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Document 62010CJ0434

    Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 17. November 2011.
    Petar Aladzhov gegen Zamestnik director na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Administrativen sad Sofia-grad - Bulgarien.
    Freizügigkeit von Unionsbürgern - Richtlinie 2004/38/EG - Verbot, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, das wegen Nichtbegleichung einer Abgabenschuld verhängt wird - Maßnahme, die durch Gründe der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann.
    Rechtssache C-434/10.

    Sammlung der Rechtsprechung 2011 -00000

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:750

    Rechtssache C‑434/10

    Petar Aladzhov

    gegen

    Zamestnik director na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti

    (Vorabentscheidungsersuchen des

    Administrativen sad Sofia-grad)

    „Freizügigkeit von Unionsbürgern – Richtlinie 2004/38/EG – Verbot, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, das wegen Nichtbegleichung einer Abgabenschuld verhängt wird – Maßnahme, die durch Gründe der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann“

    Leitsätze des Urteils

    1.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Recht auf Ausreise und Einreise – Geltungsbereich

    (Art. 20 AEUV und 21 AEUV; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 4 Abs. 1)

    2.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit – Allgemeine Grundsätze – Unmittelbare Wirkung

    (Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27)

    3.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit – Umfang

    (Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27)

    4.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit

    (Art. 21 AEUV; Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27)

    5.        Unionsbürgerschaft – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Richtlinie 2004/38 – Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit

    (Richtlinie 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 27 Abs. 1 und 2)

    1.        Eine Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, ist gemäß Art. 20 AEUV Unionsbürger und kann sich daher auch gegenüber ihrem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen, insbesondere auf das Recht aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Das Recht auf Freizügigkeit umfasst für die Unionsbürger sowohl das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaat zu begeben, als auch das entsprechende Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen. Die durch diesen Vertrag garantierten Grundfreiheiten wären nämlich ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in das eines anderen Mitgliedstaats zu begeben.

    Da Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausdrücklich vorsieht, dass alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht haben, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, fällt die Situation einer Person, die sich vom Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begeben möchte, daher unter das Recht der Unionsbürger, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

    (vgl. Randnrn. 24-27)

    2.        Der Umstand dass ein nationales Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, auf Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats keine Anwendung findet, kann sich nicht dahin auswirken, dass das nationale Gericht gehindert wäre, für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts und insbesondere von Art. 27 dieser Richtlinie Sorge zu tragen. Daher hat das befasste Gericht erforderlichenfalls eine dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts u. a. dadurch unangewandt zu lassen, dass es eine auf der Grundlage einer solchen Bestimmung ergangene Einzelfallentscheidung der Verwaltung aufhebt. Im Übrigen kann sich ein Einzelner gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf die Bestimmungen dieses Artikels berufen, die nicht an Bedingungen geknüpft und hinreichend genau sind.

    (vgl. Randnrn. 31-32)

    3.        Auch wenn es den Mitgliedstaaten freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, sind doch diese Anforderungen im Kontext der Union, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit der Personen rechtfertigen sollen, eng zu verstehen, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann.

    (vgl. Randnr. 34)

    4.        Das Unionsrecht steht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, wonach die Verwaltungsbehörde einem Staatsangehörigen dieses Staates verbieten darf, diesen Staat zu verlassen, weil eine Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, nicht beglichen wurde, nicht entgegen, jedoch unter der doppelten Voraussetzung, dass die in Rede stehende Maßnahme zum Gegenstand hat, unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, die sich u. a. aus der Art oder der Höhe dieser Schuld ergeben könnten, einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zu begegnen, und dass das damit angestrebte Ziel nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dient. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind.

    Es kann nämlich nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass die Nichtbeitreibung von Abgabenforderungen die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung betreffen kann. Da außerdem die Beitreibung öffentlich-rechtlicher Forderungen, insbesondere die von Steuern, die Finanzierung des Handelns des betreffenden Staates nach Maßgabe von Entscheidungen sicherstellen soll, die u. a. Ausdruck seiner allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind, können die von den öffentlichen Behörden zur Sicherstellung dieser Beitreibung getroffenen Maßnahmen auch nicht grundsätzlich als Maßnahmen angesehen werden, die ausschließlich zu wirtschaftlichen Zwecken im Sinne des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erlassen wurden.

    (vgl. Randnrn. 37-38, 40, Tenor 1)

    5.        Selbst wenn eine Maßnahme des Verbots, das Hoheitsgebiet zu verlassen, unter den Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erlassen wurde, stehen die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung einer solchen Maßnahme entgegen, wenn sie ausschließlich auf das Bestehen der Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern der Betroffene gehört, und allein auf diese Eigenschaft gestützt ist, ohne dass eine spezifische Beurteilung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen stattgefunden hätte und auf irgendeine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung Bezug genommen worden wäre, und das Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.

    (vgl. Randnr. 49, Tenor 2)







    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

    17. November 2011(*)

    „Freizügigkeit von Unionsbürgern – Richtlinie 2004/38/EG – Verbot, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, das wegen Nichtbegleichung einer Abgabenschuld verhängt wird – Maßnahme, die durch Gründe der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt werden kann“

    In der Rechtssache C‑434/10

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 24. August 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 6. September 2010, in dem Verfahren

    Petar Aladzhov

    gegen

    Zamestnik direktor na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot (Berichterstatter), der Richterin A. Prechal, des Richters K. Schiemann, der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    –        von Herrn Aladzhov, vertreten durch Rechtsanwalt M. Hristov,

    –        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Maidani und V. Savov als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. September 2011

    folgendes

    Urteil

    1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77, berichtigt in ABl. L 229, S. 35).

    2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem bulgarischen Staatsangehörigen Herrn Aladzhov, Mitgeschäftsführer der Gesellschaft UBN Cargo, und dem Zamestnik direktor na Stolichna direktsia na vatreshnite raboti kam Ministerstvo na vatreshnite raboti (Stellvertretender Direktor der Hauptstadtdirektion für innere Angelegenheiten des Innenministeriums, im Folgenden: Stellvertretender Direktor) wegen dessen Entscheidung, Herrn Aladzhov zu verbieten, das nationale Hoheitsgebiet zu verlassen, bis die Abgabenforderung des bulgarischen Staates gegen diese Gesellschaft beglichen oder eine Sicherheit für die gesamte Forderung gestellt wird.

     Rechtlicher Rahmen

     Unionsrecht

     Richtlinie 2004/38

    3        Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 gilt die Richtlinie 2004/38 für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen.

    4        Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

    „Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“

    5        Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie bestimmt:

    „(1)      Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.

    (2)      Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

    Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“

     Nationales Recht

     Bulgarische Verfassung

    6        Art. 35 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung bestimmt:

    „Jeder hat das Recht, frei seinen Wohnsitz zu wählen, sich im Hoheitsgebiet des Landes zu bewegen und dessen Grenzen zu verlassen. Dieses Recht kann nur durch ein Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Gesundheit sowie der Rechte und Freiheiten anderer Staatsbürger eingeschränkt werden.“

     Gesetz über die bulgarischen Personaldokumente

    7        Art. 23 Abs. 2 und 3 des Zakon za balgarskite lichni dokumenti (Gesetz über die bulgarischen Personaldokumente, DV Nr. 93 vom 11. August 1998) in der im Jahr 2006 geänderten Fassung (DV Nr. 105) (im Folgenden: ZBLD) bestimmt:

    „(2) Jeder bulgarische Staatsbürger hat das Recht, über die Binnengrenzen der Republik Bulgarien mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie in den in völkerrechtlichen Verträgen vorgesehenen Fällen das Land auch mit einem Personalausweis zu verlassen und dorthin zurückzukehren.

    (3) Das Recht nach Abs. 2 darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen sind und den Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit der Staatsbürger oder der Rechte und Freiheiten anderer Staatsbürger zum Ziel haben.“

    8        Art. 75 ZBLD sieht vor:

    „Das Verlassen des Landes wird nicht gestattet:

    5.      Personen, gegen die ein Verbot nach Art. 182 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a und Art. 221 Abs. 6 Nr. 1 Buchst. a und b des Gesetzbuchs über das Verfahren in Steuer- und Sozialversicherungssachen beantragt worden ist.“

     Gesetzbuch über das Verfahren in Steuer- und Sozialversicherungssachen

    9        Art. 182 des Danachno-osiguritelen protsesualen kodeks (Gesetzbuch über das Verfahren in Steuer- und Sozialversicherungssachen, im Folgenden: DOPK, DV Nr. 105 vom 29. Dezember 2005) in der im Jahr 2010 geänderten Fassung (DV Nr. 15 vom 23. Februar 2010) bestimmt:

    „(1) Wird die Schuld nicht innerhalb der gesetzlichen Frist beglichen, fordert die Behörde, die die Forderung festgestellt hat, bevor Maßnahmen der Zwangsbeitreibung ergriffen werden, den Schuldner auf, seine Schuld binnen sieben Tagen zu begleichen. Für die Zustellung des Mahnschreibens durch die Behörde, die die Forderung festgestellt hat, gelten die Bestimmungen des Kapitels 6 entsprechend. Bei Forderungen, die von der Nationalen Agentur für Einnahmen festgestellt worden sind, wird das Mahnschreiben vom Vollziehungsbeamten gesandt.

    (2)      Zusammen mit dem Mahnschreiben gemäß Abs. 1 oder in der Folge kann die in Abs. 1 genannte Behörde: 

    2.      wenn die Schuld 5 000 BGN übersteigt und keine Sicherheit in Höhe der Hauptforderung nebst Zinsen geleistet worden ist, die Stellen des Innenministeriums darum ersuchen,

    a)      dem Schuldner oder den Mitgliedern der Aufsichts- oder Geschäftsführungsorgane des Schuldners das Verlassen des Landes zu verbieten und ihnen Pässe oder Ersatzdokumente, die das Überschreiten der Staatsgrenzen ermöglichen, zu entziehen oder nicht auszustellen.

    (4)      Die Maßnahmen gemäß Abs. 2 können je nach dem Betrag der Schuld oder dem Verhalten des Schuldners nach dem Ermessen der zuständigen Behörde bis zur endgültigen Begleichung der Schuld gleichzeitig oder einzeln erlassen werden.“

    10      Art. 221 Abs. 6 DOPK sieht vor:

    „Werden die Maßnahmen gemäß Art. 182 Abs. 2 Nr. 2 oder Abs. 4 von der zuständigen Behörde nicht erlassen, kann der Vollziehungsbeamte, wenn die Schuld 5 000 BGN übersteigt und keine Sicherheit im Umfang der Hauptschuld nebst Zinsen geleistet worden ist:

    1.      die Stellen des Innenministeriums darum ersuchen:

    a)      dem Schuldner oder den Mitgliedern der Aufsichts- oder Geschäftsführungsorgane des Schuldners die Ausreise zu verbieten;

    b)      Pässe oder Ersatzdokumente, die das Überschreiten der Staatsgrenzen ermöglichen, zu entziehen oder nicht auszustellen.“

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    11      Der bulgarische Staatsangehörige Herr Aladzhov ist einer von drei Geschäftsführern der Gesellschaft UBN Cargo.

    12      Mit einem Abgabenbescheid vom 10. Oktober 1995, einer Beitreibungsanordnung vom 20. August 1999, einem Mahnschreiben vom 10. April 2001 und einer Mitteilung vom 26. September 2001 versuchte der bulgarische Staat vergeblich, zu erreichen, dass diese Gesellschaft eine Abgabenforderung von insgesamt 44 449 BGN (etwa 22 000 Euro) erfüllt, die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer und Zölle nebst darauf entfallende Zinsen betrifft.

    13      Nach Angaben des vorlegenden Gerichts ist diese Forderung nicht verjährt und haben die am 19. Juni 2009 vorgenommenen Pfändungen der Bankkonten der Gesellschaft und ihrer Kraftfahrzeuge nicht die Begleichung der geforderten Summe ermöglicht, da die Konten kein Guthaben ausgewiesen hätten und die Fahrzeuge nicht auffindbar gewesen seien.

    14      Auf Antrag der Nationalen Agentur für Einnahmen vom 30. Juli 2009 erließ der Stellvertretende Direktor am 25. November 2009 gemäß Art. 221 Abs. 6 Nr. 1 Buchst. a und b des DOPK auf der Rechtsgrundlage des Art. 75 Nr. 5 ZBLD die Maßnahme, mit der Herrn Aladzhov bis zur Tilgung der Forderung des Staates oder bis zur Stellung einer Sicherheit für die gesamte Forderung verboten wurde, das Land zu verlassen. Nach Angaben des vorlegenden Gerichts verfügte der Stellvertretende Direktor beim Erlass dieser Maßnahme über eine gebundene Zuständigkeit.

    15      Herr Aladzhov beantragte beim vorlegenden Gericht die Aufhebung dieser Verfügung und machte geltend, dass ihm, weil er auch Verkaufsleiter einer anderen Gesellschaft, der Bultrako AD, des offiziellen Importeurs von Honda für Bulgarien, sei, dieses Verbot, das Land zu verlassen, die Ausübung seiner Berufstätigkeit, die mit zahlreichen Auslandsreisen verbunden sei, erheblich erschwere.

    16      Das vorlegende Gericht hat darauf hingewiesen, dass sich Herr Aladzhov als Unionsbürger auch vor den Behörden des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitze, auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte, und insbesondere auf das Recht auf Freizügigkeit nach den Art. 20 AEUV und 21 AEUV sowie nach Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Union berufen könne. Dieses Recht bestehe allerdings nicht uneingeschränkt und dürfe den im AEU-Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden.

    17      Zwar könne nach Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 die Freizügigkeit der Unionsbürger aus Gründen der öffentlichen Ordnung Beschränkungen unterworfen werden, doch sehe die bulgarische Verfassung keinen solchen Grund für die Beschränkung der Freizügigkeit bulgarischer Staatsbürger vor. Die Verfassung enthalte hingegen einen auf den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Staatsbürger gestützten Grund, der in der Richtlinie 2004/38 nicht genannt werde.

    18      Zudem sei die streitige Verfügung nicht auf der Grundlage des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 in bulgarisches Recht, sondern aufgrund anderer Rechtsvorschriften erlassen worden.

    19      Das vorlegende Gericht hat weiter festgestellt, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die die Freizügigkeit der Unionsbürger beschränkenden Maßnahmen durch eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, gerechtfertigt sein sowie erforderlich und verhältnismäßig sein müssten. Es hat hierzu auch darauf hingewiesen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits entschieden habe, dass das Ziel einer wirksamen Beitreibung von Abgabenforderungen ein berechtigter Grund für die Beschränkung der durch Art. 2 des Protokolls Nr. 4 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Freizügigkeit sein könne (vgl. Urteil des EGMR vom 23. Mai 2006, Riener/Bulgarien).

    20      Die Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen (ABl. L 150, S. 28) und die Verordnung (EG) Nr. 1179/2008 der Kommission vom 28. November 2008 zur Festsetzung der Durchführungsbestimmungen zu bestimmten Artikeln der Richtlinie 2008/55 (ABl. L 319, S. 21) sähen zwar – so das vorlegende Gericht weiter – einen Mechanismus der gegenseitigen Unterstützung zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beitreibung von Forderungen vor, doch sei der Akte nicht zu entnehmen, dass im Rahmen dieses Mechanismus Maßnahmen zur Beitreibung der in Rede stehenden Forderung ergriffen worden seien.

    21      Schließlich sei in den nationalen Bestimmungen über den Erlass einer solchen Maßnahme des Verbots, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht vorgeschrieben, dass die Verwaltungsbehörde die Auswirkungen der Maßnahme auf die berufliche Situation des Betroffenen oder auf die Handelstätigkeit der schuldnerischen Gesellschaft und damit auf deren Vermögen zur Rückzahlung der Schuld prüfen müsse.

    22      Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Sofia-grad beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.      Muss das Verbot, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union zu verlassen, das einem Angehörigen dieses Staates als Geschäftsführer einer nach dem Recht des betreffenden Staates registrierten Handelsgesellschaft wegen nicht beglichener öffentlich-rechtlicher Schulden dieser Gesellschaft auferlegt worden ist, dem in Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Grund des Schutzes der „öffentlichen Ordnung“ entsprechen, wenn die Umstände des Ausgangsverfahrens und zugleich folgende Umstände vorliegen:

    –        In der Verfassung dieses Mitgliedstaats ist keine Beschränkung der Freizügigkeit natürlicher Personen zum Schutz der „öffentlichen Ordnung“ vorgesehen;

    –        der Grund der „öffentlichen Ordnung“ als Grundlage für die Auferlegung des genannten Verbots ist in einem nationalen Gesetz enthalten, das zur Umsetzung eines anderen Rechtsakts der Europäischen Union erlassen wurde;

    –        der Grund der „öffentlichen Ordnung“ im Sinne der genannten Richtlinienbestimmung umfasst auch den Grund des „Schutzes der Rechte anderer Staatsbürger“, wenn eine Maßnahme zur Sicherung der Haushaltseinnahmen des Mitgliedstaats mittels der Begleichung öffentlich-rechtlicher Schulden getroffen wird?

    2.      Folgt aus den für die Ausübung der Freizügigkeit der Unionsbürger vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen sowie aus den zu deren Durchführung gemäß dem Unionsrecht erlassenen Maßnahmen unter den Umständen des Ausgangsverfahrens, dass eine nationale rechtliche Regelung zulässig ist, die vorsieht, dass der Mitgliedstaat gegen einen seiner Staatsangehörigen als Geschäftsführer einer nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats registrierten Handelsgesellschaft wegen nicht beglichener öffentlich-rechtlicher Schulden gegenüber diesem Staat, die nach dessen Recht als „erhebliche“ Schulden eingestuft werden, die Verwaltungszwangsmaßnahme „Verbot, das Land zu verlassen“, verhängt, wenn zur Begleichung dieser Schuld die Anwendung des Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gemäß der Richtlinie 2008/55 sowie der Verordnung Nr. 1179/2008 zulässig ist?

    3.      Sind der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die für die Ausübung der Freizügigkeit der Unionsbürger vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen sowie die zu deren Durchführung gemäß dem Unionsrecht erlassenen Maßnahmen bzw. die Kriterien des Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 unter den Umständen des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen, dass sie bei Bestehen einer öffentlich-rechtlichen Schuld einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats registrierten Handelsgesellschaft, die nach dem Recht dieses Staates als „erhebliche Schuld“ eingestuft wird, zulassen, dass einer natürlichen Person, die Geschäftsführer der betreffenden Gesellschaft ist, das Verlassen dieses Mitgliedstaats verboten wird, wenn zugleich folgende Umstände vorliegen:

    –        Das Bestehen einer „erheblichen“ öffentlich-rechtlichen Schuld wird als tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr angesehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, eine Beurteilung, die der Gesetzgeber mittels der Einführung der konkreten Verwaltungsmaßnahme „Verbot, das Land zu verlassen“, vorgenommen hat;

    –        es ist keine Beurteilung von Umständen vorgesehen, die mit dem persönlichen Verhalten des Geschäftsführers und einer Beeinträchtigung seiner Grundrechte, wie seines Rechts auf Ausübung einer mit Auslandsreisen verbundenen Erwerbstätigkeit in einem anderen Rechtsverhältnis, zusammenhängen;

    –        die Folgen für die Handelstätigkeit der schuldnerischen Gesellschaft und die Möglichkeiten einer Begleichung der öffentlich-rechtlichen Schuld werden nach der Auferlegung des Verbots nicht beurteilt;

    –        das Verbot wird auf einen Antrag hin auferlegt, der bindenden Charakter hat, wenn darin bescheinigt wird, dass eine „erhebliche“ öffentlich-rechtliche Schuld einer konkreten Handelsgesellschaft besteht, dass die Schuld nicht im Umfang des Hauptbetrags und der Zinsen gesichert ist und dass die Person, gegen die die Auferlegung des Verbots beantragt wird, ein Geschäftsführungsorgan dieser Handelsgesellschaft ist;

    –        das Verbot ist befristet bis zur vollständigen Begleichung oder Sicherung der öffentlich-rechtlichen Schuld, ohne dass eine Überprüfung dieses Verbots auf Antrag des Adressaten bei der Behörde, die das Verbot auferlegt hat, und eine Berücksichtigung der Fristen für die Verjährung der Schuld vorgesehen sind?      

     Zu den Vorlagefragen

     Zur ersten Frage

    23      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach die Verwaltungsbehörde einem Staatsangehörigen dieses Staates verbieten darf, diesen Staat zu verlassen, weil eine Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, nicht beglichen wurde.

    24      Um diese Frage sachdienlich zu beantworten, ist darauf hinzuweisen, dass Herr Aladzhov als bulgarischer Staatsangehöriger gemäß Art. 20 AEUV Unionsbürger ist und sich daher auch gegenüber seinem Herkunftsmitgliedstaat auf die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte berufen kann, insbesondere auf das Recht aus Art. 21 AEUV, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (vgl. u. a. Urteile vom 10. Juli 2008, Jipa, C‑33/07, Slg. 2008, I‑5157, Randnr. 17, und vom 5. Mai 2011, McCarthy, C‑434/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 48).

    25      Das Recht auf Freizügigkeit umfasst für die Unionsbürger sowohl das Recht, sich in einen anderen Mitgliedstaat als ihren Herkunftsmitgliedstaat zu begeben, als auch das entsprechende Recht, ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, wären die durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten nämlich ihrer Substanz beraubt, wenn der Herkunftsmitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ohne stichhaltige Rechtfertigung verbieten könnte, sein Hoheitsgebiet zu verlassen, um sich in das eines anderen Mitgliedstaats zu begeben (vgl. Urteil Jipa, Randnr. 18).

    26      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht im Übrigen ausdrücklich vor, dass alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, das Recht haben, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.

    27      Folglich fällt eine Situation wie die von Herrn Aladzhov, der sich vom Hoheitsgebiet des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begeben möchte, unter das Recht der Unionsbürger, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

    28      Jedoch besteht das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit nicht uneingeschränkt, sondern darf den im Vertrag und in den Bestimmungen zu seiner Durchführung vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen werden (vgl. u. a. Urteil Jipa, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    29      Diese Beschränkungen und Bedingungen ergeben sich insbesondere aus Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, wonach die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken dürfen. Nach dem Wortlaut dieses Artikels dürfen diese Gründe jedoch nicht „zu wirtschaftlichen Zwecken“ geltend gemacht werden.

    30      Damit das Unionsrecht einer nationalen Maßnahme wie der, die Herrn Aladzhov am Verlassen des nationalen Hoheitsgebiets gehindert hat und von der feststeht, dass sie nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Gesundheit erlassen wurde, nicht entgegensteht, muss daher nachgewiesen werden, dass sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung erlassen wurde, wobei außerdem Voraussetzung ist, dass diese Gründe nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht wurden.

    31      Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass das nationale Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2004/38 auf Staatsangehörige der Republik Bulgarien keine Anwendung finde.

    32      Ein solcher Umstand kann sich allerdings keinesfalls dahin auswirken, dass das nationale Gericht gehindert wäre, für die volle Wirksamkeit der Normen des Unionsrechts, die, wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Ausgangsverfahren anwendbar sind, und insbesondere von Art. 27 der Richtlinie 2004/38 Sorge zu tragen. Daher hat das befasste Gericht erforderlichenfalls eine gegen das Unionsrecht verstoßende Bestimmung des nationalen Rechts u. a. dadurch unangewandt zu lassen, dass es eine auf der Grundlage einer solchen Bestimmung ergangene Einzelfallentscheidung der Verwaltung aufhebt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im Übrigen kann sich ein Einzelner gegenüber dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf die Bestimmungen dieses Artikels berufen, die nicht an Bedingungen geknüpft und hinreichend genau sind (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Dezember 1974, van Duyn, 41/74, Slg. 1974, 1337, Randnrn. 9 bis 15).

    33      Ferner ist es auch nicht von Belang, dass – wie das vorlegende Gericht hervorhebt – die bulgarische Verfassung zur Rechtfertigung der Beschränkung der Freizügigkeit bulgarischer Staatsbürger nicht auf Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit abstellt, sondern u. a. auf einen auf den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Staatsbürger gestützten Grund verweist, auf dessen Grundlage das ZBLD erlassen wurde. Es kommt nämlich nur darauf an, ob die Beschränkung der Freizügigkeit eines eigenen Staatsangehörigen, die auferlegt wird, um wie im Ausgangsverfahren die Beitreibung einer Abgabenforderung zu erreichen, und die nach nationalem Recht mit dem Bestreben gerechtfertigt wird, die Rechte anderer Staatsbürger zu schützen, auf einem Grund beruht, der einem Grund der öffentlichen Ordnung im Sinne des Unionsrechts zugerechnet werden kann.

    34      Der Gerichtshof hat stets betont, dass es zwar den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung und Sicherheit erfordern, dass jedoch diese Anforderungen im Kontext der Union, insbesondere wenn sie eine Ausnahme von dem grundlegenden Prinzip der Freizügigkeit der Personen rechtfertigen sollen, eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann (vgl. u. a. Urteil Jipa, Randnr. 23).

    35      So hat der Gerichtshof klargestellt, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. u. a. Urteil Jipa, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36      Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf die im Allgemeininteresse liegende Aufgabe der öffentlichen Verwaltung, die Haushaltseinnahmen zu sichern, sowie auf das Ziel des Schutzes der Rechte der anderen Bürger, das mit der Beitreibung öffentlich-rechtlicher Forderungen verfolgt werde. Es stellt darüber hinaus die fehlende Nichtbegleichung der Abgabenschuld der Gesellschaft, die im Ausgangsverfahren die Schuldnerin ist, als eine Gefahr dar, die ein überwiegendes Interesse der Gesellschaft berühre.

    37      Es kann zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden – wie im Übrigen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt hat (vgl. Urteil Riener/Bulgarien, §§ 114 bis 117) –, dass die Nichtbeitreibung von Abgabenforderungen die Erfordernisse der öffentlichen Ordnung betreffen kann. In Anbetracht der Vorschriften des Unionsrechts über die Freizügigkeit der Unionsbürger könnte dies jedoch nur dann der Fall sein, wenn eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die z. B. mit der Höhe der in Rede stehenden Beträge oder den Erfordernissen der Bekämpfung von Steuerhinterziehung im Zusammenhang steht.

    38      Da außerdem die Beitreibung öffentlich-rechtlicher Forderungen, insbesondere die von Steuern, die Finanzierung des Handelns des betreffenden Staates nach Maßgabe von Entscheidungen sicherstellen soll, die u. a. Ausdruck seiner allgemeinen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, Slg. 2011, I‑0000, Randnr. 24), können die von den öffentlichen Behörden zur Sicherstellung dieser Beitreibung getroffenen Maßnahmen auch nicht grundsätzlich als Maßnahmen angesehen werden, die ausschließlich zu wirtschaftlichen Zwecken im Sinne des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen wurden.

    39      Allein anhand der Angaben in der Vorlageentscheidung, wie sie in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils aufgeführt sind, lässt sich jedoch nicht prüfen, ob die Maßnahmen, um die es im Ausgangsverfahren geht, auf der Grundlage solcher Erwägungen erlassen wurden, und insbesondere nicht darauf schließen, dass sie lediglich zu wirtschaftlichen Zwecken erlassen wurden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, die insoweit erforderlichen Prüfungen vorzunehmen.

    40      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, wonach die Verwaltungsbehörde einem Staatsangehörigen dieses Staates verbieten darf, diesen Staat zu verlassen, weil eine Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, nicht beglichen wurde, nicht entgegensteht, jedoch unter der doppelten Voraussetzung, dass die in Rede stehende Maßnahme zum Gegenstand hat, unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, die sich u. a. aus der Art oder der Höhe dieser Schuld ergeben könnten, einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zu begegnen, und dass das damit angestrebte Ziel nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dient. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind.

     Zur zweiten und zur dritten Frage

    41      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu behandeln sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, unter welchen Voraussetzungen Rechtsvorschriften der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art als verhältnismäßig und mit dem Grundsatz vereinbar angesehen werden können, wonach für Beschränkungen der Freizügigkeit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf, sofern es zum einen gemeinschaftliche Instrumente der Unterstützung auf dem Gebiet des Abgabenrechts gibt und zum anderen die in Rede stehenden Rechtsvorschriften durch ihre Strenge und ihren Automatismus gekennzeichnet sind.

    42      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren ist und ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf. Außerdem muss, wie aus der in Randnr. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, das Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresses der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.

    43      Unter diesen Umständen entspräche eine nationale Gesetzes- oder Verordnungsvorschrift, die automatisch zu einer Entscheidung führt, mit der dem Betroffenen allein aufgrund des Bestehens einer Abgabenschuld und ohne Berücksichtigung seines persönlichen Verhaltens verboten wird, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht den Anforderungen des Unionsrechts (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Januar 1999, Calfa, C‑348/96, Slg. 1999, I‑11, Randnrn. 27 und 28).

    44      Im Ausgangsverfahren lassen – so scheint es in Anbetracht der Vorlageentscheidung – weder die Bestimmungen des DOPK noch die des ZBLD, auf deren Grundlage die Verwaltung entschieden hat, Herrn Aladzhov das Verlassen des bulgarischen Hoheitsgebiets zu verbieten, eine Verpflichtung der zuständigen Verwaltungsbehörden erkennen, das persönliche Verhalten des Betroffenen zu berücksichtigen. Zwar scheinen die Bestimmungen des DOPK eine solche Berücksichtigung nicht auszuschließen, da sie den von ihnen bezeichneten Behörden ein Ermessen einräumen, indem sie vorsehen, dass diese die Verhängung eines solchen Verbots in Anwendung des ZBLD beantragen „können“. Auch wenn in diesem Zusammenhang den genannten Behörden nicht die Möglichkeit genommen ist, dieses Verhalten zu berücksichtigen, ist allerdings festzustellen, dass Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden offensichtlich keine Verpflichtung wie die genannte enthalten, die allein mit den Anforderungen des Unionsrechts in Einklang steht.

    45      Außerdem ist der dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht zugeleiteten Akte zu entnehmen, dass die gegen den Kläger verhängte Maßnahme offenbar ausschließlich auf das Bestehen der Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, und allein auf diese Eigenschaft gestützt ist, ohne dass eine spezielle Beurteilung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen stattgefunden hätte und auf irgendeine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung Bezug genommen worden wäre.

    46      Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, über die Vereinbarkeit nationaler Maßnahmen mit dem Unionsrecht zu befinden, und es obliegt dem vorlegenden Gericht, die zur Beurteilung dieser Vereinbarkeit erforderlichen Feststellungen zu treffen (Urteil Jipa, Randnr. 28).

    47      Es wird bei der Prüfung, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt ist, auch festzustellen haben, ob das Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen, geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Jipa, Randnr. 29). Selbst wenn die Unmöglichkeit, die betreffende Schuld einzutreiben, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen sollte, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wird das vorlegende Gericht insoweit insbesondere prüfen müssen, ob das in Rede stehende Verbot dadurch, dass es Herrn Aladzhov die Möglichkeit nimmt, einem Teil seiner Berufstätigkeit im Ausland nachzugehen, und ihn somit eines Teils seiner Einkünfte beraubt, geeignet ist, die mit ihm angestrebte Beitreibung der Steuer sicherzustellen, und hierzu erforderlich ist. Es wird darüber hinaus zu prüfen haben, ob es nicht neben dem Verbot, das Land zu verlassen, andere Maßnahmen gab, um die Beitreibung zu erreichen, die ebenso wirksam gewesen wären, ohne die Freizügigkeit zu beeinträchtigen.

    48      Zu diesen anderen Maßnahmen könnten gegebenenfalls diejenigen zählen, die die nationalen Behörden insbesondere gemäß der vom nationalen Gericht genannten Richtlinie 2008/55 erlassen können. Es ist jedoch auf jeden Fall dessen Aufgabe, zu prüfen, ob die Forderung des betreffenden Mitgliedstaats in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt.

    49      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass, selbst wenn eine Maßnahme des Verbots, das Hoheitsgebiet zu verlassen, wie sie gegenüber Herren Aladzhov im Ausgangsverfahren ergangen ist, unter den Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 erlassen wurde, die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung einer solchen Maßnahme entgegenstehen, wenn

    –        sie ausschließlich auf das Bestehen der Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern der Kläger gehört, und allein auf diese Eigenschaft gestützt ist, ohne dass eine spezifische Beurteilung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen stattgefunden hätte und auf irgendeine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung Bezug genommen worden wäre, und

    –        das Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

    Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.

     Kosten

    50      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

    1.      Das Unionsrecht steht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, wonach die Verwaltungsbehörde einem Staatsangehörigen dieses Staates verbieten darf, diesen Staat zu verlassen, weil eine Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern er gehört, nicht beglichen wurde, nicht entgegen, jedoch unter der doppelten Voraussetzung, dass die in Rede stehende Maßnahme zum Gegenstand hat, unter bestimmten außergewöhnlichen Umständen, die sich u. a. aus der Art oder der Höhe dieser Schuld ergeben könnten, einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, zu begegnen, und dass das damit angestrebte Ziel nicht nur wirtschaftlichen Zwecken dient. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese beiden Voraussetzungen erfüllt sind.

    2.      Selbst wenn eine Maßnahme des Verbots, das Hoheitsgebiet zu verlassen, wie sie gegenüber Herrn Aladzhov im Ausgangsverfahren ergangen ist, unter den Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG erlassen wurde, stehen die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 2 dieser Verordnung einer solchen Maßnahme entgegen, wenn

    –        sie ausschließlich auf das Bestehen der Abgabenschuld der Gesellschaft, zu deren Geschäftsführern der Kläger gehört, und allein auf diese Eigenschaft gestützt ist, ohne dass eine spezifische Beurteilung des persönlichen Verhaltens des Betroffenen stattgefunden hätte und auf irgendeine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung Bezug genommen worden wäre, und

    –        das Verbot, das Hoheitsgebiet zu verlassen, nicht geeignet ist, die Erreichung des mit ihm verfolgten Ziels zu gewährleisten, und über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

    Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies im Ausgangsverfahren der Fall ist.

    Unterschriften


    * Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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