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Document 62011CJ0116

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 22. November 2012.
Bank Handlowy w Warszawie SA und PPHU „ADAX“/Ryszard Adamiak gegen Christianapol sp. z o.o.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy Poznań-Stare Miasto w Poznaniu.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Insolvenzverfahren – Begriff ‚Beendigung des Verfahrens‘ – Möglichkeit für das Gericht des Sekundärinsolvenzverfahrens, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu beurteilen – Befugnis zur Eröffnung eines Liquidationsverfahrens als Sekundärinsolvenzverfahren, wenn das Hauptinsolvenzverfahren ein Sauvegarde-Verfahren ist.
Rechtssache C‑116/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:739

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

22. November 2012 ( *1 )

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 — Insolvenzverfahren — Begriff ‚Beendigung des Verfahrens‘ — Möglichkeit für das Gericht des Sekundärinsolvenzverfahrens, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu beurteilen — Befugnis zur Eröffnung eines Liquidationsverfahrens als Sekundärinsolvenzverfahren, wenn das Hauptinsolvenzverfahren ein Sauvegarde-Verfahren ist“

In der Rechtssache C-116/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Poznań-Stare Miasto w Poznaniu (Polen) mit Entscheidung vom 21. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 7. März 2011, in dem Verfahren

Bank Handlowy w Warszawie SA,

PPHU „ADAX“/Ryszard Adamiak

gegen

Christianapol sp. z o.o.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, J.-J. Kasel und M. Safjan sowie der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Bank Handlowy w Warszawie SA, vertreten durch Z. Skórczyński, Rechtsberater,

der Christianapol sp. z o.o., vertreten durch M. Barłowski, Rechtsberater, im Beistand von P. Saigne und M. Le Berre, adwokaci,

der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar, M. Arciszewski und B. Czech als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, B. Beaupère-Manokha und N. Rouam als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und A. Stobiecka-Kuik als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 24. Mai 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 Buchst. j sowie Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. L 160, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 788/2008 des Rates vom 24. Juli 2008 geänderten Fassung (ABl. L 213, S. 1) (im Folgenden: Verordnung).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens über die von der Bank Handlowy w Warszawie SA (im Folgenden: Bank Handlowy) und der PPHU „ADAX“/Ryszard Adamiak (im Folgenden: Adamiak) beantragte Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Polen gegen die Gesellschaft polnischen Rechts Christianapol sp. z o.o. (im Folgenden: Christianapol), über die in Frankreich bereits ein Sauvegarde-Verfahren (procédure de sauvegarde) eröffnet wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 2, 12, 19, 20 und 23 der Verordnung lauten:

„(2)

Für ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarktes sind effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren erforderlich; die Annahme dieser Verordnung ist zur Verwirklichung dieses Ziels erforderlich, das in den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen im Sinne des Artikels 65 des Vertrags fällt.

(12)

Diese Verordnung gestattet die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens in dem Mitgliedstaat, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Dieses Verfahren hat universale Geltung mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen. Zum Schutz der unterschiedlichen Interessen gestattet diese Verordnung die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren parallel zum Hauptinsolvenzverfahren. Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann in dem Mitgliedstaat eröffnet werden, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat. Seine Wirkungen sind auf das in dem betreffenden Mitgliedstaat belegene Vermögen des Schuldners beschränkt. Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Gemeinschaft Rechnung.

(19)

Ein Sekundärinsolvenzverfahren kann neben dem Schutz der inländischen Interessen auch anderen Zwecken dienen. Dies kann der Fall sein, wenn das Vermögen des Schuldners zu verschachtelt ist, um als ganzes verwaltet zu werden, oder weil die Unterschiede in den betroffenen Rechtssystemen so groß sind, dass sich Schwierigkeiten ergeben können, wenn das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung seine Wirkung in den anderen Staaten, in denen Vermögensgegenstände belegen sind, entfaltet. Aus diesem Grund kann der Verwalter des Hauptverfahrens die Eröffnung eines Sekundärverfahrens beantragen, wenn dies für die effiziente Verwaltung der Masse erforderlich ist.

(20)

Hauptinsolvenzverfahren und Sekundärinsolvenzverfahren können jedoch nur dann zu einer effizienten Verwertung der Insolvenzmasse beitragen, wenn die parallel anhängigen Verfahren koordiniert werden. … Um die dominierende Rolle des Hauptinsolvenzverfahrens sicherzustellen, sollten dem Verwalter dieses Verfahrens mehrere Einwirkungsmöglichkeiten auf gleichzeitig anhängige Sekundärinsolvenzverfahren gegeben werden. Er sollte etwa einen Sanierungsplan oder Vergleich vorschlagen oder die Aussetzung der Verwertung der Masse im Sekundärinsolvenzverfahren beantragen können.

(23)

Diese Verordnung sollte für den Insolvenzbereich einheitliche Kollisionsnormen formulieren, die die Vorschriften des internationalen Privatrechts der einzelnen Staaten ersetzen. Soweit nichts anderes bestimmt ist, sollte das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung (lex concursus) Anwendung finden. Diese Kollisionsnorm sollte für Hauptinsolvenzverfahren und Partikularverfahren gleichermaßen gelten. Die lex concursus regelt alle verfahrensrechtlichen wie materiellen Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die davon betroffenen Personen und Rechtsverhältnisse; nach ihr bestimmen sich alle Voraussetzungen für die Eröffnung, Abwicklung und Beendigung des Insolvenzverfahrens.“

4

Gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 gilt die Verordnung „für Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben“.

5

Unter „Insolvenzverfahren“ sind nach Art. 2 Buchst. a der Verordnung „die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Gesamtverfahren“ zu verstehen, wobei näher bestimmt wird, dass „[d]iese Verfahren … in Anhang A aufgeführt [sind]“.

6

Im Anhang A der Verordnung ist für Frankreich das Verfahren „Sauvegarde“ aufgeführt.

7

Art. 3 der Verordnung bestimmt:

„(1)   Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.

(2)   Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.

(3)   Wird ein Insolvenzverfahren nach Absatz 1 eröffnet, so ist jedes zu einem späteren Zeitpunkt nach Absatz 2 eröffnete Insolvenzverfahren ein Sekundärinsolvenzverfahren. Bei diesem Verfahren muss es sich um ein Liquidationsverfahren handeln.

…“

8

Art. 4 der Verordnung sieht vor:

„(1)   Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.

(2)   Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

j)

die Voraussetzungen und die Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich;

…“

9

Art. 16 der Verordnung stellt den Grundsatz der Anerkennung der Insolvenzverfahren auf und formuliert diesen wie folgt:

„(1)   Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Artikel 3 zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats wird in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist.

…“

10

Art. 25 der Verordnung konkretisiert den Geltungsbereich dieses Grundsatzes folgendermaßen:

„(1)   Die zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen eines Gerichts, dessen Eröffnungsentscheidung nach Artikel 16 anerkannt wird, sowie ein von einem solchen Gericht bestätigter Vergleich werden ebenfalls ohne weitere Förmlichkeiten anerkannt. …“

11

Art. 26 der Verordnung sieht als Ausnahme von diesem Grundsatz vor, dass sich ein Mitgliedstaat weigern kann, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen, soweit diese Anerkennung „zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist“.

12

Art. 27 der Verordnung bestimmt:

„Ist durch ein Gericht eines Mitgliedstaats ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 eröffnet worden, das in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt ist (Hauptinsolvenzverfahren), so kann ein nach Artikel 3 Absatz 2 zuständiges Gericht dieses anderen Mitgliedstaats ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnen, ohne dass in diesem anderen Mitgliedstaat die Insolvenz des Schuldners geprüft wird. Bei diesem Verfahren muss es sich um eines der in Anhang B aufgeführten [Liquidationsverfahren] handeln. Seine Wirkungen beschränken sich auf das im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners.“

13

Der Ablauf des Sekundärinsolvenzverfahrens ist in den Art. 28 bis 38 der Verordnung geregelt. Um die Koordination zwischen dem Haupt- und dem Sekundärinsolvenzverfahren sicherzustellen, sieht Art. 31 Abs. 1 eine Kooperations- und Unterrichtungspflicht zwischen dem Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens und dem des Sekundärinsolvenzverfahrens vor.

14

Gemäß Art. 33 Abs. 1 der Verordnung kann das Sekundärinsolvenzverfahren ausgesetzt werden. Diese Bestimmung lautet:

„Das Gericht, welches das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet hat, setzt auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens die Verwertung ganz oder teilweise aus; dem zuständigen Gericht steht jedoch das Recht zu, in diesem Fall vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens alle angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Gläubiger des Sekundärinsolvenzverfahrens sowie einzelner Gruppen von Gläubigern zu verlangen. Der Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens kann nur abgelehnt werden, wenn die Aussetzung offensichtlich für die Gläubiger des Hauptinsolvenzverfahrens nicht von Interesse ist. Die Aussetzung der Verwertung kann für höchstens drei Monate angeordnet werden. Sie kann für jeweils denselben Zeitraum verlängert oder erneuert werden.“

15

Art. 34 Abs. 1 der Verordnung sieht in Bezug auf verfahrensbeendende Maßnahmen vor:

„Kann das Sekundärinsolvenzverfahren nach dem für dieses Verfahren maßgeblichen Recht ohne Liquidation durch einen Sanierungsplan, einen Vergleich oder eine andere vergleichbare Maßnahme beendet werden, so kann eine solche Maßnahme vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens vorgeschlagen werden.

Eine Beendigung des Sekundärinsolvenzverfahrens durch eine Maßnahme nach Unterabsatz 1 kann nur bestätigt werden, wenn der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens zustimmt oder, falls dieser nicht zustimmt, wenn die finanziellen Interessen der Gläubiger des Hauptinsolvenzverfahrens durch die vorgeschlagene Maßnahme nicht beeinträchtigt werden.“

Nationales Recht

16

Das Sauvegarde-Verfahren ist im französischen Recht in den Art. L. 620-1 ff. des Handelsgesetzbuchs (Code de commerce) geregelt. Art. L. 620-1 sah in seiner im Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung des Gesetzes Nr. 2005-845 vom 26. Juli 2005 vor:

„Es wird ein Sauvegarde-Verfahren eingeführt. Dieses wird auf Antrag eines der in Art. L. 620-2 genannten Schuldner eröffnet, der nachweist, dass er sich in Schwierigkeiten befindet, die er nicht überwinden kann und die dazu führen können, dass er die Zahlungen einstellt. Mit diesem Verfahren soll die Reorganisation des Unternehmens erleichtert werden, um die Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit, den Erhalt der Arbeitsplätze und die Begleichung der Verbindlichkeiten zu ermöglichen.

Für das Sauvegarde-Verfahren [wird] ein Plan erstellt, der nach einem Beobachtungszeitraum durch Urteil beschlossen wird …“

Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

17

Christianapol, die ihren satzungsmäßigen Sitz in Łowyń (Polen) hat, ist die 100%ige Tochtergesellschaft einer deutschen Gesellschaft, die selbst zu 90 % einer französischen Gesellschaft gehört.

18

Mit Urteil vom 1. Oktober 2008 eröffnete das Tribunal de commerce de Meaux (Frankreich) gegenüber Christianapol ein Insolvenzverfahren. Seine Zuständigkeit stützte es auf die Feststellung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin in Frankreich liege. Es eröffnete ein Sauvegarde-Verfahren mit der Begründung, dass bei der Schuldnerin zwar keine Situation der Zahlungseinstellung vorliege, dies aber ohne schnelle finanzielle Umstrukturierung der Fall zu sein drohe.

19

Am 21. April und 26. Juni 2009 beantragte Bank Handlowy mit Sitz in Warschau (Polen) als Gläubigerin von Christianapol gegenüber dieser beim vorlegenden Gericht die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens nach Art. 27 der Verordnung. Für den Fall, dass das Urteil des Tribunal de commerce de Meaux vom 1. Oktober 2008 gemäß Art. 26 der Verordnung für unvereinbar mit dem Ordre public befunden werde, beantragte Bank Handlowy hilfsweise die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens nach polnischem Recht.

20

Am 20. Juli 2009 bestätigte das Tribunal de commerce de Meaux einen Schutzplan von Christianapol, der eine Begleichung der Verbindlichkeiten innerhalb von zehn Jahren vorsah und ein Veräußerungsverbot für das Unternehmen mit Sitz in Łowyń sowie für bestimmte Bestandteile des Vermögens der Schuldnerin anordnete. Die zuvor erfolgte Einsetzung der Beauftragten für die Gläubigerinteressen wurde vom französischen Gericht bis zur Beendigung des Verfahrens zur Feststellung der Forderungen und Vorlage des Abschlussberichts über ihre Tätigkeit aufrechterhalten. Zudem bestellte das Gericht in dieser Entscheidung einen Beauftragten zur Überwachung der Durchführung des Plans.

21

Am 2. August 2009 beantragte ein weiterer Gläubiger, Adamiak mit Sitz in Łęczyca (Polen), ebenfalls die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens nach polnischem Recht.

22

Christianapol hatte ursprünglich beantragt, den Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens in Polen abzulehnen, weil dieses im Widerspruch zu den Zielen und zum Charakter des Sauvegarde-Verfahrens stehe. Nach Bestätigung des Schutzplans durch das französische Gericht machte Christianapol geltend, dass über die Einleitung des Sekundärinsolvenzverfahrens nicht entschieden zu werden brauche, da das Hauptverfahren beendet sei. Sie komme ihren Verpflichtungen gemäß dem durch das französische Gericht bestätigten Plan nach. Damit bestünden nach polnischem Recht keine fälligen Geldforderungen gegen sie, so dass es keine Grundlage dafür gebe, sie für zahlungsunfähig zu erklären.

23

Das vorlegende Gericht ersuchte das Tribunal de commerce de Meaux um Mitteilung, ob das dortige Insolvenzverfahren, das das Hauptinsolvenzverfahren im Sinne der Verordnung darstelle, weiterhin anhängig sei. Die Antwort des französischen Gerichts brachte nicht die erforderliche Klärung. Das vorlegende Gericht holte daraufhin ein Sachverständigengutachten ein.

24

Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy Poznań-Stare Miasto w Poznaniu das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. j der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin gehend auszulegen, dass der in dieser Vorschrift verwendete Begriff „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ unabhängig von den in den Rechtssystemen der einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen autonom zu interpretieren ist, oder entscheidet allein das innerstaatliche Recht des Staates der Verfahrenseröffnung darüber, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt?

2.

Ist Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin gehend auszulegen, dass das innerstaatliche Gericht, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasst ist, nie die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners prüfen darf, über dessen Vermögen in einem anderen Staat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde, oder vielmehr dahin gehend, dass ein innerstaatliches Gericht in bestimmten Situationen das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners prüfen darf, insbesondere dann, wenn das Hauptverfahren ein Schutzverfahren ist, in dem das Gericht festgestellt hat, dass der Schuldner nicht zahlungsunfähig ist (französisches Sauvegarde-Verfahren)?

3.

Erlaubt es die Auslegung von Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000, ein Sekundärinsolvenzverfahren, dessen Charakter in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung präzisiert wird, in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem sich das gesamte Vermögen des insolventen Schuldners befindet, wenn das der automatischen Anerkennung unterliegende Hauptverfahren Schutzcharakter hat (wie das französische Sauvegarde-Verfahren), in ihm ein Zahlungsplan angenommen und bestätigt wurde, dieser Plan vom Schuldner befolgt wird und das Gericht die Veräußerung des Vermögens des Schuldners untersagt hat?

Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

25

Das mündliche Verfahren ist am 24. Mai 2012 nach Stellung der Schlussanträge der Generalanwältin geschlossen worden.

26

Mit Schreiben vom 29. Juni 2012, das am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat Christianapol die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

27

Der Antrag wird damit begründet, dass in den Schlussanträgen der Generalanwältin mehrere Fragen zu Rolle und Einfluss des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens im Verhältnis zum Sekundärinsolvenzverfahren aufgeworfen würden, die dahin gingen, ob das französische Sauvegarde-Verfahren ein Insolvenzverfahren im Sinne der Verordnung sei und ob das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht befugt sei, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu prüfen.

28

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist (vgl. in diesem Sinne zu Art. 61 der Verfahrensordnung in der vor dem 1. November 2012 geltenden Fassung Beschluss vom 4. Juli 2012, Feyerbacher, C-62/11, Randnr. 6 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Im vorliegenden Fall geht der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin davon aus, dass er über alle erforderlichen Angaben verfügt, um die Fragen des vorlegenden Gerichts zu beantworten, und dass diese Angaben im Verfahren vor ihm erörtert worden sind.

30

Daher ist der Antrag von Christianapol auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zurückzuweisen.

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

31

Zunächst ist auf den Anwendungsbereich der Verordnung hinzuweisen.

32

Gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 gilt die Verordnung für Gesamtverfahren, die die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben. Unter „Insolvenzverfahren“ sind nach Art. 2 Buchst. a der Verordnung die in Art. 1 Abs. 1 genannten Gesamtverfahren zu verstehen, wobei näher bestimmt ist, dass diese Verfahren in Anhang A aufgeführt sind.

33

Folglich fällt ein Verfahren, sobald es in Anhang A der Verordnung aufgenommen ist, in den Anwendungsbereich der Verordnung. Die Aufnahme in diesen Anhang hat die unmittelbare und verbindliche Wirkung, die den Bestimmungen einer Verordnung zukommt.

34

Es steht fest, dass das im vorliegenden Fall vom Tribunal de commerce de Meaux eröffnete Sauvegarde-Verfahren zu den Verfahren gehört, die für Frankreich in Anhang A der Verordnung aufgenommen sind.

35

Aufgrund dieser Aufnahme, deren sachliche Richtigkeit nicht Gegenstand einer Vorlagefrage ist, ergibt sich zum einen, dass das französische Sauvegarde-Verfahren in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, und zum anderen, dass sich eine Schuldnerin wie Christianapol, gegen die ein solches Verfahren eröffnet wurde, für die Anwendung dieser Verordnung in der Situation einer Insolvenz befindet.

Zur ersten Frage

36

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 2 Buchst. j der Verordnung dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ eine der Verordnung eigene, autonome Bedeutung hat oder ob das nationale Recht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, darüber entscheidet, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt.

37

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist die Antwort auf diese Frage von wesentlicher Bedeutung für die Feststellung, ob das gegen Christianapol in Frankreich eröffnete Hauptinsolvenzverfahren noch anhängig ist, und für seine Befugnis zur Entscheidung über die Anträge von Bank Handlowy und Adamiak, gegen denselben Schuldner in Polen ein zweites Hauptinsolvenzverfahren zu eröffnen. Das vorlegende Gericht geht davon aus, dass es, falls das in Frankreich eröffnete Hauptinsolvenzverfahren beendet wäre, den Anträgen von Bank Handlowy und Adamiak nach einer auf der Grundlage seines nationalen Rechts erfolgten Prüfung der Zahlungsunfähigkeit von Christianapol stattgeben könne.

38

Hierzu ist Folgendes zu bemerken.

39

Das vorlegende Gericht hat das in Frankreich eröffnete Insolvenzverfahren zutreffend als Hauptinsolvenzverfahren eingestuft. Dieses Verfahren wurde nämlich gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung eröffnet.

40

Ein solches Verfahren entfaltet, wie das vorlegende Gericht ausführt, insofern universale Wirkungen, als es Vermögen des Schuldners in allen Mitgliedstaaten erfasst. Solange ein Hauptinsolvenzverfahren anhängig ist, kann kein weiteres Hauptinsolvenzverfahren eröffnet werden. Ein in dieser Zeit eröffnetes Insolvenzverfahren, kann, wie sich aus Art. 3 Abs. 2 und 3 der Verordnung ergibt, nur ein Sekundärinsolvenzverfahren sein, dessen Wirkungen auf das Vermögen des Schuldners beschränkt sind, das in dem Mitgliedstaat, in dem dieses Verfahren eröffnet wird, belegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 2011, Rastelli Davide e C., C-191/10, Slg. 2011, I-13209, Randnr. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Gemäß Art. 16 Abs. 1 der Verordnung wird ein in einem Mitgliedstaat eröffnetes Hauptinsolvenzverfahren in allen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist. Dieser Grundsatz bedeutet, dass die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die Entscheidung über die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens anerkennen, ohne zu einer Überprüfung der vom ersten Gericht hinsichtlich seiner Zuständigkeit getroffenen Beurteilung befugt zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C-341/04, Slg. 2006, I-3813, Randnrn. 39 und 42, sowie vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia, C-444/07, Slg. 2010, I-417, Randnrn. 27 und 29). Art. 25 der Verordnung dehnt diesen Anerkennungsgrundsatz auf alle zur Durchführung und Beendigung des Verfahrens ergangenen Entscheidungen aus.

42

Im Ausgangsverfahren war die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens durch das Tribunal de commerce de Meaux insbesondere auf die Feststellung gestützt, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin, der nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung das ausschließliche Kriterium für die internationale Zuständigkeit ist, in Frankreich liege. Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, gilt für diese Feststellung der Anerkennungsgrundsatz, den das vorlegende Gericht zu beachten hat.

43

Folglich könnte das vorlegende Gericht, falls das in Frankreich gegenüber Christianapol eröffnete Hauptinsolvenzverfahren beendet wäre, nur dann ein zweites Hauptinsolvenzverfahren in Polen eröffnen, wenn sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen von Christianapol nach Eröffnung des ersten Hauptinsolvenzverfahrens nachweislich nach Polen verlagert hätte.

44

Unter Berücksichtigung dieser Bemerkungen ist zu prüfen, wie die Bedeutung des Begriffs „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ zu bestimmen ist.

45

Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die Verordnung nicht auf die Einführung eines einheitlichen Insolvenzverfahrens, sondern, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, darauf abzielt, effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren sicherzustellen (Urteil Eurofood IFSC, Randnr. 48). Zu diesem Zweck legt sie Bestimmungen über den Gerichtsstand, die Anerkennung und das anwendbare Recht in diesem Bereich fest.

46

Welches Recht auf ein Insolvenzverfahren anwendbar ist, ist in Art. 4 der Verordnung geregelt, der in Abs. 1 insoweit auf das Recht des Mitgliedstaats verweist, in dem das Verfahren eröffnet worden ist. Nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. j regelt dieses Recht insbesondere die Voraussetzungen und die Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens.

47

Art. 4 der Verordnung ist somit eine Kollisionsnorm, was durch den 23. Erwägungsgrund der Verordnung bestätigt wird, in dem es heißt, dass die in der Verordnung vorgesehenen einheitlichen Kollisionsnormen die Vorschriften des internationalen Privatrechts der einzelnen Staaten ersetzen.

48

Wie von der Generalanwältin in Nr. 32 ihrer Schlussanträge vorgetragen, ist es für eine Kollisionsnorm charakteristisch, dass sie eine materiell-rechtliche Frage nicht selbst beantwortet, sondern lediglich festlegt, nach welchem Recht sich die Antwort richtet.

49

Unionsrechtliche Vorschriften müssen zwar bei Zweifeln hinsichtlich ihres Wortlauts eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels zu ermitteln ist, doch hat der Gerichtshof entschieden, dass dieser Grundsatz nur für Vorschriften gilt, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2011, Interedil, C-396/09, Slg. 2011, I-9915, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50

Daher können Fragen wie die nach den Voraussetzungen und Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, für die Art. 4 Abs. 2 Buchst. j der Verordnung ausdrücklich auf das nationale Recht verweist, nicht Gegenstand einer autonomen Auslegung sein; sie sind vielmehr nach der anwendbaren lex concursus zu entscheiden.

51

Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in Randnr. 54 des Urteils Eurofood IFSC, auf das sich Christianapol und die französische Regierung stützen, entschieden hat, dass der Begriff „Eröffnung eines Insolvenzverfahrens“ im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Verordnung nach zwei der Verordnung eigenen Kriterien zu bestimmen ist. Im Unterschied zu Art. 4 der Verordnung wird nämlich in Art. 16 Abs. 1 nicht ausdrücklich auf das nationale Recht verwiesen, sondern eine unmittelbar anwendbare Regel festgelegt, wonach für die zuerst ergangene Eröffnungsentscheidung der Anerkennungsgrundsatz gilt.

52

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 2 Buchst. j der Verordnung dahin auszulegen ist, dass das nationale Recht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, darüber entscheidet, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt.

Zur dritten Frage

53

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es erlaubt, ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem sich das gesamte Vermögen des Schuldners befindet, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient.

54

Vorab ist festzustellen, dass die Antwort auf diese Frage für den Ausgangsrechtsstreit nur dann entscheidungserheblich sein kann, wenn das in Frankreich eröffnete Hauptinsolvenzverfahren noch anhängig ist, was das vorlegende Gericht unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Frage zu prüfen hat.

55

Art. 27 Satz 1 der Verordnung, der für den Fall, dass in einem Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde, bestimmt, dass in einem anderen Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Schuldner eine Niederlassung hat, ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet werden kann, unterscheidet hierbei nicht nach dem Zweck des Hauptinsolvenzverfahrens.

56

Ebenso allgemein gehalten ist der Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung, wonach dann, wenn ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde, jedes Insolvenzverfahren, das zu einem späteren Zeitpunkt von einem Gericht, das seine Zuständigkeit auf das Vorhandensein einer Niederlassung des Schuldners stützt, eröffnet wird, ein Sekundärinsolvenzverfahren ist.

57

Diese Bestimmungen sind daher so zu verstehen, dass sie die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens auch dann gestatten, wenn das Hauptinsolvenzverfahren – wie das französische Sauvegarde-Verfahren – einem Schutzzweck dient.

58

Die von Christianapol und der französischen Regierung vertretene Auslegung, dass die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens mit Schutzcharakter der Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens entgegensteht, wäre nicht nur mit dem Wortlaut der genannten Bestimmungen unvereinbar, sondern widerspräche auch der Stellung der Sekundärinsolvenzverfahren in dem mit der Verordnung geschaffenen System. Insoweit ist hervorzuheben, dass Sekundärinsolvenzverfahren zwar insbesondere den Schutz inländischer Interessen gewährleisten sollen, daneben aber auch, wie im 19. Erwägungsgrund der Verordnung ausgeführt, anderen Zwecken dienen können. Aus diesem Grund können sie auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens eröffnet werden, wenn dies für die effiziente Verwaltung der Masse erforderlich ist.

59

Gleichwohl könnte, worauf das vorlegende Gericht hinweist, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens, bei dem es sich gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung um ein Liquidationsverfahren handeln muss, dem Zweck eines Hauptinsolvenzverfahrens mit Schutzcharakter zuwiderlaufen.

60

Insoweit ist festzustellen, dass die Verordnung eine Reihe zwingender Koordinierungsvorschriften vorsieht, die, wie es im zwölften Erwägungsgrund heißt, dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Gemeinschaft Rechnung tragen sollen. In diesem System kommt nach dem 20. Erwägungsgrund der Verordnung dem Hauptinsolvenzverfahren gegenüber dem Sekundärinsolvenzverfahren eine dominierende Rolle zu.

61

Der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens verfügt somit über bestimmte ausschließliche Befugnisse, die es ihm ermöglichen, auf das Sekundärinsolvenzverfahren in der Weise Einfluss zu nehmen, dass dieses den Schutzzweck des Hauptinsolvenzverfahrens nicht gefährden kann. Gemäß Art. 33 Abs. 1 der Verordnung kann der Verwalter die Aussetzung der Verwertung beantragen, die zwar nur für drei Monate angeordnet, aber um jeweils denselben Zeitraum verlängert oder erneuert werden kann. Gemäß Art. 34 Abs. 1 der Verordnung kann der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens vorschlagen, das Sekundärinsolvenzverfahren durch einen Sanierungsplan, einen Vergleich oder eine vergleichbare Maßnahme zu beenden. Gemäß Art. 34 Abs. 3 der Verordnung können dies während des Aussetzungszeitraums nach Art. 33 Abs. 1 der Verordnung nur der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens oder der Schuldner mit dessen Zustimmung vorschlagen.

62

Nach dem in Art. 4 Abs. 3 EU verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit hat das für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zuständige Gericht bei der Anwendung dieser Bestimmungen die Ziele des Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen und der Systematik der Verordnung Rechnung zu tragen, die, wie in den Randnrn. 45 und 60 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darauf abzielt, durch eine zwingende, den Vorrang des Hauptverfahrens gewährleistende Koordinierung von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren effiziente und wirksame grenzüberschreitende Insolvenzverfahren zu schaffen.

63

Somit ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 27 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er es erlaubt, ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient. Das für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zuständige Gericht hat unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit die Ziele des Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen und der Systematik der Verordnung Rechnung zu tragen.

Zur zweiten Frage

64

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, über dessen Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, auch dann nicht prüfen darf, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient.

65

Ist in einem Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden, „kann“ nach Art. 27 Satz 1 der Verordnung in einem anderen Mitgliedstaat, in dessen Gebiet der Schuldner eine Niederlassung hat, ein Sekundärinsolvenzverfahren „eröffne[t] [werden], ohne dass in diesem anderen Mitgliedstaat die Insolvenz des Schuldners geprüft wird“.

66

Wie die Generalanwältin in Nr. 75 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, weist diese Formulierung eine gewisse Mehrdeutigkeit hinsichtlich der Frage auf, ob die Prüfung der Insolvenz des Schuldners bei der Eröffnung des Sekundärverfahrens zwar nicht erforderlich, aber noch möglich ist, oder ob sie nicht zulässig ist.

67

Daher ist die in Art. 27 Satz 1 der Verordnung verwendete Formulierung im Licht der allgemeinen Systematik und der Ziele der Regelung, in die sie sich einfügt, auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 1980, Roudolff, 803/79, Slg. 1980, 2015, Randnr. 7).

68

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung, wie in Randnr. 32 des vorliegenden Urteils festgestellt, nur für Verfahren gilt, die die Insolvenz voraussetzen. Bezüglich der Kriterien, anhand deren sich konkret feststellen lässt, ob dies der Fall ist, verweist die Verordnung, da sie den Begriff der Insolvenz nicht selbst definiert, auf das nationale Recht. Folglich muss vor Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens die Insolvenz des Schuldners vom zuständigen Gericht nach seinem nationalen Recht geprüft werden.

69

Außerdem ist zu beachten, dass nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung das in einem Mitgliedstaat eröffnete Hauptinsolvenzverfahren in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, sobald es im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist.

70

Unter diesen Umständen ist, wie die spanische und die französische Regierung vorgetragen haben, die Beurteilung der Insolvenz des Schuldners durch das für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens zuständige Gericht für die möglicherweise mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befassten Gerichte bindend.

71

Nur mit dieser Auslegung lassen sich die Schwierigkeiten vermeiden, die sich unausweichlich ergäben, wenn in Ermangelung einer Definition des Insolvenzbegriffs in der Verordnung verschiedene Gerichte voneinander abweichende nationale Grundvorstellungen von diesem Begriff anwendeten. Zudem muss die Insolvenz, wie die französische Regierung vorgetragen hat, Gegenstand einer Gesamtbeurteilung sein, bei der das ganze Schuldnervermögen in allen Mitgliedstaaten betrachtet wird, und nicht Gegenstand isolierter, auf die in einem bestimmten Gebiet belegenen Vermögensgegenstände beschränkter Beurteilungen.

72

Abweichende Beurteilungen durch verschiedene Gerichte wären mit dem Ziel der Schaffung effizienter und wirksamer grenzüberschreitender Insolvenzverfahren unvereinbar, das die Verordnung durch die Koordinierung von Haupt- und Sekundärinsolvenzverfahren unter Wahrung des Vorrangs des Hauptinsolvenzverfahrens anstrebt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, wie aus Randnr. 58 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zwar insbesondere von inländischen Gläubigern, aber auch vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens im Interesse einer effizienteren Verwaltung der Masse beantragt werden kann.

73

Es ist jedoch hervorzuheben, dass das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht, wenn es die Konsequenzen aus der im Hauptinsolvenzverfahren getroffenen Feststellung der Insolvenz zieht, die Ziele dieses Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen und der Systematik der Verordnung und den ihr zugrunde liegenden Grundsätzen Rechnung zu tragen hat.

74

Auf die zweite Frage ist daher zu antworten, dass Art. 27 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, über dessen Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, auch dann nicht prüfen darf, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient.

Kosten

75

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4 Abs. 2 Buchst. j der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren in der durch die Verordnung (EG) Nr. 788/2008 des Rates vom 24. Juli 2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das nationale Recht des Mitgliedstaats, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, darüber entscheidet, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt.

 

2.

Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 in der durch die Verordnung Nr. 788/2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es erlaubt, ein Sekundärinsolvenzverfahren in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem der Schuldner eine Niederlassung hat, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient. Das für die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zuständige Gericht hat unter Beachtung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit die Ziele des Hauptinsolvenzverfahrens zu berücksichtigen und der Systematik der Verordnung Rechnung zu tragen.

 

3.

Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 in der durch die Verordnung Nr. 788/2008 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasste Gericht die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners, über dessen Vermögen in einem anderen Mitgliedstaat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, auch dann nicht prüfen darf, wenn das Hauptinsolvenzverfahren einem Schutzzweck dient.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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