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Document 62010CJ0225

    Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 20. Oktober 2011.
    Juan Pérez Garcia und andere gegen Familienkasse Nürnberg.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Sozialgericht Nürnberg - Deutschland.
    Soziale Sicherheit - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Art. 77 und 78 - Rentner, denen Renten nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten geschuldet werden - Behinderte Kinder - Familienleistungen für unterhaltsberechtigte Kinder - Anspruch auf Leistungen im ehemaligen Beschäftigungsstaat - Bestehen eines Anspruchs auf entsprechende Leistungen im Wohnmitgliedstaat - Fehlen eines Antrags - Wahl einer mit den Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder unvereinbaren Leistung bei Invalidität - Begriff ‚Leistung für unterhaltsberechtigte Kinder‘ - Wahrung des im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat erworbenen Besitzstands.
    Rechtssache C-225/10.

    Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-10111

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:678

    Rechtssache C‑225/10

    Juan Pérez García u. a.

    gegen

    Familienkasse Nürnberg

    (Vorabentscheidungsersuchen des Sozialgerichts Nürnberg)

    „Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 77 und 78 – Rentner, denen Renten nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten geschuldet werden – Behinderte Kinder – Familienleistungen für unterhaltsberechtigte Kinder – Anspruch auf Leistungen im ehemaligen Beschäftigungsstaat – Bestehen eines Anspruchs auf entsprechende Leistungen im Wohnmitgliedstaat – Fehlen eines Antrags – Wahl einer mit den Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder unvereinbaren Leistung bei Invalidität – Begriff ‚Leistung für unterhaltsberechtigte Kinder‘ – Wahrung des im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat erworbenen Besitzstands“

    Leitsätze des Urteils

    Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen – Familienleistungen – Rentner, die nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Rente beziehen – Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder und für Waisen von Rentnern – Behinderte Kinder

    (Verordnung Nr. 1408/71 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 1992/2006 geänderten Fassung, Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i)

    Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung Nr. 1992/2006 geändert worden ist, sind dahin gehend auszulegen, dass Empfänger von Alters- und/oder Invaliditätsrenten oder Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, deren Rentenansprüche für sich oder ihre Waisen aber ausschließlich auf den Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats beruhen, von den zuständigen Behörden dieses Staates die nach dessen Rechtsvorschriften zugunsten behinderter Kinder vorgesehenen Familienbeihilfen in voller Höhe beanspruchen können, obwohl sie im Wohnmitgliedstaat die nach dessen Rechtsvorschriften vorgesehenen vergleichbaren höheren Leistungen nicht beantragt haben, weil sie sich für die Gewährung einer anderen Leistung für Behinderte entschieden haben, die mit diesen Beihilfen unvereinbar ist, sofern der Anspruch auf die Familienbeihilfen im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat allein nach dessen Rechtsvorschriften erworben wurde. Dies gilt auch dann, wenn es den Betroffenen aufgrund der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats nicht möglich ist, sich für die Zahlung der Familienbeihilfen in diesem Staat zu entscheiden.

    (vgl. Randnrn. 57, 59, Tenor 1-2)







    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    20. Oktober 2011(*)

    „Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 77 und 78 – Rentner, denen Renten nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten geschuldet werden – Behinderte Kinder – Familienleistungen für unterhaltsberechtigte Kinder – Anspruch auf Leistungen im ehemaligen Beschäftigungsstaat – Bestehen eines Anspruchs auf entsprechende Leistungen im Wohnmitgliedstaat – Fehlen eines Antrags – Wahl einer mit den Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder unvereinbaren Leistung bei Invalidität – Begriff ‚Leistung für unterhaltsberechtigte Kinder‘ – Wahrung des im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat erworbenen Besitzstands“

    In der Rechtssache C‑225/10

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sozialgericht Nürnberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 26. April 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2010, in dem Verfahren

    Juan Pérez García,

    José Arias Neira,

    Fernando Barrera Castro,

    Dolores Verdún Espinosa als Rechtsnachfolgerin des José Bernal Fernández

    gegen

    Familienkasse Nürnberg

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh (Berichterstatter) und A. Arabadjiev,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. April 2011,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    –        von Herrn Barrera Castro, vertreten durch A. González Maeztu, Abteilungsleiter im spanischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main, 

    –        der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigten,

    –        der spanischen Regierung, vertreten durch B. Plaza Cruz und S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

    –        der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz als Bevollmächtigten,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2011

    folgendes

    Urteil

    1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 77 und 78 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung (EG) Nr. 1992/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 (ABl. L 392, S. 1) geändert worden ist (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

    2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen von vier Rechtsstreitigkeiten zwischen Juan Pérez García, José Arias Neira, Fernando Barrera Castro und Dolores Verdún Espinosa als Rechtsnachfolgerin von José Bernal Fernández (im Folgenden: Kläger) einerseits und der Familienkasse Nürnberg (im Folgenden: Familienkasse) andererseits wegen der Weigerung der Familienkasse, den Klägern für ihre volljährigen behinderten Kinder Kindergeld zu gewähren.

     Rechtlicher Rahmen

     Unionsrecht

    3        Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 definiert für deren Anwendung die nachstehenden Begriffe wie folgt

    „i)      ‚Familienleistungen‘: alle Sach‑ oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburtsbeihilfen;

    ii)      ‚Familienbeihilfen‘: regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden“.

    4        Gemäß ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. h gilt die Verordnung Nr. 1408/71 „für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die … Familienleistungen [betreffen]“.

    5        Nach Art. 10a Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 gelten die Bestimmungen ihres Titels III nicht für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen, und die Personen, für die diese Verordnung gilt, erhalten diese Leistungen ausschließlich im Wohnmitgliedstaat und nach dessen Rechtsvorschriften, sofern diese Leistungen in Anhang IIa aufgeführt sind.

    6        Der mit „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ überschriebene Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 erwähnt in seinem Abschnitt „H. Spanien“ folgende Leistungen:

    „a)      Garantiertes Mindesteinkommen (Gesetz Nr. 13/1982 [über die soziale Integration Behinderter] vom 7. April 1982) [Ley 13/1982 de Integración Social de los Minusválidos, BOE Nr. 103 vom 30. April 1982, S. 11106];

    c)      beitragsunabhängige Invaliditäts- und Altersrenten nach Artikel 38 Absatz 1 [des] Königliche[n] Gesetzesdekret[s] Nr. 1/1994 vom 20. Juni 1994 [zur Genehmigung der] konsolidierten Fassung des Allgemeinen Gesetzes über die soziale Sicherheit [Real Decreto Legislativo 1/1994 por el que se aprueba el texto refundido de la Ley General de Seguridad Social, BOE Nr. 154 vom 29. Juni 1994, S. 20658];

    …“

    7        Titel III der Verordnung Nr. 1408/71 enthält, wie sich aus seiner Überschrift ergibt, besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten.

    8        Der in dem mit „Familienleistungen“ überschriebenen Kapitel 7 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 enthaltene Art. 76 („Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen gemäß den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates und den Rechtsvorschriften des Staates, in dem die Familienangehörigen wohnen“) lautet:

    „(1)  Sind für ein und denselben Zeitraum für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Artikel 73 bzw. 74 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag.

    (2)      Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Absatz 1 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden.“

    9        Kapitel 8 („Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern und für Waisen“) des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 enthält einen Art. 77 mit folgendem Wortlaut:

    „(1)  Leistungen im Sinne dieses Artikels sind die Familienbeihilfen für Empfänger von Alters‑ oder Invaliditätsrenten, Renten wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit sowie die Kinderzuschüsse zu solchen Renten, mit Ausnahme der Kinderzulagen aus der Versicherung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten.

    (2)      Die Leistungen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Rentner oder die Kinder wohnen, wie folgt gewährt:

    a)      Der Rentner, der nach den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats Rente bezieht, erhält die Leistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rente zuständigen Staates;

    b)      der Rentner, der nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Rente bezieht, erhält die Leistungen

    i)      nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet er wohnt, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen – gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) – nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht,

    …“

    10      Der ebenfalls in dem genannten Kapitel 8 enthaltene Art. 78 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt unter der Überschrift „Waisen“:

    „(1)      Leistungen im Sinne dieses Artikels sind Familienbeihilfen und gegebenenfalls zusätzliche oder besondere Beihilfen für Waisen.

    (2)      Die Leistungen für Waisen werden ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat die Waisen oder die natürliche oder juristische Person, die ihren Unterhalt bestreitet, wohnen, wie folgt gewährt:

    a)      Für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats gegolten haben, gemäß den Rechtsvorschriften dieses Staates;

    b)      für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für den die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben:

    i)      nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet die Waisen wohnen, wenn Anspruch auf eine der in Absatz 1 genannten Leistungen – gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 79 Absatz 1 Buchstabe a) – nach den Rechtsvorschriften dieses Staates besteht,

    …“

    11      Nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 geben „[d]ie Mitgliedstaaten … in Erklärungen, die … notifiziert und veröffentlicht werden, … die Leistungen im Sinne der Artikel 77 und 78 an“.

    12      In ihrer Erklärung gemäß dem vorgenannten Art. 5 (ABl. 2003, C 210, S. 1) gibt die Bundesrepublik Deutschland an, dass es sich bei dem Kindergeld, das nach dem Bundeskindergeldgesetz (im Folgenden: BKGG) für Kinder von Rentenempfängern gezahlt wird, um Familienbeihilfen im Sinne der Art. 77 und 78 der Verordnung handele.

    13      In seiner gemäß der gleichen Rechtsgrundlage abgegebenen Erklärung (ABl. 2005, C 79, S. 9) nennt das Königreich Spanien als unter diese Vorschriften fallende Leistungen die vom Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 vorgesehenen Familienleistungen und Leistungen für Waisen.

     Nationales Recht

     Deutsches Recht

    14      Das BKGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Januar 2009 (BGBl. I S. 142) gewährt Rentnern einen Anspruch auf Kindergeld für unterhaltsberechtigte Kinder bis zur Vollendung des 18., unter bestimmten Voraussetzungen sogar bis zur Vollendung des 25. Lebensjahrs (im Folgenden: deutsches Kindergeld). Für Kinder, die wegen einer Behinderung außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten, sieht das BKGG die Zahlung von Kindergeld ohne jede Altersgrenze vor, wenn die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahrs eingetreten ist. Die Höhe der Leistung bestimmt sich nach der Zahl der berücksichtigungsfähigen Kinder.

     Spanisches Recht

    15      Der Vorlageentscheidung zufolge können behinderte Kinder, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, eine beitragsunabhängige Invaliditätsrente als Sonderbeihilfe im Sinne des Gesetzes Nr. 13/1982 (im Folgenden: spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte) beanspruchen.

    16      Nach dem Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 erhalten Rentner mit Wohnsitz im Inland für jedes unterhaltsberechtigte Kind mit Wohnsitz im Inland, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, Kindergeld, sofern das Familieneinkommen einen bestimmten Betrag nicht übersteigt und kein Elternteil Anspruch auf eine andere gleichartige öffentliche Sozialleistung hat (im Folgenden: spanisches Kindergeld). Das spanische Kindergeld wird lebenslang für jedes behinderte Kind, dessen Behinderungsgrad 65 % übersteigt, unabhängig von dessen Alter und ohne Einkommensgrenze gezahlt. Ab einem Behinderungsgrad von mindestens 33 %, 65 % bzw. 75 % wird jeweils ein entsprechender Zuschlag auf den Kindergeldgrundbetrag gezahlt. Für ein behindertes Kind wird jedoch kein spanisches Kindergeld gewährt, wenn dieses eine vergleichbare öffentliche Leistung der sozialen Sicherheit, eine „Sonderbeihilfe“ aufgrund des Gesetzes Nr. 13/1982 oder eine „beitragsunabhängige Invaliditätsrente“ bezieht; insoweit muss sich der Betreffende für eine der für miteinander unvereinbar erklärten Leistungen entscheiden.

     Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    17      Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass Juan Pérez García, José Arias Neira, Fernando Barrera Castro und José Bernal Fernández, der während des Ausgangsverfahrens verstorben ist, spanische Staatsangehörige sind, die als Wanderarbeitnehmer in Deutschland arbeiteten. Als solche erhalten oder erhielten sie sowohl in Spanien als auch in Deutschland eine Alters- und/oder Invalidenrente, wobei sie in Deutschland einen allein auf deutschen Rechtsvorschriften beruhenden „innerstaatlichen“ Rentenanspruch haben oder hatten. Außerdem sind oder waren sie alle Vater eines behinderten Kindes, das das 18. Lebensjahr vollendet hat. Wegen der Behinderung ihres Kindes wird in Spanien – der Vorlageentscheidung zufolge – die spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte nach dem Gesetz Nr. 13/1982, nicht jedoch das spanische Kindergeld nach dem Decreto Legislativo Nr. 1/1994 gewährt.

    18      Mit zwischen November 2007 und Juni 2008 erlassenen Bescheiden hat die Familienkasse die Zahlung des deutschen Kindergeldes an Juan Pérez García, José Arias Neira, Fernando Barrera Castro und José Bernal Fernández im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt oder eingestellt, dass sie einen Anspruch auf spanische Familienleistungen hätten, die höher seien als die entsprechende Leistung, die ihnen in Deutschland gewährt werde, und dass sie die Gewährung der spanischen Familienleistungen daher jederzeit beantragen könnten. Entscheidend sei, dass spanische Familienleistungen geschuldet seien, selbst wenn das behinderte Kind in einem solchen Fall die spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte nicht beziehen könne.

    19      Nachdem ihre Widersprüche gegen diese Bescheide zurückgewiesen worden waren, erhoben Juan Pérez García, José Arias Neira, Fernando Barrera Castro und José Bernal Fernández beim Sozialgericht Nürnberg Klage auf Bewilligung von deutschem Kindergeld. Für den am 20. April 2009 verstorbenen José Bernal Fernández setzt seine Witwe Dolores Verdún Espinosa den Rechtsstreit als dessen Rechtsnachfolgerin fort.

    20      Das Sozialgericht Nürnberg vertritt in seinem Vorlagebeschluss die Auffassung, dass in allen bei ihm anhängigen Fällen ein Anspruch auf spanisches Kindergeld im Sinne von Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 „besteht“, da die rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für diese Leistung erfüllt seien. Der Anspruch auf das spanische Kindergeld sei nur deshalb ausgeschlossen, weil die Eltern des behinderten Kindes von einer im spanischen Recht vorgesehenen Wahlmöglichkeit Gebrauch gemacht hätten; daher neige das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass die Betroffenen aufgrund des Bezugs der spanischen beitragsunabhängigen Leistung für Behinderte gegenüber dem Mitgliedstaat, der, weil er nicht der Wohnsitzstaat sei, nach den vorstehend angeführten Bestimmungen nur nachrangig zur Leistung verpflichtet sei, keinen Anspruch auf deutsches Kindergeld hätten.

    21      Das vorlegende Gericht sieht darin keine Verletzung der Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern. Verlege ein Rentner, der sowohl einen spanischen als auch einen deutschen Rentenanspruch habe, seinen Wohnsitz von Deutschland nach Spanien, so verliere er den nach Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 vorrangigen deutschen Kindergeldanspruch seines bisherigen Wohnmitgliedstaats, erhalte aber nach derselben Vorschrift vorrangig die höheren Kindergeldleistungen des neuen Wohnmitgliedstaats. Dasselbe gelte im Rahmen von Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung.

    22      Das vorlegende Gericht ist jedoch der Ansicht, dass ein Anspruch auf deutsches Kindergeld in Höhe des Unterschieds zwischen den betreffenden Leistungen bestehen könne, wenn das behinderte Kind in Spanien eine spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte erhalte, dort aber nicht oder nicht mehr als unterhaltsberechtigt gelte. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn das behinderte Kind das Zusammenleben mit den Eltern dauerhaft auflöse, um in einer eigenen Wohnung oder einer therapeutischen Wohngemeinschaft zu leben. In diesem Fall bestehe keine Wahlmöglichkeit zwischen dem spanischen Kindergeld und der spanischen beitragsunabhängigen Leistung für Behinderte.

    23      Vor diesem Hintergrund hat das Sozialgericht Nürnberg die bei ihm anhängigen Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.      Ist Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, dass Familienbeihilfen für Empfänger von Alters‑ oder Invaliditätsrenten, Renten wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit, die nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten Rente beziehen (sogenannte Doppelrentner bzw. Mehrfachrentner) und deren Rentenanspruch auf der Grundlage der Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsstaats beruht (innerstaatlicher Rentenanspruch), vom ehemaligen Beschäftigungsstaat nicht gewährt werden müssen, wenn im Wohnsitzstaat eine vergleichbare höhere Leistung zwar vorgesehen ist, aber mit einer anderen Leistung unvereinbar ist, für die sich der Betroffene aufgrund einer Wahlmöglichkeit entschieden hat?

    2.      Ist Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen, dass Familienbeihilfen für Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben und bei denen ein fiktiver Waisenrentenanspruch auf der Grundlage der Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsstaats beruht (potenzieller innerstaatlicher Rentenanspruch), vom ehemaligen Beschäftigungsstaat nicht gewährt werden müssen, wenn im Wohnsitzstaat eine vergleichbare höhere Leistung zwar vorgesehen ist, aber mit einer anderen Leistung unvereinbar ist, für die sich der Betroffene aufgrund einer Wahlmöglichkeit entschieden hat?

    3.      Gilt das auch für eine unter Art. 77 oder Art. 78 der Verordnung Nr. 1408/71 fallende Leistung, wenn sie zwar im Wohnsitzstaat der Kinder dem Grunde nach vorgesehen ist, aber keine Wahlmöglichkeit hinsichtlich dieser Leistung besteht?

     Zu den Vorlagefragen

     Zu den ersten beiden Fragen

    24      Mit seinen ersten beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen sind, dass Empfänger von Alters‑ und/oder Invaliditätsrenten oder Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, deren Rentenansprüche für sich oder ihre Waisen aber allein auf den Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats beruhen, von den zuständigen Behörden dieses Staates die nach dessen Rechtsvorschriften zugunsten behinderter Kinder vorgesehenen Familienbeihilfen beanspruchen können, obwohl sie im Wohnmitgliedstaat die nach dessen Rechtsvorschriften vorgesehenen vergleichbaren höheren Beihilfen nicht beantragt haben, weil sie sich für die Gewährung einer anderen Leistung für Behinderte entschieden haben, die mit diesen Beihilfen unvereinbar ist.

    25      Diese Fragen stellen sich im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, in denen sich – wie aus Randnr. 17 des vorliegenden Urteils hervorgeht – die in Rede stehenden Rentenempfänger sowie die betreffende Waise (im Folgenden: die Betroffenen) für die Gewährung einer von den zuständigen Stellen ihres Wohnmitgliedstaats zu zahlenden beitragsunabhängigen Leistung für Behinderte entschieden haben, deren Zahlung nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats den Erhalt von Leistungen zugunsten unterhaltsberechtigter Kinder, einschließlich behinderter Kinder, ausschließt.

    26      Unter diesen Umständen vertreten die zuständigen Stellen des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats die Auffassung, dass aus Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 hervorgehe, dass allein der Wohnmitgliedstaat verpflichtet sei, den Betroffenen die Familienbeihilfen zu gewähren, da im Sinne der vorgenannten Bestimmungen ein Anspruch auf diese Beihilfen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats „besteht“, weil die rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen für die betreffenden Beihilfen erfüllt seien, auch wenn die Betroffenen sich dafür entschieden hätten, sie nicht in Anspruch zu nehmen.

    27      Die spanische Regierung weist zwar darauf hin, dass die spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte, auf die in der Vorlageentscheidung Bezug genommen werde, nicht im Gesetz Nr. 13/1982, sondern im Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 vorgesehen sei; sie räumt jedoch ein, dass dieser Umstand die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nicht berühre, da unabhängig von der Natur der Leistung, für die sich die Betroffenen in Spanien entschieden hätten, jedenfalls alle diese Leistungen – wie sich aus Randnr. 16 des vorliegenden Urteils ergibt – mit dem spanischen Kindergeld, das das Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 zugunsten behinderter Kinder vorsehe, unvereinbar seien.

    28      Vorab ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob – wie das vorlegende Gericht annimmt – zumindest eine der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Sozialleistungen unter die Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. Andernfalls wären die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen nach der Auslegung dieser Vorschriften nämlich nicht entscheidungserheblich.

     Zu den von den Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 erfassten Leistungen

    29      Nach dem jeweiligen Abs. 1 der Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 sind die dort erfassten „Leistungen“ „Familienbeihilfen“ und, sofern es um Waisen geht, zusätzliche oder besondere Beihilfen für diese.

    30      Laut Art. 1 Buchst. u Ziff. ii dieser Verordnung bezeichnet der Begriff „Familienbeihilfen“ für die Anwendung der Verordnung regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden.

    31      Demzufolge fallen unter den Begriff „Familienbeihilfen“, deren Gewährung die genannten Art. 77 und 78 vorsehen, allein solche Leistungen, die mit dieser Definition übereinstimmen, unter Ausschluss jeder anderen Familienleistung für unterhaltsberechtigte Kinder (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 1988, Lenoir, 313/86, Slg. 1988, 5391, Randnrn. 10 und 11, vom 20. März 2001, Fahmi und Esmoris Cerdeiro-Pinedo Amado, C‑33/99, Slg. 2001, I‑2415, Randnrn. 33 bis 35, und vom 31. Mai 2001, Leclere und Deaconescu, C‑43/99, Slg. 2001, I‑4265, Randnrn. 41 und 42).

    32      Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die spanische beitragsunabhängige Leistung für Behinderte, für die sich die Betroffenen in ihrem Wohnmitgliedstaat entschieden haben – sei es die „beitragsunabhängige Invaliditätsrente“ nach dem Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 oder aber die „Sonderbeihilfe“ nach dem Gesetz Nr. 13/1982 –, in Anhang IIa der Verordnung Nr. 1408/71 erwähnt ist, der in seinem Abschnitt H die spanischen beitragsunabhängigen Sonderleistungen erwähnt, für die nach Art. 10a dieser Verordnung deren Titel III nicht gilt. Es wird nicht bestritten, dass die betreffende Leistung eine beitragsunabhängige Sonderleistung darstellt. Folglich fällt die genannte Leistung nicht unter den Begriff der „Familienbeihilfen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. ii dieser Verordnung und ist daher keine von deren Art. 77 und 78 erfasste „Leistung“.

    33      Ebenso wenig bestritten wird, dass das im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat der betreffenden Arbeitnehmer für behinderte Kinder vorgesehene deutsche Kindergeld, das die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 zu den von deren Art. 77 und 78 erfassten Leistungen zählt, zu den Familienbeihilfen im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. ii dieser Verordnung gehört.

    34      Hingegen macht die Europäische Kommission – ebenso wie sinngemäß auch Fernando Barrera Castro – geltend, dass das spanische Kindergeld, das Eltern behinderter Kinder nach dem Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 gezahlt werde, entgegen der vom vorlegenden Gericht in seinen Vorlagefragen vertretenen Ansicht nicht unter die Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 falle. Für dieses Kindergeld könne nämlich nicht angenommen werden, dass es ausschließlich nach der Zahl und gegebenenfalls dem Alter der Familienangehörigen gewährt werde, da zusätzliche bzw. andere Kriterien ebenfalls maßgeblich seien, nämlich die Behinderung und ihr Grad oder ihre Schwere. Für diese Wertung spreche, dass das betreffende Kindergeld mit der Leistung nach dem Gesetz Nr. 13/1982 unvereinbar sei. Denn eine solche Unvereinbarkeit nach innerstaatlichem Recht könne nur so erklärt werden, dass der spanische Gesetzgeber diese beiden Leistungen als ähnlich oder zumindest demselben Zweck dienend ansehe.

    35      Das Königreich Spanien hat jedoch in seiner Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich angegeben, dass das spanische Kindergeld sowie die Leistungen für Waisen nach dem Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 unter Art. 77 bzw. 78 dieser Verordnung fallende Leistungen seien.

    36      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann zwar aus dem Umstand allein, dass bestimmte aufgrund eines nationalen Gesetzes oder einer sonstigen nationalen Regelung gewährte Leistungen für unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern in der Erklärung nach Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht aufgeführt sind, nicht abgeleitet werden, dass diese Leistungen keine Leistungen im Sinne der Art. 77 und 78 der Verordnung sind; sind solche Leistungen aber in der betreffenden Erklärung aufgeführt, so sind sie als Leistungen im Sinne dieser Artikel anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 1991, Athanasopoulos u. a., C‑251/89, Slg. 1991, I‑2797, Randnr. 28).

    37      Demzufolge gehört das spanische Kindergeld, das nach dem Real Decreto Legislativo Nr. 1/1994 im Wohnmitgliedstaat der Betroffenen vorgesehen ist, ebenso wie das in deren ehemaligem Beschäftigungsmitgliedstaat vorgesehene deutsche Kindergeld zu den „Familienbeihilfen“ im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 und ist mithin eine unter die Art. 77 und 78 dieser Verordnung fallende Leistung.

    38      Unter diesen Umständen muss – entsprechend dem Ersuchen des vorlegenden Gerichts – geprüft werden, ob die zuständigen Stellen des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats den Betroffenen die Gewährung von Familienbeihilfen, auf die diese allein aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften des Beschäftigungsmitgliedstaats einen Anspruch haben, mit der Begründung verweigern dürfen, dass nach Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 ihr neuer Wohnmitgliedstaat nunmehr ausschließlich für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, weil die Betroffenen ihren ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat verlassen haben, um in ihren Herkunftsmitgliedstaat zurückzukehren.

     Zum für die Gewährung der Familienbeihilfen zuständigen Mitgliedstaat

    39      Aufgrund des jeweiligen Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 werden Familienbeihilfen, wenn für den Rentner oder den verstorbenen Arbeitnehmer die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, nach dem Recht des Staates gewährt, in dessen Gebiet der Rentner oder die Waise des verstorbenen Arbeitnehmers wohnt. Nach den genannten Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 ist somit der Wohnmitgliedstaat für die Gewährung der in Rede stehenden Familienbeihilfen allein zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 1997, Bastos Moriana u. a., C‑59/95, Slg. 1997, I‑1071, Randnrn. 15 und 18).

    40      Jedoch ist – ausweislich des Wortlauts der vorgenannten Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 – der Wohnmitgliedstaat nur dann der zuständige Staat nach der Verordnung Nr. 1408/71, wenn nach seinen Rechtsvorschriften ein Anspruch auf die Familienbeihilfen „besteht“.

    41      Die Prüfung der letztgenannten Voraussetzung, bei der es sich um eine Frage des innerstaatlichen Rechts handelt, fällt in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte (vgl. Urteil vom 24. September 2002, Martínez Domínguez u. a., C‑471/99, Slg. 2002, I‑7835, Randnr. 25).

    42      In der vorliegenden Rechtssache geht es dem vorlegenden Gericht jedoch gerade um die Auslegung des Begriffs des „Bestehens“ im Sinne von Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71. Es möchte nämlich wissen, ob der im Wohnmitgliedstaat vorgesehene Anspruch auf Familienbeihilfen als „bestehend“ im Sinne dieser Bestimmungen angesehen werden kann, wenn dieser Anspruch nur deshalb ausgeschlossen ist, weil sich die Betroffenen selbst für die Gewährung einer anderen, mit den betreffenden Familienbeihilfen unvereinbaren Leistung entschieden haben, indem sie insoweit eine nach innerstaatlichem Recht vorgesehene Wahlmöglichkeit wahrgenommen haben. Eine solche Frage nach der Auslegung des Unionsrechts fällt offensichtlich in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs.

    43      Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Familienbeihilfen nur dann als nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats „bestehend“ gelten können, wenn das Recht dieses Staates dem Familienangehörigen, der dort arbeitet oder gearbeitet hat, einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen verleiht, so dass die betreffenden Leistungen nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats geschuldet werden (vgl. entsprechend Urteile vom 20. April 1978, Ragazzoni, 134/77, Slg. 1978, 963, Randnr. 8, und vom 13. November 1984, Salzano, 191/83, Slg. 1984, 3741, Randnr. 7).

    44      Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert die Feststellung eines solchen Anspruchs, dass der Betroffene alle in den internen Rechtsvorschriften dieses Staates aufgestellten – formellen und materiellen – Anspruchsvoraussetzungen erfüllt, zu denen gegebenenfalls auch die Voraussetzung gehören kann, dass ein Antrag auf Gewährung dieser Leistungen gestellt worden sein muss (vgl. entsprechend Urteile Ragazzoni, Randnrn. 8 und 9, Salzano, Randnrn. 7 und 10, vom 23. April 1986, Ferraioli, 153/84, Slg. 1986, 1401, Randnr. 14, vom 4. Juli 1990, Kracht, C‑117/89, Slg. 1990, I‑2781, Randnr. 11, und vom 9. Dezember 1992, McMenamin, C‑119/91, Slg. 1992, I‑6393, Randnr. 26).

    45      Wenn die Betroffenen, wie in den Ausgangsverfahren, die von den nationalen Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats vorgesehenen Familienbeihilfen nicht verlangen können, weil sie sich für eine andere Leistung entschieden haben, deren Gewährung die Zahlung der Familienbeihilfen ausschließt, kann folglich – wie die spanische Regierung geltend macht und im Übrigen auch die deutsche Regierung einräumt – der Anspruch auf diese Familienbeihilfen nicht als „bestehend“ im Sinne von Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden. Denn die Betroffenen erfüllen nicht alle materiellen und formellen Voraussetzungen für die Gewährung dieser Beihilfen.

    46      Unter diesen Umständen ist die in den genannten Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellte Regel, wonach der Mitgliedstaat, in dem die Betroffenen wohnen, für die Gewährung von Familienbeihilfen an Rentenempfänger oder Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, ausschließlich zuständig ist, somit nicht anwendbar.

    47      Die deutsche Regierung vertritt allerdings die Auffassung, dass Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar sei, wenn – wie in den Ausgangsverfahren – der Anspruch auf Familienbeihilfen im Wohnmitgliedstaat nur deswegen nicht bestehe, weil die Betroffenen in diesem Staat ein Wahlrecht zugunsten einer anderen Leistung ausgeübt hätten. Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeute die Anwendung dieser Bestimmung, dass die zuständigen deutschen Stellen fingieren könnten, dass die Betroffenen sich für die Inanspruchnahme der spanischen Familienbeihilfen entschieden hätten, wodurch der Anspruch auf die von der deutschen Regelung vorgesehenen Familienbeihilfen ausgeschlossen werde. Für diese Analogie spreche einerseits die Vergleichbarkeit der Interessenlagen, da unterhaltsberechtigte Kinder von Rentnern ebenso behandelt werden sollten wie unterhaltsberechtigte Kinder aktiver Arbeitnehmer oder Selbständiger. Zum anderen sprächen auch Sinn und Zweck von Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 für eine solche Analogie. Diese Vorschrift solle nämlich nicht nur eine Kumulierung von Leistungen verhindern, sondern auch eine gerechte Verteilung der Lasten zwischen den Mitgliedstaaten gewährleisten. Die bewusste Nichtbeantragung von Familienbeihilfen solle daher nicht die Pflicht zu deren Gewährung vom insoweit vorrangigen auf den nur nachrangig zuständigen Mitgliedstaat verschieben.

    48      Dieser Argumentation kann jedoch nicht gefolgt werden.

    49      Zwar wurde Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 in der damals geltenden Fassung, auf die sich die in den Randnrn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils angeführten Urteile bezogen, nach der für jene Rechtssachen maßgebenden Zeit mit der Verordnung (EWG) Nr. 3427/89 des Rates vom 30. Oktober 1989 (ABl. L 331, S. 1) geändert und ein Abs. 2 aufgenommen, der es dem Beschäftigungsmitgliedstaat ermöglichen soll, den Anspruch auf Familienleistungen ruhen zu lassen, wenn im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt worden ist und dieser Mitgliedstaat folglich keine Zahlung geleistet hat.

    50      Dieser Umstand nimmt jedoch der angeführten Rechtsprechung zur Auslegung der Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ihre Bedeutung. Denn im Unterschied zu der früheren Fassung von Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71, der sich auf die Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen bezieht, wenn solche Leistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit in dem Mitgliedstaat, in dem die Familienangehörigen wohnen, und nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats geschuldet werden, sind die genannten Art. 77 und 78, die den Anspruch von Rentenempfängern und Waisen verstorbener Arbeitnehmer oder Selbständiger auf Familienbeihilfen betreffen, nicht durch die Verordnung Nr. 3427/89 ergänzt worden, mit der aber die damals geltende Fassung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 über die Gewährung von Familienleistungen in mehrfacher Hinsicht geändert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2010, Schwemmer, C‑16/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 57).

    51      Außerdem und vor allem sind die unionsrechtlichen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit insbesondere in Anbetracht der mit ihnen verfolgten Ziele – vorbehaltlich ausdrücklich vorgesehener, diesen Zielen entsprechender Ausnahmen – so anzuwenden, dass sie dem Wandererwerbstätigen oder seinen Angehörigen nicht Leistungen aberkennen, die allein nach dem Recht eines Mitgliedstaats allein aufgrund von nach diesem Recht zurückgelegten Versicherungszeiten gewährt werden (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. Juli 1967, Colditz, 9/67, Slg. 1967, 297, 314, vom 6. März 1979, Rossi, 100/78, Slg. 1979, 831, Randnr. 14, Schwemmer, Randnr. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 30. Juni 2011, da Silva Martins, C‑388/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 75).

    52      So hat der Gerichtshof in Bezug auf Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 bereits entschieden, dass diese Bestimmungen nicht so ausgelegt werden dürfen, dass dem Arbeitnehmer oder Selbständigen oder der Waise eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen die günstigeren Leistungen dadurch entzogen werden, dass im Mitgliedstaat der neuen Wohnung bestehende Leistungen an die Stelle der zuvor allein aufgrund der Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats erworbenen Leistungen treten (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 12. Juni 1980, Laterza, 733/79, Slg. 1980, 1915, Randnrn. 9 und 10, vom 9. Juli 1980, Gravina, 807/79, Slg. 1980, 2205, Randnr. 8, vom 24. November 1983, D’Amario, 320/82, Slg. 1983, 3811, Randnr. 5, vom 14. Dezember 1988, Ventura, 269/87, Slg. 1988, 6411, Randnr. 14, und Bastos Moriana u. a., Randnr. 16).

    53      In den Ausgangsverfahren steht fest, dass – wie bereits aus dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen hervorgeht – alle Betroffenen in Deutschland einen Rentenanspruch hatten, der allein auf der Grundlage der deutschen Rechtsvorschriften infolge der in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten erworben worden war.

    54      Unter diesen Umständen können die Art. 77 und 78 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht dahin ausgelegt werden, dass der ehemalige Beschäftigungsmitgliedstaat den Betroffenen die Gewährung von Familienbeihilfen, auf die allein nach seinen Rechtsvorschriften ein Anspruch besteht, mit der alleinigen Begründung verweigern darf, dass die Betroffenen in ihrem Wohnmitgliedstaat höhere Familienbeihilfen hätten beanspruchen können.

    55      Da in den Ausgangsverfahren feststeht, dass – wie aus den Randnrn. 39 bis 46 des vorliegenden Urteils hervorgeht – nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats ein Anspruch der Betroffenen auf die Familienbeihilfen nicht „besteht“, obliegt es den zuständigen Stellen des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats, in dem ein Anspruch auf derartige Familienbeihilfen allein nach dessen Rechtsvorschriften erworben wurde, diese Beihilfen in voller Höhe gemäß den Voraussetzungen und in den Grenzen zu zahlen, die diese Rechtsvorschriften festlegen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Mai 1998, Gómez Rodríguez, C‑113/96, Slg. 1998, I‑2461, Randnr. 32, und Martínez Domínguez u. a., Randnrn. 21 und 22).

    56      Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 dahin gehend auszulegen sind, dass Empfänger von Alters- und/oder Invaliditätsrenten oder Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, deren Rentenansprüche für sich oder ihre Waisen aber ausschließlich auf den Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats beruhen, von den zuständigen Behörden dieses Staates die nach dessen Rechtsvorschriften zugunsten behinderter Kinder vorgesehenen Familienbeihilfen in voller Höhe beanspruchen können, obwohl sie im Wohnmitgliedstaat die nach dessen Rechtsvorschriften vorgesehenen vergleichbaren höheren Beihilfen nicht beantragt haben, weil sie sich für die Gewährung einer anderen Leistung für Behinderte entschieden haben, die mit diesen Beihilfen unvereinbar ist, sofern der Anspruch auf die Familienbeihilfen im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat allein nach dessen Rechtsvorschriften erworben wurde.

     Zur dritten Frage

    57      In Anbetracht der Ausführungen in den Randnrn. 39 bis 46 des vorliegenden Urteils gilt die vom Gerichtshof in der vorstehenden Randnummer gegebene Antwort entsprechend für den Fall, dass es den Betroffenen aufgrund der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats nicht möglich ist, sich für die Zahlung der Familienbeihilfen in diesem Staat zu entscheiden, weil z. B. die betreffenden Kindern gegenüber ihren Eltern nicht mehr als unterhaltsberechtigt gelten.

    58      Denn auch in einem solchen Fall kann der Anspruch auf die Familienbeihilfen nicht als im Wohnmitgliedstaat „bestehend“ im Sinne von Art. 77 Abs. 2 Buchst. a und Art. 78 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden, da das vorlegende Gericht selbst feststellt, dass in diesem Fall die vom nationalen Recht vorgesehenen materiellen Voraussetzungen für die Gewährung dieser Beihilfen nicht erfüllt sind, so dass diese Leistungen nicht geschuldet werden.

    59      Auf die dritte Frage ist daher zu antworten, dass die Antwort auf diese Frage mit der Antwort auf die ersten beiden Fragen identisch ist, wenn es den Betroffenen aufgrund der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats nicht möglich ist, sich für die Zahlung der Familienbeihilfen in diesem Staat zu entscheiden.

     Kosten

    60      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

    1.      Art. 77 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i und Art. 78 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu‑ und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, wie sie durch die Verordnung (EG) Nr. 1992/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 geändert worden ist, sind dahin gehend auszulegen, dass Empfänger von Alters- und/oder Invaliditätsrenten oder Waisen eines verstorbenen Arbeitnehmers oder Selbständigen, für die die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten gegolten haben, deren Rentenansprüche für sich oder ihre Waisen aber ausschließlich auf den Rechtsvorschriften des ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaats beruhen, von den zuständigen Behörden dieses Staates die nach dessen Rechtsvorschriften zugunsten behinderter Kinder vorgesehenen Familienbeihilfen in voller Höhe beanspruchen können, obwohl sie im Wohnmitgliedstaat die nach dessen Rechtsvorschriften vorgesehenen vergleichbaren höheren Leistungen nicht beantragt haben, weil sie sich für die Gewährung einer anderen Leistung für Behinderte entschieden haben, die mit diesen Beihilfen unvereinbar ist, sofern der Anspruch auf die Familienbeihilfen im ehemaligen Beschäftigungsmitgliedstaat allein nach dessen Rechtsvorschriften erworben wurde.

    2.      Die Antwort auf die dritte Frage ist mit der Antwort auf die ersten beiden Fragen identisch, wenn es den Betroffenen aufgrund der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats nicht möglich ist, sich für die Zahlung der Familienbeihilfen in diesem Staat zu entscheiden.

    Unterschriften


    * Verfahrenssprache: Deutsch.

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