaten u. a. für Grenzkontrollen Zugang zu Informationen über der Suche nach Personen und Sachen dienende „Ausschreibungen“. Ziel des SIS ist u. a. die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich der Sicherheit des Staates ( 10 ). Wird einer Person die Einreise in den Schengen-Raum verweigert, werden die entsprechenden Daten aufgrund einer nationalen Ausschreibung im SIS gespeichert, die aufgrund von Entscheidungen der zuständigen Verwaltungsbehörden und Gerichte nach nationalen Rechtsvorschriften erfolgt ( 11 ). Diese Entscheidungen können auf die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit durch die Anwesenheit dieser Person im Hoheitsgebiet der betreffenden Vertragspartei gestützt werden ( 12 ). Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn die jeweilige Person wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist ( 13 ), oder ein begründeter Verdacht besteht, dass sie schwere Straftaten begangen hat, oder konkrete Hinweise bestehen, dass sie solche Taten im Schengen-Raum plant.

5.

Die Verordnung über den Schengener Grenzkodex ( 14 ) definiert als „zur Einreiseverweigerung ausgeschriebene Person“„einen Drittstaatsangehörigen, der gemäß Artikel 96 des Schengener Durchführungsübereinkommens und für die in jenem Artikel genannten Zwecke im [SIS] ausgeschrieben ist“ ( 15 ). Art. 2 Abs. 5 definiert Personen, die Anspruch auf freien Personenverkehr in der Union haben, als Unionsbürger im Sinne von Art. 20 Abs. 1 AEUV sowie Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines sein Recht auf freien Personenverkehr ausübenden Unionsbürgers sind, die unter die Richtlinie 2004/38/EG ( 16 ) fallen.

Rückführungsrichtlinie

6.

Die durch die Rückführungsrichtlinie eingeführten gemeinsamen Normen und Verfahren sind im Einklang u. a. mit den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts anzuwenden ( 17 ).

7.

Die Ursprünge der Rückführungsrichtlinie gehen auf zwei Tagungen des Europäischen Rates zurück. Auf der ersten, vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere, wurde ein kohärentes Konzept für Migration und Asyl festgelegt ( 18 ). Auf der zweiten, vom 4. und 5. November 2004 in Brüssel, forderte der Europäische Rat zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden ( 19 ). Ein übergeordnetes Ziel der Richtlinie ist die Einführung klarer, transparenter und fairer Vorschriften, mit denen eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendiger Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik unterlegt werden muss ( 20 ). Die Rückführungsrichtlinie führt also Vorschriften ein, die für sämtliche Drittstaatsangehörige gelten, die die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen ( 21 ). Die Ausweisung eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens erfolgen. Im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß der Rückführungsrichtlinie auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten ( 22 ). Die Mitgliedstaaten haben jedoch das Recht, die Rückkehr illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sicherzustellen, unter der Voraussetzung, dass faire und effiziente Asylsysteme vorhanden sind, die den Grundsatz der Nichtzurückweisung in vollem Umfang achten ( 23 ). Besteht keine Veranlassung zu der Annahme, dass das Rückkehrverfahren durch eine freiwillige Rückkehr gefährdet wird, ist die freiwillige Rückkehr der Rückführung vorzuziehen, wobei eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt werden sollte. Eine Verlängerung der Frist für die freiwillige Ausreise sollte vorgesehen werden, wenn dies aufgrund der besonderen Umstände eines Einzelfalls als erforderlich erachtet wird ( 24 ). Ferner sollte die Situation von Drittstaatsangehörigen, die sich unrechtmäßig im Land aufhalten, aber noch nicht abgeschoben werden können, geregelt werden. Die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen erhält im Übrigen durch die Einführung eines Einreiseverbots, das die Einreise in das Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten und den dortigen Aufenthalt verbietet, europäischen Zuschnitt ( 25 ). Die Mitgliedstaaten sollten in Übereinstimmung mit der SIS-II‑Verordnung unmittelbaren Zugang zu Informationen über Einreiseverbote anderer Mitgliedstaaten erhalten ( 26 ).

8.

Die Rückführungsrichtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige ( 27 ). Sie findet keine Anwendung auf Personen, die das Unionsrecht auf freien Personenverkehr nach Art. 2 Abs. 5 des Schengener Grenzkodex genießen ( 28 ).

9.

Folgende Definitionen in Art. 3 sind relevant:

„1.

‚Drittstaatsangehörige‘: alle Personen, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 EG-Vertrag sind und die nicht das [Unions]srecht auf freien Personenverkehr nach Artikel 2 Absatz 5 des Schengener Grenzkodex genießen;

2.

‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.

‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

deren Herkunftsland oder

ein Transitland gemäß [EU-] oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

4.

‚Rückkehrentscheidung‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird;

6.

‚Einreiseverbot‘: die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht;

8.

‚freiwillige Ausreise‘: die Erfüllung der Rückkehrverpflichtung innerhalb der dafür in der Rückkehrentscheidung festgesetzten Frist;

…“

10.

Die Mitgliedstaaten bleiben berechtigt, günstigere Vorschriften zu erlassen, sofern diese Vorschriften mit der Richtlinie im Einklang stehen ( 29 ).

11.

Nach Art. 5 berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie bestimmte, den betreffenden Drittstaatsangehörigen betreffende Faktoren, wie dessen familiäre Bindungen, seinen Gesundheitszustand und die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung.

12.

Nach Art. 6 Abs. 1 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen ( 30 ).

13.

Art. 7 lautet wie folgt:

„(1)   Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die Mitgliedstaaten können in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen, dass diese Frist nur auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen eingeräumt wird. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen davon, dass die Möglichkeit besteht, einen solchen Antrag zu stellen.

Die Frist nach Unterabsatz 1 steht einer früheren Ausreise der betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht entgegen.

(2)   Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.

(3)   Den Betreffenden können für die Dauer der Frist für die freiwillige Ausreise bestimmte Verpflichtungen zur Vermeidung einer Fluchtgefahr auferlegt werden, wie eine regelmäßige Meldepflicht bei den Behörden, die Hinterlegung einer angemessenen finanziellen Sicherheit, das Einreichen von Papieren oder die Verpflichtung, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten.

(4)   Besteht Fluchtgefahr oder ist der Antrag auf einen Aufenthaltstitel als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt worden oder stellt die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar, so können die Mitgliedstaaten davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen.“

14.

Nach Art. 8 Abs. 1 müssen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung ergreifen, wenn u. a. nach Art. 7 Abs. 4 keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wurde.

15.

Nach Art. 11 gehen Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einher, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde ( 31 ). Die Dauer des Einreiseverbots wird in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und überschreitet grundsätzlich nicht fünf Jahre. Sie kann jedoch fünf Jahre überschreiten, wenn der Drittstaatsangehörige eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt ( 32 ). Die Mitgliedstaaten haben ein gewisses Ermessen insoweit, als sie in Einzelfällen aus humanitären Gründen von der Verhängung eines Einreiseverbots absehen oder ein Einreiseverbot aufheben oder aussetzen und in Einzelfällen oder bestimmten Kategorien von Fällen ein Einreiseverbot aus sonstigen Gründen aufheben oder aussetzen können.

16.

Nach Art. 14 müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass innerhalb der Frist für die freiwillige Ausreise des Drittstaatsangehörigen bestimmte Grundsätze beachtet werden. Zu diesen Grundsätzen gehört die Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhältigen Familienangehörigen, die Gewährung medizinischer Notfallversorgung und einer unbedingt erforderlichen Behandlung von Krankheiten, die Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts und die Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen.

Nationale Rechtsvorschriften

17.

Nach der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz, im Folgenden: Vw 2000) hat ein Drittstaatsangehöriger, der sich nicht (oder nicht mehr) rechtmäßig in den Niederlanden aufhält, eine Frist von 28 Tagen, in der er von sich aus aus dem Hoheitsgebiet ausreisen muss ( 33 ). Der Staatssecretaris (im Folgenden: Staatssekretär) ( 34 ) kann die Frist für die Ausreise verkürzen oder anordnen, dass der Betroffene die Niederlande unverzüglich zu verlassen hat, u. a. wenn dieser eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt.

18.

Mit Wirkung vom 9. Februar 2012 kann nach dem Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländer-Runderlass, im Folgenden: Runderlass vom 9. Februar 2012) die Ausreisefrist nach Art. 62 Abs. 2 der Vw 2000 verkürzt oder überhaupt nicht gewährt werden, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr (gevaar) für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Nach dem Runderlass vom 9. Februar 2012 gilt als Gefahr für die öffentliche Ordnung jeder Verdacht oder jede Verurteilung wegen einer nach nationalem Recht als Straftat strafbaren Handlung. Ein Verdacht muss durch den Leiter der Polizeibehörde bestätigt werden können ( 35 ).

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

19.

Herr Zh. kam am 8. Juni 2011 mit einem Flug aus Griechenland und endgültigem Reiseziel Kanada am Flughafen Schiphol an. Er wurde auf der Durchreise in den Niederlanden festgenommen, weil er mit einem gefälschten Reisedokument reiste. Am 21. Juni 2011 wurde er wegen Besitzes eines Reisedokuments, dessen Fälschung ihm bekannt war, nach dem niederländischen Strafgesetzbuch zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt. Am 4. August 2011 erließ der Staatssekretär gegen Herrn Zh. die Anordnung, die Europäische Union unverzüglich zu verlassen (d. h. nach Art. 62 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 62 Abs. 2 der Vw 2000 ohne Frist für die freiwillige Ausreise). Nach Ende seiner Haftstrafe wurde Herr Zh. in Haft genommen und anschließend nach China zurückgeführt. Die Rückkehrentscheidung im Fall von Herrn Zh. erhielt der Staatssekretär mit Bescheid vom 2. September 2011 aufrecht.

20.

Die Entscheidung des Staatssekretärs wurde von der Rechtbank am 8. November 2011 bestätigt. Gegen diese Entscheidung hat Herr Zh. Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht eingelegt. Die gegen Herrn Zh. erlassene Haftanordnung wurde am 14. Dezember 2011 wegen seiner zwischenzeitlichen Abschiebung aus den Niederlanden aufgehoben.

21.

Herr O, ebenfalls Drittstaatsangehöriger, reiste am 16. Januar 2011 mit einem Visum für einen kurzfristigen Aufenthalt mit einer Gültigkeitsdauer von 21 Tagen in die Niederlande ein. Am 23. November 2011 wurde er wegen des Verdachts der Misshandlung einer Frau im häuslichen Bereich verhaftet und in Haft genommen. Am 24. November 2011 wurde er in Abschiebehaft genommen und gegen ihn die Anordnung erlassen, die Europäische Union mit sofortiger Wirkung zu verlassen. Den Bescheid vom 24. November 2011 erhielt der Staatssekretär mit Bescheid vom 17. Januar 2012 mit der Begründung aufrecht, dass Herr O. wegen des Verdachts der Begehung einer Straftat festgenommen worden sei; er stelle daher eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dar und habe keinen Anspruch auf eine Frist, die ihm eine freiwillige Ausreise aus den Niederlanden gestatte. Die Rechtbank ließ am 1. Februar 2012 ein Rechtsmittel von Herrn O. zu und hob den Bescheid des Staatssekretärs auf. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Staatssekretär im Rechtsmittelverfahren vor dem vorlegenden Gericht. Die gegen Herrn O. erlassene Haftanordnung wurde am 23. Februar 2012 wegen seiner zwischenzeitlichen Abschiebung aufgehoben.

22.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt die Formulierung „eine Gefahr für die öffentliche Ordnung“ in Art. 7 Abs. 4 einen autonomen Begriff des Unionsrechts dar; zur Bestimmung ihrer Bedeutung sei zu prüfen, ob sich der Auslegung der Begriffe der öffentlichen Ordnung in anderen Rechtsakten des Unionsrechts, wie Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie, Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates ( 36 ) und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates ( 37 ) (im Folgenden: drei Richtlinien), Hinweise entnehmen ließen. Jedoch könne es angesichts der wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Richtlinien und der Rückführungsrichtlinie im Hinblick auf ihre Ziele, ihren Kontext und den Wortlaut zur Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in der Rückführungsrichtlinie nicht einfach die Begriffe der drei Richtlinien analog anwenden. Ferner sei in der Systematik der Rückführungsrichtlinie das Absehen von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise die am wenigsten belastende Maßnahme. Daher könne eine „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie möglicherweise weiter auszulegen sein als der Begriff „Gründe der öffentlichen Ordnung“ in den drei Richtlinien, so dass ein Drittstaatsangehöriger möglicherweise leichter unter den Begriff der Rückführungsrichtlinie falle. Wenn dies der Fall sei, könne der bloße Verdacht der Begehung einer Straftat möglicherweise ausreichend sein.

23.

Vor diesem Hintergrund ersucht der Raad van State um Hinweise zu den folgenden, dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen:

1.

Stellt ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie dar, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat strafbaren Handlung verdächtigt wird, oder ist es dafür erforderlich, dass er wegen Begehung dieser Tat durch ein Strafgericht verurteilt wurde, und muss in diesem Fall die Verurteilung rechtskräftig geworden sein?

2.

Spielen bei der Prüfung, ob ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie darstellt, neben einem Verdacht oder einer Verurteilung noch andere Tatsachen und Umstände des konkreten Falls wie die Schwere oder die Art der nach nationalem Recht als Straftat strafbaren Handlung, die Zeit, die vergangen ist, oder die Absicht des Betroffenen eine Rolle?

3.

Spielen die Tatsachen und Umstände des konkreten Falls, die bei der in Frage 2 angesprochenen Prüfung von Bedeutung sind, auch eine Rolle für die nach Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie für den Fall, dass der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, bestehende Wahlmöglichkeit zwischen einerseits dem Absehen von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise und andererseits der Einräumung einer Frist für die freiwillige Ausreise von weniger als sieben Tagen?

24.

Herr Zh., Belgien, die Tschechische Republik, Frankreich, Griechenland, die Niederlande, Polen und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Herr Zh., Belgien, die Niederlande, Polen und die Kommission haben in der mündlichen Verhandlung vom 15. Oktober 2014 mündliche Erklärungen abgegeben.

Vorbemerkungen

25.

Unstreitig ist, dass Herr Zh. und Herr O. als illegal aufhältige Drittstaatsangehörige im Sinne von Art. 3 Abs. 1 und 2 in den Geltungsbereich der Rückführungsrichtlinie fallen. Nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt die allgemeine Regelung, dass diese Personen Anspruch auf eine Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Rückkehr in ihr Herkunftsland haben. Dieses Recht darf nur eingeschränkt werden, wenn eine der in Art. 7 Abs. 4 aufgeführten Ausnahmen wie beispielsweise die Ausnahme aufgrund einer Gefahr für die öffentliche Ordnung Anwendung findet.

26.

Da Herr Zh. und Herr O. zwischenzeitlich aus den Niederlanden abgeschoben wurden, besteht die Bedeutung des vorliegenden Verfahrens für jeden von ihnen darin, dass sie für den Fall, dass das vorlegende Gericht die Entscheidungen, mit denen eine Frist für die freiwillige Ausreise versagt wurde, für rechtswidrig hält, möglicherweise Schadensersatzklagen gegen die niederländischen Behörden wegen rechtswidriger Inhaftierung erheben können. Im Fall von Herrn Zh. könnte sich der mögliche Anspruch auf den Zeitraum vom Ende seiner Haftstrafe wegen Reisens mit einem gefälschten Reisedokument bis zum Zeitpunkt seiner Abschiebung erstrecken. Für Herrn O. könnte sich der mögliche Anspruch auf den Zeitraum erstrecken, den er vor seiner Abschiebung in Haft verbrachte ( 38 ).

Frage 1

27.

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht die Bedeutung der Formulierung „eine Gefahr für die öffentliche Ordnung [darstellt]“ in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie geklärt wissen. Es fragt, ob ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, eine solche Gefahr darstellt, wenn er der Begehung einer nach dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaats als Straftat strafbaren Handlung lediglich verdächtigt wird, oder ob es dafür erforderlich ist, dass er wegen der Begehung einer Straftat verurteilt worden ist, und ob in diesem Fall die Verurteilung rechtskräftig geworden sein muss (d. h. kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben sein darf).

28.

Der Begriff und Sinn einer „Ausnahme der öffentlichen Ordnung“ von durch das Unionsrecht garantierten Freiheiten sind nichts Neues. Sie wurde erstmals vor vielen Jahren in Rechtssachen relevant, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betrafen ( 39 ). In jüngerer Zeit hat sie sich auf die Freizügigkeit von Unionsbürgern ausgewirkt ( 40 ). Art. 45 Abs. 3 AEUV gestattet den Mitgliedstaaten, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit einzuschränken. Die französische Fassung von Art. 45 Abs. 3 AEUV spricht von „des raisons d’ordre public“. Die englische Fassung verwendet jedoch den Begriff „public policy“ ( 41 ). Im Gegensatz dazu wird der Begriff „ordre public“ der französischen Fassung der Europäischen Menschenrechtskonvention ( 42 ) in der englischen Fassung mit „public order“ übersetzt ( 43 ).

29.

„Public order“ ist nicht gleichbedeutend mit „public policy“.

30.

„Public order“ umfasst allgemein Straftaten oder Handlungen, die in das Funktionieren der Gesellschaft eingreifen, wie im Urteil Oteiza Olazabal ( 44 ). Herr Olazabal, ein spanischer Staatsangehöriger baskischer Herkunft, der in Frankreich wohnte, wurde 1988 wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die öffentliche Ordnung (ordre public) [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: public order] durch Einschüchterung oder Terror zu erschüttern, zu 18 Monaten Freiheitsstrafe und zu vier Jahren Aufenthaltsverbot verurteilt. Er wollte 1996 aus der Region Île de France (nahe Paris) in das Département Pyrénées-Atlantiques an der Grenze zu Spanien ziehen. Die französische Polizei verfügte über Informationen, wonach er weiterhin Beziehungen zur ETA unterhielt. Die französischen Behörden wollten daher seine Freizügigkeit innerhalb Frankreichs einschränken, indem sie ihm den Aufenthalt in 31 Departements untersagten, um sicherzustellen, dass er sich nicht in der Nähe der spanischen Grenze aufhielt. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass das Handeln der französischen Behörden unter die Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus Gründen der öffentlichen Ordnung (ordre public) [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: public policy] des damaligen Art. 48 Abs. 3 des Vertrags (jetzt Art. 45 Abs. 3 AEUV) fiel.

31.

„Public policy“ ist insoweit ein weiterer Begriff als „public order“, als er dahin verstanden wird, dass er sowohl Verstöße gegen die öffentliche Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: public order] (wie in der Rechtssache Oteiza Olazabal) als auch Handlungen, die als Verstöße gegen rechtspolitische Gesichtspunkte angesehen werden, umfasst. Im Urteil van Duyn ( 45 ) konnten die Behörden des Vereinigten Königreichs so den Antrag von Frau van Duyn auf eine Arbeitserlaubnis, die ihr die Aufnahme einer Beschäftigung bei der Church of Scientology ermöglichen sollte, rechtmäßig mit der Begründung ablehnen, dass dies der öffentlichen Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: public policy] oder – in der (noch einmal abweichenden) Formulierung des Gerichtshofs – dem „öffentlichen Interesse“ [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge bzw. der englischen Fassung des Urteils: public good] zuwiderlaufen würde ( 46 ).

32.

Der Begriff „public order“ ist im Bereich des Ausländerrechts sehr präsent, etwa in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie. Außer der englischen verwenden alle Sprachfassungen dieser Richtlinie einen Begriff, der dem des „ordre public“ und nicht dem der „public policy“ entspricht ( 47 ). Der Begriff „public policy“ fand sich im ursprünglichen Vorschlag der Kommission in englischer Fassung nicht, sondern wurde in einer relativ späten Phase der Entwicklung des englischen Texts aufgenommen, als er im Rat beraten wurde ( 48 ). Bedauerlicherweise wurde kein Erwägungsgrund aufgenommen, um die Auslegung dieser Bestimmung durch Erläuterung ihres Zwecks zu erleichtern.

33.

Betrachtet man sowohl die Rechtsvorschriften des Unionsrechts als auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wird klar, dass der Begriff „public policy“ hier als Äquivalent des französischen Begriffs „ordre public“ verwendet wird. Es sollte auch bedacht werden, dass das Unionsrecht eine eigene Terminologie verwendet und dass Rechtsbegriffe im Unionsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Gehalt haben müssen ( 49 ). Um die Übersichtlichkeit für den Leser zu erhalten, werde ich im vorliegenden Kontext meiner Prüfung der Rückführungsrichtlinie, wenn ich Texte anführe, die im Englischen von „public policy“ sprechen, dies durch [public order] ersetzen [Diese sprachliche Anpassung des englischen Wortlauts angeführter Texte bzw. der englischen Originalfassung der Schlussanträge wird im Folgenden nur wiedergegeben, soweit Texte im englischen Wortlaut angeführt werden, vgl. auch oben, Fn. 43].

34.

Der Gerichtshof hat festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten zwar freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was u. a. die öffentliche Ordnung erfordert, diese Anforderungen, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit rechtfertigen sollen, jedoch eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann ( 50 ).

35.

Es gibt somit keine abschließende Definition des Begriffs der öffentlichen Ordnung. Es ist nicht nur schwierig, sondern kann auch gekünstelt sein, den Versuch einer Definition zu unternehmen, insbesondere da anerkannt ist, dass die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen im Hinblick auf die Umstände haben, die die Anwendung einer Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung rechtfertigen ( 51 ).

36.

Meines Erachtens ist dem Wortlaut der Rückführungsrichtlinie nichts dafür zu entnehmen, dass der Begriff öffentliche Ordnung in dem Sinne eng auszulegen wäre, dass im besonderen Bereich des Ausländerrechts Verstöße gegen rechtspolitische Gesichtspunkte ausgeschlossen wären. Die Rechtsprechung deutet darauf hin, dass der Begriff öffentliche Ordnung, wenn er zur Rechtfertigung einer Ausnahme verwendet wird, bestimmte Merkmale insoweit aufweist, als er außer der sozialen Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung voraussetzt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt ( 52 ).

37.

Für die Zwecke von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie ist die Frage zu beantworten, ob die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

38.

Der Wortlaut der verschiedenen Sprachfassungen von Art. 7 Abs. 4 ist nicht identisch gefasst. Der französische Text weicht beispielsweise dadurch von der englischen Fassung ab, dass er zwischen den Worten „risque“ und „danger“ unterscheidet. In den einleitenden Worten von Art. 7 Abs. 4, dem ersten Ausnahmegrund (dass die betreffende Person sich durch Flucht entziehen könnte), spricht der französische Text von „risque de fuite“. Später verwendet er in Bezug auf die Ausnahme der öffentlichen Ordnung die Wendung „si la personne concernée constitue un danger pour l’ordre public“.

39.

Im englischen Text heißt es in beiden Fällen „a risk“. Die Worte „danger“ oder „threat“ sind nicht unbedingt Synonyme für das Wort „risk“. Es wäre im Englischen natürlicher, von „a risk of absconding“ und „a threat to [public order]“ (mit der Bedeutung, dass die öffentliche Ordnung durch eine zukünftige Handlung gefährdet sein kann) zu sprechen als davon, dass die betreffende Person „a risk to [public order]“ darstellt ( 53 ). Denn das Wort „risk“ ist im Englischen mehrdeutig. Es kann bedeuten, dass die Möglichkeit besteht, dass aus den Handlungen der betreffenden Person nachteilige Folgen entstehen könnten. Es kann auch dahin verstanden werden, dass eine solche Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: constitutes a danger or a threat to [public order]] (was somit eine bestehende Gefährdung suggeriert). Anmerken möchte ich an dieser Stelle, dass nach Art. 7 Abs. 3 einer Frist für die freiwillige Ausreise gleichwohl der Vorzug zu geben ist, wenn Maßnahmen wie etwa Meldeauflagen zur Vermeidung der Fluchtgefahr [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge ebenso wie in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie: risk of absconding] angewendet werden können.

40.

Von den 22 EU-Sprachen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückführungsrichtlinie verwendet wurden, folgen elf dem französischen Modell und unterscheiden zwischen der Fluchtgefahr [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge ebenso wie in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie: risk of absconding] und einer Gefahr für die öffentliche Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: danger (or threat) to [public order], in der englischen Fassung von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie dagegen: risk to public [order]] ( 54 ). Elf folgen der englischen Fassung und verwenden das gleiche Wort zur Umschreibung der Fluchtgefahr und einer Gefahr für die öffentliche Ordnung ( 55 ).

41.

Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstexts voneinander ab, so muss die fragliche Vorschrift nach ständiger Rechtsprechung nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört ( 56 ).

42.

Meines Erachtens wird das Wort „Gefahr“ [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: „risk“] in Art. 7 Abs. 3 und im ersten Ausnahmegrund von Art. 7 Abs. 4 anders verwendet als in der Ausnahme der öffentlichen Ordnung. Im letzteren Kontext bezieht es sich auf die Möglichkeit, dass die betreffende Person aufgrund ihres Verhaltens in der Vergangenheit (z. B. Begehung einer Straftat) eine künftige Gefahr für die öffentliche Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: threat to public order] darstellt.

43.

Um sicherzustellen, dass die Rückführungsrichtlinie im Einklang mit ihren Zielen ausgelegt wird, ist somit vor Anwendung der Ausnahme nach Art. 7 Abs. 4 festzustellen, dass eine Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht. Die Mitgliedstaaten müssen darlegen, warum die Interessen der öffentlichen Ordnung, die sie schützen wollen, wahrscheinlich durch die betreffende Person gefährdet werden. Die Formulierung „poses a risk to [public order]“ [dieser Formulierung der englischen Fassung der Richtlinie entspricht in der deutschen Fassung der Richtlinie die Formulierung: „eine Gefahr für die öffentliche Ordnung [darstellt]“] ist also mit der Bedeutung „constitutes a danger or threat to [public order]“ [die variierte Formulierung wirkt sich in der deutschen Übersetzung nicht aus] zu verstehen ( 57 ). In dieser Hinsicht sind der französische Text und die Sprachfassungen, die ihm folgen, eindeutiger als der englische Text.

44.

Es muss eine reale und hinreichende Gefahr für die öffentliche Ordnung bestehen, damit der Mitgliedstaat die Ausnahme anwenden kann. Mit anderen Worten reicht es nicht aus, wenn die betreffende Person gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hat. Bestätigt wird dieses Verständnis durch den sechsten Erwägungsgrund, wonach die Erwägungen bei Entscheidungen gemäß der Richtlinie über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten. Dies zeigt, dass die zuständigen Behörden an ein Verfahren der Beurteilung im Einzelfall gebunden sind und Entscheidungen gemäß der Richtlinie nicht allein auf die Tatsache stützen dürfen, dass die Person sich illegal aufhält.

45.

Wenn der Begriff der öffentlichen Ordnung eine Ausnahme von einem durch das Unionsrecht gewährten Recht rechtfertigt, ist er eng zu verstehen ( 58 ).

46.

Insoweit kann die Tragweite der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 auch nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig bestimmt werden, ohne der Kontrolle durch die Organe der Union zu unterliegen ( 59 ). Die Ansicht der niederländischen und der polnischen Regierung, dass die Frage, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung bestehe, allein eine Frage des nationalen Rechts sei, teile ich daher nicht.

47.

Zwar sind die jeweiligen kulturellen, sozialen und rechtlichen Werte des Mitgliedstaats Faktoren, die zu berücksichtigen sind, wenn bestimmt wird, was unter öffentlicher Ordnung zu verstehen ist. Unterläge dieser Begriff jedoch keiner Kontrolle auf der Unionsebene, könnten die Mitgliedstaaten aufgrund dieser schimärenartigen Attribute die öffentliche Ordnung in einer Art und Weise heranziehen, die den durch das Unionsrecht garantierten Rechten ihre Wirksamkeit nähme. Die Darlegungslast dafür, warum im konkreten Fall eine Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht und welche Gründe die Anwendung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 rechtfertigen, liegt somit bei dem Mitgliedstaat, der sich auf die Ausnahme beruft.

48.

Das vorlegende Gericht fragt, ob sich Hinweise auf die Bedeutung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie möglicherweise anderen EU-Rechtsakten, insbesondere der Unionsbürgerrichtlinie, der Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige oder der Familienzusammenführungsrichtlinie, entnehmen lassen. Nach meinem Verständnis geht die Frage im Wesentlichen dahin, ob die Regeln für die Prüfung der Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung nach einer dieser drei Richtlinien analog auf die Prüfung nach Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie anzuwenden sind.

49.

Die Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, stimmen alle darin überein, dass eine analoge Anwendung der drei Richtlinien zur Auslegung von Art. 7 Abs. 4 abzulehnen sei. Dieser Ansicht bin ich auch, soweit es um einen Textvergleich der Richtlinien geht. Jede der drei Richtlinien unterscheidet sich in Wortlaut, Anwendungsbereich und Zielen von der Rückführungsrichtlinie. Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist in keinem dieser Rechtsakte definiert. Jede Richtlinie führt jedoch bestimmte Faktoren auf, die bei der Geltendmachung der Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung zu berücksichtigen sind.

50.

Nach Art. 27 Abs. 1 der Unionsbürgerrichtlinie dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Bei solchen Maßnahmen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein (Art. 27 Abs. 2). Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen. Das persönliche Verhalten des Betroffenen muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt ( 60 ). Insoweit trifft Art. 28 ( 61 ) dieser Richtlinie eine besondere Regelung, die Schutz vor einer Ausweisung aus Gründen u. a. der öffentlichen Ordnung gewährt; ein Faktor bei der Bestimmung des Schutzniveaus gegen die Ausweisung ist die Dauer des Aufenthalts.

51.

Das Ziel der Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige ist, langfristig ansässige Drittstaatsangehörige, die sich ununterbrochen rechtmäßig (fünf Jahre lang) im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, zu integrieren, um eines der Hauptziele des Vertrags, nämlich den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, zu fördern ( 62 ). Nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige können die Mitgliedstaaten die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit versagen. Trifft der jeweilige Mitgliedstaat eine entsprechende Entscheidung, so berücksichtigt er die Schwere oder die Art des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit oder die von der betreffenden Person ausgehende Gefahr ( 63 ), wobei er auch der Dauer des Aufenthalts und dem Bestehen von Bindungen im Aufenthaltsstaat angemessen Rechnung trägt ( 64 ).

52.

Die Familienzusammenführungsrichtlinie berücksichtigt die Notwendigkeit, die nationalen Rechtsvorschriften und die Bedingungen für die Zulassung und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu harmonisieren. Sie findet Anwendung, wenn beantragt wird, dass die Familienangehörigen eines „Zusammenführenden“ (eines Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit in einem Mitgliedstaat aufhält und begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen) ihm zum Zwecke der Familienzusammenführung nachreisen dürfen. Nach Art. 6 Abs. 1 können die Mitgliedstaaten einen solchen Antrag aus Gründen u. a. der öffentlichen Ordnung ablehnen ( 65 ). Trifft ein Mitgliedstaat eine entsprechende Entscheidung, so berücksichtigt er Gesichtspunkte wie die Schwere oder die Art des Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung oder die von der betreffenden Person ausgehende Gefahr ( 66 ).

53.

Ein wichtiger Unterschied zwischen der rechtlichen Regelung in der Rückführungsrichtlinie und den drei Richtlinien, die das vorlegende Gericht erwähnt, liegt darin, dass in der Rückführungsrichtlinie die Auswirkungen auf eine in die Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats integrierte Person nicht gegen die Zweckmäßigkeit einer Versagung des Rechts auf freiwillige Ausreise abgewogen werden müssen ( 67 ). Im Rahmen der Rückführungsrichtlinie sind die nationalen Behörden mit einer praktischeren Frage konfrontiert. Welcher Zeitraum ist erforderlich, um der betreffenden Person eine menschenwürdige und ihre Grundrechte wahrende Ausreise zu ermöglichen? Ein Drittstaatsangehöriger, der unter die Rückführungsrichtlinie fällt, ist keine Person, die im betreffenden Mitgliedstaat wohnt oder in dessen Gesellschaft in gewissem Maße integriert ist. Es ist daher logisch, dass keine Notwendigkeit besteht, Faktoren, die mit seinen Bindungen in diesem Mitgliedstaat in Verbindung stehen, gegen die Folgen einer Entscheidung, die ihm ein Recht auf freiwillige Ausreise versagt, abzuwägen.

54.

Angesichts der Unterschiede in Wortlaut, Geltungsbereich, Zielen und Kontext der Rechtsakte ist meines Erachtens eine analoge Anwendung der drei Richtlinien (Unionsbürgerrichtlinie, Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige und Familienzusammenführungsrichtlinie) zur Auslegung des Begriffs der öffentlichen Ordnung in Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie abzulehnen.

55.

Alle Mitgliedstaaten, die dem Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, nehmen dahin Stellung, dass die Folgen eines Abweichens von der allgemeinen Regelung im Rahmen der drei Richtlinien für die betreffenden Personen schwerwiegender seien als die Folgen einer Entscheidung im Rahmen der Rückführungsrichtlinie, mit der die freiwillige Ausreise versagt wird, für einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen. Sie bringen vor, dass innerhalb der drei Richtlinien verschiedene Schutzniveaus zur Anwendung kämen; das höchste werde Unionsbürgern gewährt, deren reguläre Rechte in scharfem Kontrast zu denjenigen illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach der Rückführungsrichtlinie ständen. Daher sei die Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung innerhalb der Unionsbürgerrichtlinie enger auszulegen als diejenige innerhalb der Rückführungsrichtlinie; auch der Begriff der „Gefahr“ für die öffentliche Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: concept of ‚risk‘ or ‚danger‘ to [public order]] innerhalb der Letzteren sei weniger eng auszulegen als der Begriff „Gründe der öffentlichen Ordnung“ in jeder der drei Richtlinien. Das vorlegende Gericht ist ebenfalls dieser Ansicht.

56.

Diese Sichtweise teile ich nicht.

57.

Ein Vergleich von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie mit Bestimmungen einer der drei Richtlinien, die eine Ausnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung enthalten, ist weder sinnvoll noch hilfreich. Diese Richtlinien sind nicht analog anwendbar, und dementsprechend ist die Frage, ob die Schwelle für die Anwendbarkeit der Ausnahme der öffentlichen Ordnung in der Rückführungsrichtlinie höher oder niedriger liegt, ebenso unbestimmbar wie irrelevant. Die Rückführungsrichtlinie unterscheidet sich von diesen drei Richtlinien in grundlegender Weise. Sie ist daher anhand ihres Wortlauts, ihres Zwecks, ihrer Systematik und ihres Kontexts auszulegen, um die Bedeutung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 zu ermitteln ( 68 ).

58.

Ferner verbinden sich mit dem Argument der Mitgliedstaaten, dass die Ausnahme in der Rückführungsrichtlinie weniger eng auszulegen sei als die Ausnahmen in einer der drei Richtlinien, unglückliche Konnotationen. Es suggeriert, dass Einzelpersonen in einer Schutzhierarchie ein unterschiedlicher Rang zugeordnet werden kann, wobei die Unionsbürger ganz oben und die illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ganz unten stehen. Es impliziert, dass diejenigen ganz unten schon deshalb eher in den Anwendungsbereich einer Bestimmung fallen, die von Rechten abweicht, die ihnen durch das Unionsrecht verliehen sind, weil sie einen niedrigeren Status in der Hierarchie haben.

59.

Einem solchen Ansatz kann ich nicht folgen. Zwar kann die Rechtsstellung von Unionsbürgern und illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht gleichgesetzt werden, und es gelten für sie verschiedene Regelungen. Daraus, dass ein Unterschied besteht, folgt jedoch nicht, dass die Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Ausnahme von einem durch das Unionsrecht verliehenen Recht gegeben sind, weniger Strenge oder Sorgfalt erfordern würde. Eine Ausnahmebestimmung wie Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie ist nicht deshalb nachsichtig statt streng auszulegen, weil sie Einzelpersonen betrifft, die in der Europäischen Union kein Aufenthaltsrecht haben. Im Übrigen gilt für Drittstaatsangehörige (einschließlich derjenigen, deren Aufenthalt in der Europäischen Union illegal ist) die Charta ( 69 ). Die durch das Unionsrecht garantierten Grundrechte, die für Drittstaatsangehörige gelten, sind ebenso entschieden zu wahren wie diejenigen, die für Unionsbürger gelten.

60.

Bei der Prüfung, ob ein Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, müssen die Mitgliedstaaten in ihrer Beurteilung somit auf die persönliche Situation der betreffenden Person abstellen und nicht auf pauschale Wertungen ( 70 ). Dies hat der Gerichtshof im Urteil Royer ( 71 ) in Bezug auf den Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates ( 72 ) entschieden; diese Bestimmung lautete: „Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein.“ Dies gilt meiner Ansicht nach ebenso für die Rückführungsrichtlinie. Die Systematik von Art. 7 berücksichtigt ausdrücklich, dass Einzelfallumstände für das Verfahren der Beurteilung relevant sind ( 73 ). Dieselbe Methodik muss somit für Entscheidungen nach Art. 7 Abs. 4 gelten. Solche Entscheidungen sind auf Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien zu treffen.

61.

Alle strafrechtlichen Regeln gehören in dem Sinne zur öffentlichen Ordnung, dass sie zwingendes Recht darstellen. Die Verletzung dieser Regeln führt somit zu einer Störung der öffentlichen Ordnung der Mitgliedstaaten. Das Ausmaß dieser Störung wird je nach Art der begangenen Handlung mehr oder weniger schwer wiegen. Der Schweregrad der Strafe, die der nationale Gesetzgeber als Sanktion für das verbotene Verhalten vorgesehen hat, spiegelt normalerweise die der Störung zugemessene Wirkung auf die öffentliche Ordnung wider ( 74 ).

62.

Der Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats ist daher mit einem Verstoß gegen die öffentliche Ordnung gleichzusetzen. Daraus folgt jedoch noch nicht, dass jeder Verstoß gegen das Strafrecht, wie geringfügig er auch sei, eine künftige Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 darstellt. Die nationalen Behörden müssen ihre Prüfung aus der Perspektive der dem Schutz der öffentlichen Ordnung innewohnenden Interessen vornehmen. Das muss nicht notwendigerweise mit der Prüfung übereinstimmen, auf der die strafrechtliche Verurteilung beruht ( 75 ).

63.

Der sechste Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie erläutert, dass Entscheidungen auf Grundlage des Einzelfalls getroffen werden und Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten ( 76 ). In einem Fall wie demjenigen von Herrn Zh. ist es somit nicht ausreichend, wenn die nationalen Behörden ihre Entscheidung, mit der das Recht auf freiwillige Ausreise versagt wird, allein auf die Tatsache stützen, dass die betreffende Person wegen Reisens mit einem gefälschten Reisedokument unter Verstoß gegen Art. 5 des Schengener Grenzkodex verurteilt worden ist und ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Sinne von Art. 3 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie ist. Eine erhebliche Zahl von Drittstaatsangehörigen, die auf der Flucht sind und an den EU-Grenzen erscheinen, dürfte mit gefälschten Papieren reisen. Menschen versuchen häufig, ihre Identität auf der Flucht aus ihrem Herkunftsland zu verschleiern, um sich zu schützen. Sie sind möglicherweise nicht unbedingt durch einen Asylantrag geschützt, wenn sie diesen Schutz in der Europäischen Union nicht beantragen ( 77 ). Die nationalen Behörden müssen beurteilen, welche Interessen der öffentlichen Ordnung geschützt werden müssen und in welcher Hinsicht der Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Mit anderen Worten darf es keine automatischen Entscheidungen geben, einer Einzelperson das Recht auf freiwillige Ausreise schon deshalb zu entziehen, weil sie wegen Reisens mit einem gefälschten Dokument verurteilt worden ist und deshalb illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger sein könnte ( 78 ).

64.

Dessen ungeachtet ist meiner Ansicht nach nicht erforderlich, dass eine Verurteilung rechtskräftig geworden und kein weiteres Rechtsmittel mehr gegeben ist, damit der Betroffene unter Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie fällt.

65.

Ein solcher Standpunkt wäre mit den oben skizzierten allgemeinen Erwägungen nicht vereinbar; auch im Wortlaut der Richtlinie findet eine solche Auffassung keine Stütze. Ferner würde sie dem Ziel zuwiderlaufen, eine konkrete Frist für die freiwillige Ausreise festzulegen. Wäre ein letztinstanzliches Rechtsmittel zu berücksichtigen, würde die Frist von 30 Tagen (und zumal Fristen, die näher an den sieben Tagen nach Art. 7 Abs. 1 liegen) in vielen Fällen durch die Dauer des gerichtlichen Verfahrens überschritten. Dies würde auch die Ausnahme von Art. 7 Abs. 4 leerlaufen lassen: Eine kurzfristige Rückführung in weniger als sieben Tagen wäre in jedem Fall unmöglich, in dem die betreffende Person ein Rechtsmittelverfahren einleiten würde.

66.

Darüber hinaus wäre diese Auffassung, wie Belgien, Frankreich und die Niederlande zu Recht vorbringen, mit dem Schengen-Besitzstand insofern unvereinbar, als das Ziel des SIS-Systems ( 79 ) (Mitgliedstaaten für Grenzkontrollen Zugang zu Informationen über der Suche nach Personen dienende Ausschreibungen zu gewähren) auch die Gewährleistung u. a. der öffentlichen Ordnung umfasst ( 80 ). Gegen eine Person, gegen die eine sofortige Rückkehrentscheidung erlassen wird, wird daher nach Art. 11 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie auch ein Einreiseverbot verhängt; dabei werden die entsprechenden Daten im SIS-System gespeichert. Diese Entscheidungen können auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung gestützt werden, die dann gegeben ist, wenn die betreffende Person wegen einer Straftat verurteilt worden ist, die mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht ist ( 81 ). Nach dem Durchführungsübereinkommen ist nicht erforderlich, dass diese Verurteilung rechtskräftig geworden ist. Wenn auch die Versagung einer Frist für die freiwillige Ausreise aus Gründen der öffentlichen Ordnung nach Art. 7 Abs. 4 auf der Verurteilung beruht, wäre es mit den Voraussetzungen von Art. 96 Abs. 2 des Durchführungsübereinkommens unvereinbar, eine weitere Voraussetzung hinzuzufügen, wonach es sich um eine Verurteilung handeln muss, gegen die kein Rechtsmittel mehr gegeben ist. Ich halte daher die Ansicht für vorzugswürdig, dass Art. 7 Abs. 4 ohne Erweiterung um eine solche Voraussetzung auszulegen ist. Dies hat den Vorteil, dass eine mit der gesamten Regelungssystematik kohärente Auslegung sichergestellt wird, zu der der Schengen-Besitzstand gehört.

67.

Reicht der Verdacht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, zur Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 7 Abs. 4 aus?

68.

Da Entscheidungen auf Grundlage des Einzelfalls und unter Berücksichtigung objektiver Kriterien getroffen werden müssen (sechster Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie) und die Mitgliedstaaten in ihren Entscheidungen auf die betreffende Einzelperson abstellen müssen und nicht auf pauschale Wertungen, kann es meines Erachtens keine allgemeine Regel dahin geben, dass nur Verurteilungen wegen einer Straftat ausreichend sind. Somit könnte grundsätzlich der Verdacht, eine Straftat begangen zu haben, für die Anwendung der Ausnahme von Art. 7 Abs. 4 ausreichen.

69.

Die nationalen Behörden müssen gleichwohl beurteilen, welche Interessen der öffentlichen Ordnung geschützt werden müssen und in welcher Hinsicht der einzelne Betroffene eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, und zwar sowohl im Fall einer Verurteilung wegen der Begehung einer Straftat als auch im Fall eines entsprechenden Verdachts. Mit anderen Worten darf es keine automatische Entscheidung geben, einer Einzelperson das Recht auf freiwillige Ausreise schon deshalb zu entziehen, weil sie entweder wegen eines Gesetzesverstoßes verurteilt oder der Begehung eines solchen verdächtigt wird.

70.

Ich komme zu dem Ergebnis, dass die Ausnahme von der allgemeinen Regelung in Art. 7 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie, wonach illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Frist von sieben bis 30 Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist, voraussetzt, dass die „Gefahr“ für die öffentliche Ordnung [in der englischen Originalfassung der Schlussanträge: the ‚risk‘ or threat to public order] im Sinne von Art. 7 Abs. 4 durch den betreffenden Mitgliedstaat identifizierbar ist. Die Tragweite dieser Ausnahme ist eine Frage des Unionsrechts. Allgemeine Hinweise auf die Bedeutung des Begriffs der öffentlichen Ordnung können der zu diesem Begriff in anderen Zusammenhängen ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung von Wortlaut, Zielen, Systematik und Kontext der Rückführungsrichtlinie entnommen werden. Für die Feststellung, ob ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie darstellt, müssen die zuständigen nationalen Behörden jeweils in einer Beurteilung auf Grundlage des Einzelfalls das Interesse der öffentlichen Ordnung bestimmen, das sie schützen wollen. Diese Behörden trifft die Darlegungslast für die Gründe, die die Anwendung von Art. 7 Abs. 4 rechtfertigen. Insoweit müssen sie nachweisen, dass die betreffende Person (i) gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hat und (ii) eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Unter bestimmten Umständen reicht ein hinreichender Verdacht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, für die Anwendung der Ausnahme der öffentlichen Ordnung in Art. 7 Abs. 4 aus. Wenn eine Verurteilung vorliegt, muss diese nicht rechtskräftig geworden sein.

Frage 2

71.

Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob neben einem Verdacht oder einer Verurteilung wegen der Begehung einer Straftat noch andere Tatsachen und Umstände (wie die Art der Tat, die ihr nach nationalem Recht zugemessene Schwere, die Zeit, die seit Begehung der Tat vergangen ist, oder die Absicht des Betroffenen) bei der Prüfung zu berücksichtigen sind, ob die Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 Anwendung findet, und gegebenenfalls, welche Faktoren relevant sind.

72.

Ich teile die Ansicht aller Beteiligten, die dem Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, dass andere Faktoren zu berücksichtigen sind.

73.

Die Frage ist, welche Faktoren dies sind.

74.

Ich denke nicht, dass es möglich ist, abstrakt alle relevanten Faktoren abschließend aufzuzählen. Wird eine Person wegen Begehung einer Straftat verurteilt, sind meines Erachtens neben den vom vorlegenden Gericht benannten Punkten zumindest auch die folgenden Punkte relevant: die Schwere der verhängten Strafe und der Grad der Beteiligung der betreffenden Person an der Begehung dieser Tat (also ob sie Anstifter oder Haupttäter war oder eine geringfügige Rolle spielte).

75.

Ich bin anderer Ansicht als die Kommission, soweit sie für maßgeblich hält, ob die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung möglicherweise nicht freiwillig nachkommen wird ( 82 ). Der Wortlaut der Rückführungsrichtlinie sieht keine Einschränkung in diesem Sinne vor. Soweit die Ansicht der Kommission sich darüber hinaus auf Fälle bezieht, in denen der Drittstaatsangehörige sich wahrscheinlich durch Flucht entziehen wird, wird dieser Fall (im Sinne der Definition in Art. 3 Abs. 7) vom ersten Grund von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie erfasst.

76.

Das vorlegende Gericht fragt ferner, ob die Absicht der betreffenden Person ein relevanter Faktor sein kann. Meines Erachtens wird dies grundsätzlich zu bejahen sein, denn die Frage, ob zu erwarten ist, dass die betreffende Person weitere Verstöße oder einen schwerwiegenderen Verstoß begehen wird, ist eindeutig ein relevanter Faktor. Möglicherweise wird die Frage nach der Absicht hier deshalb ausdrücklich gestellt, weil Herr Zh. nicht beabsichtigte, sich in den Niederlanden aufzuhalten, sondern von den niederländischen Behörden auf der Durchreise nach Kanada aufgehalten wurde. Der Umstand, dass er nicht beabsichtigte, sich in den Niederlanden aufzuhalten, ist irrelevant für die Frage, ob er sich im Sinne der Rückführungsrichtlinie illegal aufhielt ( 83 ). Seine Absicht ist jedoch für die Wertung relevant, ob die von ihm begangene Straftat des Reisens mit einem gefälschten Dokument eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt und ob er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung in den Niederlanden ist. Das den Absichten von Herrn Zh. zuzumessende Gewicht haben die nationalen Behörden zu beurteilen, und es unterliegt der Überprüfung durch das nationale Gericht. Ebenso wie die sonstigen Faktoren (die oben in den Nrn. 71 und 74 aufgeführt sind) können die Absichten des Betroffenen nicht ausschlaggebend sein. Tatsächlich scheinen mir bei einer Person, die mit einem gefälschten Dokument reist und nicht beabsichtigt, sich im betreffenden Land aufzuhalten, insoweit das Maß der Störung und die Art der Gefahr für die öffentliche Ordnung weniger deutlich zu sein als im Fall einer Person, die verurteilt wird, weil sie Banden, die am Menschenhandel beteiligt sind, wissentlich gefälschte Papiere verschafft. Letzteres ist nämlich ein schwerwiegenderer Gesetzesverstoß, der deutliche Auswirkungen auf die öffentliche Ordnung hat.

77.

Diese Faktoren sind gleichermaßen relevant für einen Verdacht der Begehung einer Straftat. Wichtig ist auch, die Grundlage dieses Verdachts zu berücksichtigen. So läge beispielsweise der Fall einer Person, die wegen Begehung eines gewalttätigen Angriffs festgenommen wird und deren Prozess eingestellt wird, weil der Geschädigte (als einziger Zeuge) nicht zur Aussage bereit ist, anders als der einer Person, die der Begehung eines Kleindiebstahls beschuldigt wird, dessentwegen die Polizei nicht ermittelt hat, während die Person gleichwohl den Ausländerbehörden gemeldet wurde. Im ersten Fall lagen hinreichende Gründe dafür vor, dass der Staat die Strafverfolgung einleitete, was darauf schließen lässt, dass ein Interesse der öffentlichen Ordnung besteht. In der zweiten Fallgestaltung geht es um eine bloße Behauptung, die an sich nicht unbedingt ein Interesse der öffentlichen Ordnung belegt.

78.

Das vorlegende Gericht erläutert, dass seit dem Runderlass vom 9. Februar 2012 in den Niederlanden die Praxis bestehe, dass als Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne einer Rückkehrentscheidung jeder Verdacht oder jede Verurteilung wegen einer nach nationalem Recht als Straftat strafbaren Handlung gelte ( 84 ). Dieser Runderlass erging zeitlich nach dem dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt. Die niederländische Regierung hat jedoch in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass der Inhalt des vorangegangenen Runderlasses, der zum maßgeblichen Zeitpunkt galt, mehr oder weniger mit demjenigen des Runderlasses vom 9. Februar 2012 identisch gewesen sei. Der Runderlass sei zwar nicht rechtsverbindlich gewesen, es sei jedoch übliche Praxis gewesen, dass die nationalen Behörden vom Bestehen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung in Fällen wie denjenigen von Herrn Zh. und Herrn O. ausgegangen seien und eine Frist für die freiwillige Ausreise versagt hätten, weil die betreffende Person wegen einer Straftat verurteilt gewesen sei oder der Begehung einer Straftat verdächtigt worden sei. Der Drittstaatsangehörige sei sodann informiert und ihm die Gelegenheit zur Mitteilung gegeben worden, ob seine individuellen persönlichen Umstände solcher Art seien, dass ihm gleichwohl eine Frist für die freiwillige Ausreise (automatisch 28 Tage) mit der Begründung gewährt werden müsse, dass eine solche Frist aus Gründen beispielsweise der Gesundheit oder familiärer Bindungen (vgl. Art. 5 der Rückführungsrichtlinie) erforderlich sei.

79.

Auch wenn die niederländische Regelung nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist (es handelt sich vorliegend nicht um ein Vertragsverletzungsverfahren), weise ich der guten Ordnung halber darauf hin, dass eine solche Praxis meines Erachtens mit der Rückführungsrichtlinie aus folgenden Gründen unvereinbar sein dürfte. Erstens geht die Systematik von Art. 7 dahin, dass er ein Recht auf freiwillige Ausreise gewährt (Art. 7 Abs. 1) und von diesem Recht nur unter besonderen Umständen Ausnahmen zulässt (Art. 7 Abs. 4). Zweitens gibt der Wortlaut der Richtlinie ausdrücklich an, dass Voraussetzung für die Anwendung der Ausnahme der öffentlichen Ordnung in Art. 7 Abs. 4 eine Beurteilung auf Grundlage des Einzelfalls ist (und nicht die Anwendung allgemeiner Regelungen etwa danach, ob ein Verdacht oder eine Verurteilung wegen einer Straftat besteht) ( 85 ). Drittens ist die niederländische Regelung, wie sie vom vorlegenden Gericht erläutert wird, durch eine gegen die freiwillige Ausreise sprechende Vermutung gekennzeichnet, wenn gegen die betreffende Person eine Verurteilung oder ein Verdacht wegen der Begehung einer Straftat vorliegt. Das Konzept einer solchen Vermutung findet im Wortlaut der Rückführungsrichtlinie keinerlei Stütze.

80.

Darüber hinaus legt die Rückführungsrichtlinie gemeinsame Normen und Verfahren fest (zweiter Erwägungsgrund und Art. 1), die von jedem Mitgliedstaat bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger anzuwenden sind. Die Mitgliedstaaten dürfen daher nach Art. 4 nur dann von diesen Normen und Verfahren abweichen, wenn sie günstigere Bestimmungen anwenden wollen. Die Richtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten nicht, in dem von ihr geregelten Bereich strengere Normen anzuwenden ( 86 ).

81.

Aus diesen Anmerkungen folgt, dass die nationalen Behörden über die Tatsache hinaus, dass Herr Zh. wegen Reisens mit einem gefälschten Dokument verurteilt wurde, darlegen müssen, warum die Anwendung von Art. 7 Abs. 4 durch sie gerechtfertigt ist. In welcher Hinsicht stellt seine Handlung eine Störung der öffentlichen Ordnung dar, und warum wird die Ansicht vertreten, dass er eine Gefahr darstellt? Herr O. wird dagegen verdächtigt, eine Misshandlung im häuslichen Bereich begangen zu haben – ebenfalls eine Straftat. In seinem Fall müssen die nationalen Behörden nachweisen, in welcher Hinsicht er gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hat. Sie müssen eine tragfähige Grundlage für den Verdacht darlegen, was von einer bloßen Behauptung zu unterscheiden ist. Dabei müssen sie den die öffentliche Ordnung berührenden Charakter des Verstoßes feststellen, z. B. ob die Besorgnis besteht, dass er weitere ähnliche Verstöße begehen wird.

82.

Im Ergebnis dürfen bei der Beurteilung, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie besteht, Entscheidungen nicht allein darauf gestützt werden, dass der betreffende Drittstaatsangehörige der Begehung einer Straftat verdächtigt wird oder wegen der Begehung einer Straftat verurteilt worden ist. Andere Faktoren, wie die Schwere und Art der Straftat nach nationalem Recht, die Zeit, die seit Begehung der Tat vergangen ist, die Absicht des Betroffenen und der Grad der Beteiligung an der Begehung der Tat, sind für jede Beurteilung relevant. Wird die Anwendung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 auf den Verdacht der Begehung einer Straftat gestützt, sind die Gründe, auf die sich dieser Verdacht stützt, für die Wertung relevant. Es muss stets eine Beurteilung auf Grundlage des Einzelfalls vorgenommen werden.

Frage 3

83.

Für den Fall, dass der betreffende Drittstaatsangehörige als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 angesehen wird, bittet das vorlegende Gericht um Hinweise, ob die bei der Beurteilung dieser Gefahr berücksichtigten Faktoren auch für die Entscheidung relevant sind, ob dieser Person für die freiwillige Ausreise eine Frist von weniger als sieben Tagen oder überhaupt keine Frist zu gewähren ist.

84.

Nach Ansicht der Niederlande überlässt die Rückführungsrichtlinie in diesem Fall den Mitgliedstaaten die Entscheidung zwischen zwei Alternativen: (i) Gewährung einer Frist von weniger als sieben Tagen oder (ii) Versagung einer Frist für die freiwillige Ausreise. Die Mitgliedstaaten seien somit nicht verpflichtet, eine Regelung anzuwenden, die sowohl eine sofortige Ausweisung als auch eine Ausreise innerhalb eines zeitlichen Rahmens von einem bis sechs Tagen abdecke. Die Niederlande wendeten einen solchen Rahmen nicht an; sie gewährten keine Frist für die freiwillige Ausreise, wenn Art. 7 Abs. 4 Anwendung finde. Die niederländische Regierung erläutert, dass ihr Vorgehen ihres Erachtens Unsicherheit vermeide, weil klar sei, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt werde. Dies entlaste somit Verwaltungsbehörden und Justiz, die nicht beurteilen müssten, ob in jedem Einzelfall eine Frist von weniger als sieben Tagen angemessen sei. Als Ausnahme für den Fall, dass die Umstände des Drittstaatsangehörigen derart seien, dass die Voraussetzungen von Art. 5 der Rückführungsrichtlinie (aus Gründen familiärer Bindungen oder des Gesundheitszustands der betreffenden Person) gegeben seien, könne und werde eine feste längere Frist (28 Tage) gewährt werden.

85.

Alle Mitgliedstaaten, die zu Frage 3 Stellung genommen haben, sind der Ansicht, dass die Beurteilung, ob der Betroffene sofort auszuweisen sei oder ihm ein bis sechs Tage für die freiwillige Ausreise zu gewähren seien, im Ermessen des betreffenden Mitgliedstaats liege und die Faktoren, die für die Wertung relevant seien, ob das Interesse der öffentlichen Ordnung gefährdet sei, ebenso für die Frage relevant seien, ob weniger als sieben Tage für die freiwillige Ausreise gewährt würden oder sofort ausgewiesen werde.

86.

Meines Erachtens gehört zu den Zielen von Art. 7 Abs. 4, den Mitgliedstaaten eine kurzfristige Rückführung bestimmter illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger zu ermöglichen, wenn das Interesse der öffentlichen Ordnung dies erforderlich macht. Es besteht daher ein Zusammenhang zwischen der Gefahr für das Interesse der öffentlichen Ordnung und der Notwendigkeit, eine kurzfristige Rückführung vorzunehmen. Frage 3 ist somit kurz mit „ja“ zu beantworten: Die Faktoren, die für die Beurteilung relevant sind, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht, sind auch relevant für die Entscheidung, ob im Einzelfall eine Frist von weniger als sieben Tagen zu gewähren ist.

87.

Allerdings bin ich in der impliziten Frage nach der Bedeutung der Formulierung „… die Mitgliedstaaten [können] davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder sie können eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen“ in Art. 7 Abs. 4 anderer Ansicht als die niederländische Regierung. Meines Erachtens wäre eine Auslegung von Art. 7 Abs. 4, die einem Mitgliedstaat gestatten würde, automatisch eine sofortige Ausweisung vorzunehmen, wenn die Ausnahme der öffentlichen Ordnung Anwendung findet, mit der Rückführungsrichtlinie unvereinbar.

88.

Bei einer Auslegung, die mit den Zielen und der Systematik der Rückführungsrichtlinie im Einklang steht, ist vielmehr erforderlich, dass jeweils eine Beurteilung auf Grundlage des Einzelfalls vorgenommen wird, ob eine sofortige Ausweisung angemessen ist oder ein bis sechs Tage für die freiwillige Ausreise einzuräumen sind ( 87 ).

89.

Der Wortlaut der Rückführungsrichtlinie stützt diesen differenzierteren Ansatz. Entscheidungen gemäß der Richtlinie sollten auf Grundlage des Einzelfalls anhand objektiver Kriterien getroffen werden ( 88 ). Die freiwillige Rückkehr ist der Rückführung vorzuziehen, wobei eine Frist für die freiwillige Ausreise gesetzt werden sollte ( 89 ).

90.

Ferner muss nach der Rückführungsrichtlinie grundsätzlich ein Einreiseverbot erlassen werden, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise gewährt wird ( 90 ). Der Erlass eines Einreiseverbots hat für den betreffenden Drittstaatsangehörigen gewichtige Konsequenzen. Er zeigt an, dass die Gefahr, die er für das Interesse der öffentlichen Ordnung darstellt, erheblich ist, und setzt das Schengen-Ausschreibungssystem im SIS in Gang ( 91 ). Er führt auch zu einer Gefährdung der in Art. 14 der Richtlinie vorgesehenen Garantien bis zur Rückkehr, einschließlich der Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den im betreffenden Mitgliedstaat aufhältigen Familienangehörigen und der Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten.

91.

Nach ständiger Rechtsprechung haben die Mitgliedstaaten beim Erlass von Maßnahmen zur Durchführung einer Unionsregelung ihr Ermessen insbesondere unter Beachtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts auszuüben, zu denen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört ( 92 ). Im Kontext der Rückführungsrichtlinie erfordert dieser Grundsatz, dass bei der Einschränkung des Rechts auf freiwillige Ausreise die je nach den Umständen des Falles am wenigsten belastende Maßnahme ergriffen wird.

92.

Nach der Rückführungsrichtlinie kann der betreffende Mitgliedstaat dann, wenn ein Drittstaatsangehöriger unter Art. 7 Abs. 4 fällt, wählen, ob er als Ausnahme von Art. 7 Abs. 1 (der eine Frist für die freiwillige Ausreise zwischen sieben und 30 Tagen vorsieht) eine Frist für die freiwillige Ausreise von weniger als sieben Tagen gewährt oder gegebenenfalls von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise ganz absieht. Die vom vorlegenden Gericht geäußerte Ansicht, dass das Absehen von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise die am wenigsten belastende Maßnahme sei, teile ich nicht. Im Gegenteil: Wendet ein Mitgliedstaat eine Praxis an, wonach in jedem Fall von der Gewährung einer solchen Frist abgesehen wird, wendet er nicht die am wenigsten belastende Maßnahme an. Weil für alle Fälle die gleiche allgemeine Regelung gilt, findet kein Verfahren der Einzelbeurteilung statt. Diese Rechtslage dürfte meines Erachtens mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht im Einklang stehen.

93.

Zu ergänzen ist, dass das Argument der Niederlande, dass das dortige Rechtsverständnis Belastungen der Verwaltung und Justiz vermeidet, zurückzuweisen ist. Das Bestreben nach einer Minderung des Verwaltungsaufwands berechtigt nicht dazu, eine Fallbeurteilung nach dem differenzierteren System zu umgehen, das die Richtlinie vorschreibt ( 93 ).

94.

Ich komme zu folgendem Schluss: Stellt ein Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie dar, müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten, zu denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört. Bei der Entscheidung, ob der betreffenden Person weniger als sieben Tage für die freiwillige Ausreise zu gewähren sind oder ob sie sofort auszuweisen ist, können die zuständigen nationalen Behörden die Faktoren berücksichtigen, die bei der Beurteilung geprüft werden, ob die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Bei der Entscheidung, ob nach Art. 7 Abs. 4 eine verkürzte Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wird, ist die Entscheidung, in jedem Fall von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, selbst wenn eine Frist zwischen einem und sechs Tagen für die freiwillige Ausreise nach den Umständen des Einzelfalls angemessen sein könnte, mit dieser Richtlinie unvereinbar.

Ergebnis

95.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Raad van State (Niederlande) wie folgt zu beantworten:

Die Ausnahme von der allgemeinen Regelung in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, wonach illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Frist von sieben bis 30 Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist, setzt voraus, dass die „Gefahr“ für die öffentliche Ordnung im Sinne der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 durch den betreffenden Mitgliedstaat identifizierbar ist. Die Tragweite dieser Ausnahme ist eine Frage des Unionsrechts. Allgemeine Hinweise auf die Bedeutung des Begriffs der öffentlichen Ordnung können der zu diesem Begriff in anderen Zusammenhängen ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung von Wortlaut, Zielen, Systematik und Kontext der Richtlinie 2008/115 entnommen werden. Für die Feststellung, ob ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 darstellt, müssen die zuständigen nationalen Behörden jeweils in einer Beurteilung auf Grundlage des Einzelfalls das Interesse der öffentlichen Ordnung bestimmen, das sie schützen wollen. Diese Behörden trifft die Darlegungslast für die Gründe, die die Anwendung von Art. 7 Abs. 4 rechtfertigen. Insoweit müssen sie nachweisen, dass die betreffende Person (i) gegen die öffentliche Ordnung verstoßen hat und (ii) eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Unter bestimmten Umständen reicht ein hinreichender Verdacht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, für die Anwendung der Ausnahme der öffentlichen Ordnung in Art. 7 Abs. 4 aus. Wenn eine Verurteilung vorliegt, muss diese nicht rechtskräftig geworden sein.

Bei der Beurteilung, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 besteht, dürfen Entscheidungen nicht allein darauf gestützt werden, dass der betreffende Drittstaatsangehörige der Begehung einer Straftat verdächtigt wird oder wegen der Begehung einer Straftat verurteilt worden ist. Andere Faktoren, wie die Schwere und Art der Straftat nach nationalem Recht, die Zeit, die seit Begehung der Tat vergangen ist, die Absicht des Betroffenen und der Grad der Beteiligung an der Begehung der Tat, sind für jede Wertung relevant. Wird die Anwendung der Ausnahme in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 auf den Verdacht der Begehung einer Straftat gestützt, sind die Gründe, auf die sich dieser Verdacht stützt, für die Wertung relevant.

Stellt ein Drittstaatsangehöriger eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dar, müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts beachten, zu denen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört. Bei der Entscheidung, ob der betreffenden Person weniger als sieben Tage für die freiwillige Ausreise zu gewähren sind oder ob sie sofort auszuweisen ist, können die zuständigen nationalen Behörden die Faktoren berücksichtigen, die bei der Beurteilung geprüft werden, ob die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Bei der Entscheidung, ob nach Art. 7 Abs. 4 eine verkürzte Frist für die freiwillige Ausreise gewährt wird, ist die Entscheidung, in jedem Fall von der Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise abzusehen, selbst wenn eine Frist zwischen einem und sechs Tagen für die freiwillige Ausreise nach den Umständen des Einzelfalls angemessen sein könnte, mit dieser Richtlinie unvereinbar.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) (ABl. L 348, S. 98).

( 3 ) Siehe unten, Nrn. 13 und 33.

( 4 ) Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13).

( 5 ) Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: Durchführungsübereinkommen).

( 6 ) In diesen Schlussanträgen verwende ich in den folgenden Nummern den Begriff „Drittstaatsangehöriger“ gleichbedeutend mit „Drittausländer“, da der Begriff „Drittausländer“ in den hier zu prüfenden Rechtsvorschriften nicht verwendet wird.

( 7 ) Art. 5 Abs. 2.

( 8 ) Art. 6 Abs. 1.

( 9 ) Art. 6 Abs. 2.

( 10 ) Art. 93.

( 11 ) Art. 96 Abs. 1.

( 12 ) Art. 96 Abs. 2.

( 13 ) Art. 96 Abs. 2 Buchst. a und b.

( 14 ) Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. L 105, S. 1), unlängst geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1051/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 (ABl. L 295, S. 1). Die niederländische Regierung nimmt zwar in ihren schriftlichen Erklärungen auf spätere Änderungen Bezug, doch führe ich diese hier nicht an, weil sie nicht relevant sind, da sie nach dem im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkt in Kraft getreten sind.

( 15 ) Art. 2 Abs. 7.

( 16 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) (im Folgenden: Unionsbürgerrichtlinie).

( 17 ) Art. 1 und 24. Erwägungsgrund.

( 18 ) Erster Erwägungsgrund.

( 19 ) Zweiter Erwägungsgrund.

( 20 ) Vierter Erwägungsgrund.

( 21 ) Fünfter Erwägungsgrund.

( 22 ) Sechster Erwägungsgrund.

( 23 ) Achter Erwägungsgrund.

( 24 ) Zehnter Erwägungsgrund.

( 25 ) 14. Erwägungsgrund.

( 26 ) 18. Erwägungsgrund. In diesem Erwägungsgrund nimmt der Gesetzgeber auf die spätere Änderung des Schengener Grenzkodex Bezug (vgl. oben, Fn. 14).

( 27 ) Art. 2 Abs. 1.

( 28 ) Art. 2 Abs. 3, vgl. oben, Nr. 5. Die Mitgliedstaaten können beschließen, die Rückführungsrichtlinie auf die in Art. 2 Abs. 2 aufgeführten Kategorien von Drittstaatsangehörigen nicht anzuwenden.

( 29 ) Art. 4.

( 30 ) Diese Verpflichtung gilt vorbehaltlich der in Art. 6 Abs. 2 bis 5 aufgeführten Ausnahmen.

( 31 ) Art. 11 Abs. 1.

( 32 ) Art. 11 Abs. 2.

( 33 ) Art. 61 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 62 Abs. 2.

( 34 ) Der Vorlageentscheidung zufolge wird die Entscheidung, die Frist für die Ausreise zu verkürzen, vom Staatssekretär getroffen. Den schriftlichen Erklärungen der niederländischen Regierung entnehme ich jedoch, dass die einschlägigen Bestimmungen der Vw 2000 insoweit auf den Minister verweisen.

( 35 ) Nach dem Rundschreiben gilt auch die Annahme eines „Vergleichs“ zur Abwendung einer Strafe als Gefahr für die öffentliche Ordnung. Ich gehe davon aus, dass unter einem „Vergleich“ (im niederländischen Wortlaut een schikking oder een transactie) eine Art Vereinbarung über die außergerichtliche Beilegung der Angelegenheit im Kontext eines Strafverfolgungsverfahrens zu verstehen ist.

( 36 ) Richtlinie vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) (im Folgenden: Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige).

( 37 ) Richtlinie vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12) (im Folgenden: Familienzusammenführungsrichtlinie).

( 38 ) Offenbar hat Herr Zh. eine solche Klage bereits erhoben; möglicherweise wird Herr O. sich noch dazu entscheiden.

( 39 ) Urteile van Duyn (41/74, EU:C:1974:133, Rn. 18), Rutili (36/75, EU:C:1975:137, Rn. 26 ff.), und Bouchereau (30/77, EU:C:1977:172, Rn. 33 ff.).

( 40 ) Vgl. beispielsweise die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Tsakouridis (C‑145/09, EU:C:2010:322, Nr. 60).

( 41 ) Diese sprachliche Variante setzt sich in mehreren Rechtsakten des abgeleiteten Rechts fort, u. a. auch in denjenigen, die das vorlegende Gericht ausdrücklich erwähnt (vgl. oben, Nr. 22).

( 42 ) Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom (im Folgenden: EMRK).

( 43 ) Vgl. Art. 6 Abs. 1, wonach die Presse während des ganzen oder eines Teils des Verfahrens im Interesse der öffentlichen Ordnung („public order“) ausgeschlossen werden kann, ohne dass das Recht auf ein faires Verfahren beeinträchtigt wird; Art. 9 Abs. 2, wonach die Freiheit, seine Religion zu bekennen, Einschränkungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung („public order“) unterworfen ist; Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7, wonach bestimmte verfahrensrechtliche Schutzvorschriften für ausländische Personen (Drittstaatsangehörige) in Bezug auf die Ausweisung nicht anwendbar sind, wenn die Ausweisung im Interesse der öffentlichen Ordnung („public order“) erforderlich ist. [Die deutsche Fassung von Art. 45 Abs. 3 AEUV und die deutsche Übersetzung der EMRK verwenden wie die deutschen Fassungen der Rückführungsrichtlinie und der drei Richtlinien (vgl. Fn. 16, 35 und 36) ausschließlich den Begriff „öffentliche Ordnung“. Im Folgenden wird zur Klarstellung gegebenenfalls der englische Wortlaut zitierter Texte bzw. der Originalfassung der Schlussanträge übernommen.]

( 44 ) Urteil C‑100/01, EU:C:2002:712.

( 45 ) Urteil van Duyn (EU:C:1974:133).

( 46 ) Urteil van Duyn (EU:C:1974:133, Rn. 18), vgl. auch Urteil Shingara und Radiom (C‑65/95 und C‑111/95, EU:C:1997:300, Rn. 13 und 27).

( 47 ) Zum Zeitpunkt des Erlasses der Rückführungsrichtlinie gab es 22 Amtssprachen.

( 48 ) Vgl. Art. 6a (der später zu Art. 7 der Rückführungsrichtlinie wurde) des Ratsdokuments 7774/08 vom 25. März 2008, 2005/0167 (COD).

( 49 ) Urteil Cilfit u. a. (283/81, EU:C:1982:335, Rn. 19).

( 50 ) Urteil I (C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 51 ) Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Tsakouridis (EU:C:2010:322, Nr. 68).

( 52 ) Urteil Bouchereau (EU:C:1977:172, Rn. 35). In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bouchereau (EU:C:1977:141, auf den S. 2024 bis 2026, unterschied Generalanwalt Warner zwischen den Begriffen „public policy“ („ordre public“ im damaligen Gemeinschaftsrecht) und dem Common-Law-Begriff „public order“. Er erläuterte, dass der Begriff öffentliche Ordnung [im englischen Original der Schlussanträge in der Rechtssache Bouchereau: public policy; in der englischen Originalfassung der hiesigen Schlussanträge hier ersetzt durch [public order], vgl. oben, Nr. 33] ein Begriff sei, der sowohl den Zivilrechts- als auch den Common-Law-Systemen bekannt sei. Bekannt sei er insbesondere im Bereich Ausländer- und Asylrecht. Er entspreche im Englischen dem Begriff „public good“. Der Gerichtshof hat anerkannt, dass der Begriff öffentliche Ordnung u. a. die Verhütung von Gewalt in Ballungsgebieten (Urteil Bonsignore, 67/74, EU:C:1975:34), die Bekämpfung des Handels mit gestohlenen Kraftfahrzeugen (Urteil Boscher, C‑239/90, EU:C:1991:180), den Schutz des Münzrechts (Urteil Thompson u. a., 7/78, EU:C:1978:209), die Achtung der Menschenwürde (Urteil Omega, C‑36/02, EU:C:2004:614) und die Rechtfertigung von Maßnahmen, die eine Ausnahme vom Recht auf Freizügigkeit der eigenen Staatsangehörigen des Mitgliedstaats darstellen (Urteil Aladzhov, C‑434/10, EU:C:2011:750), umfasst.

( 53 ) Vgl. Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie, wo das Wort „threat“ verwendet wird.

( 54 ) Die tschechische, niederländische, französische, ungarische, italienische, lettische, litauische, polnische, rumänische, slowenische und schwedische Fassung.

( 55 ) Die bulgarische, dänische, englische, estnische, deutsche, griechische, finnische, maltesische, portugiesische, slowakische und spanische Fassung.

( 56 ) Urteil Endendijk (C‑187/07, EU:C:2008:197, Rn. 22 bis 24 und die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. aus jüngerer Zeit Schlussanträge des Generalanwalts Bot in den verbundenen Rechtssachen Bero und Bouzalmate (C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:295, Nr. 75).

( 57 ) Fußnote nur für die englische Fassung von Bedeutung.

( 58 ) Vgl. beispielsweise die oben in Fn. 39 angeführte Rechtsprechung und Urteil Bero und Bouzalmate (C‑473/13 und C‑514/13, EU:C:2014:2095, Rn. 25).

( 59 ) Vgl. oben, Nr. 34 und Fn. 50.

( 60 ) Vgl. ferner Urteil Tsakouridis (C‑145/09, EU:C:2010:708, Rn. 25).

( 61 ) Nach Art. 28 Abs. 1 berücksichtigt der Aufnahmemitgliedstaat, bevor er eine Ausweisung u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung verfügt, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, seine soziale und kulturelle Integration in diesen Mitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat. Genießt die betreffende Person ein Recht auf Daueraufenthalt, darf eine Ausweisung nach Art. 28 Abs. 2 u. a. nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung erfolgen.

( 62 ) Vierter Erwägungsgrund der Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige und ihre Art. 1, 3 und 4.

( 63 ) Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2; vgl. auch die Voraussetzungen in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie über langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige.

( 64 ) Die Mitgliedstaaten dürfen eine vorherige Verurteilung wegen der Begehung einer Straftat als hinreichenden Grund für die Annahme betrachten, dass die betreffende Person eine Gefahr für u. a. die öffentliche Ordnung darstellt. Sie können eine Ausweisung verfügen, wenn eine solche Person eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr darstellt (Art. 12 Abs. 1). Bevor sie eine Ausweisung verfügen, müssen die Mitgliedstaaten die in Art. 12 Abs. 3 aufgeführten Faktoren berücksichtigen, insbesondere Dauer des Aufenthalts, Alter, Folgen für die Person und ihre Familie, Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

( 65 ) Art. 1, Art. 2 Buchst. c und Art. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Die Richtlinie soll insbesondere eine gerechte Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in der Europäischen Union aufhalten, sicherstellen und berücksichtigt, dass eine energischere Integrationspolitik darauf ausgerichtet ist, ihnen Rechte und Pflichten zuzuerkennen, die denen der Unionsbürger vergleichbar sind.

( 66 ) Der Begriff der öffentlichen Ordnung umfasst eine Verurteilung wegen der Begehung einer schwerwiegenden Straftat und Fälle, in denen der betreffende Drittstaatsangehörige einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, eine solche Vereinigung unterstützt oder extremistische Bestrebungen hat. Vgl. den 14. Erwägungsgrund der Familienzusammenführungsrichtlinie und Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 zu Entzug und Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels; vgl. auch Art. 17.

( 67 ) Vgl. oben, Nrn. 50 bis 52.

( 68 ) Urteil Brouwer (C‑355/11, EU:C:2012:353, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 69 ) Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 389). Selbstverständlich genießen Drittstaatsangehörige nicht die besonderen Rechte in Titel V der Charta, die als „Bürgerrechte“ bezeichnet werden, wie das passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament.

( 70 ) Urteil Royer (48/75, EU:C:1976:57, Rn. 46).

( 71 ) Oben in Fn. 70 angeführt.

( 72 ) Richtlinie vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. Nr. 56, S. 850 bis 857).

( 73 ) Vgl. Art. 7 Abs. 2.

( 74 ) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache I (C‑348/09, EU:C:2012:123, Nrn. 36 und 37).

( 75 ) Vgl. entsprechend Urteil Bouchereau (EU:C:1977:172, Rn. 27).

( 76 ) Vgl. oben, Nrn. 44 und 60.

( 77 ) In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung erklärt, dass während der Bearbeitung eines Asylantrags gegen den Betroffenen kein Verfahren wegen illegalen Aufenthalts eingeleitet werde. Vgl. ferner Urteil Arslan (C‑534/11, EU:C:2013:343, Rn. 49).

( 78 ) Nach der Rückführungsrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten illegal aufhältige Drittstaatsangehörige nach Art. 1 unter Achtung ihrer Grundrechte zurückführen. Wenn eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt, der Rückkehrentscheidung jedoch nicht nachgekommen wurde, müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 Schritte zur Vollstreckung der Entscheidung ergreifen.

( 79 ) Vgl. oben, Nrn. 3 und 4.

( 80 ) Es gibt eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Schengener Grenzkodex in Art. 3 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie und auf das SIS-System im 18. Erwägungsgrund sowie eine allgemeinere Bezugnahme auf das Schengen-System im 14. Erwägungsgrund. Diese Bezugnahmen zeigen, dass der Schengen-Besitzstand Teil des rechtlichen Kontexts ist, der für die Auslegung der Rückführungsrichtlinie relevant ist.

( 81 ) Vgl. oben, Nr. 4.

( 82 ) Ich gehe davon aus, dass die Kommission sich möglicherweise auf Fälle bezogen hat, in denen der Drittstaatsangehörige sich zwar vielleicht nicht durch Flucht entzieht, aber ohne Erlass einer Abschiebungsentscheidung nach Art. 8 nicht zur Ausreise bereit ist.

( 83 ) Vgl. oben, Nrn. 9 und 25.

( 84 ) Vgl. Nr. 18 und Fn. 35. Die Frage eines „Vergleichs“ stellt sich im Ausgangsverfahren nicht.

( 85 ) Vgl. den sechsten Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie. Vgl. ferner Urteil Royer (EU:C:1976:57, Rn. 46).

( 86 ) Urteil El Dridi (C‑61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 31 bis 33).

( 87 ) Die Regelfrist für die freiwillige Ausreise beträgt nach Art. 7 Abs. 1 mindestens sieben Tage.

( 88 ) Vgl. den sechsten Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie sowie Nrn. 44, 60 und 63 oben.

( 89 ) Vgl. den zehnten Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie. Vgl. ferner Urteil El Dridi (EU:C:2011:268, Rn. 36 und 37).

( 90 ) Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie. In der mündlichen Verhandlung hat die niederländische Regierung erklärt, dass es nicht automatisch zur Verhängung eines Einreiseverbots komme, wenn keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt werde. Diese Rechtslage steht offenbar nicht im Einklang mit dem Wortlaut von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a, der zwingend ist. Zwar behält Art. 4 Abs. 3 den Mitgliedstaaten das Recht vor, günstigere Regelungen anzuwenden, sofern diese mit der Richtlinie im Einklang stehen. Die niederländische Praxis in Bezug auf Einreiseverbote dürfte jedoch insoweit mit der Richtlinie unvereinbar sein, als sie sicherstellen soll, dass Rückkehrentscheidungen und Einreiseverbote europäischen Zuschnitt erhalten, indem der Aufenthalt im Hoheitsgebiet sämtlicher Mitgliedstaaten verboten wird (vgl. Art. 11 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit dem 14. Erwägungsgrund).

( 91 ) Vgl. oben, Nr. 4.

( 92 ) Urteil Cypra (C‑402/13, EU:C:2014:2333, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch den sechsten Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie und den Hinweis darauf, dass Entscheidungen gemäß der Richtlinie im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts stehen sollen, zu denen auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gehört. Vgl. ferner Urteil El Dridi (EU:C:2011:268, Rn. 41).

( 93 ) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein Mitgliedstaat sich nicht auf praktische oder administrative Schwierigkeiten berufen, um die Nichteinhaltung seiner Verpflichtungen zur Umsetzung einer Richtlinie zu rechtfertigen. Vgl. entsprechend Urteil Kommission/Portugal (C‑277/13, EU:C:2014:2208, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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