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Document 62013CC0112

Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 2. April 2014.
A gegen B u. a..
Ersuchen um Vorabentscheidung: Oberster Gerichtshof - Österreich.
Art. 267 AEUV - Nationale Verfassung - Obligatorisches Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit - Prüfung der Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Gesetzes sowohl mit dem Unionsrecht als auch mit der innerstaatlichen Verfassung - Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen - Kein bekannter Wohnsitz oder Aufenthalt des Beklagten im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats - Vereinbarung über die Zuständigkeit bei Einlassung des Beklagten auf das Verfahren - Abwesenheitskurator.
Rechtssache C-112/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:207

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 2. April 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑112/13

A

gegen

B u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs [Österreich])

„Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Verordnung (EG) Nr. 44/2001 — Zusammenarbeit in Zivilsachen — Gerichtliche Zuständigkeit — Vereinbarung über die Zuständigkeit im Fall der Einlassung des Beklagten — Abwesenheitskurator — Art. 47 der Charta — Vorrang des Unionsrechts“

1. 

In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof zunächst zu entscheiden, ob die Einlassung eines nach dem nationalen Recht bestellten Abwesenheitskurators als Einlassung auf das Verfahren im Sinne von Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ( 2 ) gilt.

2. 

Die Bedeutung dieser Frage liegt darin, dass die Einlassung im Sinne dieser Bestimmung ohne Weiteres zur Vereinbarung über die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts führt, auch wenn es aufgrund der Regeln der Verordnung Nr. 44/2001 nicht zuständig wäre.

3. 

Der Oberste Gerichtshof (Österreich) möchte ferner wissen, ob die nationalen Gerichte aufgrund des Äquivalenzgrundsatzes verpflichtet sind, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen, statt es im Einklang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts im konkreten Fall unangewendet zu lassen.

4. 

In diesen Schlussanträgen werde ich darlegen, aus welchen Gründen ich der Meinung bin, dass Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Einlassung eines nach dem nationalen Recht bestellten Abwesenheitskurators vor einem nationalen Gericht nicht als Einlassung des Beklagten im Sinne von Art. 24 dieser Verordnung gilt.

5. 

Danach werde ich erläutern, weshalb im Geltungsbereich des Unionsrechts der Äquivalenzgrundsatz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationalen Gerichte meines Erachtens nicht verpflichtet, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen. Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine solche Verpflichtung vorsieht, verstößt nicht gegen Unionsrecht, sofern die Aufgabe des nationalen Richters, die unionsrechtlichen Bestimmungen anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten, indem er erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, sowie seine Befugnis, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, weder beseitigt noch ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben werden.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Verordnung Nr. 44/2001

6.

Nach ihrem Art. 1 Abs. 1 ist die Verordnung Nr. 44/2001 in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt.

7.

Art. 2 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt, dass, vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung, Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen sind.

8.

Der zu Abschnitt 7 („Vereinbarung über die Zuständigkeit“) gehörende Art. 24 der Verordnung sieht vor:

„Sofern das Gericht eines Mitgliedstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen, oder wenn ein anderes Gericht aufgrund des Artikels 22 ausschließlich zuständig ist.“

9.

Art. 26 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:

„Lässt sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und der vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, auf das Verfahren nicht ein, so hat sich das Gericht von Amts wegen für unzuständig zu erklären, wenn seine Zuständigkeit nicht nach dieser Verordnung begründet ist.“

10.

In Kapitel III („Anerkennung und Vollstreckung“) bestimmt Art. 34 Nr. 2 dieser Verordnung, dass eine Entscheidung nicht anerkannt wird, wenn dem Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat, das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat gegen die Entscheidung keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl er die Möglichkeit dazu hatte.

B – Österreichisches Recht

1. Verfassungsrecht

11.

Nach Art. 89 Bundes-Verfassungsgesetz (B‑VG) ist sowohl den ordentlichen Gerichten als auch dem Obersten Gerichtshof – der nach Art. 92 B‑VG obersten Instanz in Zivil- und Strafrechtssachen – die Aufhebung von einfachen Gesetzen wegen Verstoßes gegen die Verfassung verwehrt. Sie haben, wenn sie ein einfaches Gesetz für verfassungswidrig erachten, einen Antrag an den Verfassungsgerichtshof zu stellen.

12.

Nach Art. 140 Abs. 6 und 7 B‑VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes durch den Verfassungsgerichtshof allgemein und bindet die ordentlichen Gerichte.

13.

Der Oberste Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ohne Befassung des Verfassungsgerichtshofs wiederholt Gesetzesbestimmungen, die gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstießen, im konkreten Fall unangewendet gelassen und sich dabei auf den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gestützt. Auch der Verfassungsgerichtshof hat bisher ausgesprochen, dass ein allfälliger Widerspruch eines österreichischen Gesetzes zum Unionsrecht durch das Vorrangprinzip zu lösen sei. Ein solcher Widerspruch führt also nicht zur Aufhebung des Gesetzes wegen Verfassungswidrigkeit im Sinne von Art. 140 B‑VG.

14.

In einer Entscheidung vom 14. März 2012 hat der Verfassungsgerichtshof in Abkehr von dieser Rechtsprechung allerdings entschieden, dass die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in Österreich unmittelbar anwendbar sei und im Verfassungsrang stehe. Die von ihr gewährleisteten Rechte seien durch das B‑VG gewährleistete Rechte. Vor dem Hintergrund des Äquivalenzgrundsatzes sei daher zu prüfen, auf welche Weise und in welchem Verfahren Rechte aus der Charta aufgrund der innerstaatlichen Rechtslage geltend gemacht werden könnten.

15.

Zudem beruhe das Rechtsschutzsystem des B‑VG darauf, dass der Verfassungsgerichtshof als einzige Instanz über Verletzungen durch generelle Normen, nämlich Gesetze und Verordnungen, absprechen solle und als einzige Instanz die Befugnis zur Aufhebung solcher Normen habe.

16.

Der Verfassungsgerichtshof kommt daher zu dem Ergebnis, dass aufgrund der innerstaatlichen Rechtslage der Äquivalenzgrundsatz zur Folge habe, dass im Anwendungsbereich der Charta auch die von ihr garantierten Rechte einen Prüfungsmaßstab in Verfahren der generellen Normenkontrolle, insbesondere nach den Art. 139 und 140 B‑VG, bildeten.

17.

Der Verfassungsgerichtshof hat schließlich betont, dass keine Vorlagepflicht an den Gerichtshof bestehe, wenn eine Rechtsfrage für die Entscheidung eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht erheblich sei, d. h., wenn die Antwort auf diese Frage, wie auch immer sie ausfalle, keinerlei Einfluss auf die Entscheidung dieses Rechtsstreits haben könne. Dies sei im Bereich der Charta dann der Fall, wenn ein durch das B‑VG gewährleistetes Recht, insbesondere ein Recht aus der EMRK, den gleichen Anwendungsbereich wie ein Recht aus der Charta habe. In einem solchen Fall ergehe die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs daher aufgrund der österreichischen Verfassungslage, ohne dass eine Vorabentscheidung im Sinne des Art. 267 AEUV einzuholen wäre.

18.

Das könnte nach den Angaben des vorlegenden Gerichts bedeuten, dass ein Verstoß eines österreichischen Gesetzes gegen Unionsrecht und insbesondere gegen die Charta nicht unmittelbar im ordentlichen Verfahren durch die Anwendung des Vorrangprinzips bereinigt werden könne, sondern die ordentlichen Gerichte – unbeschadet der Möglichkeit, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen – aus dem Äquivalenzgrundsatz zur Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof verhalten werden sollten.

2. Zivilprozessordnung

19.

§ 115 der Zivilprozessordnung (ZPO) sieht in der für den Ausgangsrechtsstreit geltenden Fassung vor, dass an Personen, deren Abgabestelle unbekannt ist, grundsätzlich durch öffentliche Bekanntmachung zuzustellen ist. Ferner ist die Aufnahme in eine Ediktsdatei festgelegt.

20.

Nach § 116 ZPO hat das befasste Gericht für Personen, an welche die Zustellung wegen Unbekanntheit des Aufenthalts nur durch öffentliche Bekanntmachung geschehen könnte, auf Antrag oder von Amts wegen einen Kurator zu bestellen, wenn diese Personen infolge der an sie zu bewirkenden Zustellung zur Wahrung ihrer Rechte eine Prozesshandlung vorzunehmen hätten und insbesondere wenn das zuzustellende Schriftstück eine Ladung derselben enthält. Gemäß § 117 ZPO ist die Kuratorbestellung mit Edikt kundzumachen; in die Ediktsdatei kann jedermann mittels automationsunterstützter Datenübermittlung Einsicht nehmen.

21.

Das befasste Gericht hat schließlich nach § 230 ZPO vorweg zu prüfen, ob es international zuständig ist. Ist dies nicht der Fall, hat das Erstgericht die Klage von Amts wegen zurückzuweisen. Ist seine Zuständigkeit hingegen begründet, hat es die Klage zur Beantwortung an den Beklagten zuzustellen.

II – Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits

22.

Am 12. Oktober 2009 erhoben B u. a. beim Landesgericht Krems an der Donau, dem Erstgericht, Klage gegen A, von dem sie Schadensersatz begehren. Sie tragen vor, dieser habe in Kasachstan ihre Ehemänner bzw. Väter entführt und verschleppt. Die Zuständigkeit der österreichischen Gerichte stützen sie darauf, dass A seinen ordentlichen Wohnsitz im österreichischen Hoheitsgebiet habe.

23.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Klageschrift zuzustellen, stellte das Landesgericht Krems an der Donau fest, dass A an den Zustelladressen keinen Wohnsitz mehr habe, und bestellte daher auf Antrag von B u. a. mit Beschluss vom 27. August 2010 einen Abwesenheitskurator nach § 116 ZPO.

24.

Der Kurator reichte nach Zustellung der Klageschrift an ihn eine Klagebeantwortung ein, in der er die Abweisung der Klage beantragte und zahlreiche inhaltliche Einwendungen erhob. Er zog in diesem Schriftsatz die internationale Zuständigkeit der österreichischen Gerichte nicht in Zweifel.

25.

In der Folge gab A, nachdem er von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren Kenntnis erlangt hatte, bekannt, eine ihn nunmehr vertretende Rechtsanwaltskanzlei bevollmächtigt zu haben, und ersuchte darum, in Zukunft alle Zustellungen an diese Kanzlei vorzunehmen. Im Übrigen wandte er auch die internationale Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte ein und wies darauf hin, dass sich der maßgebliche Sachverhalt in Kasachstan ereignet habe. Durch das Auftreten des Abwesenheitskurators, zu dem er keinen Kontakt gehabt habe und der auch keine Kenntnis von den Umständen der Rechtssache habe, sei keine Heilung dieser Unzuständigkeit eingetreten. A teilte darüber hinaus mit, dass er seinen Wohnsitz wegen der Gefahr für sein Leben nicht preisgeben dürfe. Er habe Österreich lange vor Klagseinbringung auf Dauer verlassen.

26.

Das Landesgericht Krems an der Donau erklärte sich daraufhin für international unzuständig und wies die Klage mit der Begründung zurück, dass sich A im maltesischen Hoheitsgebiet aufhalte und die Einlassung des Abwesenheitskurators keine Streiteinlassung im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 darstelle.

27.

B u. a. erhoben Rekurs gegen diese Entscheidung. Das Rekursgericht gab diesem Rekurs statt und verwarf die Einrede der mangelnden internationalen Zuständigkeit. Die Verordnung Nr. 44/2001 sehe eine Pflicht des Gerichts zur Prüfung seiner internationalen Zuständigkeit nur bei Nichteinlassung des Beklagten im Sinne von Art. 26 dieser Verordnung vor, und es habe seine internationale Zuständigkeit nur auf Einrede des Beklagten zu prüfen. Der Prozesshandlung des zur Interessenwahrung verpflichteten Abwesenheitskurators komme nach österreichischem Recht dieselbe Rechtswirkung zu wie jener eines rechtsgeschäftlich Bevollmächtigten.

28.

A legte daraufhin gegen diese Entscheidung Revisionsrekurs zum vorlegenden Gericht ein. Er ist der Meinung, dass eine solche Entscheidung gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nach Art. 6 EMRK und Art. 47 der Charta verstoße, da der Beklagte keine Kenntnis von einem gegen ihn eingeleiteten Verfahren habe.

29.

B u. a. stützen sich in ihrer beim vorlegenden Gericht eingereichten Revisionsrekursbeantwortung hingegen darauf, dass die Bestellung eines Abwesenheitskurators eine Garantie für den Schutz ihres ebenfalls in diesen Bestimmungen verankerten Grundrechts auf ein effektives Gerichtsverfahren darstelle.

30.

Das vorlegende Gericht hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 sowie von Art. 47 der Charta und hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

III – Vorlagefragen

31.

Der Oberste Gerichtshof hat dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist aus dem europarechtlichen „Äquivalenzprinzip“ bei der Durchsetzung des Rechts der Europäischen Union für ein Verfahrenssystem, in dem die zur Sachentscheidung berufenen ordentlichen Gerichte zwar auch die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu prüfen haben, ihnen aber die generelle Aufhebung der Gesetze verwehrt ist, sondern einem in besonderer Weise organisierten Verfassungsgerichtshof vorbehalten wurde, abzuleiten, dass die ordentlichen Gerichte beim Verstoß eines Gesetzes gegen Art. 47 der Charta während des Verfahrens auch den Verfassungsgerichtshof zur allgemeinen Aufhebung des Gesetzes anrufen müssen und nicht bloß das Gesetz im konkreten Fall unangewendet lassen können?

2.

Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er einer Verfahrensbestimmung entgegensteht, wonach ein international unzuständiges Gericht einen Abwesenheitskurator für eine Partei, deren Aufenthalt nicht festgestellt werden kann, bestellt und dieser dann durch seine „Einlassung“ verbindlich die internationale Zuständigkeit bewirken kann?

3.

Ist Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass nur dann eine „Einlassung des Beklagten“ im Sinne dieser Bestimmung vorliegt, wenn die entsprechende Prozesshandlung durch den Beklagten selbst oder einen von ihm bevollmächtigten Rechtsvertreter gesetzt wurde, oder gilt dies ohne Einschränkung auch bei einem nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats bestellten Abwesenheitskurator?

IV – Würdigung

32.

Zunächst bin ich der Meinung, dass – wie A, die österreichische und die italienische Regierung sowie die Europäische Kommission angeregt haben – die zweite und die dritte Frage, die den Gerichtshof zur Auslegung von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta veranlassen werden, zuerst zu beantworten sind und erst im Anschluss daran die erste Frage, auf die es nur dann ankommt, wenn die zweite und die dritte Frage dahin beantwortet werden, dass das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht.

A – Zur zweiten und zur dritten Frage

33.

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die ich zusammen behandeln werde, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Einlassung eines nach dem nationalen Recht bestellten Abwesenheitskurators vor einem nationalen Gericht als Einlassung des Beklagten im Sinne dieser Bestimmung der Verordnung gilt und somit zur stillschweigenden Anerkennung der internationalen Zuständigkeit dieses Gerichts führt.

34.

Wie bereits ausgeführt, ist nämlich im Ausgangsrechtsstreit gemäß § 116 ZPO ein Abwesenheitskurator bestellt worden, da die Klageschrift von B u. a. nicht zugestellt werden konnte, weil es keine bekannte Anschrift gab.

35.

Für den Begriff „Einlassung“ im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 findet sich in der Verordnung keine Definition. Meines Erachtens muss dieser Begriff im Unionsrecht eigenständig definiert werden, da mit der Verordnung das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts dadurch gefördert werden soll, dass Bestimmungen erlassen werden, um u. a. die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zu vereinheitlichen ( 3 ). Eine uneinheitliche Auslegung dieses Begriffs könnte die Verwirklichung dieses Ziels gefährden. Art. 24 der Verordnung ist daher im Licht ihrer Systematik und Zielsetzung auszulegen.

36.

Diese Bestimmung stellt eine stillschweigende Vereinbarung über die Zuständigkeit des Gerichts dar, vor dem sich der Beklagte auf das Verfahren einlässt, auch wenn es aufgrund der Regeln der Verordnung Nr. 44/2001 nicht zwangsläufig zuständig ist. Diese Ausnahme, die nicht für die Regeln über die ausschließliche Zuständigkeit in Art. 22 der Verordnung gilt, stellt eine Abweichung von der in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitsregelung dar und ist daher eng auszulegen.

37.

Die mit der Verordnung Nr. 44/2001 eingeführten Regeln sollen nämlich für die Bürger in hohem Maß vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten ( 4 ). Dieser Grundsatz greift eine im Zivilverfahren seit langem etablierte Regel auf, nämlich actor sequitur forum rei. Diese Regelzuständigkeit hat den Vorzug vor allen anderen erhalten, weil unterstellt wird, dass der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten grundsätzlich die engsten Verbindungen zum Rechtsstreit aufweist.

38.

Da diese Feststellung nicht immer zutrifft, sieht die Verordnung Nr. 44/2001 besondere Zuständigkeitsregeln vor, die zur Anwendung gelangen, wenn aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist ( 5 ). Insbesondere sollen die Zuständigkeitsregeln auf dem Gebiet der Versicherungs- und der Verbrauchersachen oder der individuellen Arbeitsverträge die schwächere Partei durch Bestimmungen schützen, die für sie günstiger sind ( 6 ). Die Notwendigkeit einer engen Auslegung von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 ist daher erst recht von grundlegender Bedeutung, wenn sie zu einer Abweichung von Zuständigkeitsregeln führen könnte, die einen höheren Schutz verleihen.

39.

Die stillschweigende Vereinbarung über die Zuständigkeit des Gerichts, vor dem sich der Beklagte auf das Verfahren eingelassen hat, soll zu einer raschen Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen beitragen, die ein Gericht erlassen hat, dessen Zuständigkeit beide Parteien anerkannt haben, und zwar auch dann, wenn es in Wirklichkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig war. Sieht sich daher der Vollstreckungsrichter veranlasst, die Zuständigkeit des Richters zu überprüfen, der die Entscheidung erlassen hat ( 7 ), soll vermieden werden, dass der erstgenannte Richter dem Letztgenannten auf der Grundlage der Verordnung Nr. 44/2001 die Zuständigkeit abspricht, obwohl sich die Parteien des Rechtsstreits auf diese Zuständigkeit geeinigt haben und der Beklagte sich auf das Verfahren eingelassen hat, ohne die Unzuständigkeit geltend zu machen. Wie die Kommission hervorhebt, ist daher in diesem Fall für die Bestimmung der Zuständigkeit des Gerichts allein das Verhalten des Beklagten ausschlaggebend.

40.

Hieran ist gut zu erkennen, von welcher Bedeutung es für den sich auf das Verfahren einlassenden Beklagten ist, in voller Kenntnis der Sachlage über die stillschweigende Vereinbarung der Zuständigkeit eines normalerweise unzuständigen Gerichts zu entscheiden. Nehmen wir das Beispiel eines Rechtsstreits über einen Verbrauchervertrag. Stellen wir uns vor, der Verbraucher werde von seinem gewerblichen Vertragspartner vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagt, in dessen Hoheitsgebiet der Gewerbetreibende seinen Wohnsitz hat. Normalerweise stünde Art. 16 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 der Zuständigkeit dieser Gerichte entgegen, da der Verbraucher die schwächere Partei ist und daher das Gericht des Mitgliedstaats zuständig ist, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat. Lässt sich der Verbraucher vor den Gerichten des erstgenannten Mitgliedstaats allerdings bewusst auf das Verfahren ein, ohne ihre Unzuständigkeit geltend zu machen, werden sie gemäß Art. 24 der Verordnung zuständig ( 8 ), und die Entscheidung wird somit vom Vollstreckungsrichter anzuerkennen sein.

41.

Von welcher Bedeutung es ist, sicherzustellen, dass sich der Beklagte der Folgen bewusst ist, die durch die „Einlassung“ im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 ausgelöst werden, zeigt sich nunmehr deutlich in der neuen, überarbeiteten Fassung dieser Verordnung, nämlich der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ( 9 ). Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 wurde nämlich geändert und durch einen Abs. 2 ergänzt. Dieser lautet: „In Streitigkeiten nach den Abschnitten 3, 4 oder 5, in denen der Beklagte Versicherungsnehmer, Versicherter, Begünstigter eines Versicherungsvertrags, Geschädigter, Verbraucher oder Arbeitnehmer ist, stellt das Gericht, bevor es sich nach Absatz 1 für zuständig erklärt, sicher, dass der Beklagte über sein Recht, die Unzuständigkeit des Gerichts geltend zu machen, und über die Folgen der Einlassung oder Nichteinlassung auf das Verfahren belehrt wird.“ ( 10 )

42.

Es ist daher unerlässlich, dass die stillschweigende Vereinbarung der Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats nur zugelassen wird, wenn sich alle Parteien des Rechtsstreits, vor allem aber der Beklagte, bewusst für diese Zuständigkeit und gegen die Zuständigkeit des aufgrund der Regeln der Verordnung Nr. 44/2001 normalerweise zuständigen Gerichts entschieden haben.

43.

Deshalb vermag ich nicht zu erkennen, wie davon ausgegangen werden könnte, dass der Beklagte, wenn er nicht nur nicht persönlich erscheint, sondern nicht einmal Kenntnis von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren hat, in voller Sachkenntnis „bewusst“ – um das vom Gerichtshof im Urteil ČPP Vienna Insurance Group ( 11 ) verwendete Adverb aufzugreifen – die Zuständigkeit des Gerichts anerkennt, vor dem er sich nicht auf das Verfahren eingelassen hat.

44.

Die Einlassung eines ihn vertretenden Abwesenheitskurators ändert an dieser Erwägung nichts.

45.

Im Urteil Hendrikman und Feyen ( 12 ) hat der Gerichtshof nämlich ausgeführt, dass ein Beklagter, der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat und für den vor dem Gericht des Urteilsstaats ein Rechtsanwalt erscheint, den er nicht beauftragt hat, völlig außerstande sei, sich zu verteidigen. Er sei daher als ein Beklagter zu betrachten, der sich im Sinne des Art. 27 Nr. 2 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ( 13 ) nicht auf das Verfahren eingelassen habe, selbst wenn das Verfahren vor dem Gericht des Urteilsstaats streitigen Charakter angenommen habe ( 14 ). In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, ging es um die Frage, ob das Gericht des Mitgliedstaats, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, Entscheidungen des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung versagen kann, wenn sie gegen einen Beklagten, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und rechtzeitig zugestellt worden war und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, ergangen sind, aber – wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaats – nicht als Versäumnisentscheidungen.

46.

Nach Auffassung des Gerichtshofs kann eine Entscheidung, sei sie auch im „streitigen“ Verfahren ergangen, nicht anerkannt werden, sofern der Beklagte seinen Rechtsanwalt nicht selbst beauftragt hat und das Verfahren durchgeführt worden ist, ohne dass er davon Kenntnis hatte. Zwar unterscheidet sich der der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegende Fall von dem in der Rechtssache, in der das Urteil Hendrikman und Feyen ( 15 ) ergangen ist, da wir uns im erstgenannten Fall im Anfangsstadium des Verfahrens und im letztgenannten bereits im Stadium des Vollstreckungsverfahrens befinden, doch sind es in beiden Fällen die durch Art. 47 der Charta gewährleisteten Verteidigungsrechte, die beeinträchtigt sein können.

47.

Ich glaube nämlich nicht, dass ein unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens bestellter Abwesenheitskurator imstande sein kann, die Interessen des Beklagten bestmöglich zu schützen und so die Wahrung der durch Art. 47 der Charta gewährleisteten Rechte zu ermöglichen. Dieser Kurator verfügt nämlich nur über Teilinformationen zum Rechtsstreit, und zwar über die vom Kläger gelieferten. Er kann daher keine ordnungsgemäße Verteidigung des Beklagten sicherstellen. Außerdem fehlen ihm meines Erachtens unerlässliche Angaben, um gegebenenfalls die mangelnde internationale Zuständigkeit des vom Kläger angerufenen Gerichts geltend zu machen, da die Frage nach der Zuständigkeit im internationalen Recht nie einfach zu beantworten ist. Der Beklagte kann, da er von dem Verfahren keine Kenntnis hatte und erst recht nicht seinen Anwalt auswählen konnte, vor dem betreffenden Gericht nicht wirksam vertreten werden.

48.

Nicht nur hätte der Beklagte, der, wie A, in einem späteren Stadium von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren Kenntnis erlangt, keine Möglichkeit mehr, die Unzuständigkeit der angerufenen Gerichte geltend zu machen, sondern es erginge auch, beruhend auf einem nicht mit Art. 47 der Charta im Einklang stehenden Verfahren, eine in der gesamten Europäischen Union wirksame Entscheidung, was nicht hinnehmbar ist.

49.

Das Urteil Hypoteční banka ( 16 ) ist meines Erachtens nicht geeignet, diese Feststellungen in Frage zu stellen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Möglichkeit, das Verfahren ohne Wissen des Beklagten mittels Zustellung der Klage an einen vom angerufenen Gericht bestellten Prozesspfleger fortzusetzen, die Verteidigungsrechte des Beklagten beeinträchtige. Diese Beeinträchtigung sei jedoch im Hinblick auf das Recht eines Klägers auf effektiven Rechtsschutz gerechtfertigt, da dieses Recht ohne eine solche Zustellung lediglich auf dem Papier stünde ( 17 ). Im Gegensatz zur Lage des Beklagten, der, wenn er sich nicht wirksam habe verteidigen können, die Möglichkeit habe, für die Wahrung der Verteidigungsrechte zu sorgen, indem er sich nach Art. 34 Nr. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 gegen die Anerkennung der gegen ihn ergangenen Entscheidung wehre, laufe der Kläger nämlich Gefahr, dass ihm jede Klagemöglichkeit genommen werde ( 18 ).

50.

Auch wenn nachvollziehbar ist, dass der Gerichtshof in diesem Urteil sowohl die Verteidigungsrechte als auch die Rechte des Klägers wahren und Letzteren vor einer Justizverweigerung bewahren wollte, besteht der wichtige Unterschied zur vorliegenden Rechtssache darin, dass der Beklagte, also A, die Unzuständigkeit der österreichischen Gerichte nicht mehr geltend machen könnte, wenn man davon ausginge, dass sich der Abwesenheitskurator im Sinne von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 auf das Verfahren einlässt. Zudem darf nicht übersehen werden, dass in der vorliegenden Rechtssache – anders als in der Rechtssache in der das Urteil Hypoteční banka ( 19 ) ergangen ist – der Wohnsitz von A bekannt ist und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats liegt. B u. a. haben daher die Möglichkeit, Klage vor den Gerichten des Mitgliedstaats zu erheben, in dem A seinen Wohnsitz hat, also vor den maltesischen Gerichten.

51.

Daher glaube ich nicht, dass die im Urteil Hypoteční banka entwickelte Argumentation in der vorliegenden Rechtssache Anwendung finden kann.

52.

Im Übrigen spricht noch ein weiterer Gesichtspunkt für die von mir vertretene Auffassung. Es handelt sich um den Normzweck von Art. 26 der Verordnung Nr. 44/2001.

53.

Der Unionsgesetzgeber hat nämlich mit Bedacht in Abschnitt 8 („Prüfung der Zuständigkeit und der Zulässigkeit des Verfahrens“) der Verordnung diesen Artikel eingefügt, nach dessen Abs. 1 sich das Gericht, falls sich der Beklagte, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat und vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats verklagt wird, auf das Verfahren nicht einlässt, von Amts wegen für unzuständig zu erklären hat, wenn seine Zuständigkeit nicht nach der Verordnung begründet ist.

54.

Im Bericht von Herrn Jenard zu dem Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ( 20 ), dem Vorläufer der Verordnung Nr. 44/2001, wurde die deren Art. 26 entsprechende Bestimmung als „eine der wichtigsten“ eingestuft ( 21 ). Dort heißt es weiter, dass das Nichteinlassen des Beklagten einer stillschweigenden Zuständigkeitsvereinbarung nicht gleichkomme. Es genüge nicht, dass der Richter die Behauptungen des Klägers über die Zuständigkeit als richtig unterstelle; er müsse vom Kläger den Beweis dafür verlangen, dass die internationale Zuständigkeit begründet sei. Der Grund dafür bestehe darin, dass sichergestellt werden müsse, dass die Entscheidung bei Säumnis des Beklagten durch einen zuständigen Richter ergehe, damit der Beklagte ein Höchstmaß an Rechtsschutz im Verfahren vor dem erkennenden Gericht genieße ( 22 ).

55.

Die praktische Wirksamkeit von Art. 26 der Verordnung Nr. 44/2001 und damit auch die Gewähr für die Wahrung der Verteidigungsrechte würden jedoch unterminiert, hielte man die Einlassung eines Abwesenheitskurators vor einem Gericht für ausreichend im Sinne von Art. 24 der Verordnung, um die Zuständigkeit dieses Gerichts zu begründen, auch wenn es unbestreitbar für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig ist.

56.

Schließlich veranschaulicht die vorliegende Rechtssache selbst meines Erachtens sehr gut, was der Unionsgesetzgeber mit der Einführung des Systems der in der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehenen Zuständigkeitsregeln vermeiden wollte. In dieser Rechtssache steht nämlich fest, dass A seinen Wohnsitz nicht in Österreich hat. Ließe man zu, dass die Einlassung des Abwesenheitskurators als Einlassung des Beklagten im Sinne von Art. 24 der Verordnung gilt, würde das darauf hinauslaufen, die Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats zu begründen, das keinerlei Bezug zum Sachverhalt des Rechtsstreits hat. B u. a. sind nämlich kasachische Staatsangehörige und wohnen in Kasachstan, auch A verfügt über die kasachische Staatsangehörigkeit und wohnt in Malta, und schließlich hat sich der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt in Kasachstan ereignet.

57.

Eine solche Auslegung von Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 würde de facto dazu führen, dass dieses Gericht abweichend von den in dieser Verordnung verankerten Vorschriften stets als international zuständig anzusehen wäre, obwohl ein ausländischer Gerichtsstand aufgrund der Bezüge, die er zum Rechtsstreit aufweisen kann, geeigneter ist.

58.

Aus all diesen Gründen ist Art. 24 der Verordnung Nr. 44/2001 im Licht von Art. 47 der Charta meines Erachtens dahin auszulegen, dass die Einlassung eines nach dem nationalen Recht bestellten Abwesenheitskurators vor einem nationalen Gericht nicht als Einlassung des Beklagten im Sinne dieser Bestimmung der Verordnung gilt.

B – Zur ersten Frage

59.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob die nationalen Gerichte aufgrund des Äquivalenzgrundsatzes verpflichtet sind, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen, statt es im Einklang mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts im konkreten Fall unangewendet zu lassen.

60.

Das vorlegende Gericht stellt dem Gerichtshof diese Frage, weil nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs die durch die EMRK gewährleisteten Rechte als Rechte von Verfassungsrang zwar vor ihm geltend gemacht werden könnten, doch der Äquivalenzgrundsatz verlange, dass dieses verfassungsrechtliche Verfahren auch für die durch die Charta gewährleisteten Rechte eröffnet sei. Daher hält es das vorlegende Gericht gegenwärtig nicht mehr für möglich, gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts das gegen Unionsrecht verstoßende Gesetz im Einzelfall unangewendet zu lassen, sondern sieht die nationalen Gerichte nunmehr als verpflichtet an, die Frage, ob das Gesetz, das ihrer Auffassung nach gegen Unionsrecht verstößt, mit diesem vereinbar ist, dem Verfassungsgerichtshof vorzulegen.

61.

Was die Konsequenzen betrifft, die das nationale Gericht aus einem Konflikt zwischen Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts und den durch die Charta im Fall ihrer Anwendbarkeit verbürgten Rechten zu ziehen hat, ist dieses Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, nach ständiger Rechtsprechung gehalten, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste ( 23 ).

62.

Die Verpflichtung zur Einhaltung der Vorschriften der Charta, die sich das nationale Recht im Geltungsbereich des Unionsrechts auferlegt, beruht allein auf dem Willen des betreffenden Mitgliedstaats und unterliegt seiner souveränen Freiheit.

63.

Dabei bestimmt er auch die Modalitäten der Umsetzung dieser innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Pflicht, unter dem grundlegenden Vorbehalt, dass die von ihm gewählte Umsetzung nicht gegen die im Urteil Simmenthal ( 24 ) und in der nachfolgenden Rechtsprechung, wie sie insbesondere im Urteil Melki und Abdeli ( 25 ) zum Ausdruck kommt, aufgestellten Grundsätze verstoßen darf.

64.

Im letztgenannten Urteil hat der Gerichtshof an seine ständige Rechtsprechung erinnert, wonach mit den in der Natur des Unionsrechts liegenden Erfordernissen jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unvereinbar wäre, die dadurch zu einer Schwächung der Wirksamkeit des Unionsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Unionsnormen bilden. Dies wäre dann der Fall, wenn bei einem Widerspruch zwischen einer unionsrechtlichen Bestimmung und einem innerstaatlichen Gesetz die Lösung dieses Konflikts einem über ein eigenes Beurteilungsermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre, selbst wenn das daraus folgende Hindernis für dessen volle Wirksamkeit nur vorübergehender Art wäre ( 26 ).

65.

Folglich darf das im innerstaatlichen Verfassungsrecht vorgesehene Verfahren zur Gewährleistung der Umsetzung dieser Grundsätze nicht bewirken, dass die Befugnis des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Richters, seine Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, in Anwendung der vorgenannten Rechtsprechung ein im Widerspruch zum Unionsrecht stehendes nationales Gesetz unangewendet zu lassen, beseitigt, ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben wird.

66.

Die Anwendung des Äquivalenzgrundsatzes stellt diese Rechtsprechung keineswegs in Frage.

67.

Nach diesem Grundsatz dürfen die Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nicht weniger günstig ausgestaltet sein als diejenigen, die für entsprechende innerstaatliche Klagen gelten ( 27 ).

68.

Im vorliegenden Fall vermag ich jedoch nicht zu erkennen, inwieweit der Umstand, dass in einem bestimmten Rechtsstreit das im Widerspruch zum Unionsrecht stehende nationale Gesetz unangewendet bleibt, für den Einzelnen weniger günstig wäre als der Umstand, ein Zwischenverfahren zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit mit dem Ziel der generellen Aufhebung dieses Gesetzes einzuleiten. Ganz im Gegenteil. Wie das vorlegende Gericht selbst ausführt, ist die Durchführung eines solchen Verfahrens relativ schwerfällig und für den Einzelnen mit zusätzlichem Kosten- und Zeitaufwand verbunden, obwohl doch der nationale Richter die Möglichkeit hat, die Unvereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Unionsrecht unmittelbar im Rahmen des bei ihm anhängigen Rechtsstreits festzustellen und dieses Gesetz unangewendet zu lassen, was einen unmittelbaren Schutz des Einzelnen gewährleistet.

69.

Für den Äquivalenzgrundsatz in dieser Ausgestaltung ist daher in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren umschriebenen kein Raum, weil er zu dem paradoxen Ergebnis einer Aufweichung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts führen würde.

70.

Infolgedessen bin ich der Meinung, dass im Geltungsbereich des Unionsrechts der Äquivalenzgrundsatz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationalen Gerichte nicht verpflichtet, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen. Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine solche Verpflichtung vorsieht, verstößt nicht gegen Unionsrecht, sofern die Aufgabe des nationalen Richters, die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten, indem er erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, sowie seine Befugnis, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, weder beseitigt noch ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben werden.

V – Ergebnis

71.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Obersten Gerichtshof wie folgt zu antworten:

1.

Art. 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass die Einlassung eines nach dem nationalen Recht bestellten Abwesenheitskurators vor einem nationalen Gericht nicht als Einlassung des Beklagten im Sinne dieser Bestimmung der Verordnung gilt.

2.

Im Geltungsbereich des Unionsrechts verpflichtet der Äquivalenzgrundsatz unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die nationalen Gerichte nicht, die Frage, ob ein nationales, ihrer Meinung nach gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßendes Gesetz mit der Charta vereinbar ist, einem Verfassungsgerichtshof zwecks genereller Aufhebung dieses Gesetzes vorzulegen.

Eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, die eine solche Verpflichtung vorsieht, verstößt nicht gegen Unionsrecht, sofern die Aufgabe des nationalen Richters, die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden und deren volle Wirksamkeit zu gewährleisten, indem er erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, sowie seine Befugnis, den Gerichtshof der Europäischen Union um Vorabentscheidung zu ersuchen, weder beseitigt noch ausgesetzt, geschmälert oder aufgeschoben werden.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2001, L 12, S. 1.

( 3 ) Vgl. Erwägungsgründe 1 und 2 der Verordnung Nr. 44/2001.

( 4 ) Vgl. Art. 2 und den elften Erwägungsgrund dieser Verordnung.

( 5 ) Vgl. den elften Erwägungsgrund dieser Verordnung.

( 6 ) Vgl. den 13. Erwägungsgrund dieser Verordnung.

( 7 ) Diese Möglichkeit besteht nunmehr lediglich in Rechtsstreitigkeiten über Versicherungs- und Verbrauchersachen sowie in den Bereichen, in denen ausschließliche Zuständigkeiten bestehen. Vgl. Art. 35 Abs. 1 und 2 der Verordnung.

( 8 ) Vgl. hierzu Urteil ČPP Vienna Insurance Group (C‑111/09, EU:C:2010:290, Rn. 25 bis 30).

( 9 ) ABl. L 351, S. 1.

( 10 ) Siehe Art. 26 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012.

( 11 ) EU:C:2010:290.

( 12 ) C‑78/95, EU:C:1996:380.

( 13 ) ABl. 1972, L 299, S. 32. Übereinkommen in der durch nachfolgende Übereinkommen über den Beitritt der neuen Mitgliedstaaten zu diesem Übereinkommen geänderten Fassung.

( 14 ) Rn. 18 des Urteils.

( 15 ) EU:C:1996:380.

( 16 ) C‑327/10, EU:C:2011:745.

( 17 ) Rn. 53.

( 18 ) Rn. 54.

( 19 ) EU:C:2011:745.

( 20 ) ABl. 1979, C 59, S. 1.

( 21 ) Siehe Erläuterungen zu Art. 20 (S. 39 des Berichts).

( 22 ) Ebd.

( 23 ) Siehe Urteil Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 24 ) 106/77, EU:C:1978:49.

( 25 ) C‑188/10 und C‑189/10, EU:C:2010:363.

( 26 ) Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 27 ) Vgl. Urteil Agrokonsulting-04 (C‑93/12, EU:C:2013:432, Rn. 36).

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