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Document 62012CJ0085

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 24. Oktober 2013.
LBI hf gegen Kepler Capital Markets SA und Frédéric Giraux.
Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich).
Vorabentscheidungsersuchen – Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten – Richtlinie 2001/24/EG – Art. 3, 9 und 32 – Rechtsakt des nationalen Gesetzgebers, mit dem Sanierungsmaßnahmen die Wirkungen eines Liquidationsverfahrens beigelegt werden – Rechtsvorschrift, mit der nach dem Inkrafttreten eines Moratoriums jedes Gerichtsverfahren gegen ein Kreditinstitut verboten oder ausgesetzt wird.
Rechtssache C‑85/12.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:697

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

24. Oktober 2013 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten — Richtlinie 2001/24/EG — Art. 3, 9 und 32 — Rechtsakt des nationalen Gesetzgebers, mit dem Sanierungsmaßnahmen die Wirkungen eines Liquidationsverfahrens beigelegt werden — Rechtsvorschrift, mit der nach dem Inkrafttreten eines Moratoriums jedes Gerichtsverfahren gegen ein Kreditinstitut verboten oder ausgesetzt wird“

In der Rechtssache C‑85/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Frankreich) mit Entscheidung vom 14. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Februar 2012, in dem Verfahren

LBI hf, ehemals Landsbanki Islands hf,

gegen

Kepler Capital Markets SA,

Frédéric Giraux

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász, A. Rosas, D. Šváby und C. Vajda,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2013,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der LBI hf, vertreten durch S. Le Damany, T. Brun, J. E. Bunetel und J. Wohl, avocats,

von Herrn Giraux, vertreten durch P. Jupile Boisverd und G. Brasier Porterie, avocats,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, F. Fize und N. Rouam als Bevollmächtigte,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,

der isländischen Regierung, vertreten durch Þ. Hjatested, V. Benediktsdóttir und J. Bjarnadóttir als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Dintilhac, A. Nijenhuis und E. Traversa als Bevollmächtigte,

der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis und M. Moustakali als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Mai 2013

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. L 125, S. 15).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits der LBI hf, ehemals Landsbanki Islands hf (im Folgenden: LBI), eines isländischen Kreditinstituts, gegen die Kepler Capital Markets SA und Herrn Giraux, bei dem es um zwei Sicherungspfändungen geht, die der Letztgenannte in Frankreich zum Nachteil von LBI vornehmen ließ, obwohl sie in Island einem Zahlungsmoratorium unterlag.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 6, 7, 16, 20 und 30 der Richtlinie 2001/24 lauten:

„(6)

Den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats muss die alleinige Befugnis zur Anordnung und Durchführung von Sanierungsmaßnahmen gemäß den geltenden Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten dieses Mitgliedstaats übertragen werden. Da die Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten schwierig ist, empfiehlt sich die Einführung der gegenseitigen Anerkennung durch die Mitgliedstaaten im Falle von Maßnahmen, die ein einzelner Mitgliedstaat trifft, um die Lebensfähigkeit der von ihm zugelassenen Kreditinstitute wiederherzustellen.

(7)

Es ist unbedingt sicherzustellen, dass die von den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats angeordneten Maßnahmen zur Sanierung von Kreditinstituten und die Maßnahmen, die von den durch diese Behörden oder Gerichte mit der Durchführung der Sanierungsmaßnahmen beauftragten Personen oder Organen ergriffen werden, in allen Mitgliedstaaten wirksam werden; dazu gehören auch Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, die Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben, sowie alle anderen Maßnahmen, die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten.

(16)

Die Gleichbehandlung der Gläubiger erfordert, dass das Kreditinstitut nach den Grundsätzen der Einheit und Universalität liquidiert wird, was die ausschließliche Zuständigkeit der Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sowie die Anerkennung ihrer Entscheidungen voraussetzt, die in den übrigen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität die gleichen Wirkungen wie im Herkunftsmitgliedstaat entfalten können müssen, sofern die Richtlinie nichts anderes vorsieht.

(20)

Die individuelle Unterrichtung der bekannten Gläubiger ist ebenso wichtig wie die öffentliche Bekanntmachung, damit diese erforderlichenfalls die Anmeldung ihrer Forderungen oder deren Erläuterung innerhalb der gesetzten Fristen vornehmen können. Unzulässig ist dabei jede Benachteiligung der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat ansässigen Gläubiger aufgrund ihres Wohnsitzes oder der Art der Forderung. Die Gläubiger müssen während des Liquidationsverfahrens regelmäßig in geeigneter Form unterrichtet werden.

(30)

Für die Wirkungen der Sanierungsmaßnahmen oder des Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit ist abweichend von der ‚lex concursus‘ das Recht des Mitgliedstaates maßgeblich, in dem der Rechtsstreit anhängig ist. Für die Wirkungen der Maßnahmen oder des Verfahrens auf Einzelvollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten ist gemäß der allgemeinen Vorschrift dieser Richtlinie das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich.“

4

Art. 2 der Richtlinie 2001/24 lautet:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:

‚Sanierungsmaßnahmen‘ sind Maßnahmen, mit denen die finanzielle Lage eines Kreditinstituts gesichert oder wiederhergestellt werden soll und die die bestehenden Rechte Dritter beeinträchtigen könnten, einschließlich der Maßnahmen, die eine Aussetzung der Zahlungen, eine Aussetzung der Vollstreckungsmaßnahmen oder eine Kürzung der Forderungen erlauben.

‚Liquidationsverfahren‘ ist ein von einer Behörde oder einem Gericht eines Mitgliedstaats eröffnetes und unter deren bzw. dessen Aufsicht durchgeführtes Gesamtverfahren mit dem Ziel, die Vermögenswerte unter Aufsicht der genannten Behörden oder Gerichte zu verwerten; dazu zählen auch Verfahren, die durch einen Vergleich oder eine ähnliche Maßnahme abgeschlossen werden.

…“

5

Art. 3 („Entscheidung über Sanierungsmaßnahmen – Anwendbares Recht“) der Richtlinie 2001/24 bestimmt:

„(1)   Allein die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sind befugt, über die Durchführung einer oder mehrerer Sanierungsmaßnahmen in einem Kreditinstitut, einschließlich seiner Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten, zu entscheiden.

(2)   Die Sanierungsmaßnahmen werden gemäß den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren durchgeführt, sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt.

Sie sind nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats in der gesamten [Union] ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam, und zwar auch gegenüber Dritten in anderen Mitgliedstaaten, selbst wenn nach den für diese geltenden Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats solche Maßnahmen nicht vorgesehen sind oder ihre Durchführung von Voraussetzungen abhängig gemacht wird, die nicht erfüllt sind.

Die Sanierungsmaßnahmen sind in der gesamten [Union] wirksam, sobald sie in dem Mitgliedstaat, in dem sie getroffen wurden, wirksam sind.“

6

Art. 9 („Eröffnung eines Liquidationsverfahrens – Unterrichtung der anderen zuständigen Behörden“) Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 lautet:

„Allein die für die Liquidation zuständigen Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats sind befugt, über die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens gegen ein Kreditinstitut, einschließlich seiner Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten, zu entscheiden.

Eine Entscheidung zur Eröffnung eines Liquidationsverfahrens durch die Behörde oder das Gericht des Herkunftsmitgliedstaats wird im Hoheitsgebiet aller anderen Mitgliedstaaten ohne weitere Formalität anerkannt und ist dort wirksam, sobald sie in dem Mitgliedstaat, in dem das Verfahren eröffnet wurde, wirksam wird.“

7

Art. 10 („Anwendbares Recht“) der Richtlinie 2001/24 bestimmt:

„(1)   Das Kreditinstitut wird nach den gesetzlichen Vorschriften, Regelungen und Verfahren des Herkunftsmitgliedstaats liquidiert, soweit diese Richtlinie nichts anderes bestimmt.

(2)   Das Recht des Herkunftsmitgliedstaats regelt insbesondere,

e)

wie sich die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten gemäß Artikel 32,

l)

welche Rechtshandlungen nichtig, anfechtbar oder relativ unwirksam sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“

8

Nach Art. 32 der Richtlinie 2001/24 gilt „[f]ür die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse … ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats, in dem der Rechtsstreit anhängig ist“.

9

Die Richtlinie 2001/24 wurde durch den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 167/2002 vom 6. Dezember 2002 zur Änderung des Anhangs IX (Finanzdienstleistungen) des EWR-Abkommens (ABl. 2003, L 38, S. 28) in das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) aufgenommen.

Isländisches Recht

10

Art.138 des Gesetzes Nr. 21/1991 vom 26. März 1991 über Insolvenzen (im Folgenden: Gesetz über Insolvenzen) in Kapitel XX über die Aufhebung von Handlungen des Insolvenzschuldners bestimmt:

„Die Sicherungspfändung eines Vermögensgegenstands des Insolvenzschuldners ist automatisch aufzuheben, wenn ein Gericht die Insolvenz feststellt, sofern der Vermögensgegenstand zur Insolvenzmasse gehört. Die gleiche Regelung gilt für Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, durch die innerhalb von sechs Monaten vor dem Referenzzeitpunkt ein Pfandrecht begründet wird, sofern der betreffende Vermögensgegenstand zur Insolvenzmasse gehört.

…“

11

Das Gesetz Nr. 161/2002 vom 20. Dezember 2002 über Finanzinstitute (im Folgenden: Gesetz Nr. 161/2002 über Finanzinstitute) sieht in Kapitel XII Bestimmungen über die finanzielle Sanierung, die Liquidation und die Fusion von Finanzinstituten vor.

12

Im Kontext der internationalen Banken‑ und Finanzkrise, die die Republik Island im Jahr 2008 traf, wurden die Bestimmungen in Kapitel XII des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute mehrfach geändert. So wurde Art. 98 dieses Gesetzes durch das Gesetz Nr. 129/2008 vom 13. November 2008 (im Folgenden: Gesetz Nr. 129/2008) dahin gehend geändert, dass in Schwierigkeiten befindlichen Finanzinstituten ein Moratorium bewilligt werden konnte, das sie insbesondere ab dem Inkrafttreten dieser Maßnahme vor gerichtlichen Verfahren schützte und die Aussetzung laufender gerichtlicher Verfahren während der gesamten Dauer des Moratoriums anordnete, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmte und keine Straftat begangen worden war.

13

Die Regelung für einem Moratorium unterworfene Finanzinstitute im Gesetz Nr. 161/2002 über Finanzinstitute in der durch das Gesetz Nr. 129/2008 geänderten Fassung wurde durch das Gesetz Nr. 44/2009 vom 15. April 2009 (im Folgenden: Gesetz Nr. 44/2009) umgestaltet. Zum einen wurden die Bestimmungen von Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute aufgehoben, die Gerichtsverfahren gegen einem Moratorium unterliegende Finanzinstitute verboten und laufende Verfahren gegen diese aussetzten. Zum anderen wurde durch das Gesetz Nr. 44/2009 eine Reihe von Übergangsbestimmungen eingeführt, deren Nr. II die einem Moratorium unterliegenden Finanzinstitute betrifft und wie folgt lautet:

„Die folgenden besonderen Bestimmungen gelten für Finanzinstitute, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens [des Gesetzes Nr. 44/2009] einem Schuldenmoratorium unterliegen.

1.   Das bewilligte Moratorium gilt trotz des Inkrafttretens dieses Gesetzes fort und kann nach den in Art. 10 Abs. 2 [des Gesetzes Nr. 44/2009] vorgesehenen Bestimmungen verlängert werden.

2.   In Bezug auf das Moratorium gelten die Bestimmungen des Art. 101 Abs. 1 sowie der Art. 102, 103 und 103a [von Kapitel XII des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute], wie wenn die Liquidation des Unternehmens durch gerichtliche Entscheidung am Tag des Inkrafttretens des [Gesetzes Nr. 44/2009] verfügt worden wäre; die Liquidationsverfahren werden jedoch als ‚bewilligtes Schuldenmoratorium‘ bezeichnet, solange diese Bewilligung [gemäß der oben in Nr. 1 vorgesehenen Regelung] gültig bleibt. Bei Ablauf dieser Bewilligung gilt das Unternehmen automatisch, ohne dass es einer spezifischen Entscheidung eines Gerichts bedarf, als einem Liquidationsverfahren nach den allgemeinen Regeln unterworfen …“

14

Durch das Gesetz Nr. 132/2010 vom 16. November 2010 (im Folgenden: Gesetz Nr. 132/2010) wurden wiederum die durch das Gesetz Nr. 44/2009 in das Gesetz Nr. 161/2002 über Finanzinstitute eingefügten Übergangsbestimmungen geändert. Nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 132/2010 erfolgt die Liquidation von einem Moratorium unterliegenden Finanzinstituten nicht mehr automatisch bei Ablauf des Moratoriums, sondern muss bei einem Gericht vor diesem Zeitpunkt beantragt werden. Nach diesem Artikel bleiben ferner die Maßnahmen, die während der Dauer des Moratoriums, dem das Finanzinstitut unterlag, nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 44/2009 ergriffen wurden, unberührt, wenn dieses Gericht dem Antrag auf Anordnung der Liquidation stattgibt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15

Am 10. November 2008 ließ Herr Giraux zwei Sicherungspfändungen bei der Kepler Capital Markets SA durchführen, um die Bezahlung einer Forderung zu sichern, die er gegen LBI hatte.

16

LBI beantragte beim Tribunal de grande instance de Paris (Frankreich) die Aufhebung dieser Sicherungspfändungen. LBI berief sich auf Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen, die ihr gegenüber in Island ergriffen worden seien, und vertrat die Auffassung, dass diese Maßnahmen ihrem französischen Gläubiger entgegengehalten werden könnten und dass nach dem Gesetz Nr. 44/2009 sowie nach Art. 138 des Gesetzes Nr. 21/1991 über Insolvenzen alle seit dem 15. Mai 2008 vorgenommenen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nichtig seien.

17

In Bezug auf die in Island gegen LBI ergriffenen Maßnahmen geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die isländische Finanzaufsichtsbehörde durch ein Dringlichkeitsgesetz vom 6. Oktober 2008 ermächtigt wurde, in die Tätigkeiten der Finanzinstitute einzugreifen. In der Folge übernahm diese Behörde die Kontrolle über LBI und ernannte einen vorläufigen Verwaltungsausschuss für diese, der mit der Überwachung der Verwaltung der Vermögensgegenstände der Bank und der Leitung ihrer Tätigkeiten betraut war. Am 5. Dezember 2008 bewilligte das Bezirksgericht Reykjavik (Island) LBI ein Moratorium nach dem Gesetz Nr. 161/2002 über Finanzinstitute. Dieses Moratorium, das mehrmals verlängert wurde, wurde am 9. Januar 2009 im Amtsblatt der Europäischen Union (ABl. C 4, S. 3) nach Art. 6 der Richtlinie 2001/24 als Sanierungsmaßnahme bekannt gemacht. In der Bekanntmachung wurde präzisiert, dass keine Gerichtsverfahren gegen LBI eingeleitet werden konnten. Mit zwei gesonderten Entscheidungen des Bezirksgerichts Reykjavik vom 24. November 2008 wurde auf derselben Rechtsgrundlage auch zwei weiteren Finanzinstituten, der Kaupthing Bank hf und der Glitnir Bank hf, ein Moratorium bewilligt.

18

Am 25. Juni 2009 wies das Tribunal de grande instance de Paris den Antrag von LBI ab. Es führte aus, dass die Übergangsbestimmungen des Gesetzes Nr. 44/2009 nicht auf Art. 138 des Gesetzes Nr. 21/1991 über Insolvenzen verwiesen. Ferner stellten die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 44/2009 keine Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen der „Behörden oder Gerichte“ im Sinne der Richtlinie 2001/24 dar.

19

Diese Entscheidung wurde mit Urteil der Cour d’appel de Paris (Frankreich) vom 4. November 2010 bestätigt. Mit Kassationsschrift vom 14. Februar 2012 legte LBI gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde bei der Cour de Cassation (Frankreich) ein.

20

Die Cour de Cassation hat unter diesen Umständen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind die Art. 3 und 9 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen, dass Maßnahmen zur Sanierung oder Liquidation eines Finanzinstituts wie die, die sich aus dem Gesetz Nr. 44/2009 ergeben, als Maßnahmen anzusehen sind, die im Sinne dieser Artikel von einer Behörde oder einem Gericht getroffen wurden?

2.

Ist Art. 32 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass eine nationale Bestimmung wie Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute, nach dem ab Inkrafttreten eines Moratoriums jedes Gerichtsverfahren gegenüber einem Finanzinstitut verboten oder ausgesetzt wurde, gegenüber Sicherungsmaßnahmen wirksam ist, die in einem anderen Mitgliedstaat vor der Verkündung des Moratoriums getroffen wurden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage begehrt das vorlegende Gericht Auskunft darüber, ob die Art. 3 und 9 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen sind, dass Maßnahmen zur Sanierung oder Liquidation eines Finanzinstituts, wie sie auf der Grundlage der Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 ergriffen wurden, als Maßnahmen zu betrachten sind, die im Sinne dieser Artikel der Richtlinie 2001/24 von einer Behörde oder einem Gericht ergriffen wurden, da diese Übergangsbestimmungen nur auf dem Weg über gerichtliche Entscheidungen, mit denen einem Kreditinstitut ein Moratorium gewährt wurde, ihre Wirkungen entfalten.

22

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2001/24, wie sich aus ihrem sechsten Erwägungsgrund ergibt, die Einführung der gegenseitigen Anerkennung durch die Mitgliedstaaten im Falle von Maßnahmen bezweckt, die ein einzelner Mitgliedstaat trifft, um die Lebensfähigkeit der von ihm zugelassenen Kreditinstitute wiederherzustellen. Dieses Ziel und das Ziel, die Gleichbehandlung der Gläubiger zu gewährleisten, niedergelegt im 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, erfordern es, dass die von den Behörden und Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats ergriffenen Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen in allen anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen entfalten, die ihnen das Recht dieses Mitgliedstaats beilegt.

23

Wie aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervorgeht, bewilligte das Bezirksgericht Reykjavik LBI am 5. Dezember 2008 ein Moratorium gemäß Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute in der Fassung des Gesetzes Nr. 129/2008, um es ihr zu ermöglichen, ihre finanzielle Situation neu zu ordnen. Dieses Moratorium wurde von diesem Gericht unter Berücksichtigung der finanziellen Schwierigkeiten von LBI gewährt und mehrfach, bis zum 5. Dezember 2010, verlängert. Unstreitig stellt dieses Moratorium eine Sanierungsmaßnahme im Sinne von Art. 2 siebter Gedankenstrich der Richtlinie 2001/24 dar, da es LBI damit ermöglicht werden sollte, ihre finanzielle Situation neu zu ordnen.

24

Durch die Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 wurden die Rechtswirkungen dieser Moratorien dadurch geändert, dass die einem Moratorium unterliegenden Finanzinstitute einer besonderen Liquidationsregelung unterworfen wurden, ohne dass die Liquidierung dieser Finanzinstitute vor Ablauf dieses Moratoriums erfolgte.

25

Die erste Vorlagefrage ist im Licht dieser Umstände zu beantworten.

26

In diesem Zusammenhang ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 allein die Behörden und Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats befugt sind, über die Durchführung von Sanierungsmaßnahmen in einem Kreditinstitut und über die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens gegen ein solches Kreditinstitut zu entscheiden.

27

Zum anderen haben nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24 die Sanierungsmaßnahmen der Behörden und Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats und deren Entscheidungen über die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens in allen anderen Mitgliedstaaten die Wirkungen, die das Recht des Herkunftsmitgliedstaats ihnen beilegt.

28

Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass es die von den Behörden und Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats beschlossenen Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen sind, die – mit den Wirkungen, die ihnen das Recht dieses Mitgliedstaats beilegt – nach der Richtlinie 2001/24 gegenseitig anerkannt werden. Dagegen können die Rechtsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats über die Sanierung und die Liquidation von Kreditinstituten grundsätzlich nur durch Maßnahmen, die von den Behörden und Gerichten dieses Mitgliedstaats in Bezug auf ein bestimmtes Kreditinstitut ergriffen werden, in den anderen Mitgliedstaaten Wirkungen entfalten.

29

Was die Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 angeht, ist hervorzuheben, dass sie die Wirkungen der Zahlungsmoratorien geändert haben, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes in Kraft befanden. Die Erwägungsgründe dieses Gesetzes beziehen sich in dem Teil, der die Gründe und die Ziele dieses gesetzgeberischen Eingriffs betrifft, ausdrücklich auf LBI, die Kaupthing Bank hf und die Glitnir Bank hf.

30

Außerdem hat der isländische Gesetzgeber mit dem Erlass der Übergangsbestimmungen nicht als solche die Liquidation der einem Moratorium unterliegenden Kreditinstitute angeordnet, sondern er hat Moratorien, die sich zu einem genau bestimmten Zeitpunkt in Kraft befanden, bestimmte mit einem Liquidationsverfahren verbundene Wirkungen beigelegt.

31

Nach dem Einleitungssatz der Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 finden diese Bestimmungen nur auf diejenigen Kreditinstitute Anwendung, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes einem Moratorium unterlagen, so dass sie in Ermangelung einer gerichtlichen Entscheidung, mit der vor diesem Zeitpunkt für ein bestimmtes Kreditinstitut ein Moratorium bewilligt oder verlängert wurde, keine Wirkungen entfalten können.

32

Da die Anwendbarkeit dieser Übergangsbestimmungen von der Voraussetzung abhängt, dass eine Einzelfallentscheidung über die Bewilligung oder Verlängerung eines Moratoriums vorlag, entfalten diese gesetzlichen Bestimmungen ihre Wirkungen entsprechend der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2001/24 nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch eine von einem Gericht einem bestimmten Kreditinstitut bewilligte Sanierungsmaßnahme.

33

Schließlich geht aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, hervor, dass mit Entscheidung des Bezirksgerichts Reykjavik vom 22. November 2010 die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens gegen LBI verfügt wurde.

34

Unter diesen Umständen ergibt sich die Einleitung des Liquidationsverfahrens gegen LBI nicht aus der bloßen Anwendung der Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009.

35

Die Wirkungen dieser Übergangsbestimmungen entfalten sich über individuelle Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen. Im Ausgangsverfahren handelt es sich bei diesen individuellen Maßnahmen zum einen um die Entscheidung des Bezirksgerichts Reykjavik vom 5. Dezember 2008, mit der LBI ein Moratorium – als Sanierungsmaßnahme – bewilligt wurde, und zum anderen um die Entscheidung desselben Gerichts vom 22. November 2010, mit der das Liquidationsverfahren gegen LBI eröffnet und durchgeführt wurde.

36

Somit können diese individuellen Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24 die Wirkungen, die ihnen die isländischen Rechtsvorschriften beilegen, in den Mitgliedstaaten der Union entfalten.

37

Diese Schlussfolgerung wird nicht durch das Argument von Herrn Giraux entkräftet, dass die Übergangsbestimmungen des Gesetzes Nr. 44/2009, nach denen das LBI bewilligte Moratorium in ein Liquidationsverfahren umgewandelt wurde, nicht mit einer Klage angefochten werden könnten – da es sich nicht um eine Entscheidung einer Behörde oder eines Gerichts handele, sondern um gesetzliche Bestimmungen – und daher keine Wirkungen in den Mitgliedstaaten der Union gemäß der Richtlinie 2001/24 entfalten könnten.

38

Wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, bestimmen sich die Wirkungen, die von den Behörden oder Gerichten des Herkunftsmitgliedstaats ergriffene Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen in den anderen Mitgliedstaaten der Union entfalten können, gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24 nach dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats. Daher hindert diese Richtlinie diesen Mitgliedstaat nicht daran, die auf solche Maßnahmen anwendbaren Regelungen auch rückwirkend zu ändern.

39

Was die Frage angeht, ob die Übergangsbestimmungen des Gesetzes Nr. 44/2009 nur dann Maßnahmen einer Behörde oder eines Gerichts im Sinne der Art. 3 und 9 der Richtlinie 2001/24 darstellen, wenn sie mit einem Rechtsbehelf angefochten werden können, ist darauf hinzuweisen, dass mit dieser Richtlinie, wie aus ihrem sechsten Erwägungsgrund hervorgeht, ein System der gegenseitigen Anerkennung der nationalen Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen eingeführt wird, ohne eine Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet anzustreben.

40

Im Rahmen des mit der Richtlinie 2001/24 eingeführten Systems werden die Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen des Herkunftsmitgliedstaats, wie aus Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie hervorgeht, „ohne weitere Formalität“ anerkannt. Insbesondere macht diese Richtlinie die Anerkennung von Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen nicht von der Voraussetzung abhängig, dass sie mit einem Rechtsbehelf angefochten werden können. Nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 kann auch der Aufnahmemitgliedstaat diese Anerkennung nicht von einer solchen Voraussetzung abhängig machen, die möglicherweise in seiner nationalen Regelung vorgesehen ist.

41

Schließlich verpflichtet der Grundsatz der Gleichbehandlung der Gläubiger in Bezug auf ihre Möglichkeit, Rechtsbehelfe einzulegen, wie er im zwölften Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/24 angeführt wird, die Behörden und Gerichte des Herkunftsmitgliedstaats zwar dazu, den Gläubigern der anderen Mitgliedstaaten die gleiche Behandlung wie den Gläubigern des Herkunftsmitgliedstaats zukommen zu lassen. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass nur solche Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen, die nach nationalem Recht mit einem Rechtsbehelf angefochten werden können, gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24 anerkannt werden können.

42

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 3 und 9 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen sind, dass Maßnahmen zur Sanierung oder Liquidation eines Finanzinstituts, wie sie auf der Grundlage der Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 ergriffen wurden, als Maßnahmen zu betrachten sind, die im Sinne dieser Artikel der Richtlinie 2001/24 von einer Behörde oder einem Gericht ergriffen wurden, da diese Übergangsbestimmungen ihre Wirkungen nur über gerichtliche Entscheidungen, mit denen einem Kreditinstitut ein Moratorium bewilligt wurde, entfalten.

Zur zweiten Frage

43

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine nationale Bestimmung wie Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute in der durch das Gesetz Nr. 129/2008 geänderten Fassung, nach dem jedes Gerichtsverfahren gegen ein Finanzinstitut verboten oder ausgesetzt wurde, wenn dieses einem Moratorium unterlag, seine Wirkungen gegenüber Sicherungsmaßnahmen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entfaltet, die vor der Verfügung des Moratoriums in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen wurden.

Zur Zulässigkeit

44

Herr Giraux macht geltend, dass die zweite Frage unzulässig sei, da sie für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich und hypothetisch sei. Das Verbot der Einleitung eines Gerichtsverfahrens gegen ein einem Moratorium unterliegendes Finanzinstitut gemäß Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute finde keine Anwendung auf Anträge, die – wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden – vor dem Erlass der Gerichtsentscheidung über die Bewilligung eines solchen Moratoriums gestellt worden seien. Außerdem seien die Bestimmungen dieses Artikels, auf die sich LBI berufe, durch das Gesetz Nr. 44/2009 aufgehoben worden.

45

Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof darf die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts nur dann verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. Urteil vom 6. Dezember 2012, Odar, C‑152/11, Randnr. 24).

46

Die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit kann nicht allein dadurch widerlegt werden, dass eine der Parteien des Ausgangsverfahrens bestimmte Tatsachen bestreitet, deren Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu überprüfen hat und die den Streitgegenstand bestimmen (Urteil vom 8. November 2007, Amurta, C-379/05, Slg. 2007, I-9569, Randnr. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Die Frage, ob Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute Wirkungen gegenüber Sicherungsmaßnahmen entfalten kann, die vor der Gerichtsentscheidung, mit der ein Moratorium bewilligt wurde, getroffen wurden, und welchen Einfluss in diesem Zusammenhang die Aufhebung der relevanten Bestimmungen dieses Artikels haben kann, stellt gerade eine Frage des rechtlichen und tatsächlichen Rahmens dar, den der Gerichtshof nicht zu prüfen hat.

48

Die zweite Vorlagefrage ist daher als zulässig anzusehen.

Zur Beantwortung der Frage

49

Zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2001/24, wie insbesondere aus ihrem 16. Erwägungsgrund hervorgeht, auf den Grundsätzen der Einheit und der Universalität beruht und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren sowie von deren Wirkungen aufstellt. Zu diesem Zweck bestimmen Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 sowie Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24, dass Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren dem Recht des Herkunftsmitgliedstaats unterliegen, dass sich die Wirkungen solcher Maßnahmen und Verfahren nach den Rechtsvorschriften dieses Staates bestimmen und dass sie wirksam sind, sobald sie im Herkunftsmitgliedstaat wirksam sind. Diese Bestimmungen sehen somit vor, dass grundsätzlich die lex concursus die Sanierungsmaßnahmen und die Liquidationsverfahren regelt.

50

In Bezug auf Liquidationsverfahren stellt Art. 10 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie 2001/24 klar, dass „Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger“ durch das Recht des Herkunftsmitgliedstaats geregelt werden, wobei allerdings die Wirkungen auf „anhängige Rechtsstreitigkeiten“ ausgenommen werden.

51

Hierzu bestimmt Art. 32 der Richtlinie 2001/24, dass für die Wirkungen einer Sanierungsmaßnahme oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit über einen Vermögensgegenstand oder ein Recht der Masse ausschließlich das Recht des Mitgliedstaats gilt, in dem der Rechtsstreit anhängig ist.

52

Diese Bestimmung stellt somit eine Ausnahme von der allgemeinen Regelung dar, wonach die Wirkungen der Sanierungs‑ und Liquidationsmaßnahmen durch das Recht des Herkunftsmitgliedstaats geregelt werden, und ist eng auszulegen.

53

Die Bedeutung von Art. 32 der Richtlinie 2001/24 wird durch deren 30. Erwägungsgrund verdeutlicht, in dem zwischen „anhängigen Rechtsstreitigkeiten“ und „Einzelvollstreckungsmaßnahmen“ unterschieden wird. Danach ist zum einen für die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen oder eines Liquidationsverfahrens auf einen anhängigen Rechtsstreit abweichend von der lex concursus das Recht des Mitgliedstaats maßgeblich, in dem der Rechtsstreit anhängig ist. Zum anderen ist für die Wirkungen dieser Maßnahmen oder dieses Verfahrens auf „Einzelvollstreckungsmaßnahmen“ im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten gemäß der allgemeinen Regel der Richtlinie 2001/24 das Recht des Herkunftsmitgliedstaats maßgeblich.

54

Daher ist für die Bestimmung des auf die Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen oder eines Liquidationsverfahrens anwendbaren Rechts zwischen anhängigen Rechtsstreitigkeiten und Einzelvollstreckungsmaßnahmen im Zusammenhang mit diesen Rechtsstreitigkeiten zu unterscheiden, wobei die letztgenannten Maßnahmen nach der in der Richtlinie 2001/24 aufgestellten allgemeinen Regel durch das Recht des Herkunftsmitgliedstaats geregelt werden. Daher erfasst, wie die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, der Begriff „anhängiger Rechtsstreit“ nur das Verfahren in der Hauptsache.

55

Eine gegenteilige Auslegung der Richtlinie 2001/24 wäre geeignet, die praktische Wirksamkeit des durch die Richtlinie aufgestellten Grundsatzes der Universalität in Frage zu stellen, mit dem bezweckt wird, dass für Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren ein Verfahren mit universaler Wirkung gilt. Da die in der Richtlinie 2001/24 vorgesehenen Maßnahmen gerade die Aussetzung der individuellen Vollstreckungsmaßnahmen bezwecken, um die Lebensfähigkeit der betroffenen Kreditinstitute wiederherzustellen, würde nämlich jede Zwangsvollstreckungsmaßnahme die Verfügbarkeit der zur Masse gehörenden Vermögensgegenstände einschränken und auf diese Weise den Grundsatz der Universalität gefährden.

56

In Bezug auf die im Ausgangsverfahren fraglichen Sicherungsmaßnahmen steht fest, dass diese Einzelvollstreckungsmaßnahmen darstellen, da sie bewirken, dass einem Kreditinstitut die freie Verfügung über einen Teil seines Vermögens entzogen wird, bis ein Rechtsstreit mit einem seiner Gläubiger in der Hauptsache entschieden wird. Daher werden solche Sicherungsmaßnahmen nicht von Art. 32 der Richtlinie 2001/24 erfasst, sondern durch das isländische Recht als lex concursus geregelt.

57

Der Umstand, dass diese Maßnahmen erlassen wurden, bevor LBI das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Moratorium bewilligt wurde, kann dieses Ergebnis nicht entkräften. Wie nämlich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 sowie von Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2001/24 hervorgeht, regelt die lex concursus auch die zeitlichen Wirkungen von Sanierungsmaßnahmen und Liquidationsverfahren. Art. 32 dieser Richtlinie verwehrt es nicht, dass diese Maßnahmen und diese Verfahren Rückwirkung entfalten.

58

Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 32 der Richtlinie 2001/24 dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass eine nationale Bestimmung wie Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 über Finanzinstitute in der durch das Gesetz Nr. 129/2008 geänderten Fassung, nach dem jedes Gerichtsverfahren gegen ein Finanzinstitut verboten oder ausgesetzt wurde, wenn dieses einem Moratorium unterlag, seine Wirkungen gegenüber Sicherungsmaßnahmen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entfaltet, die vor der Verfügung des Moratoriums in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen wurden.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Art. 3 und 9 der Richtlinie 2001/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. April 2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten sind dahin auszulegen, dass Maßnahmen zur Sanierung oder Liquidation eines Finanzinstituts, wie sie auf der Grundlage der Übergangsbestimmungen in Nr. II des Gesetzes Nr. 44/2009 vom 15. April 2009 ergriffen wurden, als Maßnahmen zu betrachten sind, die im Sinne dieser Artikel der Richtlinie 2001/24 von einer Behörde oder einem Gericht ergriffen wurden, da diese Übergangsbestimmungen ihre Wirkungen nur über gerichtliche Entscheidungen, mit denen einem Kreditinstitut ein Moratorium bewilligt wurde, entfalten.

 

2.

Art. 32 der Richtlinie 2001/24 ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass eine nationale Bestimmung wie Art. 98 des Gesetzes Nr. 161/2002 vom 20. Dezember 2002 über Finanzinstitute in der durch das Gesetz Nr. 129/2008 vom 13. November 2008 geänderten Fassung, nach dem jedes Gerichtsverfahren gegen ein Finanzinstitut verboten oder ausgesetzt wurde, wenn dieses einem Moratorium unterlag, seine Wirkungen gegenüber Sicherungsmaßnahmen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entfaltet, die vor der Verfügung des Moratoriums in einem anderen Mitgliedstaat ergriffen wurden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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