Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62012CJ0177

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 24. Oktober 2013.
    Caisse nationale des prestations familiales gegen Salim Lachheb und Nadia Lachheb.
    Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Luxemburg).
    Vorabentscheidungsersuchen – Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Familienleistung – Kinderbonus – Nationale Regelung, nach der eine Leistung als Kinderbonus ohne Antrag gewährt wird – Nichtkumulierung von Familienleistungen.
    Rechtssache C‑177/12.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:689

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    24. Oktober 2013 ( *1 )

    „Vorabentscheidungsersuchen — Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Familienleistung — Kinderbonus — Nationale Regelung, nach der eine Leistung als Kinderbonus ohne Antrag gewährt wird — Nichtkumulierung von Familienleistungen“

    In der Rechtssache C‑177/12

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV eingereicht von der Cour de cassation (Luxemburg) mit Entscheidung vom 29. März 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 17. April 2012, in dem Verfahren

    Caisse nationale des prestations familiales

    gegen

    Salim Lachheb,

    Nadia Lachheb

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas (Berichterstatter), D. Šváby und C. Vajda,

    Generalanwalt: M. Wathelet,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Caisse nationale des prestations familiales, vertreten durch A. Rodesch, avocat,

    von Herrn Salim Lachheb und Frau Nadia Lachheb, vertreten durch C. Rimondini, avocat,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und G. Rozet als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 AEUV und Art. 45 AEUV, von Art. 1 Buchst. u Ziff. i, Art. 3 und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. L 117, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71) sowie von Art. 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).

    2

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Caisse nationale des prestations familiales (Nationale Familienkasse, im Folgenden: CNPF) und Herrn und Frau Lachheb, die in Frankreich wohnen und von denen der eine in Luxemburg und die andere in Frankreich arbeiten, wegen einer Entscheidung der CNPF, eine als „Kinderbonus“ bezeichnete Leistung in die Berechnungsgrundlage zur Ermittlung der Höhe der Familienleistungen, die Herrn und Frau Lachheb zulasten des luxemburgischen Staates zu gewähren sind, einzubeziehen.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Die Erwägungsgründe 1, 5, 8 und 10 der Verordnung Nr. 1408/71 lauten:

    „Die Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit gehören zur Freizügigkeit von Personen und sollen zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen.

    Bei dieser Koordinierung ist innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass alle Arbeitnehmer und Selbständige, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, sowie ihre Angehörigen und Hinterbliebenen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten gleichbehandelt werden.

    Für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern, soll jeweils das System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten, so dass eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden.

    Um die Gleichbehandlung aller im Gebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Arbeitnehmer und Selbständigen am besten zu gewährleisten, ist es zweckmäßig, im Allgemeinen die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats anzuwenden, in dessen Gebiet der Betreffende seine Arbeitnehmer‑ oder Selbständig[entätigkeit] ausübt.“

    4

    Art. 1 dieser Verordnung führt die in ihrem Rahmen geltenden Begriffsbestimmungen auf.

    5

    So bestimmt Art. 1 Buchst. u der Verordnung:

    „i)

    ‚Familienleistungen‘: alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen;

    ii)

    ‚Familienbeihilfen‘: regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden“.

    6

    Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

    „Die Personen, für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“

    7

    Gemäß ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. h gilt die Verordnung Nr. 1408/71 für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Familienleistungen betreffen.

    8

    Nach ihrem Art. 4 Abs. 2 gilt die Verordnung für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit sowie für die Systeme, nach denen die Arbeitgeber, einschließlich der Reeder, zu Leistungen gemäß Abs. 1 verpflichtet sind.

    9

    Art. 5 der Verordnung hat folgenden Wortlaut:

    „Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden, die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 fallen, die in Artikel 4 Absatz 2a genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen, die Mindestleistungen im Sinne des Artikels 50 sowie die Leistungen im Sinne der Artikel 77 und 78 an.“

    10

    Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung bestimmt:

    „(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

    (2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

    a)

    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

    …“

    11

    Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

    „Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

    12

    Art. 76 dieser Verordnung lautet:

    „(1)   Sind für ein und denselben Zeitraum, für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Artikel 73 bzw. 74 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag.

    (2)   Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Absatz 1 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden.“

    13

    Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:

    „(1)   Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf auf Grund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

    (2)   Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“

    14

    Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 74, S. 1) in ihrer durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72) sieht vor:

    „a)

    Der Anspruch auf Familienleistungen oder ‑beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, ruht, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung [Nr. 1408/71] geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen.

    b)

    Wird jedoch

    i)

    in dem Fall, in dem Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73 oder 74 der Verordnung geschuldet werden, von der Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder von der Person, an die sie zu zahlen sind, in dem unter Buchstabe a) erstgenannten Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt, so ruht der Anspruch auf die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats oder nach den genannten Artikeln geschuldeten Familienleistungen, und zwar bis zur Höhe der Familienleistungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist. Leistungen, die der Mitgliedstaat zahlt, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist, gehen zu Lasten dieses Staates;

    …“

    15

    Es ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) und die Verordnung Nr. 574/72 durch die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. L 284, S. 1) aufgehoben wurden, und diese neuen Verordnungen gemäß Art. 91 der Verordnung Nr. 883/2004 bzw. Art. 97 der Verordnung Nr. 987/2009 seit 1. Mai 2010 anwendbar sind. Unter Berücksichtigung des Zeitraums, in dem sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zugetragen hat, gelten für diesen jedoch die Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72.

    Luxemburgisches Recht

    16

    Das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über u. a. die Einführung des Gesetzes über den Kinderbonus (Mémorial A 2007, S. 3949) hat mit Wirkung ab 2008 das in den luxemburgischen Rechtsvorschriften vorgesehene System der Steuerermäßigung für Kinder geändert. Der in Titel II des Gesetzes enthaltene Art. 5 bestimmt:

    „Es wird das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus eingeführt.

    Die Artikel des vorgenannten Gesetzes erhalten folgenden Wortlaut:

    ‚Art. 1. Für jedes Kind, das entweder im gemeinsamen Haushalt seiner Eltern oder desjenigen Elternteils, der allein für die Erziehung und den Unterhalt sorgt, lebt und für das gemäß Art. 1 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Caisse nationale des prestations familiales [(Mémorial A 1985, S. 680)] in geänderter Fassung Anspruch auf Kindergeld besteht, wird ohne Antrag als Steuerermäßigung gemäß Art. 122 des Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer in geänderter Fassung ein Kinderbonus gewährt.

    Art. 2. Der Kinderbonus beträgt 922,50 Euro jährlich. Er wird im Besteuerungsjahr, auf das er sich bezieht, nach den durch Großherzogliche Verordnung gemäß Art. 6 zu bestimmenden Modalitäten ausgezahlt.

    Die Zahlung erfolgt durch die [CNPF] mit befreiender Wirkung an den in Art. 5 Abs. 1 und 4 definierten Kindergeldempfänger oder in dem Fall, dass ein Elternteil allein für die Erziehung und den Unterhalt sorgt, an den nach Art. 5 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Caisse nationale des prestations familiales in geänderter Fassung empfangsberechtigten Elternteil.

    Art. 4. Für die Durchführung des vorliegenden Gesetzes gelten vorbehaltlich gegebenenfalls erforderlicher terminologischer Anpassung ferner die Art. 23 Abs. 2 bis 3, 24, 26, 27, 28, 29, 30, 31 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Caisse nationale des prestations familiales in geänderter Fassung sowie die Art. 208 Abs. 4, 273 Abs. 5, 276, 278 Abs. 1 und 2, 291, 292a, 302 Abs. 4, 311, 333, 334 Abs. 1 des Code des assurances sociales (Kodex über die Sozialversicherungen).

    Art. 5. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Caisse nationale des prestations familiales in geänderter Fassung wird durch den Ausdruck ‚des Kinderbonus‘ ergänzt, der nach ‚Schuljahresbeginn‘ eingefügt wird.

    Art. 6. Die Modalitäten der Anwendung des vorliegenden Gesetzes können mit einer Großherzoglichen Verordnung näher bestimmt werden.‘

    …“

    17

    Art. 29 des Gesetzes vom 19. Juni 1985 über das Kindergeld und zur Errichtung der Caisse nationale des prestations familiales in geänderter Fassung, auf den Art. 4 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus für seine Durchführung verweist, ist durch das Inkrafttreten des Gesetzes vom 13. Mai 2008 über die Einführung eines einheitlichen Statuts (Mémorial A 2008, S. 790) zu Art. 317 des Code de la sécurité sociale (Kodex über die soziale Sicherheit) geworden. In Art. 29 heißt es:

    „In jedem Fall besteht für jedes Kind nur Anspruch auf eine Leistung derselben Art.

    Mit einer Großherzoglichen Verordnung wird das Zusammentreffen von Leistungen gemäß diesem Buch und Leistungen zu demselben Zweck gemäß einer nichtluxemburgischen Regelung bis zum Betrag der höchsten Leistung verhindert oder eingeschränkt.“

    18

    Art. 1 der zur Durchführung von Art. 6 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus erlassenen Großherzoglichen Verordnung vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung der Modalitäten für die Zahlung des Kinderbonus ab dem Jahr 2009 (Mémorial A 2008, S. 3305, im Folgenden: Großherzogliche Verordnung vom 19. Dezember 2008) sieht vor:

    „Ab dem 1. Januar 2009 wird der Kinderbonus in monatlichen Teilbeträgen von 76,88 Euro für jedes Kind gezahlt, und zwar für jeden Monat, für den für das Kind im Sinne von Art. 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus Anspruch auf Kindergeld in voller Höhe besteht …

    Abweichend von Abs. 1 wird der Bonus für jeden Monat, in dem für das Kind Anspruch auf Unterschiedsfamilienleistungen wegen einer Pflichtmitgliedschaft in der luxemburgischen Sozialversicherung besteht, bis zu einem Betrag von 76,88 Euro für jedes Kind in den Unterschiedsbetrag aufgenommen. Der Unterschiedsbetrag wird jährlich oder halbjährlich gegen Vorlage einer Bescheinigung über die Gewährung von nichtluxemburgischen Leistungen während des Referenzzeitraums gezahlt.

    Der Bonus wird nach denselben Modalitäten ausgezahlt wie das Kindergeld.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    19

    Herr und Frau Lachheb wohnen mit ihren Kindern in Mondelange (Frankreich). Aus den beim Gerichtshof eingereichten Akten geht hervor, dass Herr Lachheb eine Arbeitnehmertätigkeit in Luxemburg ausübt, während seine Ehefrau in Frankreich arbeitet, und dass Herr und Frau Lachheb nach den luxemburgischen Rechtsvorschriften Anspruch auf die Zahlung eines „Unterschiedsbetrags“ durch die CNPF haben, deren Höhe der Differenz zwischen den Familienleistungen entspricht, auf die sie in dem Staat, in dem Herr Lachheb eine Beschäftigung innehat, nämlich dem Großherzogtum Luxemburg, Anspruch haben, und denen, die sie in ihrem Wohnsitzstaat, d. h. der Französischen Republik, beanspruchen können.

    20

    Der Vorstand der CNPF bestätigte auf den Widerspruch von Herrn und Frau Lachheb eine Entscheidung des Präsidenten der CNPF, in der ab April 2009 der Herrn und Frau Lachheb nach der luxemburgischen Regelung geschuldete Kinderbonus für die Berechnung des Unterschiedsbetrags nach Art. 1 Abs. 2 der Großherzoglichen Verordnung vom 19. Dezember 2008 berücksichtigt worden war.

    21

    Auf die Klage von Herrn und Frau Lachheb änderte der Conseil arbitral de la sécurité sociale (Schiedsgericht der Sozialversicherung) diese Entscheidung mit Urteil vom 7. Februar 2011 ab, indem er es, gestützt auf Art. 95 der Verfassung, ablehnte, die Großherzogliche Verordnung vom 19. Dezember 2008 anzuwenden, da sie mit dem Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus nicht vereinbar sei, denn dieses Gesetz garantiere, dass die Steuerermäßigung für Kinder, für die ein Anspruch auf Kindergeld bestehe, in Form eines ohne Antrag zu gewährenden Kinderbonus zu zahlen sei. Der Conseil arbitral stellte fest, dass Herr und Frau Lachheb für die Zeit ab April 2009 weiter Anspruch auf den Kinderbonus hätten, der ohne Antrag als Steuerermäßigung gewährt werde.

    22

    Die CNPF legte Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht ein und machte fünf Kassationsgründe geltend, von denen die drei ersten einen Verstoß gegen Art. 1 Buchst. u Ziff. i, Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 Buchst. h und Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72, deren Nichtanwendung, unrichtige Anwendung oder unrichtige Auslegung betreffen.

    23

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der in der luxemburgischen Regelung vorgesehene Kinderbonus von dieser als Familienleistung angesehen werde, auf die die für diesen Bereich vorgesehenen Antikumulierungsvorschriften anzuwenden seien.

    24

    Nach Auffassung dieses Gerichts kommt der Mechanismus des Unterschiedsbetrags, der aus dem Unionsrecht übernommen worden sei und auf den die Großherzogliche Verordnung vom 19. Dezember 2008 verweise, zum Tragen, wenn er auf eine Leistung angewandt werde, die als Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 eingestuft werde. Würde der Mechanismus des Unterschiedsbetrags hingegen auf Vergünstigungen angewandt, die keine Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnung seien, könnte diese Anwendung, die zur Folge hätte, dass einem Teil der Grenzgänger, die sich aus anderen Mitgliedstaaten nach Luxemburg begäben, um dort eine berufliche Tätigkeit auszuüben, der Kinderbonus nicht vollständig gewährt würde, wohingegen Arbeitnehmern, die in Luxemburg wohnten, dieser Bonus vollständig gewährt würde, eine diskriminierende Maßnahme im Sinne von Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68, Art. 18 AEUV und 45 AEUV sowie Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen.

    25

    Da die Cour de cassation Zweifel hinsichtlich der Einstufung einer Leistung wie des in der luxemburgischen Regelung vorgesehenen Kinderbonus als Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 hat, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Stellt eine Leistung wie die vom Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus vorgesehene eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 dar?

    2.

    Bei Verneinung der ersten Frage: Stehen Art. 18 AEUV und Art. 45 AEUV, Art. 7 der Verordnung Nr. 1612/68 oder Art. 3 der Verordnung Nr. 1408/71 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden entgegen, nach der die Gewährung einer Leistung wie der durch das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus vorgesehenen an Arbeitnehmer, die ihre berufliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ausüben und mit ihren Familienangehörigen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, bis zur Höhe der Familienleistungen, die für ihre Familienangehörigen nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats vorgesehen sind, ausgesetzt wird, wenn auf die betreffende Leistung nach den nationalen Rechtsvorschriften die in Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 vorgesehenen Antikumulierungsvorschriften für Familienleistungen anzuwenden sind?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    26

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass eine Leistung wie der durch das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus eingeführte Kinderbonus eine Familienleistung im Sinne dieser Verordnung darstellt.

    27

    Vorab ist daran zu erinnern, dass sich nach dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der ausdrücklich von „Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit“ spricht, der Geltungsbereich dieser Verordnung auf sämtliche Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zweige der sozialen Sicherheit erstreckt, die in den Buchst. a bis h dieser Bestimmung aufgeführt sind.

    28

    Wie der Gerichtshof insoweit wiederholt entschieden hat, hängt die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solchen, die von ihm erfasst sind, im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung ab, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (vgl. Urteil vom 16. Juli 1992, Hughes, C-78/91, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 14). Außerdem hat der Gerichtshof Gelegenheit zur Klarstellung gehabt, dass lediglich formale Merkmale nicht als wesentliche Tatbestandsmerkmale für die Einstufung der Leistungen anzusehen sind (vgl. Urteil vom 11. September 2008, Petersen, C-228/07, Slg. 2008, I-6989, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dass eine Leistung dem nationalen Steuerrecht zuzurechnen ist, ist folglich für die Beurteilung ihrer wesentlichen Merkmale nicht entscheidend.

    29

    Für diese Beurteilung ist erstens zu prüfen, ob ein Kinderbonus wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende als eine „Leistung der sozialen Sicherheit“ im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

    30

    Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und wenn sie sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. u. a. Urteil vom 21. Juli 2011, Stewart, C-503/09, Slg. 2011, I-6497, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    31

    Wie die CNPF und die Kommission geltend machen, wird die Leistung, um die es im Ausgangsverfahren geht, bei Unterhaltsberechtigung eines Kindes und zum Ausgleich der mit dem Unterhalt dieses Kindes verbundenen Kosten automatisch gewährt und entspricht einem automatisch gewährten Pauschalbetrag, der nicht an das Einkommen oder die vom Leistungsempfänger geschuldeten Steuern anknüpft. Daher handelt es sich bei einer Leistung wie der des Ausgangsverfahrens durchaus um eine Leistung der sozialen Sicherheit.

    32

    Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits entschieden, dass die Art der Finanzierung einer Leistung für ihre Einstufung als Leistung der sozialen Sicherheit ohne Belang ist, wie sich daraus ergibt, dass nach Art. 4 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 beitragsfreie Leistungen nicht vom Geltungsbereich der Verordnung ausgeschlossen sind (vgl. Urteil Hughes, Randnr. 21). Ebenso hat der Gerichtshof Gelegenheit zu der Erläuterung gehabt, dass die Art und Weise, in der der Mitgliedstaat die Leistung rechtstechnisch ausgestaltet, für ihre Einstufung als Leistung der sozialen Sicherheit unerheblich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. März 2001, Offermanns, C-85/99, Slg. 2001, I-2261, Randnr. 46).

    33

    Zweitens ist die Natur der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistung genau zu bestimmen. Für die Unterscheidung zwischen den einzelnen Kategorien von Leistungen der sozialen Sicherheit ist das von der jeweiligen Leistung gedeckte Risiko zu berücksichtigen (Urteil vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Randnr. 27).

    34

    Nach Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 bezeichnet der Begriff „Familienleistungen“„alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten … bestimmt sind“. Der Gerichtshof hat dazu ausgeführt, dass die Familienleistungen dazu dienen sollen, Arbeitnehmer mit Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt (vgl. Urteile vom 4. Juli 1985, Kromhout, 104/84, Slg. 1985, 2205, Randnr. 14, und vom 19. September 2013, Hliddal und Bornand, C‑216/12 und C‑217/12, Randnr. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    35

    Der Ausdruck „Ausgleich von Familienlasten“ in Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 ist dahin auszulegen, dass er u. a. einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfassen soll, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert (Urteile Offermanns, Randnr. 41, und vom 7. November 2002, Maaheimo, C-333/00, Slg. 2002, I-10087, Randnr. 25).

    36

    Im Ausgangsverfahren ist festzustellen, wie die CNPF und die Kommission hervorheben und wie sich aus den beim Gerichtshof eingereichten Akten ergibt, dass der Kinderbonus, der für jedes unterhaltsberechtigte Kind gezahlt wird, einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget darstellt, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringern soll, und daher eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 ist.

    37

    Insoweit stellt der Umstand, dass der staatliche Beitrag zum Familienbudget die Form einer Geldleistung nach dem nationalen Steuerrecht hat und dass dem Kinderbonus eine pro Kind gewährte Steuerermäßigung zugrunde liegt, nach den in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils in Erinnerung gerufenen Grundsätzen die Einstufung einer solchen Leistung als „Familienleistung“ nicht in Frage.

    38

    Nach alledem stellt eine Leistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Kinderbonus eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dar.

    39

    Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass eine Leistung wie der durch das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus eingeführte Kinderbonus eine Familienleistung im Sinne dieser Verordnung darstellt.

    Zur zweiten Frage

    40

    Unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Frage bedarf die zweite Frage keiner Beantwortung.

    Kosten

    41

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass eine Leistung wie der durch das Gesetz vom 21. Dezember 2007 über den Kinderbonus eingeführte Kinderbonus eine Familienleistung im Sinne dieser Verordnung darstellt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

    Top