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Document 62010CJ0583

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 18. Oktober 2012.
United States of America gegen Christine Nolan.
Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division).
Vorabentscheidungsersuchen – Richtlinie 98/59/EG – Schutz der Arbeitnehmer – Massenentlassungen – Geltungsbereich – Schließung einer amerikanischen Militärbasis – Unterrichtung und Konsultation der Arbeitnehmer – Beginn der Konsultationspflicht – Unzuständigkeit des Gerichtshofs.
Rechtssache C-583/10.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:638

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

18. Oktober 2012 ( *1 )

„Vorabentscheidungsersuchen — Richtlinie 98/59/EG — Schutz der Arbeitnehmer — Massenentlassungen — Geltungsbereich — Schließung einer amerikanischen Militärbasis — Unterrichtung und Konsultation der Arbeitnehmer — Beginn der Konsultationspflicht — Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

In der Rechtssache C-583/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2010, in dem Verfahren

United States of America

gegen

Christine Nolan

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter K. Lenaerts, E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis und J. Malenovský,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. Januar 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Nolan, vertreten durch M. Mullins, QC, und M. De Savorgnani, Barrister,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren als Bevollmächtigten,

der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch F. Cloarec und X. Lewis als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. März 2012

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 225, S. 16).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Frau Nolan, einer zivilen Angestellten einer amerikanischen Militärbasis im Vereinigten Königreich, über die Pflicht zur Konsultation der Arbeitnehmer vor Entlassungen gemäß den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs, mit denen die Richtlinie 98/59 umgesetzt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 98/59 heißt es:

„(3)

Trotz einer konvergierenden Entwicklung bestehen weiterhin Unterschiede zwischen den in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft geltenden Bestimmungen hinsichtlich der Voraussetzungen und des Verfahrens für Massenentlassungen sowie hinsichtlich der Maßnahmen, die die Folgen dieser Entlassungen für die Arbeitnehmer mildern könnten.

(4)

Diese Unterschiede können sich auf das Funktionieren des Binnenmarkts unmittelbar auswirken.“

4

Im sechsten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:

„Die auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer sieht unter Nummer 7 Unterabsatz 1 erster Satz … Folgendes vor:

,7.

Die Verwirklichung des Binnenmarktes muss zu einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft führen …‘

…“

5

Nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 98/59 findet diese keine Anwendung auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts (oder in Mitgliedstaaten, die diesen Begriff nicht kennen, von gleichwertigen Stellen).

6

Art. 2 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)   Beabsichtigt ein Arbeitgeber, Massenentlassungen vorzunehmen, so hat er die Arbeitnehmervertreter rechtzeitig zu konsultieren, um zu einer Einigung zu gelangen.

(2)   Diese Konsultationen erstrecken sich zumindest auf die Möglichkeit, Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken, sowie auf die Möglichkeit, ihre Folgen durch soziale Begleitmaßnahmen, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung der entlassenen Arbeitnehmer zum Ziel haben, zu mildern.

(3)   Damit die Arbeitnehmervertreter konstruktive Vorschläge unterbreiten können, hat der Arbeitgeber ihnen rechtzeitig im Verlauf der Konsultationen

a)

die zweckdienlichen Auskünfte zu erteilen und

b)

in jedem Fall schriftlich Folgendes mitzuteilen:

i)

die Gründe der geplanten Entlassung;

ii)

die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer;

iii)

die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer;

iv)

den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen;

v)

die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, soweit die innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken dem Arbeitgeber die Zuständigkeit dafür zuerkennen;

vi)

die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, soweit sie sich nicht aus den innerstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Praktiken ergeben.

…“

7

Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Der Arbeitgeber hat der zuständigen Behörde alle beabsichtigten Massenentlassungen schriftlich anzuzeigen.

Die Anzeige muss alle zweckdienlichen Angaben über die beabsichtigte Massenentlassung und die Konsultationen der Arbeitnehmervertreter gemäß Artikel 2 enthalten, insbesondere die Gründe der Entlassung, die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen.

…“

8

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/59 bestimmt:

„Die der zuständigen Behörde angezeigten beabsichtigten Massenentlassungen werden frühestens 30 Tage nach Eingang der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Anzeige wirksam; die im Fall der Einzelkündigung für die Kündigungsfrist geltenden Bestimmungen bleiben unberührt.

Die Mitgliedstaaten können der zuständigen Behörde jedoch die Möglichkeit einräumen, die Frist des Unterabsatzes 1 zu verkürzen.“

9

Nach Art. 5 der Richtlinie lässt diese die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, für die Arbeitnehmer günstigere Rechts- oder Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder für die Arbeitnehmer günstigere tarifvertragliche Vereinbarungen zuzulassen oder zu fördern.

Recht des Vereinigten Königreichs

10

Im Vereinigten Königreich wird der Trade Union and Labour Relations (Consolidation) Act 1992 (Konsolidierungsgesetz von 1992 über Gewerkschaften und kollektive Arbeitsbeziehungen, im Folgenden: Gesetz von 1992) als Umsetzung der Richtlinie 98/59 angesehen.

11

Art. 188 dieses Gesetzes, der die Konsultationspflicht betrifft, sieht vor:

„(1)   Schlägt ein Arbeitgeber vor, in einem Betrieb innerhalb eines Zeitraums von höchstens 90 Tagen mindestens 20 Arbeitnehmer zu entlassen, hat er hinsichtlich der Entlassungen alle Personen zu konsultieren, die geeignete Vertreter derjenigen Arbeitnehmer sind, die von den vorgeschlagenen Entlassungen oder von den im Zusammenhang mit den Entlassungen getroffenen Maßnahmen betroffen sein könnten.

(1A)   Die Konsultation beginnt rechtzeitig, in jedem Fall jedoch

(a)

wenn der Arbeitgeber die Entlassung im Sinne von Abs. 1 von mindestens 100 Arbeitnehmern vorschlägt, mindestens 90 Tage,

(b)

sonst mindestens 30 Tage

vor Wirksamwerden der ersten Entlassung.

(2)   Die Konsultationen erstrecken sich auch auf die Möglichkeit,

(a)

die Entlassungen zu vermeiden,

(b)

die Zahl der zu entlassenden Arbeitnehmer zu beschränken und

(c)

die Folgen der Entlassungen zu mildern,

und werden vom Arbeitgeber durchgeführt, um mit den geeigneten Vertretern zu einer Einigung zu gelangen.

(4)   Zum Zweck der Konsultation teilt der Arbeitgeber den geeigneten Vertretern schriftlich Folgendes mit:

(a)

die Gründe für seine Vorschläge,

(b)

die Zahl und die Bezeichnungen der zur Entlassung vorgesehenen Arbeitnehmer,

(c)

die Gesamtzahl der unter die einzelnen Bezeichnungen fallenden Arbeitnehmer, die der Arbeitgeber in dem betreffenden Betrieb beschäftigt,

(d)

die vorgesehene Methode für die Auswahl der Arbeitnehmer, die entlassen werden können,

(e)

die vorgesehene Methode für die Vornahme der Entlassungen, unter Berücksichtigung einer gegebenenfalls vereinbarten Vorgehensweise, einschließlich des Zeitraums, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, und

(f)

die vorgesehene Methode für die Berechnung etwaiger Abfindungen, die (nicht gemäß einer aufgrund oder nach Maßgabe eines Gesetzes bestehenden Pflicht) an Arbeitnehmer, die entlassen werden können, gezahlt werden.

(7)   Liegen besondere Umstände vor, die zur Folge haben, dass es für den Arbeitgeber vernünftigerweise nicht in Betracht kommt, eine in den Abs. 1A, 2 und 4 vorgesehene Anforderung zu erfüllen, hat dieser im Rahmen des Möglichen die Maßnahmen zu treffen, die unter diesen Umständen vernünftigerweise in Betracht zu ziehen sind, um die betreffende Anforderung zu erfüllen …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12

Etwa 200 zivile Mitarbeiter waren in der amerikanischen Reserved Storage Activity Militärbasis (im Folgenden: RSA-Basis) in Hythe (Vereinigtes Königreich) beschäftigt, in der Wasserfahrzeuge und andere Ausrüstungsgegenstände instand gesetzt wurden. Sie wurden durch den Local National Executive Council vertreten.

13

Nach einer Anfang 2006 durchgeführten Bestandsaufnahme des Betriebs dieser Militärbasis wurde am 13. März 2006 ein Bericht vorgelegt, aus dem sich ergab, dass entschieden worden war, die Basis zu schließen. Diese Entscheidung, die in den Vereinigten Staaten vom Secretary of the US Army getroffen und vom Secretary of Defense (Verteidigungsministerium) gebilligt worden war, sah vor, dass der Betrieb der RSA-Basis bis Ende September 2006 eingestellt werden sollte.

14

Die amerikanischen Behörden teilten den Militärbehörden des Vereinigten Königreichs diese Entscheidung inoffiziell Anfang April 2006 mit. Die Schließung der RSA-Basis wurde am 21. April 2006 in den Medien bekannt gemacht. Die Regierung des Vereinigten Königreichs wurde am 9. Mai 2006 offiziell darüber informiert, dass die Basis am 30. September 2006 an sie zurückgegeben werde.

15

Im Juni 2006 teilten die amerikanischen Behörden den Mitgliedern des Local National Executive Council in einem Memorandum mit, dass alle Belegschaftsangehörigen der Militärbasis entlassen würden. Bei einer Versammlung am 14. Juni 2006 informierten sie die Belegschaftsvertreter darüber, dass sie den 5. Juni 2006 für den Zeitpunkt des Beginns der Konsultationen hielten.

16

Die förmliche Entscheidung über die Kündigung der Beschäftigungsverhältnisse wurde im Hauptquartier der amerikanischen Streitkräfte in Europa (USAEUR) mit Sitz in Mannheim (Deutschland) getroffen. Am 30. Juni 2006 ergingen Entlassungsschreiben, mit denen die Beschäftigungsverhältnisse zum 29. bzw. 30. September 2006 gekündigt wurden.

17

Frau Nolan erhob vor dem Southampton Employment Tribunal eine Klage gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und machte geltend, dass diese es unterlassen hätten, die Arbeitnehmervertreter zu unterrichten. Mit einem Urteil über den Haftungsgrund (liability judgement) stellte dieses Gericht Mängel in der Konsultation der Arbeitnehmervertreter fest und gab dem Antrag von Frau Nolan statt. Mit einem Urteil über den Schadensersatz (remedy judgement) erließ es eine Schutzmaßnahme zugunsten aller Personen, die am 29. Juni 2006 die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs besaßen und zur zivilen Belegschaft der RSA-Basis gehörten.

18

Die Vereinigten Staaten von Amerika legten ein Rechtsmittel beim Employment Appeal Tribunal ein, das die erstinstanzlichen Entscheidungen im Wesentlichen bestätigte.

19

Die Vereinigten Staaten von Amerika wandten sich an den Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division). Da dieser für den Erlass eines Urteils die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 98/59 für erforderlich hält, hat er das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Entsteht die Pflicht des Arbeitgebers zur Durchführung von Konsultationen hinsichtlich Massenentlassungen nach der Richtlinie 98/59, wenn der Arbeitgeber eine strategische unternehmerische oder betriebliche Entscheidung vorschlägt, aber noch nicht getroffen hat, die voraussichtlich oder zwangsläufig zu Massenentlassungen führen wird, oder erst dann, wenn die Entscheidung tatsächlich gefallen ist und der Arbeitgeber anschließend die sich als Folge ergebenden Entlassungen vorschlägt?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

20

Der Gerichtshof hat die Parteien des Ausgangsverfahrens, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die Europäische Kommission und die EFTA-Überwachungsbehörde aufgefordert, sich schriftlich zu der Frage zu äußern, ob eine Entlassung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der ein Arbeitsverhältnis zwischen einem Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs und einem Drittstaat, hier den Vereinigten Staaten von Amerika, beendet wird, in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 fällt, insbesondere im Hinblick auf Art. 1 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie.

21

Als Antwort auf diese Frage trägt Frau Nolan vor, das Vereinigte Königreich habe bei der Umsetzung der Richtlinie 98/59 Arbeitnehmer, die bei ausländischen Staaten, darunter auch den Vereinigten Staaten von Amerika, beschäftigt seien, in den Anwendungsbereich der nationalen Umsetzungsvorschriften einbezogen. Diese Arbeitnehmer fielen daher in den Anwendungsbereich der nationalen Regelung, unabhängig davon, ob sie zur Kategorie der Arbeitnehmer gehörten, die gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 98/59 von deren Geltungsbereich ausgenommen seien.

22

Unter Bezugnahme auf die Urteile vom 17. Juli 1997, Leur-Bloem (C-28/95, Slg. 1997, I-4161), und vom 15. Januar 2002, Andersen og Jensen (C-43/00, Slg. 2002, I-379), vertritt Frau Nolan die Auffassung, der Gerichtshof sei für die Auslegung der Richtlinie 98/59 zuständig, auch wenn ihre Situation nicht unmittelbar durch das Unionsrecht geregelt werde, da sich der Gesetzgeber des Vereinigten Königreichs bei der Umsetzung dieser Richtlinie im nationalen Recht entschieden habe, sein innerstaatliches Recht am Unionsrecht auszurichten.

23

Sie weist darauf hin, dass die sensiblen Aspekte des Ausgangsverfahrens von den nationalen Gerichten anerkannt worden seien, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich nicht auf ihre Befreiung von der Gerichtsbarkeit in ihrer Eigenschaft als Staat, dessen Handlungen vor Gericht nicht in Frage gestellt werden könnten, berufen hätten, und dass sie keine „besonderen Umstände“ der Verteidigung im Sinne von Art. 188 Abs. 7 des Gesetzes von 1992 geltend gemacht hätten. Hilfsweise macht sie geltend, dass ihr Arbeitsverhältnis keinesfalls vom Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 ausgenommen sei, da sie nicht bei einer „öffentlichen Verwaltung oder Einrichtung des öffentlichen Rechts“ beschäftigt gewesen sei und dies im Ausgangsverfahren auch nie vorgetragen worden sei.

24

Die Vereinigten Staaten von Amerika weisen darauf hin, dass die Richtlinie 98/59 nach ihren Erwägungsgründen 4 und 6 das Funktionieren des Binnenmarkts zum Ziel habe und dass sich aus Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie klar ergebe, dass sie nicht alle Fälle von Entlassungen betreffe. Die Anwendung der Richtlinie 98/59 oder der nationalen Regelung zur Umsetzung dieser Richtlinie auf den vorliegenden Fall sei mit dem klaren Wortlaut der Richtlinie und mit den Grundsätzen des Völkerrechts, insbesondere dem Grundsatz des ius imperii und dem Grundsatz der Courtoisie (comity of nations), unvereinbar.

25

Daher falle eine Entlassung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59, da sie auf einer von einem souveränen Staat getroffenen strategischen Entscheidung über die Schließung einer Militärbasis beruhe.

26

Die Kommission zweifelt an der Anwendbarkeit der Richtlinie 98/59 auf den vorliegenden Fall, da Arbeitgeber von Frau Nolan die Armee der Vereinigten Staaten gewesen sei, d. h. eine Einrichtung eines souveränen Staates. Die Schließung einer Militärbasis könne jedoch für ihre zivilen Angestellten die gleichen Auswirkungen haben wie die Entscheidung über die Schließung eines Wirtschaftsunternehmens.

27

Im Interesse einer kohärenten Vorgehensweise seien im Bereich des Schutzes von Arbeitnehmerrechten die Richtlinien 98/59 und 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 82, S. 16) dahin auszulegen, dass sie denselben Geltungsbereich hätten. Unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2001/23, mit der die Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26) geändert wurde, und auf das Urteil vom 6. September 2011, Scattolon (C-108/10, Slg. 2011, I-7491, Randnrn. 56 und 57), trägt die Kommission vor, dass die Richtlinien 98/59 und 2001/23 beide für öffentliche Unternehmen gälten, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten, nicht aber für die Übertragung von Aufgaben im Zuge einer Umstrukturierung von Verwaltungsbehörden oder für die Übertragung von Verwaltungsaufgaben von einer Behörde auf eine andere.

28

Die Vereinigten Staaten von Amerika hätten hauptsächlich aus strategischen Gründen beschlossen, die RSA-Basis zu schließen und das dort beschäftigte lokale zivile Personal zu entlassen. Da diese Entlassungen Handlungen einer öffentlichen Verwaltung seien, die auf einer Verwaltungsumstrukturierung beruhten, könne der durch die Richtlinie 98/59 vorgesehene Schutz nicht auf die betroffenen Arbeitnehmer ausgedehnt werden, selbst wenn davon ausgegangen werden könne, dass sie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübten. Die Kommission zieht hieraus den Schluss, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entlassung nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 falle.

29

Die EFTA-Überwachungsbehörde macht geltend, das Employment Appeal Tribunal habe festgestellt, dass das Vereinigte Königreich sich dafür entschieden habe, die Richtlinie 98/59 umzusetzen, ohne die in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie genannten Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts auszuschließen, und weist darauf hin, dass zahlreiche Verfahren, in denen es um die Regelung gehe, mit der die genannte Richtlinie umgesetzt worden sei, von Gewerkschaften eingeleitet worden seien, die Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder Einrichtungen verträten. Zudem habe das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte der Vereinigten Staaten von Amerika eingeräumt habe, dass die in Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/59 vorgesehene Einschränkung ihres Geltungsbereichs nicht für Arbeitnehmer gelte, die bei einem anderen souveränen Staat beschäftigt seien.

30

Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/59 könne dahin verstanden werden, dass er nur auf öffentliche Verwaltungen und Einrichtungen des öffentlichen Rechts der Mitgliedstaaten verweise und dass daher die Einschränkung des Geltungsbereichs nicht für öffentliche Verwaltungen und Einrichtungen des öffentlichen Rechts dritter Staaten gelte. Diese Sichtweise beruhe auf dem Gedanken, dass zwar die Mitgliedstaaten den Angestellten im öffentlichen Dienst einen entsprechenden Schutz gewährleisteten wie nach der Richtlinie 98/59, jedoch nicht sicher sei, dass die Rechtsordnungen dritter Staaten unter vergleichbaren Umständen einen solchen Schutz garantierten.

31

Außerdem lasse sich aus dem Urteil vom 18. Oktober 1990, Dzodzi (C-297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Randnrn. 36 und 37), herleiten, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall durchaus befugt sei, im Wege der Vorabentscheidung zu entscheiden, da der Gesetzgeber des Vereinigten Königreichs die Richtlinie 98/59 über die nationale Regelung, mit der diese Richtlinie umgesetzt worden sei, auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen anwende und damit diesen und den Arbeitnehmern des privaten Sektors grundsätzlich den gleichen Schutz gewährleiste. Daher falle die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Entlassung in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59; selbst wenn sie jedoch von deren Geltungsbereich ausgenommen wäre, müsste der Gerichtshof angesichts der Umstände des vorliegenden Falles die vorgelegte Frage, die die Auslegung der genannten Richtlinie betreffe, beantworten.

Antwort des Gerichtshofs

32

Zur Beantwortung der Frage, ob eine Entlassung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit der ein zwischen dem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats und einem Drittstaat bestehendes Arbeitsverhältnis infolge der Schließung einer Militärbasis beendet wird, die diesem Drittstaat gehört und sich im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats befindet, in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 fällt, ist erstens der Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie auszulegen.

33

Nach dieser Bestimmung, die eine Ausnahme vom Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 vorsieht, findet diese keine Anwendung auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen oder von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder, in Mitgliedstaaten, die diesen Begriff nicht kennen, von gleichwertigen Stellen.

34

Da die Streitkräfte unter die öffentliche Verwaltung oder eine gleichwertige Stelle fallen, ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 98/59 eindeutig, dass die zivile Belegschaft einer Militärbasis von der Ausnahme erfasst ist, die nach dieser Bestimmung vorgesehen ist.

35

Zweitens findet diese Beurteilung ihre Stütze im Zweck und in der Systematik dieser Richtlinie.

36

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Richtlinie 98/59 die Richtlinie 75/129/EWG des Rates vom 17. Februar 1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 48, S. 29) vorausging, und dass eine Funktion der Richtlinie 98/59 u. a. darin bestand, diese Richtlinie zu kodifizieren.

37

Im Verlauf des Verfahrens zum Erlass der Richtlinie 75/129 legte die Kommission in ihrem Vorschlag zur Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (KOM[72] 1400) vom 8. November 1972 die Umstände dar, die eine Regelung in diesem Bereich notwendig machten. Insbesondere stellte sie fest, dass die bedeutenden Unterschiede im Bereich des Entlassungsschutzes von Arbeitnehmern unmittelbare Auswirkungen auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes hätten, da sie eine Ungleichheit der Wettbewerbsbedingungen schüfen, die die Unternehmen bei der Planung zu vergebender Stellen beeinflusse.

38

Darüber hinaus wurde die Richtlinie 98/59 auf der Grundlage von Art. 100 EG-Vertrag (aus dem Art. 94 EG wurde) zur Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten erlassen, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen (Binnen-)Marktes auswirken.

39

Zudem ist hinsichtlich des mit der Richtlinie 98/59 verfolgten Ziels darauf hinzuweisen, dass sich aus den Erwägungsgründen 4 und 6 dieser Richtlinie ergibt, dass sie die Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes und des Funktionierens des Binnenmarkts bezweckt.

40

Folglich gehört die Richtlinie 98/59 zu den Regelungen, die sich auf den Binnenmarkt beziehen.

41

Auch wenn die Größe und das Funktionieren der Streitkräfte Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation in einem Mitgliedstaat haben, fallen sie jedoch nicht unter die Erwägungen, die den Binnenmarkt oder den Wettbewerb zwischen Unternehmen betreffen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, sind Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Befugnisse wie die Landesverteidigung grundsätzlich nicht als wirtschaftliche Tätigkeiten einzustufen (vgl. Urteil Scattolon, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42

Zur Auffassung der EFTA-Überwachungsbehörde, wonach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/59 dahin verstanden werden könne, dass er nur öffentliche Verwaltungen der Mitgliedstaaten, nicht aber von Drittstaaten erfasse, genügt der Hinweis, dass sich eine solche Unterscheidung zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten keineswegs aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt.

43

Daher fällt gemäß der in Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 98/59 vorgesehenen Ausnahme die Entlassung der Belegschaft einer Militärbasis jedenfalls nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie, unabhängig davon, ob es sich um eine Militärbasis handelt, die einem Drittstaat gehört. Daher braucht dem Umstand nicht besonders Rechnung getragen zu werden, dass es sich im vorliegenden Fall um eine einem Drittstaat gehörende Militärbasis handelt; dabei handelt es sich um eine Frage, die völkerrechtliche Auswirkungen hat (vgl. in diesem Sinne, im Zusammenhang mit der Beschäftigung des Personals der Botschaft eines Drittstaats, Urteil vom 19. Juli 2012, Mahamdia, C-154/11, Randnrn. 54 bis 56).

44

Nach Ansicht von Frau Nolan und der EFTA-Überwachungsbehörde ist der Gerichtshof, selbst wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 98/59 falle, für eine Entscheidung im Wege der Vorabentscheidung zuständig, da der nationale Gesetzgeber diese Richtlinie über die nationale Regelung, mit der die Richtlinie umgesetzt worden sei, auf Arbeitnehmer öffentlicher Verwaltungen anwende.

45

Der Gerichtshof hat wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fiel, aber die genannten Vorschriften durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, Cicala, C-482/10, Slg. 2011, I-14139, Randnr. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung von Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich des betreffenden Unionsrechtsakts fallen, nach den in diesem Rechtsakt getroffenen Regelungen richten, ein klares Interesse der Union daran besteht, dass die aus diesem Unionsrechtsakt übernommenen Bestimmungen einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2011, Agafiţei u. a., C-310/10, Slg. 2011, I-5989, Randnr. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Somit rechtfertigt sich eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof in Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch das Unionsrecht geregelten Sachverhalte gleichbehandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Cicala, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Daher ist zu prüfen, ob eine Auslegung der Richtlinie 98/59 durch den Gerichtshof im Ausgangsverfahren deshalb geboten ist, weil sich aus hinreichend genauen Anhaltspunkten ergibt, dass die Vorschriften der genannten Richtlinie durch das nationale Recht unmittelbar und unbedingt für auf Sachverhalte wie die des Ausgangsverfahrens, die nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fallen, anwendbar erklärt worden sind.

49

Hierzu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn sie dies in der Anfangsphase des Ausgangsverfahrens beschlossen hätten, auf ihre Befreiung von der Gerichtsbarkeit in ihrer Eigenschaft als souveräner Staat hätten berufen und die Fortsetzung des Ausgangsverfahrens hätten verhindern können.

50

Zudem hat ein Drittstaat dem vorlegenden Gericht zufolge nach Art. 188 Abs. 7 des Gesetzes von 1992 die Möglichkeit, sich auf „besondere Umstände“ („special circumstances“) zu berufen, aufgrund deren er nicht verpflichtet ist, die bei Massenentlassungen vorgeschriebenen Konsultationen gemäß Art. 188 Abs. 1A, 2 und 4 des Gesetzes von 1992 durchzuführen.

51

Daraus folgt, dass die Akten keine hinreichend genauen Anhaltspunkte dafür enthalten, dass das nationale Recht die in der Richtlinie 98/59 getroffenen Regelungen für auf Sachverhalte wie den des Ausgangsverfahrens automatisch anwendbar erklärt hätte.

52

Daher kann nicht festgestellt werden, dass die in der Vorlagefrage genannten Vorschriften der Richtlinie 98/59 als solche vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf Sachverhalte wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar erklärt worden sind.

53

Zwar liegt es im Interesse der Union, dafür zu sorgen, dass Vorschriften eines Unionsrechtsakts und nationale Rechtsvorschriften, mit denen diese Vorschriften umgesetzt und außerhalb des Geltungsbereichs dieses Rechtsakts für anwendbar erklärt werden, einheitlich ausgelegt werden.

54

Dies gilt jedoch nicht, wenn – wie im Ausgangsverfahren – in einem Unionsrechtsakt ausdrücklich eine Ausnahme von seinem Geltungsbereich vorgesehen ist.

55

Sieht der Unionsgesetzgeber nämlich unmissverständlich vor, dass der von ihm erlassene Rechtsakt in einem bestimmten Bereich keine Anwendung finden soll, verzichtet er zumindest bis zum Erlass etwaiger neuer Unionsvorschriften in diesem ausgenommenen Bereich auf das Ziel der einheitlichen Auslegung und Anwendung der Rechtsvorschriften.

56

Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Interesse der Union daran besteht, dass die Vorschriften eines vom Unionsgesetzgeber erlassenen Rechtsakts in einem Bereich, den der Unionsgesetzgeber vom Geltungsbereich dieses Rechtsakts ausgenommen hat, einheitlich ausgelegt werden.

57

Nach alledem ist der Gerichtshof angesichts des Gegenstands der vom Court of Appeal gestellten Frage für die Beantwortung dieser Frage nicht zuständig.

Kosten

58

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der Frage, die der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2010 vorgelegt hat, nicht zuständig.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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