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Document 62010CJ0482

    Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 21. Dezember 2011.
    Teresa Cicala gegen Regione Siciliana.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Corte dei Conti - sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana - Italien.
    Nationales Verwaltungsverfahren - Verwaltungsakte - Begründungspflicht - Möglichkeit, im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Verwaltungsakt eine fehlende Begründung nachzuholen - Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Unzuständigkeit des Gerichtshofs.
    Rechtssache C-482/10.

    Sammlung der Rechtsprechung 2011 -00000

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:868

    Rechtssache C‑482/10

    Teresa Cicala

    gegen

    Regione Siciliana

    (Vorabentscheidungsersuchen der Corte dei conti,

    Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana)

    „Nationales Verwaltungsverfahren – Verwaltungsakte – Begründungspflicht – Möglichkeit, im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Verwaltungsakt eine fehlende Begründung nachzuholen – Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

    Leitsätze des Urteils

    Vorabentscheidungsverfahren – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Grenzen – Rein interne Sachverhalte

    (Art. 267 AEUV)

    Eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof rechtfertigt sich in rein innerstaatlichen Sachverhalten dadurch, dass diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass innerstaatliche und durch das Unionsrecht geregelte Sachverhalte gleichbehandelt werden.

    Wenn aber eine Vorschrift des nationalen Rechts allgemein auf die „Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung“ und nicht speziell auf die Vorschriften des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, verweist, kann nicht festgestellt werden, dass die in den Vorlagefragen genannten Vorschriften als solche vom betreffenden nationalen Recht unmittelbar für anwendbar erklärt worden sind. Auch lässt sich unter diesen Umständen nicht annehmen, dass der Verweis auf das Unionsrecht zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte unbedingt ist, so dass die in den Vorlagefragen genannten Vorschriften ohne Beschränkung auf den Ausgangssachverhalt anwendbar wären.

    Der Gerichtshof ist daher für die Beantwortung der von einem nationalen Gericht vorgelegten Fragen über die Auslegung spezifischer Vorschriften des Unionsrechts nicht zuständig, wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass der nationale Gesetzgeber dadurch, dass er sich auf die Grundsätze des Unionsrechts bezogen hat, auf den Gehalt der genannten spezifischen Vorschriften hätte verweisen wollen, damit innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleichbehandelt werden.

    (vgl. Randnrn. 19, 25-27, 29-30 und Tenor)







    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    21. Dezember 2011(*)

    „Nationales Verwaltungsverfahren – Verwaltungsakte – Begründungspflicht – Möglichkeit, im Laufe eines gerichtlichen Verfahrens gegen einen Verwaltungsakt eine fehlende Begründung nachzuholen – Auslegung der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unzuständigkeit des Gerichtshofs“

    In der Rechtssache C‑482/10

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 20. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2010, in dem Verfahren

    Teresa Cicala

    gegen

    Regione Siciliana

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis, T. von Danwitz (Berichterstatter) und D. Šváby,

    Generalanwalt: Y. Bot,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    –        der Regione Siciliana, vertreten durch V. Farina und D. Bologna, avvocati,

    –        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,

    –        der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen als Bevollmächtigte,

    –        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,

    –        der griechischen Regierung, vertreten durch E.‑M. Mamouna, K. Paraskevopoulou und I. Bakopoulos als Bevollmächtigte,

    –        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Kraemer als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach den Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Cicala und der Regione Siciliana über eine Entscheidung, in der vorgesehen wurde, die Pension von Frau Cicala herabzusetzen und für abgelaufene Zeiträume gezahlte Beträge zurückzufordern.

     Rechtlicher Rahmen

    3        Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241 vom 7. August 1990 über neue Vorschriften betreffend das Verwaltungsverfahren und das Recht auf Zugang zu Verwaltungsunterlagen (GURI Nr. 192 vom 18. August 1990, S. 7) in der durch das Gesetz Nr. 15 vom 11. Februar 2005 (GURI Nr. 42 vom 21. Februar 2005, S. 4) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 241/1990) sieht vor:

    „Das Verwaltungshandeln verfolgt gesetzlich vorgesehene Ziele und unterliegt den Kriterien der Wirtschaftlichkeit, der Effizienz, der Unparteilichkeit, der Öffentlichkeit und der Transparenz nach den im vorliegenden Gesetz und in anderen Vorschriften über einzelne Verfahren vorgesehenen Modalitäten sowie den Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung.“

    4        Art. 3 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. 241/1990 bestimmt bezüglich der Begründungspflicht:

    „1.      Außer in den in Abs. 2 vorgesehenen Fällen muss jede Entscheidung der Verwaltung … begründet sein. Die Begründung muss die tatsächlichen Umstände und rechtlichen Gründe angeben, die die Verwaltung in Anbetracht der Ergebnisse der vorherigen Prüfung der Sache dazu veranlasst haben, diese Entscheidung zu treffen.

    2.      Rechtsetzungsakte und Rechtsakte mit allgemeiner Geltung bedürfen keiner Begründung.“

    5        Art. 21 octies Abs. 2 Unterabs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 lautet:

    „Eine unter Verstoß gegen die Verfahrens- oder Formvorschriften erlassene Entscheidung kann nicht aufgehoben werden, wenn aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine gebundene Entscheidung handelt, offensichtlich ist, dass ihr Regelungsgehalt nicht anders hätte lauten können als konkret beschlossen.“

    6        Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10 vom 30. April 1991 mit Bestimmungen über Verwaltungsentscheidungen, den Zugang zu Verwaltungsunterlagen und die Verbesserung der Funktionsweise des Verwaltungshandelns (im Folgenden: sizilianisches Regionalgesetz Nr. 10/1991) hat Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 wörtlich übernommen.

    7        Art. 37 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 bestimmt:

    „Soweit in diesem Gesetz nichts anderes vorgesehen ist, gelten, sofern sie vereinbar sind, die Bestimmungen des Gesetzes [Nr. 241/1990], spätere Änderungen und Ergänzungen sowie die dazugehörenden Durchführungsmaßnahmen.“

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    8        Frau Cicala bezieht von der Region Sizilien, deren Beschäftigte sie war, ein Ruhegehalt. Mit Schreiben aus dem Jahr 1997 teilte die Region Sizilien der Betroffenen mit, dass der durch ein früheres regionales Dekret festgesetzte Betrag ihres Ruhegehalts höher sei als der ihr tatsächlich geschuldete und dass dieser Betrag herabgesetzt werde und die zu Unrecht gezahlten Summen zurückgefordert würden. Gegen dieses Schreiben erhob Frau Cicala bei der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, eine Aufhebungsklage, mit der sie das völlige Fehlen einer Begründung rügte, das es insbesondere unmöglich mache, die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte festzustellen, die die Herabsetzung ihres Ruhegehalts und die Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Summen rechtfertigten.

    9        Die Region Sizilien machte hierzu geltend, dass das angefochtene Schreiben eine gebundene Entscheidung enthalte und dass sein Regelungsgehalt nicht anders hätte lauten können als konkret beschlossen. Während des gerichtlichen Verfahrens machte sie Angaben zu den Gründen, die dieses Schreiben rechtfertigten, und kam zu dem Schluss, dass seine Aufhebung gemäß Art. 21 octies des Gesetzes Nr. 241/1990 nicht möglich sei.

    10      In der Vorlageentscheidung macht die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, Ausführungen zur Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der gestellten Fragen. Zunächst stellt sie fest, dass sie im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits gerichtliche Aufgaben wahrnehme. Im Bereich der Pensionen verfüge sie nämlich über die ausschließliche Gerichtsbarkeit in der Sache und sei zur Aufhebung von Verwaltungsakten befugt. Daher müsse sie im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits anders als in den Rechtssachen, in denen die Beschlüsse vom 26. November 1999, ANAS (C‑192/98, Slg. 1999, I‑8583) und RAI (C‑440/98, Slg. 1999, I‑8597), ergangen seien und in denen der Gerichtshof sich für unzuständig für die Beantwortung der von der Corte dei conti gestellten Fragen erklärt habe, nicht als Verwaltungsbehörde, sondern als ein Gericht im Sinne des Art. 267 AEUV angesehen werden.

    11      Die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, ist auch der Ansicht, dass die gestellten Fragen zulässig seien. Art. 1 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 verweise unmittelbar und unbedingt auf die Grundsätze der Unionsrechtsordnung. Der Consiglio di Stato (Staatsrat) habe kürzlich geurteilt (sez. V 4035/2009), dass die Grundsätze des Unionsrechts unmittelbar in der innerstaatlichen Rechtsordnung anwendbar und für das Verwaltungshandeln maßgeblich seien. Somit sei davon auszugehen, dass die Begründungspflicht im Sinne von Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta auf sämtliche Tätigkeiten der italienischen Verwaltung anwendbar sei, gleich, ob diese bei der Umsetzung des Unionsrechts oder im Rahmen eigener Zuständigkeiten dieser Verwaltung ausgeübt würden.

    12      Unter diesen Umständen müsse das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs als zulässig angesehen werden, auch wenn in diesem Fall der Ausgangsrechtsstreit einen rein innerstaatlichen Sachverhalt betreffe. Da sie der Auffassung ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der genannten Bestimmungen des Unionsrechts abhänge, hat die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.      Sind die Auslegung und die Anwendung von Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 und von Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 in Verbindung mit Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 – der die italienische Verwaltung zur Anwendung der Grundsätze der Rechtsordnung der Europäischen Union verpflichtet –, wonach Rechtsakte in einem Gleichordnungsverhältnis, d. h. solche, die subjektive Rechte beinhalten, im Bereich der Pensionen der Begründungspflicht entgehen können, wenn es sich um gebundene Rechtsakte handelt, unter Berücksichtigung der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar, und stellt dies einen Verstoß gegen ein wesentliches Formerfordernis der Verwaltungsentscheidung dar?

    2.      Ist Art. 21 octies Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 in der Auslegung durch die Verwaltungsgerichte in Verbindung mit der Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten nach Art. 3 desselben Gesetzes und nach dem sizilianischen Regionalgesetz Nr. 10/1991 unter Berücksichtigung der Pflicht zur Begründung von Rechtsakten der öffentlichen Verwaltung nach Art. 296 Abs. 2 AEUV und Art. 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta mit Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 vereinbar, der die Verwaltung zur Anwendung der Grundsätze der Rechtsordnung der Europäischen Union verpflichtet, und ist folglich die Auslegung und Anwendung damit vereinbar und zulässig, nach der es der Verwaltung möglich ist, die Begründung der Verwaltungsentscheidung im gerichtlichen Verfahren zu ergänzen?

     Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

    13      In Anbetracht der Begründung der Vorlageentscheidung stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof für die Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen zuständig ist, einerseits im Hinblick auf die Einordnung der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV und andererseits im Hinblick auf den Gegenstand dieser Fragen.

    14      Was den letztgenannten Gesichtspunkt betrifft, rügen die Region Sizilien, die italienische, die dänische, die deutsche und die griechische Regierung sowie die Europäische Kommission im Wesentlichen, dass der Gerichtshof für die Beantwortung der Fragen unzuständig sei, weil der Ausgangsrechtsstreit einen rein innerstaatlichen Sachverhalt betreffe. Die italienische und die griechische Regierung sowie die Kommission sind insbesondere der Ansicht, dass der Verweis auf das Unionsrecht in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 nicht den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Anerkennung seiner Zuständigkeit aufgestellten Voraussetzungen genüge.

    15      Der Gerichtshof entscheidet nach Art. 267 AEUV im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verträge und der Handlungen der Organe der Union. Im Rahmen der durch diesen Artikel geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist es allein Sache des nationalen Gerichts, im Hinblick auf die Besonderheiten der einzelnen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juli 2011, Agafiţei u. a., C‑310/10, Slg. 2011, I‑0000, Randnrn. 24 und 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    16      Folglich ist der Gerichtshof grundsätzlich zu einer Entscheidung verpflichtet, wenn die von den nationalen Gerichten vorgelegten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts betreffen (vgl. Urteile vom 16. März 2006, Poseidon Chartering, C‑3/04, Slg. 2006, I‑2505, Randnr. 15, vom 28. Oktober 2010, Volvo Car Germany, C‑203/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 24, und Agafiţei, Randnr. 26).

    17      In Anwendung dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof wiederholt seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht, die Vorschriften des Unionsrechts in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fiel, aber die genannten Vorschriften durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren. In diesen Urteilen hatten die nationalen Bestimmungen, die die Vorschriften des Unionsrechts übernahmen, deren Anwendung augenscheinlich nicht eingeschränkt (Urteile vom 17. Juli 1997, Giloy, C‑130/95, Slg. 1997, I‑4291, Randnr. 23, sowie Leur-Bloem, C‑28/95, Slg. 1997, I‑4161, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    18      Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass dann, wenn sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten sollen, um beispielsweise zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, oder um sicherzustellen, dass in vergleichbaren Fällen ein einheitliches Verfahren angewandt wird, ein klares Interesse der Union daran besteht, dass die aus dem Unionsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (Urteil Agafiţei, Randnr. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    19      Somit rechtfertigt sich eine Auslegung von Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof in rein innerstaatlichen Sachverhalten dadurch, dass diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 1995, Kleinwort Benson, C‑346/93, Slg. 1995, I‑615, Randnr. 16, und vom 11. Dezember 2007, ETI u. a., C‑280/06, Slg. 2007, I‑10893, Randnr. 25), um zu gewährleisten, dass innerstaatliche und durch das Unionsrecht geregelte Sachverhalte gleichbehandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile Poseidon Chartering, Randnr. 17, und vom 14. Dezember 2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio, C‑217/05, Slg. 2006, I‑11987, Randnr. 22).

    20      Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Ausgangsrechtsstreit Vorschriften des nationalen Rechts betrifft, die in einem rein innerstaatlichen Kontext Anwendung finden und von denen insbesondere diejenigen über die Begründung von Verwaltungsakten im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehen.

    21      Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob, wie das vorlegende Gericht meint, eine Auslegung der in den Vorlagefragen genannten Vorschriften durch den Gerichtshof dadurch gerechtfertigt ist, dass diese Vorschriften vom nationalen Recht aufgrund des Verweises in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 auf die Grundsätze der Unionsrechtsordnung im Sinne der in Randnr. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unmittelbar und unbedingt für anwendbar erklärt worden sind.

    22      Die italienische Regierung macht hierzu insbesondere geltend, dass die Begründungspflicht gänzlich durch das innerstaatliche Recht über das Verwaltungsverfahren geregelt sei und daher nicht vom Gerichtshof ausgelegt werden könne.

    23      Das Gesetz Nr. 241/1990 und das sizilianische Regionalgesetz Nr. 10/1991 enthalten spezifische Vorschriften über die Pflicht zur Begründung von Verwaltungsakten. Außerdem enthält das Gesetz Nr. 241/1990 spezifische Vorschriften über die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht, die im Ausgangsverfahren aufgrund von Art. 37 dieses sizilianischen Regionalgesetzes anwendbar sind.

    24      So stellen, wie u. a. das vorlegende Gericht selbst, die Region Sizilien und die italienische Regierung ausgeführt haben, Art. 3 des Gesetzes Nr. 241/1990 und Art. 3 des sizilianischen Regionalgesetzes Nr. 10/1991 den Grundsatz einer Pflicht zur Begründung von Verwaltungsentscheidungen auf und regeln insbesondere den obligatorischen Inhalt einer solchen Begründung. Was die Folgen einer Verletzung dieser Pflicht angeht, sieht Art. 21 octies Abs. 2 des Gesetzes Nr. 241/1990 überdies vor, dass eine Entscheidung nicht aufgehoben werden kann, wenn es sich um eine gebundene Entscheidung handelt und offensichtlich ist, dass ihr Regelungsgehalt nicht anders hätte lauten können als konkret beschlossen. Schließlich erlaubt die letztgenannte Vorschrift nach Darstellung des vorlegenden Gerichts unter bestimmten Voraussetzungen, die Begründung eines Verwaltungsakts im Laufe eines Verfahrens zu ergänzen.

    25      Dagegen verweist das Gesetz Nr. 241/1990 in Art. 1 allgemein auf die „Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung“ und nicht speziell auf die Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta, auf die sich die Vorlagefragen beziehen, oder auf andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten.

    26      Unter diesen Umständen kann nicht festgestellt werden, dass die in den Vorlagefragen genannten Vorschriften als solche vom italienischen Recht unmittelbar für anwendbar erklärt worden sind.

    27      Auch lässt sich unter diesen Umständen nicht annehmen, dass der Verweis auf das Unionsrecht zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte im vorliegenden Fall unbedingt ist, so dass die in den Vorlagefragen genannten Vorschriften ohne Beschränkung auf den Ausgangssachverhalt anwendbar wären.

    28      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, überhaupt nicht dargelegt hat, dass dieser Verweis zur Folge habe, dass die nationalen Vorschriften über die Begründungspflicht zugunsten der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta, die sich im Übrigen ihrem Wortlaut nach nicht an die Mitgliedstaaten richten, sondern ausschließlich an die Organe und Einrichtungen der Union, oder zugunsten von anderen Vorschriften des Unionsrechts über die Begründungspflicht selbst dann verdrängt werden, wenn es um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt geht, damit rein innerstaatliche und durch das Unionsrecht geregelte Sachverhalte gleichbehandelt werden.

    29      So enthalten weder die Vorlageentscheidung noch das Gesetz Nr. 241/1990 hinreichend genaue Angaben, aus denen abgeleitet werden könnte, dass der nationale Gesetzgeber dadurch, dass er sich in Art. 1 des Gesetzes Nr. 241/1990 auf die Grundsätze des Unionsrechts bezogen hat, bezüglich der Begründungspflicht auf den Gehalt der Vorschriften der Art. 296 Abs. 2 AEUV und 41 Abs. 2 Buchst. c der Charta oder auf andere Vorschriften des Unionsrechts über die Pflicht zur Begründung von Rechtsakten hätte verweisen wollen, damit innerstaatliche und dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte gleichbehandelt werden. Deswegen lässt sich nicht feststellen, dass im vorliegenden Fall ein klares Interesse der Union daran besteht, eine einheitliche Auslegung dieser Vorschriften zu wahren.

    30      Nach alledem ist der Gerichtshof für die Beantwortung der von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, vorgelegten Fragen in Anbetracht ihres Gegenstands nicht zuständig.

    31      Unter diesen Umständen ist nicht zu prüfen, ob die Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits ein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV ist.

     Kosten

    32      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

    Der Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Beantwortung der von der Corte dei conti, Sezione giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), mit Entscheidung vom 20. September 2010 vorgelegten Fragen nicht zuständig.

    Unterschriften


    * Verfahrenssprache: Italienisch.

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