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Document 62011CJ0079

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 12. Juli 2012.
Maurizio Giovanardi u. a.
Vorabentscheidungsersuchen eingereicht vom Ermittlungsrichter des Tribunale di Firenze.
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2001/220/JI – Stellung des Opfers im Strafverfahren – Richtlinie 2004/80/EG – Entschädigung der Opfer von Straftaten – Verantwortlichkeit einer juristischen Person – Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens.
Rechtssache C-79/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:448

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. Juli 2012 ( *1 )

„Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2001/220/JI — Stellung des Opfers im Strafverfahren — Richtlinie 2004/80/EG — Entschädigung der Opfer von Straftaten — Verantwortlichkeit einer juristischen Person — Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens“

In der Rechtssache C-79/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV und Art. 35 EU, eingereicht vom Ermittlungsrichter beim Tribunale di Firenze (Italien) mit Entscheidung vom 9. Februar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Februar 2011, in dem Strafverfahren gegen

Maurizio Giovanardi u. a.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von F. Giunti u. a., vertreten durch A. Conti und S. Grisenti, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D’Ascia, avvocato dello Stato,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Kemper und F. Wannek als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Mai 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss) und der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. L 261, S. 15).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen M. Giovanardi und mehrere andere Personen wegen eines Unfalls am Arbeitsplatz.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses geht hervor, dass der Europäische Rat von Tampere (Finnland) bei seiner Tagung vom 15. und 16. Oktober 1999 die Ausarbeitung von Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen, insbesondere hinsichtlich ihres Zugangs zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, beschloss.

4

Der vierte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses lautet:

„Die Mitgliedstaaten sollten ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, soweit dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, um Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau zu bieten.“

5

Nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses bezeichnet im Sinne dieses Beschlusses der Ausdruck

„a)

‚Opfer‘: eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen;

c)

‚Strafverfahren‘: das strafrechtliche Verfahren im Sinne des geltenden einzelstaatlichen Rechts;

…“

6

Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses („Recht auf Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens“) lautet:

„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken, es sei denn, das einzelstaatliche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass die Entschädigung in einem anderen Rahmen erfolgt.“

7

Art. 1 der Richtlinie 2004/80 lautet:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.“

Nationales Recht

8

Aus Art 1 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 vom 8. Juni 2001 (Gazzetta Ufficiale della Republica italiana Nr. 140 vom 19. Juni 2001, S. 4, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 231/2001) ergibt sich, dass das Dekret die Verantwortlichkeit von Einrichtungen für administrative Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit einer Straftat regelt und auf Gesellschaften und Einrichtungen, die als juristische Personen errichtet wurden, sowie auf Vereinigungen, auch wenn sie keine Rechtspersönlichkeit haben, anwendbar ist, aber nicht auf den Staat, auf Gebietskörperschaften und andere nichtwirtschaftliche öffentliche Einrichtungen oder Einrichtungen mit verfassungsmäßigen Aufgaben.

9

Art. 5 des Decreto legislativo Nr. 231/2001, der die natürlichen Personen bestimmt, die durch die Verwirklichung eines Straftatbestands die Verantwortlichkeit der Einrichtung/juristischen Person auslösen können, lautet:

„1.   Die Einrichtung ist für Straftaten verantwortlich, die in ihrem Interesse oder zu ihren Gunsten begangen wurden durch

a)

Personen mit Vertretungs-, Verwaltungs- oder Leitungsfunktionen bei der Einrichtung oder bei einer ihrer finanziell und funktionell unabhängigen Organisationseinheit sowie Personen, die die Geschäfte der Einrichtung tatsächlich führen und kontrollieren;

b)

Personen, die unter der Leitung oder Kontrolle einer der in Buchst. a genannten Personen stehen.

2.   Die Einrichtung ist nicht verantwortlich, wenn die in Abs. 1 genannten Personen ausschließlich in ihrem eigenen oder im Interesse Dritter gehandelt haben.“

10

In den Art. 6 und 7 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 werden die Voraussetzungen für die Verantwortlichkeit der juristischen Person genannt.

11

Art. 6 Abs. 1 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 bestimmt:

„Wird die Straftat von den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. a genannten Personen begangen, ist die Einrichtung nicht verantwortlich, wenn sie beweist, dass

a)

das Leitungsorgan vor der Begehung der Straftat ein Organisations- und Geschäftsführungssystem eingeführt und tatsächlich angewandt hat, das zur Vermeidung von Straftaten wie der festgestellten geeignet ist;

b)

sie die Aufgabe der Überwachung der Arbeitsweise und der Einhaltung des Systems sowie seiner ständigen Aktualisierung einer ihrer Einheiten übertragen hat, die eigenständige Initiativ- und Kontrollrechte hat;

c)

die Personen die Straftat unter betrügerischer Umgehung des Organisations- und Geschäftsführungssystems begangen haben;

d)

die in Buchst. b genannte Einheit ihre Überwachungspflicht nicht versäumt hat und die Überwachung auch nicht unzureichend war.“

12

Art. 7 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 sieht vor:

„1.   Im Fall des Art. 5 Abs. 1 Buchst. b ist die Einrichtung verantwortlich, wenn die Begehung der Straftat durch mangelhafte Erfüllung der Leitungs- und Kontrollpflichten ermöglicht wurde.

2.   Jedenfalls liegt eine mangelhafte Erfüllung der Leitungs- und Kontrollpflichten nicht vor, wenn die Einrichtung vor der Begehung der Straftat ein Organisations-, Geschäftsführungs- und Kontrollsystem eingeführt und tatsächlich angewandt hat, das zur Vermeidung von Straftaten wie der festgestellten geeignet ist.

3.   Das System muss im Hinblick auf die Natur und den Umfang der Organisation sowie die Art der ausgeführten Tätigkeit geeignete Maßnahmen zur Sicherstellung der gesetzestreuen Durchführung der Tätigkeit und zur rechtzeitigen Aufdeckung und Beseitigung von Gefahrensituationen vorsehen.

4.   Die tatsächliche Anwendung des Systems setzt voraus, dass

a)

das System periodisch überprüft und eventuell geändert wird, wenn bedeutende Verstöße gegen die Vorschriften festgestellt werden oder wenn die Organisation oder die Tätigkeit sich ändert;

b)

ein Disziplinarsystem besteht, nach dem bei Nichtbeachtung der im System genannten Maßnahmen Sanktionen verhängt werden können.“

13

Art. 25septies dieses Decreto legislativo in der Fassung des Decreto legislativo Nr. 81 vom 9. April 2008 über den Vollzug des Art. 1 des Gesetzes Nr. 123 vom 3. August 2007 über den Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz (Supplemento ordinario Nr. 108 zum GURI Nr. 101 vom 30. April 2008) („Fahrlässige Tötung oder schwere oder sehr schwere Körperverletzung unter Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitplatz“) bestimmt:

„1.   Eine Straftat nach Art. 589 des Codice penale [italienisches Strafgesetzbuch] wird im Fall eines Verstoßes gegen Art. 55 Abs. 2 des Decreto legislativo zur Durchführung der im Gesetz Nr. 123 vom 3. August 2007 vorgesehenen Ermächtigung zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz mit einer Geldstrafe in Höhe von 1000 Einheiten geahndet. Bei der Verurteilung wegen der in Satz 1 genannten Straftat sind die in Art. 9 Abs. 2 vorgesehenen Verbote für eine Dauer von drei Monaten bis zu einem Jahr anwendbar.

2.   Vorbehaltlich des Abs. 1 dieses Artikels wird eine Straftat nach Art. 589 des Codice penale im Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz mit einer Geldstrafe nicht unter 250 Einheiten und nicht über 500 Einheiten geahndet. Bei der Verurteilung wegen der in Satz 1 genannten Straftat sind die in Art. 9 Abs. 2 vorgesehenen Verbote für eine Dauer von drei Monaten bis zu einem Jahr anwendbar.

3.   Eine Straftat nach Art. 590 Abs. 3 des Codice penale wird im Fall eines Verstoßes gegen die Vorschriften zum Schutz der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz mit einer Geldstrafe nicht über 250 Einheiten geahndet. Bei der Verurteilung wegen der in Satz 1 genannten Straftat sind die in Art. 9 Abs. 2 vorgesehenen Verbote für eine Dauer von bis zu sechs Monaten anwendbar.“

14

Art. 34 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 lautet:

„Die Bestimmungen dieses Kapitels sowie – soweit sie kompatibel sind – die Bestimmungen des Codice di procedura penale [italienische Strafverfahrensordnung] und des Decreto legislativo Nr. 271 vom 28. Juli 1989 sind auf Verfahren über administrative Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit einer Straftat anzuwenden.“

15

Art. 35 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 bestimmt:

„Auf die Einrichtungen sind die Vorschriften über Angeklagte anzuwenden, soweit sie kompatibel sind.“

16

Nach Art. 36 des Decreto legislativo Nr. 231/2001 ist für die Entscheidung über administrative Zuwiderhandlungen der betreffenden Einrichtung das Strafgericht zuständig, das für die Entscheidung über die diesen Zuwiderhandlungen zugrunde liegenden Straftaten zuständig ist.

17

Nach Art. 185 des Codice penale haben der Straftäter und die Personen, die zivilrechtlich für dessen Taten haften, den durch die Straftat verursachten materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen.

18

Art. 74 des Codice di procedura penale bestimmt, dass die in Art. 185 des Codice penale vorgesehene zivilrechtliche Schadensersatzklage im Strafverfahren vom Opfer der Straftat oder von seinen Universalerben gegen den Angeklagten und die zivilrechtlich haftende Person erhoben werden kann.

19

Art. 83 Abs. 1 des Codice di procedura penale lautet:

„Wer zivilrechtlich für die Tat des Angeklagten haftet, kann vom Adhäsionskläger und im Fall des Art. 77 Abs. 4 von der Staatsanwaltschaft in einem Strafverfahren vorgeladen werden. Der Angeklagte kann aufgrund seiner zivilrechtlichen Haftung für die Tat seiner Mitangeklagten vorgeladen werden, wenn er freigesprochen oder das Verfahren gegen ihn eingestellt worden ist. …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

20

Am 28. Juli 2010 beantragte die Staatsanwaltschaft beim Tribunale di Firenze die Eröffnung eines Verfahrens gegen M. Giovanardi und mehrere andere Personen, denen vorgeworfen wird, fahrlässig und gemeinschaftlich im Sinne der Art. 41, 113, 589 Abs. 2 und 4 des Codice penale den Tod einer Person sowie sehr schwere Verletzungen von anderen Personen herbeigeführt zu haben. Der Vorfall ereignete sich am 2. Oktober 2008 bei Arbeiten, die die Angeklagten als Arbeitnehmer der Rete Ferroviaria Italiana SpA (italienische Eisenbahngesellschaft) bei der Entfernung einiger Sicherheitsvorrichtungen an den Ausweichstellen eines Eisenbahnknotenpunkts vorgenommen hatten.

21

Die vorläufige Anklageschrift der Staatsanwaltschaft enthält auch den Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens gegen zwei juristische Personen, die Elettri Fer Srl. und die Rete Ferroviaria SpA, wegen ihrer Verantwortlichkeit für eine „administrative Zuwiderhandlung“ nach Art. 25septies Abs. 2 und 3 des Decreto legislativo Nr. 231/2001, wie dies in den italienischen Rechtsvorschriften über die „administrative“ Verantwortlichkeit der juristischen Personen, in deren Namen die Angeklagten in Erfüllung ihrer Aufgaben gehandelt haben, vorgesehen ist.

22

Das vorlegende Gericht hat dargelegt, dass den angeklagten natürlichen Personen die unmittelbare Verantwortung für den Tod eines Arbeiters und die Verletzungen zweier weiterer Arbeiter, die am genannten Eisenbahnknotenpunkt Arbeiten durchführten, zur Last gelegt werde, weil sie nicht die gesetzlich vorgeschriebenen Vorkehrungen zum Schutz ihrer Sicherheit getroffen hätten, während den juristischen Personen, die sich wegen einer „administrativen“ Zuwiderhandlung verantworten müssten, vorgeworfen werde, keine ausgeklügelteren Organisationsformen eingeführt zu haben, so dass gegen sie die im Decreto legislativo Nr. 231/2001 vorgesehenen Strafen festgesetzt werden könnten.

23

Während der vorbereitenden Sitzung am 30. November 2010 beim vorlegenden Gericht, das von der Staatsanwaltschaft ersucht wurde, über den Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens zu entscheiden, beantragten die Opfer nach den Art. 74 ff. des Codice di procedura penale die Zulassung einer Zivilklage nicht nur gegenüber den angeklagten natürlichen Personen, sondern auch gegenüber den beiden von der Staatsanwaltschaft vor Gericht geladenen juristischen Personen.

24

Letztere traten diesem Antrag entgegen, da die italienischen Rechtsvorschriften es den Opfern nicht gestatteten, von juristischen Personen, auch wenn sie vor Gericht geladen worden seien, unmittelbar Ersatz des Schadens zu verlangen, der durch Straftaten ihrer Arbeitnehmer verursacht worden sei.

25

Das vorlegende Gericht hat darauf hingewiesen, dass Art. 185 des Codice penale eine Schadensersatzpflicht des Straftäters und der natürlichen oder juristischen Personen vorsieht, die zivilrechtlich für dessen Tat haften. Der Codice di procedura penale erlaubt den Opfern einer Straftat zu diesem Zweck, gegenüber den Angeklagten im Strafverfahren als Adhäsionskläger aufzutreten und die Ladung der natürlichen oder juristischen Personen zu verlangen, die zivilrechtlich für die Handlungen der Angeklagten haften müssen, wenn deren Handlungen im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses oder im unmittelbaren Interesse für diese Personen vorgenommen worden sind.

26

Mit dem Decreto legislativo Nr. 231/2001 ist im italienischen Recht die Sonderfigur der „administrativen“ Verantwortlichkeit juristischer Personen für Straftaten eingeführt worden. Zu den verschiedenen Arten von Straftaten, für die Art. 25septies dieses Decreto legislativo diese Form der Verantwortlichkeit vorsieht, gehört die fahrlässige Tötung, wenn sie unter Verstoß gegen Art. 55 Abs. 5 des Decreto legislativo Nr. 81 vom 9. April 2008 begangen worden ist, die einer von mehreren Tatvorwürfen im Ausgangsverfahren ist.

27

Das Decreto legislativo Nr. 231/2001 sieht nicht ausdrücklich die Möglichkeit vor, gegen juristische Personen aufgrund von in diesem Dekret angeführten „administrativen“ Zuwiderhandlungen Adhäsionsklage zu erheben. Nach der überwiegenden Rechtsprechung der Corte di cassazione und der untergeordneten Gerichte sind solche Adhäsionsklagen für unzulässig zu erklären.

28

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es zwar diese Auslegung des italienischen Rechts teile, die sich daraus ergebende Situation aber nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei, da das italienische Recht so die Möglichkeit der Opfer begrenze, vollständigen Ersatz ihres Schadens zu erlangen, und sie dazu zwinge, eine neue Schadensersatzklage außerhalb des Strafverfahrens zu erheben, die, wenn ihr denn stattgegeben werde, erst später angestrengt werden könne und dadurch ineffizient sei.

29

Vor diesem Hintergrund hat der Ermittlungsrichter beim Tribunale di Firenze das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die im Decreto legislativo Nr. 231/2001 in geänderter Fassung vorgesehene italienische Regelung im Bereich der administrativen Haftung von Einrichtungen/juristischen Personen dadurch, dass sie nicht „ausdrücklich“ die Möglichkeit enthält, dass Einrichtungen/juristische Personen im Strafverfahren für die den Opfern von Straftaten zugefügten Schäden haftbar gemacht werden können, mit den Gemeinschaftsvorschriften über den Schutz von Opfern von Straftaten im Strafverfahren vereinbar?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

30

Gemäß Art. 9 des dem AEU-Vertrag beigefügten Protokolls Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen behält der Rahmenbeschluss, der vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auf der Grundlage von Titel VI EU-Vertrag angenommen wurde, so lange Rechtswirkung, bis er in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert wird.

31

Außerdem sieht Art. 10 Abs. 1 desselben Protokolls vor, dass die Befugnisse des Gerichtshofs bei Rechtsakten der Union im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nach Titel VI des EU-Vertrags angenommen wurden, unverändert bleiben, einschließlich in den Fällen, in denen sie nach Art. 35 Abs. 2 EU anerkannt wurden. Nach Art. 10 Abs. 3 des genannten Protokolls tritt die in dessen Abs. 1 vorgesehene Übergangsmaßnahme fünf Jahre nach dem 1. Dezember 2009, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon, außer Kraft.

32

Die Italienische Republik hat ausweislich der im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 1. Mai 1999 veröffentlichten Information über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrags von Amsterdam (ABl. L 114, S. 56) eine Erklärung nach Art. 35 Abs. 2 EU abgegeben, mit der sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs für Entscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung der in Art. 35 EU genannten Rechtsakte gemäß Abs. 3 Buchst. b dieses Artikels anerkannt hat.

33

Es steht außerdem fest, dass der auf die Art. 31 EU und 34 EU gestützte Rahmenbeschluss zu den in Art. 35 Abs. 1 EU genannten Rechtsakten gehört, über die der Gerichtshof im Wege der Vorabentscheidung entscheiden kann, und es wird nicht bestritten, dass das vorlegende Gericht in einem Verfahren wie dem Ausgangsverfahren als mitgliedstaatliches Gericht im Sinne von Art. 35 EU anzusehen ist (vgl. insbesondere Urteil vom 21. Dezember 2011, X, C-507/10, Slg. 2011, I-14241, Randnr. 21).

34

Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Frage zuständig.

Zur Vorlagefrage

35

Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob die Bestimmungen des Decreto legislativo Nr. 231/2001 über die administrative Haftung von juristischen Personen, soweit sie keine Möglichkeiten enthalten, diese juristischen Personen im Rahmen des Strafverfahrens für die den Opfern einer Straftat zugefügten Schäden haftbar zu machen, mit der Richtlinie 2004/80 und Art. 9 des Rahmenbeschlusses vereinbar sind.

36

Zwar kann sich der Gerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens weder zu Fragen, die das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten betreffen, noch zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht äußern, er kann aber dem nationalen Gericht die Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben, die diesem die Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache ermöglichen (vgl. u. a. Urteil vom 8. Juni 2006, WWF Italia u. a., C-60/05, Slg. 2006, I-5083, Randnr. 18).

37

Vorweg ist festzustellen, dass die Richtlinie 2004/80 nicht einschlägig ist. Wie sich insbesondere aus deren Art. 1 ergibt, soll diese nämlich Opfern von vorsätzlichen Gewalttaten den Zugang zu Schadensersatz bei grenzüberschreitenden Sachverhalten erleichtern. Dagegen betrifft die Strafverfolgung im Ausgangsverfahren, wie feststeht, fahrlässig begangene Straftaten und diese auch nur in einem rein nationalen Zusammenhang.

38

Was den Rahmenbeschluss angeht, so bestimmt dessen Art. 9 Abs. 1, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken, es sei denn, das einzelstaatliche Recht sieht in bestimmten Fällen vor, dass die Entschädigung in einem anderen Rahmen erfolgt.

39

Nach Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses wird eine natürliche Person, die einen Schaden als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen, als „Opfer“ im Sinne des Rahmenbeschlusses betrachtet.

40

Es steht fest, dass das italienische Recht es den im Ausgangsverfahren betroffenen Opfern erlaubt, von natürlichen Personen, die Straftaten begangen haben, auf die das Decreto legislativo Nr. 231/2001 verweist, Ersatz des Schadens zu verlangen, der unmittelbar durch diese Straftaten entstanden ist, indem sie zu diesem Zweck im Rahmen des Strafverfahrens als Adhäsionskläger auftreten.

41

Eine solche Situation entspricht dem von Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses verfolgten Ziel, nach dem Opfer ein Recht darauf haben, innerhalb einer angemessenen Frist eine Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter im Rahmen des Strafverfahrens zu erwirken.

42

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob dieser Artikel nicht in dem Sinne auszulegen ist, dass das Opfer im Rahmen desselben Strafverfahrens auch Schadensersatz von juristischen Personen verlangen können muss, die nach Art. 25septies des Decreto legislativo Nr. 231/2001 belangt werden.

43

Dieser Auslegung kann nicht gefolgt werden.

44

Auch wenn nach dem vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses den Opfern von Straftaten ein hohes Schutzniveau geboten werden soll (vgl. u. a. Urteil vom 9. Oktober 2008, Katz, C-404/07, Slg. 2008, I-7607, Randnrn. 42 und 46), sollen durch den Rahmenbeschluss doch lediglich Mindeststandards im Rahmen eines Strafverfahrens, wie es in Art. 1 Buchst. c definiert wird, für den Schutz der Opfer von Straftaten errichtet werden (Urteil vom 15. September 2011, Gueye und Salmerón Sánchez, C-483/09 und C-1/10, Slg. 2011, I-8263, Randnr. 52).

45

Weiter enthält der Rahmenbeschluss, der allein die Stellung der Opfer im Rahmen von Strafverfahren betrifft, keinerlei Hinweis, dass der Unionsgesetzgeber die Mitgliedstaaten hätte verpflichten wollen, eine strafrechtliche Haftung juristischer Personen vorzusehen.

46

Schließlich ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses selbst, dass dieser dem Opfer grundsätzlich das Recht auf Entschädigung im Rahmen des Strafverfahrens für die „Handlungen oder Unterlassungen …, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen“ und „direkte“ Ursache der Schäden sind, garantiert (vgl. Urteil vom 28. Juni 2007, Dell’Orto, C-467/05, Slg. 2007, I-5557, Randnrn. 53 und 57).

47

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass eine „administrative“ Zuwiderhandlung, die zu einer Strafverfolgung auf der Grundlage des Decreto legislativo Nr. 231/2001 führt, eine andere Straftat ist, die in keinem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zu dem Schaden steht, der durch die Straftat einer natürlichen Person verursacht worden ist, von der Entschädigung verlangt wird. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist bei einer Regelung wie der durch das Decreto legislativo Nr. 231/2001 eingeführten die Verantwortlichkeit der juristischen Person als „administrativ“, „indirekt“ und „subsidiär“ zu qualifizieren, und sie unterscheidet sich von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der natürlichen Personen, die die Straftat begangen haben, durch die der Schaden entstanden ist, dessen Ersatz – wie in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde – im Rahmen des Strafverfahrens verlangt werden kann.

48

Folglich können Personen, die durch eine nach der Regelung des Decreto legislativo Nr. 231/2001 strafbare administrative Zuwiderhandlung einer juristischen Person verletzt wurden, nicht im Sinne von Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses als Opfer einer Straftat angesehen werden, die ein Recht darauf haben, dass im Rahmen des Strafverfahrens über die Entschädigung durch diese juristische Person entschieden wird.

49

Aus alledem ergibt sich, dass auf die Vorlagefrage zu antworten ist, dass Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen ist, dass es nach dieser Bestimmung nicht unzulässig ist, dass im Rahmen einer Regelung über die Verantwortlichkeit von juristischen Personen wie der des Ausgangsverfahrens das Opfer einer Straftat im Rahmen des Strafprozesses keinen Ersatz des unmittelbar durch diese Straftat verursachten Schadens von der juristischen Person, die eine administrative Zuwiderhandlung begangen hat, verlangen kann.

Kosten

50

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 9 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass es nach dieser Bestimmung nicht unzulässig ist, dass im Rahmen einer Regelung über die Verantwortlichkeit von juristischen Personen wie der des Ausgangsverfahrens das Opfer einer Straftat im Rahmen des Strafprozesses keinen Ersatz des unmittelbar durch diese Straftat verursachten Schadens von der juristischen Person, die eine administrative Zuwiderhandlung begangen hat, verlangen kann.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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