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Document 62010CO0476

Beschluss des Gerichtshofes (Achte Kammer) vom 24. Juni 2011.
projektart Errichtungsgesellschaft mbH, Eva Maria Pepic und Herbert Hilbe.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Unabhängiger Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg - Österreich.
Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung - Freier Kapitalverkehr - Art. 40 und Anhang XII des EWR-Abkommens - Erwerb eines Zweitwohnsitzes im Land Vorarlberg (Österreich) durch Staatsangehörige des Fürstentums Liechtenstein - Verfahren der vorherigen Genehmigung - Zulässigkeit".
Rechtssache C-476/10.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-05615

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:422

Rechtssache C-476/10

projektart Errichtungsgesellschaft mbH u. a.

(Vorabentscheidungsersuchen des

Unabhängigen Verwaltungssenats des Landes Vorarlberg)

„Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung − Freier Kapitalverkehr – Art. 40 und Anhang XII des EWR-Abkommens − Erwerb eines Zweitwohnsitzes im Land Vorarlberg (Österreich) durch Staatsangehörige des Fürstentums Liechtenstein – Verfahren der vorherigen Genehmigung − Zulässigkeit“

Leitsätze des Beschlusses

Völkerrechtliche Verträge – Abkommen über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums – Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen

(EWR-Abkommen, Art. 40 und Anhang XII; Richtlinie 88/361 des Rates, Art. 6 Abs. 4)

Art. 40 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom 2. Mai 1992 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die unter Berufung auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [Artikel aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] einem Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein den Erwerb eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union gelegenen Zweitwohnsitzes untersagt, entgegensteht, so dass eine innerstaatliche Behörde diese nationale Regelung unbeachtet zu lassen hat.

Die Mitgliedstaaten können nämlich Rechtsvorschriften, die den freien Kapitalverkehr beschränken, seit dem 1. Mai 1995, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EWR-Abkommens in Bezug auf das Fürstentum Liechtenstein, in den von diesem Abkommen erfassten Bereichen nur dann noch beibehalten und dem Fürstentum Liechtenstein entgegenhalten, wenn sie nach dem Unionsrecht auf andere Mitgliedstaaten der Union angewendet werden können.

(vgl. Randnrn. 39, 51 und Tenor)







BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

24. Juni 2011(*)

„Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung − Freier Kapitalverkehr – Art. 40 und Anhang XII des EWR-Abkommens − Erwerb eines Zweitwohnsitzes im Land Vorarlberg (Österreich) durch Staatsangehörige des Fürstentums Liechtenstein – Verfahren der vorherigen Genehmigung − Zulässigkeit“

In der Rechtssache C‑476/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg (Österreich) mit Entscheidung vom 22. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 2010, in dem Verfahren

projektart Errichtungsgesellschaft mbH,

Eva Maria Pepic,

Herbert Hilbe

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Schiemann, des Richters L. Bay Larsen und der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

gemäß Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach der Gerichtshof durch mit Gründen versehenen Beschluss entscheiden kann,

nach Anhörung der Generalanwältin

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 40 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der projektart Errichtungsgesellschaft mbH (im Folgenden: projektart), Frau Pepic und Herrn Hilbe einerseits und der Grundverkehrs-Landeskommission des Landes Vorarlberg (Österreich) andererseits wegen deren Weigerung, Frau Pepic und Herrn Hilbe den Erwerb einer Wohnung von projektart zu gestatten, weil die in den Rechtsvorschriften des Landes Vorarlberg für den Erwerb eines Zweitwohnsitzes durch Ausländer aufgestellten Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

 Rechtlicher Rahmen

 EWR-Abkommen

3        Art. 40 des EWR-Abkommens bestimmt:

„Im Rahmen dieses Abkommens unterliegt der Kapitalverkehr in Bezug auf Berechtigte, die in den [Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft] oder den [Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)] ansässig sind, keinen Beschränkungen und keiner Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Wohnortes der Parteien oder des Anlageortes. Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Artikel sind in Anhang XII enthalten.“

4        Anhang XII („Freier Kapitalverkehr“) des EWR-Abkommens nimmt auf die Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [Artikel aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] (ABl. L 178, S. 5) Bezug.

5        In diesem Anhang XII heißt es:

„…

Die Richtlinie [88/361] gilt für die Zwecke dieses Abkommens mit folgenden Anpassungen:

„e)      Unbeschadet des Rechts der EFTA-Staaten, Vorschriften zu erlassen, die mit dem Abkommen vereinbar sind, insbesondere Vorschriften zur Regelung des Erwerbs von Zweitwohnsitzen, welche in ihrer Wirkung den in der Gemeinschaft nach Artikel 6 Absatz 4 der Richtlinie aufrechterhaltenen Rechtsvorschriften entsprechen, behandeln die EFTA-Staaten neue und bestehende Investitionen von Unternehmen oder Staatsangehörigen der EG-Mitgliedstaaten oder anderer EFTA-Länder während der Übergangszeit nicht weniger günstig als aufgrund der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens bestehenden Rechtsvorschriften;

…“

 Richtlinie 88/361

6        Nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 88/361 wird der Kapitalverkehr entsprechend der Nomenklatur in ihrem Anhang I gegliedert.

7        Aus diesem Anhang ergibt sich, dass der Begriff des Kapitalverkehrs u. a. Geschäfte erfasst, mit denen Gebietsfremde im Gebiet eines Mitgliedstaats Immobilieninvestitionen tätigen.

8        Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie bestimmt:

„Bestehende einzelstaatliche Rechtsvorschriften zur Regelung des Erwerbs von Zweitwohnsitzen dürfen aufrechterhalten werden, bis der Rat [der Europäischen Union] weitere diesbezügliche Vorschriften gemäß Artikel 69 des [EWG-]Vertrages [später Art. 67 Abs. 1 EG, aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] erlässt. Die vorliegende Vorschrift berührt nicht die Anwendbarkeit anderer Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts.“

 Nationales Recht

9        Das Grundverkehrsgesetz des Landes Vorarlberg (LGBl. 42/2004) in der Fassung des LGBl. 19/2009 (im Folgenden: GVG) sieht in § 2 Abs. 7 vor:

„Als Erwerb zu Ferienzwecken gilt der Erwerb zum Zwecke der Errichtung oder Nutzung von Ferienwohnungen … oder zur Überlassung an Dritte zu diesen Zwecken.“

10      § 3 GVG sieht vor:

„(1)      Soweit sich dies aus dem Recht der Europäischen Union ergibt, gelten vorbehaltlich des Abs. 2 die Regelungen über den Grunderwerb durch Ausländer nicht für

a)      Personen in Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer;

b)      Personen und Gesellschaften in Ausübung der Niederlassungsfreiheit;

c)      Personen und Gesellschaften in Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs;

d)      Personen in Ausübung des Aufenthaltsrechtes;

e)      Personen und Gesellschaften in Ausübung des freien Kapitalverkehrs, sofern sie im Gebiet eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder sonst im Geltungsbereich des EWR-Abkommens ansässig sind.

(2) Beim Erwerb zu Ferienzwecken ergibt sich aus der Kapitalverkehrsfreiheit nach dem EWR-Abkommen keine Ausnahme von den Regelungen über den Grundverkehr durch Ausländer.

(3)      Soweit sich aus staatsvertraglichen Verpflichtungen ergibt, dass Personen gleich wie Inländer zu behandeln sind, gelten die Regelungen über den Grunderwerb durch Ausländer nicht.

…“

11      § 7 Abs. 1 GVG bestimmt:

„Der Erwerb folgender Rechte durch Ausländer bedarf der grundverkehrsbehördlichen Genehmigung:

a)      das Eigentum an Grundstücken oder an Bauwerken im Sinne des § 435 ABGB [Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch];

…“

12      § 8 GVG sieht vor:

„(1)      Der Rechtserwerb darf nur genehmigt werden, wenn

a)      …

b)      staatspolitische Interessen nicht beeinträchtigt werden und

c)      ein kulturelles, volkswirtschaftliches oder soziales Interesse am Rechtserwerb durch den Ausländer besteht.

(2)      Der Abs. 1 ist nicht anzuwenden, soweit staatsvertragliche Verpflichtungen entgegenstehen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Frau Pepic und Herr Hilbe, die Staatsangehörige des Fürstentums Liechtenstein sind und dort auch wohnen, möchten bei projektart eine Wohnung kaufen, die Teil eines Wohnbauprojekts in Lochau im Land Vorarlberg ist.

14      Sie beabsichtigen, diese Wohnung zunächst als Zweitwohnsitz und nach Antritt ihrer Pension als Hauptwohnsitz zu nutzen.

15      Am 23. März 2010 versagte die Grundverkehrs-Landeskommission des Landes Vorarlberg Frau Pepic und Herrn Hilbe die nach § 7 Abs. 1 GVG für den Erwerb dieser Wohnung erforderliche Genehmigung.

16      Frau Pepic und Herr Hilbe sowie projektart fochten diese Entscheidung vor dem Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg an.

17      Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall § 3 Abs. 2 GVG zur Anwendung gelange, da es sich um den Erwerb eines Zweitwohnsitzes durch Ausländer handele. Dieser Erwerb unterliege somit nach § 7 Abs. 1 Buchst. a GVG der Genehmigungspflicht.

18      Für den Ausgang des Ausgangsrechtsstreits sei daher von entscheidender Bedeutung, ob § 3 Abs. 2 GVG, der seine Grundlage in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 habe, mit dem EWR-Abkommen vereinbar sei.

19      Insoweit stelle sich die Frage, ob Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361, mit dem Art. 67 EWG-Vertrag durchgeführt werden solle, auf den Erwerb eines in einem Mitgliedstaat der Union gelegenen Zweitwohnsitz durch den Angehörigen eines EFTA-Staates, der Vertragspartei des EWR-Abkommens sei, hier des Fürstentums Liechtenstein, noch anzuwenden sei.

20      Einerseits sei zwar für die Union mit Art. 73b Abs. 1 EG-Vertrag (später Art. 56 EG) materiell von Art. 67 EWG-Vertrag abgewichen worden, für den Europäischen Wirtschaftsraum (im Folgenden: EWR) sei die Richtlinie 88/361 jedoch nie formell aufgehoben und auch materiell nicht abgeändert worden, so dass sie weiterhin Teil des EWR-Abkommens sei. Für den EWR gelte somit weiterhin die Rechtslage nach Art. 67 EWG-Vertrag.

21      Andererseits habe der Gerichtshof in Randnr. 31 des Urteils vom 23. September 2003, Ospelt und Schlössle Weissenberg (C‑452/01, Slg. 2003, I‑9743), entschieden, dass sich die Mitgliedstaaten seit dem 1. Mai 1995, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EWR-Abkommens in Bezug auf das Fürstentum Liechtenstein, in den von diesem Abkommen erfassten Bereichen gegenüber diesem EFTA-Staat nicht mehr auf Art. 73c EG-Vertrag berufen könnten.

22      Da sich dieses Urteil jedoch nur auf den landwirtschaftlichen Grundverkehr bezogen habe, sei die Frage, ob diese Rechtsprechung nur diesen Bereich betreffe oder aber auch allgemein gelte, nicht eindeutig geklärt.

23      Unter diesen Umständen hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist die Bestimmung des Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361, wonach bestehende einzelstaatliche Rechtsvorschriften zur Regelung des Erwerbs von Zweitwohnsitzen aufrecht erhalten werden dürfen, auf den Erwerb von Zweitwohnsitzen, die in einem EU-Staat gelegen sind, durch einen Staatsangehörigen des dem EWR angehörenden Fürstentums Liechtenstein weiterhin anzuwenden?

2.      Steht eine innerstaatliche Regelung, die unter Berufung auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 einem Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein den Erwerb eines in einem EU-Staat gelegenen Zweitwohnsitzes untersagt, mit den Bestimmungen des EWR-Vertrags über die Kapitalverkehrsfreiheit im Widerspruch, so dass eine innerstaatliche Behörde eine solche innerstaatliche Regelung unbeachtet zu lassen hat?

 Zu den Vorlagefragen

24      Nach Art. 104 § 3 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann, nach Anhörung des Generalanwalts durch Beschluss entscheiden, der mit Gründen zu versehen ist und auf die betreffende Rechtsprechung verweist.

25      Nach Ansicht des Gerichtshofs ist dies in der vorliegenden Rechtssache der Fall.

26      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 40 des EWR-Abkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die unter Berufung auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 einem Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein den Erwerb eines in einem Mitgliedstaat der Union gelegenen Zweitwohnsitzes untersagt, entgegensteht, so dass eine innerstaatliche Behörde sie unbeachtet zu lassen hat.

27      Nach Art. 40 des EWR-Abkommens sind die Durchführungsbestimmungen zu diesem Artikel in Anhang XII dieses Abkommens enthalten. Dieser Anhang XII erklärt die Richtlinie 88/361 und deren Anhang I für auf den EWR anwendbar.

28      Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass mangels einer Definition des Begriffs „Kapitalverkehr“ im Sinne des Art. 63 Abs. 1 AEUV in diesem Vertrag die Nomenklatur des Anhangs I der Richtlinie 88/361 – auch wenn diese Richtlinie auf die Art. 69 und 70 Abs. 1 EWG-Vertrag (die Art. 67 bis 73 EWG-Vertrag wurden durch die Art. 73b bis 73g EG-Vertrag ersetzt, die zu den Art. 56 EG bis 60 EG wurden) gestützt ist – Hinweischarakter behält; dabei ist nach dem dritten Absatz der Einleitung dieses Anhangs die darin enthaltene Nomenklatur aber keine erschöpfende Aufzählung zur Definition des Begriffs des Kapitalverkehrs (vgl. insbesondere Urteil vom 31. März 2011, Schröder, C‑450/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Aus dieser Nomenklatur ergibt sich, dass der Kapitalverkehr Geschäfte umfasst, mit denen Gebietsfremde im Gebiet eines Mitgliedstaats Immobilieninvestitionen tätigen (vgl. insbesondere Urteil vom 14. September 2006, Centro di Musicologia Walter Stauffer, C‑386/04, Slg. 2006, I‑8203, Randnr. 23).

30      Es steht fest, dass Frau Pepic und Herr Hilbe, die Staatsangehörige des Fürstentums Liechtenstein sind und dort auch wohnen, in Österreich eine Immobilieninvestition, nämlich einen Wohnungskauf, tätigen möchten.

31      Eine solche grenzüberschreitende Investition stellt eine Kapitalbewegung im Sinne dieser Nomenklatur dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2010, Établissements Rimbaud, C‑72/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 18).

32      Demgemäß sind die Bestimmungen von Art. 40 und Anhang XII des EWR-Abkommens in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem es um eine Transaktion zwischen Staatsangehörigen von Vertragsstaaten dieses Abkommens geht, anwendbar. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof sie auslegen, da er von einem Gericht eines Mitgliedstaats zu der Tragweite befragt wird, die das EWR-Abkommen, das integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, in diesem Staat hat (vgl. insbesondere Urteil Établissements Rimbaud, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Eines der Hauptziele des EWR-Abkommens ist die möglichst umfassende Verwirklichung der Freizügigkeit und des freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs im gesamten EWR, so dass der innerhalb des Unionsgebiets verwirklichte Binnenmarkt auf die EFTA-Staaten ausgeweitet wird. Im Hinblick darauf dienen mehrere Bestimmungen des Abkommens dazu, eine möglichst einheitliche Auslegung des Abkommens im gesamten EWR sicherzustellen. In diesem Rahmen ist es Sache des Gerichtshofs, darüber zu wachen, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens, die im Wesentlichen mit denen des AEU-Vertrags identisch sind, innerhalb der Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden (vgl. insbesondere Urteil Établissements Rimbaud, Randnr. 20).

34      Aus Art. 40 des EWR-Abkommens ergibt sich, dass die Regeln, nach denen Beschränkungen des Kapitalverkehrs und die dadurch bewirkte Diskriminierung untersagt sind, in den Beziehungen zwischen den Vertragsstaaten des EWR-Abkommens – unabhängig davon, ob es sich um Mitglieder der Union oder der EFTA handelt – mit denen identisch sind, die das Unionsrecht für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten aufstellt (vgl. insbesondere Urteil Établissements Rimbaud, Randnr. 21).

35      Sind Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs zwischen Staatsangehörigen von Vertragsstaaten des EWR-Abkommens anhand von Art. 40 und Anhang XII dieses Abkommens zu beurteilen, haben diese Vorschriften folglich dieselbe rechtliche Tragweite wie die Bestimmungen des Art. 63 AEUV (vgl. insbesondere Urteil Établissements Rimbaud, Randnr. 22).

36      Der Gerichtshof hat außerdem bereits entschieden, dass es dem Ziel einer einheitlichen Anwendung der Vorschriften über den freien Kapitalverkehr innerhalb des EWR widerspräche, wenn ein Staat wie die Republik Österreich, die Vertragsstaat dieses am 1. Jänner 1994 in Kraft getretenen Abkommens ist, nach seinem Beitritt zur Union am 1. Jänner 1995 gestützt auf Art. 64 AEUV Rechtsvorschriften beibehalten könnte, die diese Freiheit gegenüber einem anderen Vertragsstaat des Abkommens beschränken (vgl. Urteil Ospelt und Schlössle Weissenberg, Randnr. 30).

37      Insoweit sind die EFTA-Staaten, die Vertragsstaaten des EWR-Abkommens sind, nämlich von anderen Staaten wie der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu unterscheiden, die das Vorhaben eines integrierten wirtschaftlichen Ganzen mit einem einheitlichen Markt, gestützt auf gemeinsame Regeln für seine Mitglieder, abgelehnt und es vorgezogen haben, in bestimmten Bereichen bilaterale Vereinbarungen mit der Union und ihren Mitgliedstaaten abzuschließen (vgl. Urteil vom 11. Februar 2010, Fokus Invest, C‑541/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 27).

38      Daher können sich die Mitgliedstaaten seit dem 1. Mai 1995, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EWR-Abkommens in Bezug auf das Fürstentum Liechtenstein, in den von diesem Abkommen erfassten Bereichen gegenüber dem Fürstentum Liechtenstein nicht mehr auf Art. 64 AEUV berufen (Urteil Ospelt und Schlössle Weissenberg, Randnr. 31).

39      Daraus folgt außerdem, dass die Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften, die den freien Kapitalverkehr beschränken, seit diesem Zeitpunkt und in diesen Bereichen nur dann noch beibehalten und dem Fürstentum Liechtenstein entgegenhalten können, wenn sie auf andere Mitgliedstaaten der Union angewendet werden können.

40      So verhält es sich mit den nationalen Rechtsvorschriften über Zweitwohnsitze, die – wie die in den Verträgen über den Beitritt mancher Mitgliedstaaten zur Union enthaltenen Übergangsvorschriften – nach den entsprechenden primärrechtlichen Unionsvorschriften aufrecht erhalten werden dürfen.

41      Da es aber keine solchen primärrechtlichen Vorschriften gibt, die im vorliegenden Fall einschlägig sein könnten, würde eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wenn sie angewandt werden sollte, um Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats den Erwerb eines Zweitwohnsitzes in einem anderen Mitgliedstaat nur deshalb zu untersagen, weil sie nicht Staatsangehörige dieses letzteren Mitgliedstaats sind, eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit begründen, die offensichtlich gegen Art. 63 AEUV verstieße.

42      Darüber hinaus kann eine solche Regelung im Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten der Union nicht auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 gestützt werden.

43      Wie in Randnr. 28 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, behält die Nomenklatur des Kapitalverkehrs in Anhang I der Richtlinie 88/361 den Hinweischarakter, der ihr für die Bestimmung des Begriffs des Kapitalverkehrs zukam.

44      Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 hat in der Unionsrechtsordnung keine normative Wirkung mehr, da es sich um eine Übergangsbestimmung handelt, die es erlaubte, im innerstaatlichen Recht bestehende Bestimmungen über den Erwerb von Zweitwohnsitzen beizubehalten, bis der Rat nach Art. 69 EWG andere Vorschriften auf diesem Gebiet erlässt.

45      Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht ist die letztgenannte Vorschrift aufgehoben worden, und der Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten wurde auf diesem Gebiet durch primärrechtliche Unionsvorschriften schrittweise liberalisiert.

46      Unter Berücksichtigung der Ausführungen in Randnr. 39 des vorliegenden Beschlusses kann Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/631 daher auch nicht als Grundlage zur Rechtfertigung einer nationalen Regelung herangezogen werden, die eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit, wie die im Ausgangsverfahren fragliche, gegenüber Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein beinhaltet.

47      Daraus folgt, dass Art. 40 des EWR-Abkommens dahin auszulegen ist, dass er einer solchen nationalen Regelung entgegensteht.

48      Nach ständiger Rechtsprechung ist zudem jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 AEUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, zu schützen, indem es jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Unionsnorm ergangen ist, unangewandt lässt (vgl. insbesondere Urteil vom 8. September 2010, Winner Wetten, C‑409/06, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      In diesem Zusammenhang ist, wie bereits in Randnr. 32 des vorliegenden Beschlusses ausgeführt, darauf hinzuweisen, dass das EWR-Abkommen integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist.

50      Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass der in Randnr. 48 des vorliegenden Beschlusses angeführten Verpflichtung, den Vorrang des Unionsrechts zu beachten, alle Träger der Verwaltung unterliegen (vgl. insbesondere Urteil vom 12. Januar 2010, Petersen, C‑341/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Verpflichtung gilt auch für ein Verwaltungsorgan wie die Grundverkehrs-Landeskommission des Landes Vorarlberg.

51      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 40 des EWR-Abkommens dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die unter Berufung auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361 einem Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein den Erwerb eines in einem Mitgliedstaat der Union gelegenen Zweitwohnsitzes untersagt, entgegensteht, so dass eine innerstaatliche Behörde diese Regelung unbeachtet zu lassen hat.

 Kosten

52      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 40 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, die unter Berufung auf Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages [Artikel aufgehoben durch den Vertrag von Amsterdam] einem Staatsangehörigen des Fürstentums Liechtenstein den Erwerb eines in einem Mitgliedstaat der Union gelegenen Zweitwohnsitzes untersagt, entgegensteht, so dass eine innerstaatliche Behörde diese nationale Regelung unbeachtet zu lassen hat.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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