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Document 62011CC0041

Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 8. Dezember 2011.
Inter-Environnement Wallonie ASBL und Terre wallonne ASBL gegen Région wallonne.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'État - Belgien.
Umweltschutz - Richtlinie 2001/42/EG - Art. 2 und 3 - Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme - Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen - Plan oder Programm - Fehlen einer vorherigen Umweltprüfung - Nichtigerklärung eines Plans oder eines Programms - Möglichkeit, die Wirkungen des Plans oder Programms aufrechtzuerhalten - Voraussetzungen.
Rechtssache C-41/11.

Sammlung der Rechtsprechung 2012 -00000

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:822

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. Dezember 2011 ( 1 )

Rechtssache C-41/11

Inter-Environnement Wallonie ASBL

und

Terre wallonne ASBL

gegen

Région wallonne

(Vorabentscheidungsersuchen des Staatsrats [Belgien])

„Schutz der Umwelt — Richtlinie 2001/42/EG — Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme — Richtlinie 91/676/EWG — Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen — Aktionsprogramme für die als gefährdet ausgewiesenen Gebiete — Aufhebung einer innerstaatlichen Regelung, die unter Verstoß gegen die Richtlinie 2001/42/EG erlassen wurde — Möglichkeit, diese Regelung für eine kurze Zeitspanne aufrecht zu erhalten“

I – Einleitung

1.

Ist es mit dem Unionsrecht vereinbar, ein unter Verstoß gegen eine verfahrensrechtliche Richtlinie erlassenes Aktionsprogramm im Umweltbereich bis zum Erlass einer Ersatzmaßnahme weiter gelten zu lassen, wenn dieses Programm eine andere Richtlinie inhaltlich umsetzt? Dies ist im Kern die Frage, mit der sich der Gerichtshof im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren auseinandersetzen muss.

2.

Der belgische Staatsrat hat nämlich eine Frage zu den Folgen eines Verstoßes gegen die Richtlinie über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme ( 2 ) vorgelegt (im Folgenden: SUP-Richtlinie [SUP steht für strategische Umweltprüfung]).

3.

Im Ausgangsverfahren streiten zwei belgische NGOs, Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, mit der wallonischen Region um die Gültigkeit des Aktionsprogramms, das die Region in Umsetzung der Nitratrichtlinie ( 3 ) erlassen hat.

4.

Die Nitratrichtlinie und die auf ihrer Grundlage zu erlassenden Aktionsprogramme regeln die Düngung landwirtschaftlicher Flächen. Landwirte düngen ihre Flächen nicht nur, um das Wachstum ihrer Kulturen zu fördern, sondern auch, um tierische Ausscheidungen zu beseitigen. Wenn ein Betrieb mehr Ausscheidungen ausbringt, als die Kulturen verwerten können, führt dies zu einer Überdüngung, die regelmäßig die Gewässer belastet. ( 4 )

5.

Der Gerichtshof hat in einem ersten Vorabentscheidungsverfahren klargestellt, dass ein derartiges Aktionsprogramm einer Umweltprüfung nach der SUP-Richtlinie bedarf. ( 5 )

6.

Da das hier streitige Aktionsprogramm der wallonischen Region nach den Feststellungen des Staatsrats ohne eine solche Prüfung erlassen wurde, muss er nunmehr entscheiden, ob das Programm aufzuheben ist. Nach dem Vorabentscheidungsersuchen wäre die rückwirkende Aufhebung des Aktionsprogramms die normale Sanktion für die Verletzung der SUP-Richtlinie. Sie hätte allerdings zwangsläufig zur Folge, dass Wallonien die Nitratrichtlinie nicht vollständig umgesetzt hätte. Praktisch könnten Beschränkungen der Ausbringung von Dünger, aber möglicherweise auch Düngerechte von Landwirten entfallen.

7.

Die Wirkung einer Aufhebung wäre zeitlich begrenzt, da Wallonien zwischenzeitlich ein neues Aktionsprogramm erlassen hat ( 6 ) und Belgien, genau wie die Kommission, angibt, dass dabei die SUP-Richtlinie beachtet wurde. Es geht daher darum, ob das alte Aktionsprogramm der wallonischen Region rückwirkend für den Zeitraum vom 15. Februar 2007 bis zum 6. Mai 2011, dem Tag des Inkrafttretens des neuen Programms, aufzuheben ist.

II – Vorabentscheidungsersuchen

8.

Der Staatsrat fragt, ob er

wenn bei ihm eine Klage auf Nichtigerklärung des Erlasses der wallonischen Regierung vom 15. Februar 2007 zur Änderung des Buchs II des Umweltgesetzbuchs – Wassergesetzbuch bezüglich der nachhaltigen Bewirtschaftung von Stickstoff in der Landwirtschaft erhoben worden ist,

wenn er feststellt, dass dieser Erlass ohne Einhaltung des in der SUP-Richtlinie vorgeschriebenen Verfahrens ergangen ist, aus diesem Grund gegen das Unionsrecht verstößt und daher für nichtig zu erklären ist,

wenn er aber zugleich feststellt, dass der angefochtene Erlass eine angemessene Durchführung der Nitratrichtlinie enthält,

die Wirkungen der gerichtlichen Nichtigerklärung während eines kurzen Zeitraums, der erforderlich ist, um den für nichtig erklärten Akt neu zu erlassen, zeitlich hinausschieben kann, damit für das Umweltrecht der Union eine bestimmte konkrete Durchführung ohne Bruch der Kontinuität aufrechterhalten bleibt?

9.

Inter-Environnement Wallonie ASBL, Terre wallonne ASBL, das Königreich Belgien, die Französische Republik und die Europäische Kommission haben schriftlich Stellung genommen. Bis auf Terre wallonne nahmen sie auch an der mündlichen Verhandlung vom 8. November 2011 teil.

III – Rechtlicher Rahmen

10.

Die Ziele der SUP-Richtlinie ergeben sich insbesondere aus Art. 1:

„Ziel dieser Richtlinie ist es, im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und dazu beizutragen, dass Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme von Plänen und Programmen einbezogen werden, indem dafür gesorgt wird, dass bestimmte Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, entsprechend dieser Richtlinie einer Umweltprüfung unterzogen werden.“

11.

Der vierte und fünfte Erwägungsgrund der SUP-Richtlinie halten dazu fest:

„(4)

Die Umweltprüfung ist ein wichtiges Werkzeug zur Einbeziehung von Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme bestimmter Pläne und Programme, die erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt in den Mitgliedstaaten haben können. Denn sie gewährleistet, dass derartige Auswirkungen aus der Durchführung von Plänen und Programmen bei der Ausarbeitung und vor der Annahme berücksichtigt werden.

(5)

Die Festlegung von Verfahren für die Umweltprüfung auf der Ebene von Plänen und Programmen sollte den Unternehmen zugutekommen, da damit ein konsistenterer Handlungsrahmen durch Einbeziehung der relevanten Umweltinformationen bei der Entscheidungsfindung geboten wird. Die Einbeziehung eines breiteren Spektrums von Faktoren bei der Entscheidungsfindung sollte zu nachhaltigeren und wirksameren Lösungen beitragen.“

IV – Rechtliche Würdigung

A – Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

12.

Die Kommission vertritt die Auffassung, nach Erlass des neuen wallonischen Aktionsprogramms sei eine Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens nicht mehr notwendig. Da der Gerichtshof hypothetische Fragen nicht beantwortet ( 7 ), wäre das Ersuchen in diesem Fall unzulässig.

13.

Auf Rückfrage des Gerichtshofs hat der Staatsrat jedoch mitgeteilt, dass eine Antwort sehr wohl notwendig sei, um den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Das neue Aktionsprogramm gelte nicht rückwirkend. Daher müsse der Staatsrat entscheiden, ob er das alte Aktionsprogramm für den Zeitraum seit seinem Erlass bis zur Aufhebung durch das neue Programm für nichtig erkläre.

14.

Dieser Streitstand unterscheidet das vorliegende Verfahren insbesondere von der Rechtssache Fluxys. Jene Sache betraf die Vereinbarkeit bestimmter innerstaatlicher Regelungen mit dem Unionsrecht. ( 8 ) Der Gerichtshof stellte allerdings nur noch die Erledigung fest, nachdem das belgische Verfassungsgericht die streitgegenständlichen Regelungen rückwirkend aufgehoben hatte ( 9 ) und sie daher im Ausgangsverfahren nicht mehr angewandt werden konnten. Vorliegend muss der Staatsrat dagegen noch darüber entscheiden, ob das alte Aktionsprogramm rückwirkend für nichtig zu erklären ist.

15.

Daher ist das Vorabentscheidungsersuchen zu beantworten.

B – Zur Frage des Staatsrats

16.

Der Staatsrat möchte erfahren, ob er bis zum Erlass einer Ersatzregelung die Fortgeltung des unter Verstoß gegen die SUP-Richtlinie erlassenen wallonischen Aktionsprogramms zur Umsetzung der Nitratrichtlinie anordnen darf.

1. Zum Urteil Winner Wetten

17.

Der Staatsrat und die Beteiligten setzen sich in diesem Zusammenhang intensiv mit dem Urteil Winner Wetten ( 10 ) auseinander. In jenem Fall stellte sich die Frage, ob innerstaatliche Gerichte die vorübergehende Fortgeltung einer innerstaatlichen Regelung des Glücksspiels anordnen dürfen, die mit den Grundfreiheiten unvereinbar ist.

18.

In der Regel folgt aus dem Vorrang des Unionsrechts, dass innerstaatliche Bestimmungen, die ihm widersprechen, unanwendbar sind. ( 11 ) Nach dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes können Einzelne diesen Vorrang auch vor Gericht durchsetzen. ( 12 )

19.

Nur ausnahmsweise kann sich der Gerichtshof gemäß dem der Unionsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit veranlasst sehen, die Möglichkeit für alle Betroffenen einzuschränken, sich auf eine von ihm vorgenommene Auslegung einer Bestimmung zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen. Eine solche Einschränkung kann nur in dem Urteil selbst vorgenommen werden, in dem über die erbetene Auslegung entschieden wird. ( 13 )

20.

Im Verfahren Winner Wetten hatten die beteiligten Mitgliedstaaten im Kern geltend gemacht, dass die Anerkennung eines Grundsatzes, nach dem die Wirkungen einer nationalen Norm, in der ein Verstoß gegen eine unmittelbar geltende Norm des Unionsrechts gesehen werde, unter außergewöhnlichen Umständen vorübergehend aufrechterhalten werden könnten, in Analogie zu der Rechtsprechung gerechtfertigt sei, die der Gerichtshof auf der Grundlage von Art. 264 Abs. 2 AEUV zur vorübergehenden Aufrechterhaltung der Wirkungen von Rechtsakten des Unionsrechts entwickelt habe, die er nach Art. 263 AEUV für nichtig erklärt oder deren Ungültigkeit er nach Art. 267 AEUV festgestellt habe. ( 14 )

21.

Der Gerichtshof entschied allerdings in jener Rechtssache nicht, ob der Vorrang des Unionsrechts aufgrund überwiegender anderer Interessen ausgesetzt werden kann, da im Fall Winner Wetten keine zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit vorlagen, die dies rechtfertigen könnten. Er betonte jedoch, dass jedenfalls nur er selbst über die Voraussetzungen einer solchen Aussetzung entscheiden könnte. ( 15 )

22.

Aus diesen Aussagen im Urteil Winner Wetten leiten Belgien, Frankreich und die Kommission vorliegend ab, dass über die vorübergehende Fortgeltung des alten Aktionsprogramms durch eine Abwägung entschieden werden könne.

23.

Die Antwort auf die Frage des Staatsrats liegt jedoch nicht im Urteil Winner Wetten und in ähnlichen Rechtssachen. ( 16 ) Eine mit den Grundfreiheiten – oder irgendeiner anderen Norm des Unionsrechts – unvereinbare innerstaatliche Regelung verletzt das Unionsrecht bei jeder erneuten Anwendung. Sie darf grundsätzlich nicht angewandt werden, da andernfalls die (einheitliche) Geltung des Unionsrechts gefährdet würde.

24.

Dagegen stellt das Versäumnis einer gebotenen Umweltprüfung zunächst einen abgeschlossenen Verstoß gegen das Unionsrecht dar, der durch die Anwendung des Plans oder Programms nicht (zwingend) weiter vertieft wird. Es ist möglich, dass nach der Durchführung der Prüfung genau die gleiche Maßnahme erlassen worden wäre.

25.

Daher geht es entgegen der Auffassung verschiedener Beteiligter nicht darum, einer Richtlinie Vorrang gegenüber einer anderen Richtlinie zu geben oder zwischen der Verletzung einer der beiden Richtlinien zu wählen. Die SUP-Richtlinie wurde bereits verletzt. Nur die Folgen dieses Verstoßes können gemindert werden. Wenn aber wegen des Verstoßes gegen die SUP-Richtlinie das alte wallonische Aktionsprogramm zur Umsetzung der Nitratrichtlinie für nichtig erklärt würde, träte zu der Verletzung der SUP-Richtlinie die Verletzung einer weiteren Richtlinie hinzu.

26.

Das Urteil Winner Wetten und der Vorrang des Unionsrechts sind daher keine geeignete Grundlage, um die Frage des Staatsrats zu beantworten.

2. Zu den Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz

27.

Vielmehr ist auf die Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zurückzugreifen.

28.

Der Vorrang des Unionsrechts regelt die Rechtsfolge bei Normkonflikten durch das Verbot der Anwendung des innerstaatlichen Rechts. ( 17 )

29.

Wie mit einer Regelung zu verfahren ist, die ohne eine nach der SUP-Richtlinie gebotene Umweltprüfung erlassen wird, aber inhaltlich keiner Norm des Unionsrechts widerspricht, regelt das Unionsrecht dagegen nicht im Einzelnen.

30.

Insbesondere enthalten weder die SUP-Richtlinie noch die Nitratrichtlinie Regelungen zu den Konsequenzen von Fehlern im Verfahren der Aufstellung von Aktionsprogrammen.

31.

Im Bereich der UVP-Richtlinie ( 18 ) hat der Gerichtshof allerdings festgestellt, dass die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben. ( 19 ) Diese Überlegung muss auch für die SUP-Richtlinie gelten.

32.

Mangels einer Unionsregelung auf diesem Gebiet ist es Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen. Diese Modalitäten dürfen nicht weniger günstig ausgestaltet sein als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz). ( 20 )

33.

Der Äquivalenzgrundsatz wird vorliegend nicht verletzt, da der Staatsrat angibt, auch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten Vorschriften vorläufig aufrechterhalten zu können, nachdem er sie für nichtig erklärt hat. ( 21 )

34.

Jedoch könnte der Effektivitätsgrundsatz einer vorübergehenden Fortgeltung des wallonischen Aktionsprogramms entgegenstehen. Jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren vor den verschiedenen nationalen Stellen sowie des Ablaufs und der Besonderheiten dieses Verfahrens zu prüfen. ( 22 ) Dabei handelt es sich um Einzelfallbeurteilungen, die unter Berücksichtigung des gesamten tatsächlichen und rechtlichen Zusammenhangs der jeweiligen Rechtssache vorgenommen wurden und nicht automatisch auf andere Bereiche als die übertragen werden können, in deren Rahmen sie getroffen wurden. ( 23 )

35.

Ein Fall der Unmöglichkeit lässt sich vorliegend ausschließen: Das Recht auf eine Umweltprüfung mit Öffentlichkeitsbeteiligung würde auch bei vorübergehender Fortgeltung des alten Aktionsprogramms verwirklicht, wenn ein neues Programm unter Beachtung der SUP-Richtlinie erlassen wird.

36.

Zu prüfen bleibt jedoch, ob die vorübergehende Fortgeltung des alten Aktionsprogramms die Ausübung des Rechts auf eine Umweltprüfung übermäßig erschweren würde.

37.

Das Recht auf eine Umweltprüfung ist kein bloß formaler Verfahrensschritt, sondern es soll nach Art. 1 sowie dem 4. und 5. Erwägungsgrund der SUP-Richtlinie gewährleisten, dass erhebliche Umweltauswirkungen aus der Durchführung von Plänen und Programmen bei deren Ausarbeitung und vor deren Annahme berücksichtigt werden. Die Einbeziehung eines breiteren Spektrums von Faktoren bei der Entscheidungsfindung wird in der Regel zu nachhaltigeren und wirksameren Lösungen beitragen.

38.

Folglich kann nicht unterstellt werden, dass die Maßnahme auch nach ordnungsgemäßer Umweltprüfung in inhaltlich identischer Form erlassen worden wäre. Vielmehr ist zu vermuten, dass eine geprüfte Maßnahme für den Schutz der Umwelt günstiger ausgefallen wäre als die ungeprüfte Maßnahme. Insbesondere sollte sie weniger nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt bewirken.

39.

Wie die Kommission vorträgt, besteht gerade beim Erlass von Aktionsprogrammen nach der Nitratrichtlinie ein entsprechendes Potenzial, da den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Reichweite der festzulegenden Maßnahmen zukommt. Bei der Ausschöpfung dieses Spielraums können die Ergebnisse der Umweltprüfung zur Geltung kommen.

40.

Die Vermutung, dass eine geprüfte Maßnahme günstiger ausgefallen wäre, spricht auf den ersten Blick dafür, die weitere Verwirklichung einer ungeprüften Maßnahme zumindest solange auszusetzen, bis eine Umweltprüfung durchgeführt wurde. Dementsprechend hat der Gerichtshof dargelegt, dass beispielsweise die Rücknahme oder die Aussetzung einer bereits erteilten Genehmigung zu dem Zweck, eine (unterbliebene) Umweltverträglichkeitsprüfung des in Rede stehenden Projekts im Sinne der UVP-Richtlinie durchzuführen, geeignete Maßnahmen seien, um einer Verletzung dieser Richtlinie abzuhelfen. ( 24 )

41.

Ähnlich wie andere Erkenntnisse zur UVP-Richtlinie ( 25 ) lässt sich diese Überlegung auf Pläne und Programme übertragen, die eine Voraussetzung für die Verwirklichung von Vorhaben sind, welche nachteilige Umweltauswirkungen verursachen können. Wie bei einer Projektgenehmigung würde die Aussetzung oder Rücknahme des Plans oder Programms vorläufig verhindern, dass die Vorhaben durchgeführt werden. Sie könnten daher auch keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt verursachen.

42.

Im Unterschied zu Projektgenehmigungen können Pläne und Programme allerdings auch Teil einer Regelungshierarchie sein oder ältere Regelungen ersetzen. Werden derartige Maßnahmen zurückgenommen oder ausgesetzt, so treten entweder allgemeinere oder ältere Regelungen an ihre Stelle. Diese können schwerere Umweltauswirkungen haben ( 26 ) als die fehlerhaft erlassene Maßnahme. Wenn solche Auswirkungen zu befürchten sind, würde es den Zielen der SUP-Richtlinie widersprechen, die streitige Maßnahme zurückzunehmen oder auszusetzen.

43.

Daher sollte bei der gerichtlichen Entscheidung über Pläne und Programme, die ohne eine gebotene Umweltprüfung erlassen wurden, geprüft werden, welche Regelungen bei einer Aufhebung oder Aussetzung an ihre Stelle treten. Wenn diese Regelungen nachteiliger für die Umwelt sind als die umstrittene Maßnahme, kann das Gericht, ohne das Effektivitätsprinzip zu verletzen, die vorübergehende Fortgeltung der bestehenden Maßnahme anordnen, bis eine Ersatzmaßnahme auf der Grundlage einer Umweltprüfung erlassen wird.

44.

Eine solche Anordnung setzt natürlich voraus, dass das innerstaatliche Gericht überhaupt über die Kompetenz verfügt, die Fortgeltung verfahrensfehlerhaft erlassener Regelungen anzuordnen. Insoweit kann sich die Frage stellen, ob eine solche Kompetenz unionsrechtlich geboten ist, wenn die umstrittene Maßnahme Unionsrecht berührt. Diese Frage muss der Gerichtshof allerdings vorliegend nicht entscheiden, denn der Staatsrat verfügt über die notwendigen Kompetenzen. ( 27 )

45.

Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass eine vorübergehende Fortgeltung den Druck mindern kann, die verfahrensfehlerhaft erlassene Maßnahme durch eine Maßnahme zu ersetzen, die auf einer angemessenen Umweltprüfung beruht. Das Effektivitätsprinzip wäre jedenfalls verletzt, wenn der Erlass einer angemessen geprüften Maßnahme wegen der Fortgeltung der alten Maßnahme unangemessen verzögert würde. Welche Sanktionen das Unionsrecht für einen solchen Fall verlangt, muss vorliegend allerdings ebenfalls nicht entschieden werden. Denn es steht fest, dass bereits eine Ersatzmaßnahme erlassen wurde, der nach Darstellung Belgiens und der Kommission eine ausreichende Umweltprüfung voranging.

46.

Im vorliegenden Fall steht fest, dass die vor Erlass des alten Aktionsprogramms geltenden Bestimmungen den Anforderungen der Nitratrichtlinie nicht genügten. ( 28 ) Dagegen trägt die Kommission vor, das alte Programm entspreche den Anforderungen der Nitratrichtlinie. Daher ist zu unterstellen, dass die Umwelt durch die vorübergehende Fortgeltung des alten Aktionsprogramms besser vor Nitrateinträgen geschützt wird, als wenn es für nichtig erklärt würde.

47.

Ob diese vermuteten Vorteile tatsächlich bestehen, kann allerdings nur im innerstaatlichen Gerichtsverfahren überprüft werden, insbesondere wenn begründete inhaltliche Einwände gegen die Regelungen des alten Aktionsprogramms erhoben werden.

V – Ergebnis

48.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen, wie folgt zu beantworten:

Bei einer innerstaatlichen gerichtlichen Entscheidung über einen Plan oder ein Programm, der oder das ohne eine gemäß der Richtlinie 2001/42/EG gebotene Umweltprüfung erlassen wurde, ist zu untersuchen, welche Regelungen an Stelle der umstrittenen Maßnahme treten würden, wenn sie für nichtig erklärt würde. Wenn diese Regelungen nachteiliger für die Umwelt sind als die streitige Maßnahme, kann das Gericht, ohne das Effektivitätsprinzip zu verletzen, die vorübergehende Fortgeltung der bestehenden Maßnahme anordnen, bis eine Ersatzmaßnahme auf der Grundlage einer Umweltprüfung erlassen wird.

Bei Aktionsprogrammen nach der Richtlinie 91/676/EWG ist in der Regel die vorübergehende Fortgeltung eines ohne Umweltprüfung erlassenen, aber ansonsten unbeanstandeten Programms dessen sofortiger Aufhebung vorzuziehen.


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 (ABl. L 197, S. 30).

( 3 ) Richtlinie 91/676/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 zum Schutz der Gewässer vor Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen (ABl. L 375, S. 1), in der Fassung durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 zur Anpassung der Bestimmungen über die Ausschüsse zur Unterstützung der Kommission bei der Ausübung von deren Durchführungsbefugnissen, die in Rechtsakten vorgesehen sind, für die das Verfahren des Artikels 251 des EG-Vertrags gilt, an den Beschluss 1999/468/EG des Rates (ABl. L 284, S. 1).

( 4 ) Vgl. zu den Anforderungen der Nitratrichtlinie die Urteile vom 8. März 2001, Kommission/Luxemburg (C-266/00, Slg. 2001, I-2073), vom 2. Oktober 2003, Kommission/Niederlande (C-322/00, Slg. 2003, I-11267), vom 22. September 2005, Kommission/Belgien (C-221/03, Slg. 2005, I-8307), und vom 29. Juni 2010, Kommission/Luxemburg (C-526/08, Slg. 2010, I-6151).

( 5 ) Urteil vom 17. Juni 2010, Terre wallonne (C-105/09 und C-110/09, Slg. 2010, I-5611).

( 6 ) Arrêté du Gouvernement wallon du 31 mars 2011 modifiant le Livre II du Code de l’Environnement contenant le Code de l’Eau en ce qui concerne la gestion durable de l’azote en agriculture (Moniteur Belge vom 26. April 2011, S. 25217).

( 7 ) Siehe etwa das Urteil vom 15. September 2011, Gueye (C-483/09 und C-1/10, Slg. 2011, I-8263, Randnr. 40).

( 8 ) Siehe dazu die Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak vom 28. September 2010, Fluxys (Urteil vom 9. Dezember 2010, C-241/09, Slg. 2010, I-12773).

( 9 ) Urteil Fluxys (zitiert in Fn. 8, Randnrn. 32 f.).

( 10 ) Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten (C-409/06, Slg. 2010, I-8015, Randnrn. 53 bis 69).

( 11 ) Urteil Winner Wetten (zitiert in Fn. 10, Randnrn. 53 bis 57).

( 12 ) Urteil Winner Wetten (zitiert in Fn. 10, Randnr. 58).

( 13 ) Urteil vom 6. März 2007, Meilicke u. a. (C-292/04, Slg. 2007, I-1835, Randnrn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 14 ) Urteil Winner Wetten (zitiert in Fn. 10, Randnr. 63).

( 15 ) Urteil Winner Wetten (zitiert in Fn. 10, Randnr. 67).

( 16 ) Urteil Meilicke u. a. (zitiert in Fn. 13, Randnr. 36, sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 17 ) Urteile vom 15. Juli 1964, Costa (6/64, Slg. 1964, 1253, 1269 f.), vom 9. März 1978, Simmenthal (106/77, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 bis 24), vom 19. Juni 1990, Factortame (C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Randnrn. 19 bis 21), und vom 22. Juni 2010, Melki (C-188/10 und C-189/10, Slg. 2010, I-5667, Randnr. 44).

( 18 ) Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40).

( 19 ) Urteil vom 7. Januar 2004, Wells (C-201/02, Slg. 2004, I-723, Randnr. 64).

( 20 ) Urteile vom 4. Juli 2006, Adeneler u. a. (C-212/04, Slg. 2006, I-6057, Randnr. 95), vom 12. September 2006, Eman und Sevinger (C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Randnr. 67), und vom 12. Mai 2011, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Nordrhein-Westfalen (C-115/09, Slg. 2011, I-3673, Randnr. 43).

( 21 ) Der Staatsrat bezieht sich auf Art. 14b der Lois coordonnées für den Staatsrat.

( 22 ) Urteile vom 14. Dezember 1995, Peterbroeck (C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Randnr. 14), vom 13. März 2007, Unibet (C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Randnr. 54), und vom 8. Juli 2010, Bulicke (C-246/09, Slg. 2010, I-7003, Randnr. 35).

( 23 ) Urteil vom 21. November 2002, Cofidis (C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Randnr. 37).

( 24 ) Urteil Wells (zitiert in Fn. 19, Randnr. 65).

( 25 ) Vgl. etwa das Urteil vom 22. September 2011, Valčiukienė u. a. (C-295/10, Slg. 2011, I-8819, Randnr. 47), sowie meine Schlussanträge vom 4. März 2010, Terre wallonne (C-105/09 und C-110/09, Slg. 2010, I-5611, Nr. 30), vom 13. Oktober 2011 in der anhängigen Rechtssache Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u. a. (C-43/10, Nrn. 162 f. und 175), und oben, Nr. 31.

( 26 ) Neben dem vorliegenden Fall sind auch meine Schlussanträge vom 17. November 2011 in der anhängigen Rechtssache Inter-Environnement Bruxelles u. a. (C-567/10, Nrn. 40 f.) illustrativ.

( 27 ) Siehe Fn. 21.

( 28 ) Urteil Kommission/Belgien, zitiert in Fn. 4.

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