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Document 62010CC0589

Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 24. Mai 2012.
Janina Wencel gegen Zakład Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Sąd Apelacyjny - Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku - Polen.
Art. 45 AEUV - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Art. 10 - Leistungen bei Alter - Gewöhnlicher Aufenthaltsort in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten - Bezug einer Hinterbliebenenrente in dem einen und einer Altersrente in dem anderen Mitgliedstaat - Entzug einer dieser beiden Leistungen - Einziehung angeblich rechtsgrundlos empfangener Leistungen.
Rechtssache C-589/10.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:304

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 24. Mai 2012 ( 1 )

Rechtssache C-589/10

Janina Wencel

gegen

Zakład Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku

Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Polen)

„Soziale Sicherheit — Art. 7 und Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 — Altersrente, die in Polen vor dem Beitritt gewährt wurde — Anwendbarkeit des Unionsrechts — Anwendbarkeit eines vor dem Zeitpunkt der Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 geschlossenen Abkommens über soziale Sicherheit — Person, die zwei gewöhnliche Wohnorte in zwei Mitgliedstaaten hat und in einem Mitgliedstaat Altersrente und im anderen Witwenrente bezieht — Entzug einer der beiden Renten und Anordnung der Erstattung zu Unrecht bezogener Leistungen — Möglichkeit, für die Zwecke der Verordnung Nr. 1408/71 zwei Wohnorte zu haben“

I – Einleitung

1.

Das vorlegende Gericht stellt drei Fragen im Rahmen eines Prozesses, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung aus dem Jahr 2009 geht, mit der die polnischen Behörden Frau Janina Wencel eine ihr im Jahr 1990 gewährte Altersrente entzogen und sie zur Erstattung der in den letzten drei Jahren bezogenen Leistungen aufforderten. Angesichts verschiedener Umstände und unter Anwendung einer internationalen Vereinbarung, die 1975 zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland geschlossen worden war, war es der Ansicht, dass die deutsche soziale Sicherheit für diese Rente allein zuständig sei.

2.

Der Sąd Apelacyjny fragt nach der Rechtmäßigkeit dieser Verwaltungsentscheidung (und der polnischen Bestimmungen, auf die sie gestützt wurde) im Licht des Unionsrechts, insbesondere der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 2 ), deren Anwendbarkeit im vorliegenden Fall fraglich ist.

3.

Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, einige wichtige Klarstellungen zu seiner Rechtsprechung zur sozialen Sicherheit sowie zur Lösung der rechtlichen Probleme, die sich häufig aus dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Europäischen Union und der Anwendung von Übergangsbestimmungen auf diese Staaten ergeben, vorzunehmen.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Die Verordnung Nr. 1408/71

4.

In Art. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 wird für die Anwendung dieser Verordnung der Begriff „Wohnort“ als „Ort des gewöhnlichen Aufenthalts“ definiert.

5.

Zwar ersetzt nach der allgemeinen Regel die Verordnung Nr. 1408/71 die internationalen Abkommen über soziale Sicherheit nach Maßgabe von Artikel 6, doch sieht Art. 7 für bestimmte Fälle Ausnahmen von dieser Regel vor, wenn er bestimmt, dass u. a. „einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist, soweit diese Bestimmungen in Anhang III aufgeführt sind“, anwendbar bleiben (Art. 7 Abs. 2 Buchst. c).

6.

In Anhang III Teil A Nr. 19 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 wird das „Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens vom 8. Dezember 1990 über soziale Sicherheit festgelegten Bedingungen“ ( 3 ) genannt.

7.

Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt: „Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erhoben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

B – Die polnische Regelung

8.

In Polen sind die Altersrenten und andere Renten der sozialen Sicherheit im Ustawa z dnia 17.12.1998 r. o emeryturach i rentach z Funduszu Ubezpieczeń Społecznych (Gesetz vom 17. Dezember 1998 über die Renten aus dem Sozialversicherungsfonds) geregelt ( 4 ).

9.

Nach Art. 114 Abs. 1 des Rentengesetzes unterliegt der Leistungsanspruch auf Antrag des Betroffenen oder von Amts wegen der erneuten Feststellung, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Entscheidung über die Leistungen neue Beweise vorgelegt werden oder bereits vor dem Erlass der Entscheidung bestehende Umstände zutage treten, die sich auf den Anspruch auf die Leistungen bzw. auf deren Höhe auswirken.

10.

Nach Art. 138 Abs. 1 und 2 des Rentengesetzes ist eine Person, die rechtsgrundlos Leistungen empfangen hat, zu deren Erstattung verpflichtet. Als rechtsgrundlos empfangene Leistungen gelten Leistungen, die gezahlt werden, obwohl Umstände vorliegen, die zur Folge haben, dass der Leistungsanspruch vollständig oder teilweise erlischt oder ausgesetzt wird oder die Zahlung der Leistungen vollständig oder teilweise eingestellt wird, sofern der Leistungsempfänger über das Fehlen eines Anspruchs auf Empfang der Leistungen unterrichtet wurde.

C – Das Abkommen vom 9. Oktober 1975

11.

Im vorliegenden Fall ist auch Art. 4 Abs. 1 des bereits zitierten deutsch-polnischen Abkommens vom 9. Oktober 1975 einschlägig, der Folgendes bestimmt: „Renten der Rentenversicherung werden vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt.“ Art. 4 Abs. 3 sieht vor: „Renten … stehen nur für die Zeit zu, in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat …“

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12.

Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist der Anspruch von Frau Janina Wencel auf Altersrente, einer 1930 geborenen polnischen Staatsangehörigen, die seit 1975 gleichzeitig mit Wohnsitz in Deutschland und Polen gemeldet war. Der letztgenannte Umstand bezüglich des Wohnorts der Betroffenen soll zuerst dargestellt werden.

13.

Frau Wencel war einerseits mit ständigem Aufenthalt in Polen gemeldet, wo sie vom 1. April 1984 bis 31. Oktober 1990 bei ihrer Schwiegertochter in Polen in der Stadt Białystok als Betreuerin ihrer eigenen Enkel beschäftigt war. Aufgrund dieser beruflichen Tätigkeit in Polen erhielt Frau Wencel durch Entscheidung des polnischen Zakład Ubezpieczeń Społecznych (im Folgenden: ZUS) vom 24. Oktober 1990 mit Wirkung ab 1. Juli 1990 aufgrund der in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten Anspruch auf die hier streitige Altersrente.

14.

Andererseits hatte Frau Wencel 1975 bei den deutschen Behörden eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt, und es ergibt sich aus der Akte, dass sie von 1975 bis 2010 in Frankfurt am Main gemeldet war. Der Ehemann von Frau Wencel war 1975 nach Frankfurt gezogen, wo er einer abhängigen Beschäftigung nachging und bis zu seinem Tod im Jahr 2008 seinen Wohnsitz hatte. 1984 gewährten ihm die deutschen Behörden eine Berufsunfähigkeitsrente. Seit dem 1. August 2008 bezieht Frau Wencel eine vom deutschen Versicherungsträger gezahlte Witwenrente. In ihrem Antrag auf Witwenrente hatte sie eine Wohnanschrift in Frankfurt angegeben.

15.

Die Beteiligten haben erklärt, Frau Wencel lebe derzeit in Polen.

16.

Als der ZUS im Jahr 2009 erfuhr, dass Frau Wencel auch in Deutschland gemeldet war, verlangte er von ihr die Abgabe einer schriftlichen Erklärung über ihren tatsächlichen Wohnort. In einer schriftlichen Erklärung vom 24. November 2009 gab Frau Wencel an, dass sie seit dem 25. August 1975 ihren ständigen Aufenthalt in Deutschland habe, alle Urlaube, Ferien und Feiertage jedoch in Polen verbracht habe.

17.

Der ZUS erließ angesichts dieser Erklärung zwei Entscheidungen. Mit der vom 26. November 2009 datierenden ersten Entscheidung hob er seine Entscheidung vom 24. Oktober 1990 auf, mit der Frau Wencel ein Anspruch auf Altersrente zuerkannt worden war, und stellte die Zahlung dieser Rente zum 1. Dezember 2009 ein. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass die Betreffende, obwohl sie in ihrem Rentenantrag von 1990 eine Wohnanschrift in Polen angegeben habe, ihren Lebensmittelpunkt und ständigen Wohnort ab 1975 in Deutschland gehabt habe. Aus diesem Grund sei für die Entscheidung über den Rentenantrag von Frau Wencel nicht die polnische Renteneinrichtung zuständig gewesen, sondern gemäß Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 der deutsche Versicherungsträger. Infolgedessen stellte der ZUS fest, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Altersrente im Rahmen des polnischen Versicherungssystems habe.

18.

Mit der vom 23. Dezember 2009 datierenden zweiten Entscheidung, die die Folge der ersten Entscheidung war, verpflichtete der ZUS Frau Wencel zur Erstattung der rechtsgrundlos bezogenen Altersrente für die letzten drei Jahre, d. h. für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis 30. November 2009, zuzüglich der entsprechenden Zinsen.

19.

Frau Wencel erhob gegen beide Entscheidungen Klage beim Sąd Okręgowy – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Bezirksgericht – Arbeits- und Sozialgericht Białystok) und machte geltend, der ZUS habe die Unionsbestimmungen über die Freizügigkeit und den freien Aufenthalt in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union verletzt und die Bestimmungen über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit falsch ausgelegt. Sie habe seit 1975 sowohl in Polen als auch in Deutschland gewohnt und ihr könne deshalb nicht jetzt der Anspruch auf Altersrente entzogen werden. Die Klagen gegen die beiden Entscheidungen wurden mit Urteil vom 15. September 2010 abgewiesen. Der Sąd Okręgowy stellte fest, dass die Klägerin sowohl in Polen als auch in Deutschland mit ständigem Aufenthalt gemeldet gewesen sei, tatsächlich aber die meiste Zeit in Deutschland verbracht und den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen daher dort gehabt habe.

20.

Frau Wencel legte gegen das erstinstanzliche Urteil beim Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Berufungsgericht – Arbeits- und Sozialgericht Białystok) Berufung ein. Da dieses der Ansicht ist, dass Zweifel hinsichtlich der Auslegung der seiner Meinung nach im vorliegenden Fall einschlägigen Bestimmungen des Unionrechts bestehen, hat es das Ausgangsverfahren ausgesetzt und folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, aufgrund des in den Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV niedergelegten Grundsatzes der Freizügigkeit und des freien Aufenthalts in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union dahin auszulegen, dass Geldleistungen bei Alter, auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats Anspruch erhoben worden ist, auch nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, weil die berechtigte Person gleichzeitig im Gebiet zweier Mitgliedstaaten gewohnt hat (zwei gleichrangige gewöhnliche Aufenthaltsorte hatte), darunter ein anderer Staat als derjenige, in dessen Gebiet der zur Zahlung der Altersrente verpflichtete Träger seinen Sitz hat?

2.

Sind die Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, die nationale Bestimmung des Art. 114 Abs. 1 der Ustawa z dnia 17.12.1998 r. o emeryturach i rentach z Funduszu Ubezpieczeń Społecznych (Gesetz vom 17. Dezember 1998 über die Renten aus dem Sozialversicherungsfonds) (Dz. U. 2009, Nr. 153, Position 1227 mit Änderungen) in Verbindung mit Art. 4 des Abkommens vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (Dz. U. 1976, Nr. 16, Position 101 mit Änderungen) so anzuwenden, dass die polnische Rentenanstalt die Sache erneut entscheidet und einer Person, die viele Jahre lang gleichzeitig zwei gewöhnliche Wohnorte (zwei Lebensmittelpunkte) in zwei gegenwärtig der Europäischen Union angehörenden Staaten hatte und vor 2009 weder einen Antrag auf Verlegung ihres Wohnorts in einen dieser Staaten gestellt noch eine entsprechende Erklärung abgegeben hat, den Anspruch auf Altersrente entzieht?

Im Fall der Verneinung:

3.

Sind Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, die nationale Bestimmung des Art. 138 Abs. 1 und 2 der Ustawa z dnia 17.12.1998 r. o emeryturach i rentach z Funduszu Ubezpieczeń Społecznych so anzuwenden, dass die polnische Rentenanstalt von einer Person, die von 1975 bis 2009 gleichzeitig zwei gewöhnliche Wohnorte (zwei Lebensmittelpunkte) in zwei gegenwärtig der Europäischen Union angehörenden Staaten hatte, die Erstattung der Altersrente für die letzten drei Jahre verlangt, wenn diese Person während der Entscheidung über den Antrag auf Gewährung der Rente und nach deren Erhalt vom polnischen Versicherungsträger nicht über die Notwendigkeit belehrt wurde, auch den Umstand mitzuteilen, dass sie zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei Staaten hatte, und einen Antrag auf Wahl des Versicherungsträgers eines dieser Staaten als für die Entscheidung über Anträge betreffend die Altersrente zuständig zu stellen oder eine entsprechende Erklärung abzugeben?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

21.

Das Vorabentscheidungsersuchen wurde am 14. Dezember 2010 in das Register der Kanzlei des Gerichtshofs eingetragen.

22.

Der ZUS, die polnische und die deutsche Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

23.

In der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2012 sind die Vertreter des ZUS, der Republik Polen, der Bundesrepublik Deutschland und der Kommission erschienen, um mündliche Ausführungen zu machen.

V – Würdigung

24.

Das vorlegende Gericht hat im vorliegenden Fall drei Fragen gestellt, die zusammenfassend das Problem betreffen, ob eine Person, die seit 1975 gleichzeitig in zwei Staaten ihren Aufenthalt hatte und der 1990 in einem dieser Staaten eine Altersrente zuerkannt wurde, sich auf das Recht der Union stützen kann, um die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung in Frage zu stellen, mit der ihr 19 Jahre später diese Rente entzogen und sie zur Erstattung der in den letzten drei Jahren erhaltenen Beträge verpflichtet wird.

25.

Angesichts ihrer Formulierung scheinen die drei Fragen von einer Reihe von Prämissen auszugehen, deren Richtigkeit in einigen Fällen einer Erörterung bedarf, die zu ihrer Umformulierung und zu einigen ergänzenden Erwägungen führt, um die zwar im Vorlagebeschluss nicht ausdrücklich ersucht wird, die aber meiner Meinung nach zu einer für die Entscheidung im Ausgangsverfahren nützlichen und umfassenden Antwort beitragen.

A – Erste Vorlagefrage

1. Zur Möglichkeit, für die Zwecke der sozialen Sicherheit über zwei Wohnorte zu verfügen

26.

Die erste Frage geht bereits vom Bestehen zweier gleichzeitiger Wohnorte von Frau Wencel in Polen und Deutschland aus. Das vorlegende Gericht scheint diesem Umstand eine gewisse rechtliche Relevanz beizumessen. Es fragt insbesondere, ob der Empfänger einer Altersrente, der zwei Wohnorte in zwei Mitgliedstaaten hatte, „darunter ein anderer Staat als derjenige, in dessen Gebiet der zur Zahlung der Altersrente verpflichtete Träger seinen Sitz hat“, den Schutz des Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit den Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV in Anspruch nehmen kann.

27.

Es sollte bereits vorab klargestellt werden, dass die Erklärung von zwei Wohnorten in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten für die Zwecke der sozialen Sicherheit angesichts der Systematik der Verordnung Nr. 1408/71 nicht möglich ist und auch im Licht des Vertrags nicht verlangt werden kann.

28.

Ein großer Teil der Regeln zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der Verordnung Nr. 1408/71 stellen auf den Wohnort der berechtigten Person als „Anknüpfungspunkt“ für die Feststellung der anwendbaren Rechtsvorschriften oder der zuständigen Einrichtung ab. So richtet sich beispielsweise das im Bereich der sozialen Sicherheit anwendbare Recht nach dem Wohnort, wenn eine Person im Gebiet von mehreren Mitgliedstaaten tätig ist (Art. 14 Abs. 2 Buchst. b und 14a Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71) oder in Fällen, in denen „eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats … auf sie anwendbar würden“ (Art. 13 Abs. 2 Buchst. f). Ebenso dient das Kriterium des Wohnorts der Bestimmung der für die Gewährung beispielsweise von beitragsunabhängigen Geldleistungen zuständigen Einrichtung (Art. 10a Abs. 1).

29.

Diese und viele andere Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 würden unanwendbar und der Grundsatz der Einheitlichkeit der anwendbaren Rechtsvorschriften, der gemeinsam mit dem Gleichheitsgrundsatz und dem Grundsatz der Wahrung wohlerworbener Rechte eines der Grundprinzipien darstellt, nach denen sich diese Regelung in der Union richtet, verletzt, wenn einer Situation, in der zwei Wohnorte bestehen, Rechtswirkungen zuerkannt würden ( 5 ).

30.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bilden die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen, das bezweckt, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Union zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden ( 6 ). Die Bestimmung eines einzigen Wohnorts für die Zwecke der sozialen Sicherheit ermöglicht es u. a., das durch die Verordnung Nr. 1408/71 verbotene Zusammentreffen von Leistungen zu verhindern (Art. 12).

31.

Eine Situation wie die von Frau Wencel, in der eine Person mehrere Lebensmittelpunkte in mehr als einem Mitgliedstaat hat, die gleich wichtig sind, ist alles andere als außergewöhnlich. Da er sich dieses Umstands bewusst war, hat der Unionsgesetzgeber die Elemente aufgezählt, die bei der Bestimmung des Wohnorts einer Person zu berücksichtigen sind, und klargestellt, dass, wenn selbst nach einer umfassenden Beurteilung dieser Elemente Diskrepanzen zwischen den betroffenen Einrichtungen fortbestehen, der Wille der Person maßgebend ist ( 7 ). Folglich ist für die Zwecke der sozialen Sicherheit die Bestimmung eines einzigen Wohnorts, sei es aufgrund einer Auswahl oder, falls nicht vorhanden, einer Wahl, unerlässlich.

32.

Darüber hinaus bin ich der Auffassung, dass eine Bestimmung, die eine Verpflichtung zur Bezeichnung eines einzigen Wohnorts für die Zwecke der sozialen Sicherheit begründet und mit der verhindert wird, dass dem Umstand zweier de facto bestehender Wohnorte Rechtswirkungen zukommen, nicht ohne Weiteres und nur aufgrund dessen gegen die Art. 20 und 21 AEUV, auf die sich das vorlegende Gericht beruft, verstößt. Im vorliegenden Fall bedarf, wie weiter unten aufgezeigt wird, der Entzug der polnischen Rente Frau Wencel nicht daran hindern, sich an die deutschen Behörden zu wenden, um eine entsprechende Leistung zu erhalten. Die Verpflichtung, einen einzigen Wohnstaat anzugeben, führt daher grundsätzlich nicht zu einem Nachteil für die Betroffene, die darüber hinaus in Deutschland die Zusammenrechnung mit den polnischen Versicherungszeiten beantragen kann.

33.

Daher bin ich der Ansicht, dass die erste Vorlagefrage ohne Weiteres dahin beantwortet werden kann, dass die Verordnung Nr. 1408/71 der Möglichkeit entgegensteht, für die Zwecke der sozialen Sicherheit zwei Wohnorte anzugeben, und dass dies nicht gegen die Art. 20 Abs. 2 und 21 AEUV verstößt.

2. Zur Anwendbarkeit des Unionsrechts und insbesondere von Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 auf den vorliegenden Fall

34.

Um dem vorlegenden Gericht eine möglichst nützliche Antwort für seine Entscheidung im Ausgangsverfahren zu geben, ist die vorstehende Schlussfolgerung um die Klarstellung zu vervollständigen, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71, auf den es in seiner Frage Bezug nimmt, auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Denn das Recht der Union ist, wie nachstehend gezeigt wird, für den vorliegenden Fall kaum von Relevanz, da er sich im Wesentlichen nach einem internationalen Abkommen richtet (a) und darüber hinaus der Sachverhalt des vorliegenden Falls nicht unter den Tatbestand des Art. 10 subsumiert werden kann (b).

a) Die Anwendbarkeit des deutsch-polnischen Abkommens von 1975

35.

1990, als der ZUS Frau Wencel eine Altersrente zuerkannte, war das Unionsrecht und insbesondere die Verordnung Nr. 1408/71 in Polen offenkundig nicht anwendbar. Es war jedoch das deutsch-polnische Abkommen vom 9. Oktober 1975 in Kraft, das Leistungen wegen Alters und Arbeitsunfällen regelte.

36.

Das Abkommen von 1975 hatte den Charakter eines Rentenabkommens „zur Integration“, mit dem der Zweck verfolgt wurde, die Probleme, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen aufgrund der territorialen Verschiebungen und der Bevölkerungsbewegungen infolge des Ersten und des Zweiten Weltkriegs entstanden waren, zu lösen ( 8 ). Nach Art. 4 des Abkommens werden „Renten der Rentenversicherung … vom Versicherungsträger des Staates, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt, nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt“, und der Rentenanspruch geht verloren, wenn die betreffende Person ihren Wohnsitz im Gebiet des Staats, dessen Träger der sozialen Sicherheit die Rente berechnet hat, aufgibt.

37.

Wie die deutsche Regierung ausgeführt hat, war ein Abkommen auf der Grundlage des Grundsatzes des Rentenexports und des Schutzes im Herkunftsstaat wohlerworbener Rechte im damaligen politischen Kontext (1975) genauso wenig durchführbar, wie es sich um eine typische Arbeitsmigration handelte. In diesem besonderen Kontext habe zusammenfassend jeder Unterzeichnerstaat die Zahlung der Renten der in seinem Gebiet Ansässigen übernommen, sich aber verpflichtet, bei der Berechnung der Rente die in dem anderen Staat zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen ( 9 ).

38.

Zu dem Zeitpunkt, zu dem Frau Wencel ihren Rentenantrag stellte, stellte sich der Fall als rein intern dar: Der ZUS gewährte – und zahlte im Folgenden – eine Rente nach Maßgabe der polnischen Bestimmungen an eine Person, die in Polen gearbeitet und Beiträge entrichtet und zu keinem Zeitpunkt erklärt hatte, das sie einen Wohnort außerhalb Polens habe. Es kann davon ausgegangen werden, dass die polnischen Behörden, wenn sie 1990 festgestellt hätten, dass Frau Wencel nach Maßgabe der Kriterien des innerstaatlichen Rechts ihren Wohnsitz in Deutschland und nicht in Polen gehabt hatte, ihren Rentenanspruch abgelehnt hätten, da nach Maßgabe des deutsch-polnischen Abkommens von 1975 die Gewährung der Rente in die Zuständigkeit der deutschen Träger der sozialen Sicherheit fiel: Die Rente hätte vom deutschen Träger gezahlt werden und ihre Berechnung nach den damals geltenden deutschen Gesetzen erfolgen müssen, wenn auch unter Berücksichtigung der in Polen zurückgelegten Versicherungszeiten.

39.

Es ist daher vollkommen legitim, davon auszugehen, dass Frau Wencel, wenn sie 1990 ihren Wohnsitz in Deutschland hatte, ihre Altersrente bei den deutschen Behörden hätte beantragen können und bei ihrer Berechnung die Jahre, in denen sie in Polen Beiträge gezahlt hatte, berücksichtigt worden wären ( 10 ). Der bei den polnischen Behörden gestellte Antrag konnte hingegen keine Stütze im Abkommen von 1975 finden.

40.

Dieses Kriterium leitete offenbar die im Ausgangsverfahren streitigen Entscheidungen, mit denen Frau Wencel die Rente entzogen und sie verpflichtet wurde, die Beträge für die letzten drei Jahre zu erstatten. Diese Entscheidungen richteten sich ebenfalls nach dem Abkommen von 1975, obwohl sie nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union erlassen wurden.

41.

Die Verordnung Nr. 1408/71 war zwar in Polen seit seinem Beitritt zur Union im Jahr 2004 anwendbar und ersetzte die mit anderen Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommen über soziale Sicherheit (Art. 6 der Verordnung), doch Art. 7 der Verordnung sieht einige Ausnahmen von dieser Regel vor, von denen eine im vorliegenden Fall einschlägig ist.

42.

Gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 sind ungeachtet des Art. 6 „einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist, soweit diese Bestimmungen in Anhang III aufgeführt sind“, weiterhin allgemein anwendbar.

43.

Art. 7 Abs. 2 Buchst. c regelt mithin die ausnahmsweise Anwendung derjenigen Bestimmungen von Abkommen über die soziale Sicherheit, die in Anhang III der Verordnung aufgeführt sind, für die Berechtigten günstiger sind oder sich zumindest aus besonderen historischen Umständen ergeben und deren Geltung zeitlich begrenzt ist.

44.

Meiner Ansicht nach ist das deutsch-polnische Abkommen von 1975, da es ausdrücklich mit allgemeinem Charakter in Teil A Nr. 19 Buchst. a des zitierten Anhangs III aufgeführt ist ( 11 ), sich seine Annahme aus den zuvor dargestellten historischen Umständen ergibt und seine zeitliche Geltung aufgrund des bereits zitierten Abkommens von 1990 begrenzt ist, gegenüber der Verordnung Nr. 1408/71 vorrangig und daher unbedingt auf die Altersrente anzuwenden, mit der wir befasst sind, ohne dass geprüft werden muss, ob die Bestimmung, die angewendet werden soll, für die Berechtigte günstiger ist als die, die sich aus dem Unionsrecht ergibt.

45.

Gewiss steht die Rechtsprechung grundsätzlich einer gleichzeitigen Anwendung derartiger Abkommen und der Gemeinschaftsregelung nicht entgegen, soweit dies möglich ist. So wurde im Urteil Torrekens ( 12 ) klargestellt, dass die sogenannte Verordnung Nr. 3 (die Vorgängerin der Verordnung Nr. 1408/71) anwendbar bleibt, „soweit diese Abkommen dem nicht entgegenstehen“ (Randnr. 21).

46.

Im Urteil TNT Express Nederland BV ( 13 ) wurde wiederum im Hinblick auf die Verordnung Nr. 44/2001 ( 14 ) festgestellt, dass eine Unionsbestimmung, die der Anwendung eines Abkommens Vorrang einräumt, „in [ihrer] Tragweite nicht mit den Grundsätzen kollidieren [darf], die der Regelung, zu der dieser Artikel gehört, zugrunde liegen“, noch „zu weniger günstigen Ergebnissen im Hinblick auf das Ziel des reibungslosen Funktionierens des Binnenmarkts führen [darf] als die Bestimmungen der genannten Verordnung“ (Randnr. 51).

47.

Derselbe Gedanke liegt einer Rechtsprechung zugrunde, nach der trotz des imperativen Charakters der allgemeinen Regel der Ersetzung der Abkommen über die soziale Sicherheit durch die Verordnung Nr. 1408/71 und des strikten Ausnahmecharakters der in Art. 7 und insbesondere in Anhang III geregelten Aufhebungstatbestände die Vertragsfreiheiten dahin auszulegen sind, „dass betroffene Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit nicht deshalb verlieren dürfen, weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 unanwendbar geworden sind“ ( 15 ).

48.

Ich bin jedoch der Auffassung, dass die Verkehrsfreiheiten in der vorliegenden Rechtssache in jedem Fall geschützt sind. Wenn der ZUS im Jahr 2009 feststellt, dass der zur Zahlung der Rente verpflichtete Träger einem anderen Mitgliedstaat angehört, fügt er Frau Wencel einfach deswegen keinen „Verlust“ von Vergünstigungen der sozialen Sicherheit oder von wohlerworbenen Rechten zu, weil ein Anspruch auf eine polnische Rente nie bestanden hat. Er hat sie auch nicht grundsätzlich in eine weniger günstige Lage versetzt, die ihre Freizügigkeit in der Union hätte beeinträchtigen können, denn der Entzug der polnischen Rente nahm der Berechtigten nicht das Recht, sie in Deutschland zu beantragen.

49.

Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung aus dem Jahr 1990 richtete sich folglich nach dem Abkommen von 1975. Das Recht der Union ist für die Feststellung, ob die Entscheidung des ZUS aus dem Jahr 1990 über die Gewährung einer polnischen Rente wirksam war und sie im Jahr 2009 aufgehoben werden konnte, nicht einschlägig. Nur wenn nachgewiesen werden kann, dass Frau Wenzel 1990 ihren gewöhnlichen Wohnort für die Zwecke der sozialen Sicherheit in Polen hatte, könnte die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des ZUS angezweifelt werden, allerdings auf der Grundlage des Abkommens von 1975 und den Regeln zur Bestimmung des Wohnorts in diesem Abkommen und im polnischen Recht.

b) Der Sachverhalt des vorliegenden Falls fällt nicht unter Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71

50.

Auf der anderen Seite fällt, wie bereits ausgeführt wurde, der Sachverhalt des vorliegenden Falls nicht unter Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71, der auf Sachverhalte Anwendung findet, die sich eindeutig von dem unterscheiden, der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt.

51.

Nach seinem Wortlaut schützt Art. 10 vor Nachteilen, die sich im Hinblick auf die Renten daraus ergeben können, dass „der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat“. Nach den vorstehenden Ausführungen kommt eine solche Trennung zwischen dem Sitz des zur Zahlung verpflichteten Trägers und dem Wohnort des Berechtigten im Fall von Frau Wencel jedoch nicht in Betracht. Im Abkommen von 1975 bestimmte der Wohnort den Staat, der die Rente zu zahlen hatte. Folglich wohnte Frau Wencel entweder in Deutschland und der zur Zahlung verpflichtete Träger wäre der deutsche Träger gewesen, oder sie wohnte in Polen und die Rente wäre in die Zuständigkeit der polnischen Behörden gefallen. Da, wie bereits dargestellt wurde, für einen „Doppelwohnsitz“ im Kontext der Verordnung Nr. 1408/71 kein Raum ist ( 16 ), kann der streitige Sachverhalt auch unter keinen Umständen unter den Tatbestand des Art. 10 subsumiert werden.

52.

Es handelt sich letztendlich um unterschiedliche Sachverhalte, so dass im vorliegenden Fall der Schutz durch Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht in Betracht kommt.

53.

Darüber hinaus, und um dem Sąd Apelacyjny eine nützliche Antwort zu geben, ist hinzuzufügen, dass Art. 10 in der neuen Situation, in der sich Frau Wenzel offenbar befindet, seit sie nach dem Tod ihres Ehemanns ihren Wohnsitz wieder dauerhaft in Polen genommen hat, einschlägig sein könnte.

54.

Gewiss würde ein solcher Wohnortwechsel (dessen Feststellung Sache des nationalen Gerichts ist) nichts an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des ZUS aus dem Jahr 1990 ändern, die, wie bereits ausgeführt wurde, in jedem Fall im Licht des Abkommens von 1975 zu prüfen ist. Hierzu ist anzumerken, dass die Verordnung nach ihrem Art. 94 keinen Anspruch für einen Zeitraum vor ihrer Anwendung im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats begründet. Diese Vorschrift steht im Einklang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, der keine rückwirkende Anwendung einer Verordnung zulässt, unabhängig davon, ob sich eine solche Anwendung für den Betroffenen günstig oder ungünstig auswirkt ( 17 ). Folglich wäre, selbst wenn der Wohnsitz 2009 nach Polen verlegt worden wäre, der zur Zahlung der Rente von Frau Wencel verpflichtete Träger weiterhin nach Maßgabe des Abkommens von 1975 die deutsche Sozialversicherung. Dieser Umstand hat keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung oder eines Rechts, die bzw. das unter der alleinigen Geltung des zitierten Abkommens erlassen bzw. begründet wurde.

55.

Es stellt jedoch einen allgemein anerkannten Grundsatz dar, dass die neue Regelung zwar nur für die Zukunft gilt, sie aber – soweit nichts Abweichendes bestimmt ist – auch auf die künftigen Wirkungen von unter dem alten Recht entstandenen Sachverhalten anwendbar ist ( 18 ). Somit kann das Unionsrecht auf den materiellen Bezug der deutschen Rente in der Gegenwart gewisse Auswirkungen haben.

56.

Wie bereits ausgeführt wurde, bestimmt Art. 4 Abs. 3 des Abkommens von 1975, dass die Renten „nur für die Zeit [zustehen], in der die betreffende Person im Gebiet des Staates wohnt, dessen Versicherungsträger die Rente festgestellt hat“. Nach ihrem Beitritt zur Union müssen die Mitgliedstaaten jedoch gewährleisten, dass die Anwendung dieser Bestimmung im Einklang mit dem Unionsrecht erfolgt. Folglich würden diese Rentenansprüche, wenn die Berechtigte nach Polen gezogen wäre, nachdem dieser Staat der Union beigetreten war, nach Maßgabe der Verordnung Nr. 1408/71 „exportiert“. Nach dem Abkommen, das zu dem Zeitpunkt anwendbar war, in dem der Anspruch entstanden ist, ist der deutsche Träger weiterhin zur Zahlung verpflichtet, aber Frau Wencel könnte ihre Altersrente in Polen beantragen und dabei gegebenenfalls auch den „Export“ ihrer deutschen Witwenrente geltend machen.

57.

Darüber hinaus darf die Rückkehr nach Polen keine Nachteile für die Berechtigte mit sich bringen. Diese Situation fällt bereits vollständig in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 und insbesondere ihres Art. 10, denn Frau Wencel wohnt im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats (Polen) als des Staates, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat (Deutschland). Diese Situation darf nach der zitierten Vorschrift nicht dazu führen, dass die Leistungen gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden. Die Wirkung dieser Vorschrift beschränkt sich offenkundig auf Renten, die nach der Rückkehr von Frau Wencel nach Polen fällig werden, nicht aber auf Entscheidungen, die Renten betreffen, die zu einem früheren Zeitpunkt fällig geworden sind. In ihrem Fall wäre es daher wichtig, den Zeitpunkt festzustellen, zu dem diese Rückkehr erfolgte, um die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des ZUS aus dem Jahr 2009 prüfen zu können, mit der die Berechtigte zur Erstattung der Leistungen für die letzten drei Jahre verpflichtet wurde.

3. Schlussfolgerung zur ersten Vorlagefrage

58.

Folglich ist bei der Antwort auf die erste Vorlagefrage zunächst festzustellen, dass für die Erklärung von zwei Wohnorten für die Zwecke der sozialen Sicherheit im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 kein Raum ist und dass der Ausschluss einer solchen Möglichkeit nicht gegen Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV verstößt. Zweitens ist zu präzisieren, dass das Unionsrecht (insbesondere die Verordnung Nr. 1408/71) bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über die Gewährung einer polnischen Rente im Jahr 1990 nicht einschlägig ist und dass sich gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 die Rentenansprüche eines polnischen Staatsangehörigen, der in Polen gearbeitet und dort Beiträge entrichtet hat, seinen Wohnsitz aber vor 1990 nach Deutschland verlegt hat, weiterhin nach dem deutsch-polnischen Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung richten. Auf einen solchen Sachverhalt ist darüber hinaus Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht anwendbar.

59.

Wenn der Rentenberechtigte nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union sich dort wieder niedergelassen hat, kann diese Rückkehr gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht dazu führen, dass die Rentenansprüche gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden.

B – Zweite und dritte Vorlagefrage

60.

Mit seiner zweiten und dritten Vorlagefrage, die gemeinsam geprüft werden sollen, fragt das polnische Gericht den Gerichtshof, ob die Art. 21 und 20 Abs. 2 AEUV sowie Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 Entscheidungen wie denen, die der ZUS im Jahr 2009 erlassen hat, entgegenstehen, mit denen einer Person, die „gleichzeitig zwei gewöhnliche Wohnorte (zwei Lebensmittelpunkte) in zwei gegenwärtig der Europäischen Union angehörenden Staaten hatte“ und die „vor 2009 weder einen Antrag auf Verlegung ihres Wohnorts in einen dieser Staaten gestellt noch eine entsprechende Erklärung abgegeben hat“, der Rentenanspruch entzogen und von ihr die Erstattung der Beträge für die letzten drei Jahre verlangt wird, wenn sie während der Entscheidung über den Antrag auf Gewährung der Rente und nach deren Erhalt „nicht über die Notwendigkeit belehrt wurde, auch den Umstand mitzuteilen, dass sie zwei gewöhnliche Aufenthaltsorte in zwei Staaten hatte, und einen Antrag auf Wahl des Versicherungsträgers eines dieser Staaten als für die Entscheidung über Anträge betreffend die Altersrente zuständig zu stellen oder eine entsprechende Erklärung abzugeben“.

61.

Beide Fragen gehen wie bereits die erste Frage davon aus, dass dem Umstand, dass zwei Wohnorte in zwei Mitgliedstaaten bestehen, Rechtswirkungen zukommen. Nachdem diese Prämisse ausgeschlossen werden konnte, sind die beiden letzten Fragen ebenfalls, so wie sie formuliert sind, nicht sachgemäß.

62.

Um jedoch dem vorlegenden Gericht auch insoweit eine nützliche Antwort geben zu können, halte ich es erforderlich, im Rahmen seiner Bezugnahme auf das Handeln des ZUS und der Berechtigten selbst im Verfahren über die Antragstellung, die Gewährung und den Bezug der Rente eine Präzisierung vorzunehmen.

63.

Nach den Feststellungen im Vorlagebeschluss hat Frau Wencel eine Erklärung über den Wechsel ihres Wohnorts unterlassen, und der ZUS hat sie wiederum nicht darüber informiert, dass eine solche Erklärung erforderlich ist. Der Sąd Apelacyjny scheint nahelegen zu wollen, dass diese Umstände möglicherweise für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen des ZUS im Jahr 2009 im Licht des Unionsrechts relevant sein könnten ( 19 ).

64.

Unbeschadet der vorstehenden Ausführungen zur Anwendbarkeit des Abkommens von 1975 auf den vorliegenden Fall ist die Verordnung Nr. 1408/71 als Parameter für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des ZUS aus dem Jahr 2009 anzuwenden, soweit es ihre formalen und verfahrensrechtlichen Gesichtspunkte betrifft.

65.

So ist Art. 84a der Verordnung, der die Beziehungen zwischen Trägern und Personen in ihrem Geltungsbereich regelt, bei der Beurteilung einschlägig, ob der ZUS beim Erlass seiner Entscheidung im Jahr 2009 die Leitlinien, die diese Bestimmung, die zum Bezugszeitpunkt in vollem Umfang galt, im Rahmen seiner Beziehungen mit Frau Wenzel vorgab, beachtet hat.

66.

Soweit Art. 84a rein formale Aspekte der Beziehungen zwischen der Sozialversicherung eines Mitgliedstaats und den unter die Verordnung fallenden Personen regelt und die Entscheidung aus dem Jahr 2009 in der Sache nicht betrifft, bestehen keine Einwände hinsichtlich seiner Anwendbarkeit im vorliegenden Fall ( 20 ). Insbesondere kann nicht eingewendet werden, dass die Verordnung Nr. 1408/71 nicht die Regelung der Erstattung rechtsgrundlos empfangener Leistungen zum Gegenstand habe, denn die konkrete Regelung dieses Verfahrens ist Sache der Mitgliedstaaten. Diese Regelung muss aber in jedem Fall das Unionsrecht beachten.

67.

Zusammenfassend sieht Art. 84a eine Verpflichtung zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit zwischen den Trägern und den unter die Verordnung fallenden Personen vor, die sich für Erstgenannte in der Verpflichtung konkretisiert, „den betroffenen Personen … alle erforderlichen Angaben [zu übermitteln], damit diese die ihnen durch diese Verordnung eingeräumten Rechte ausüben können“, und für Letztgenannte in der Verpflichtung, „die Träger des zuständigen Staates sowie des Wohnstaats so bald wie möglich über jede Änderung ihrer persönlichen und familiären Situation [zu] unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser Verordnung auswirkt“.

68.

Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob der ZUS und Frau Wencel diese Verpflichtungen zur Zusammenarbeit, Information und guter Verwaltung erfüllt haben und ob eine mögliche Verletzung dieser Pflichten zur Aufhebung der Entscheidung aus dem Jahr 2009 führen kann.

69.

Im Hinblick auf das Verhalten von Frau Wencel ist auch zu berücksichtigen, dass nach Art. 84a Abs. 2 die Verletzung der Informationspflicht gegenüber den jeweiligen nationalen Trägern Maßnahmen nach nationalem Recht nach sich ziehen kann. Die Vorschrift stellt allerdings klar, dass diese Maßnahmen „verhältnismäßig“ sein müssen, so dass das nationale Gericht prüfen muss, ob der Entzug der Rente und die Geltendmachung der Erstattung der rechtsgrundlos empfangenen Beträge eine gegenüber einer möglichen Verletzung der Informationspflicht durch Frau Wencel „verhältnismäßige“ Maßnahme darstellt.

70.

Zusammenfassend sind die zweite und die dritte Frage dahin zu beantworten, dass bei jeder Entscheidung der polnischen Träger der sozialen Sicherheit, die nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union ergangen ist, die formalen Verpflichtungen aus Art. 84a der Verordnung Nr. 1408/71 beachtet werden müssen, selbst wenn es sich um Entscheidungen über Rentenansprüche handelt, die sich nicht nach dem Unionsrecht richten. Die Feststellung, ob diese Verpflichtungen im vorliegenden Fall verletzt wurden und welche rechtmäßigen und verhältnismäßigen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist Sache des nationalen Gerichts.

VI – Ergebnis

71.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Fragen des Sąd Apelacyjny – Sąd Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Białymstoku (Polen) wie folgt zu beantworten:

1.

Für die Erklärung von zwei Wohnorten für die Zwecke der sozialen Sicherheit im Rahmen der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist kein Raum. Der Ausschluss einer solchen Möglichkeit verstößt nicht gegen Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 AEUV.

Das Unionsrecht (insbesondere die Verordnung Nr. 1408/71) ist bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über die Gewährung einer polnischen Rente im Jahr 1990 nicht einschlägig. Gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 1408/71 richten sich die Rentenansprüche eines polnischen Staatsangehörigen, der in Polen gearbeitet und dort Beiträge entrichtet hat, seinen Wohnsitz aber vor 1990 nach Deutschland verlegt hat, weiterhin nach dem deutsch-polnischen Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung.

Auf einen solchen Sachverhalt ist darüber hinaus Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht anwendbar. Wenn der Rentenberechtigte nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union sich dort wieder niedergelassen hat, kann diese Rückkehr gemäß Art. 10 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht dazu führen, dass die Rentenansprüche gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden.

2.

Bei jeder Entscheidung der polnischen Träger der sozialen Sicherheit, die nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union ergangen ist, müssen die formalen Verpflichtungen aus Art. 84a der Verordnung Nr. 1408/71 beachtet werden, selbst wenn es sich um Entscheidungen über Rentenansprüche handelt, die sich nicht nach dem Unionsrecht richten. Die Feststellung, ob diese Verpflichtungen im vorliegenden Fall verletzt wurden und welche rechtmäßigen und verhältnismäßigen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist Sache des nationalen Gerichts.


( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

( 2 ) Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71), mehrfach geändert.

( 3 ) Dz. U. 1976, Nr. 16, Position 101, im Folgenden: Abkommen von 1975.

( 4 ) Konsolidierte Fassung: Nr. 153, Position 1227. Dz. U. 2009, Nr. 153, Position 1227, im Folgenden: Rentengesetz.

( 5 ) Die neue Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) geht von denselben Grundsätzen aus.

( 6 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 10. Juli 1986, Luitjen (60/85, Slg. 1986, 2365).

( 7 ) Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 284, S. 1).

( 8 ) In demselben Kontext und unter demselben Grundsatz der „Integration“ wurde in Deutschland das Fremdrentengesetz vom 28. September 1958 verabschiedet. Vgl. hierzu das Urteil vom 18. Dezember 2007, Habelt u. a. (verbundene Rechtssachen C-396/05, C-419/05 und C-450/05, Slg. 2007, I-11895, Randnrn. 101 bis 104).

( 9 ) 1990 vereinbarten beide Staaten, nachdem sich dieser Kontext gerändert hatte, ein neues Abkommen, das aber auf den vorliegenden Fall keine Anwendung findet, denn gemäß Art. 27 Abs. 2 des neuen Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 findet das Abkommen von 1975 weiterhin auf Personen Anwendung, die ihren Wohnort vor 1990 geändert haben.

( 10 ) Es ist aber festzuhalten, dass es nach den Angaben in der mündlichen Verhandlung wahrscheinlich ist, dass Frau Wencel in einem solchen Fall weitere fünf Jahre keinen Anspruch auf eine Altersrente gehabt hätte, denn das deutsche Rentenrecht, das unbeschadet der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten auf den Fall anzuwenden gewesen wäre, sah ein höheres Renteneintrittsalter vor als das polnische (65 Jahre statt 60 Jahre).

( 11 ) Es ist zu berücksichtigen, dass Nr. 19 des Anhangs III auf das Abkommen von 1975 insgesamt Bezug nimmt, im Gegensatz zu anderen Nummern, bei denen nur bestimmte konkrete Bestimmungen anderer Abkommen genannt werden.

( 12 ) Urteil vom 7. Mai 1969 (28/68, Slg. 1969, 125).

( 13 ) Urteil vom 4. Mai 2010 (C-533/08, Slg. 2010, I-4107).

( 14 ) Verordnung des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. L 12, S. 1).

( 15 ) Urteil Habelt u.a., Randnrn. 118 f. Siehe auch die Urteile vom 7. Februar 1991, Rönfeldt (C-227/89, Slg. 1991, I-323), und vom 5. Februar 2002, Kaske (C-277/99, Slg. 2002, I-1261). Nach der Rechtsprechung kann dieser Grundsatz nicht für Arbeitnehmer gelten, die ihr Recht auf Freizügigkeit erst nach dem Inkrafttreten der Verordnung ausgeübt haben (Urteil vom 9. November 1995, Thévenon, C-475/93, Slg. 1995, I-3813).

( 16 ) Sehr wahrscheinlich folgt das im vorliegenden Fall anwendbare Abkommen von 1975 an diesem Punkt derselben Logik wie die Verordnung Nr. 1408/71. Auch wenn die Gefahr besteht, dass ich mich auf ein Terrain begebe, das außerhalb der Zuständigkeit des Gerichtshofs liegt, meine ich angesichts der Beschreibung des Abkommens durch die Beteiligten mit gewisser Sicherheit behaupten zu können, dass die Rechtslage bei zwei Wohnorten im Kontext und unter den Voraussetzungen des Abkommens noch schwieriger ist – wenn dies überhaupt möglich ist – als im Kontext der Unionsregelung, da der Wohnort offenbar das einzige Kriterium bzw. den einzigen Anknüpfungspunkt darstellt, das bzw. der in diesem rechtlichen Kontext einschlägig ist.

( 17 ) Urteil vom 18. April 2002, Duchon (C-290/00, Slg. 2002, I-3567, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 18 ) Urteil Duchon, Randnr. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung.

( 19 ) In der mündlichen Verhandlung wurde auch auf die Folgen eingegangen, die ein kürzlich ergangenes Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 28. Februar 2012 (Rechtssache K 5/11) auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des ZUS aus dem Jahr 2009 haben könnte, da sie auf der Grundlage von Art. 114 Abs. 1 des polnischen Rentengesetzes ergangen war. In dem zitierten Urteil wurde eine andere Bestimmung dieses Gesetzes, nämlich Art 114 Abs. 1a, für verfassungswidrig erklärt, nach dem eine erneute Prüfung erforderlich ist, wenn festgestellt wird, dass die vorlegten Nachweise keine hinreichende Grundlage für die Festsetzung des in Rede stehenden Anspruchs oder die Höhe der Leistungen darstellen. Obwohl in dem Urteil nicht kategorisch ausgeschlossen wird, dass die Feststellung der Verfassungswidrigkeit von Abs. 1a Auswirkungen auf Abs. 1 haben kann (und insbesondere die enge Verbindung zwischen beiden betrifft), handelt es sich hierbei jedenfalls um eine Frage, die außerhalb der Zuständigkeit des Gerichtshofs liegt.

( 20 ) Nichts spricht dagegen, dass der Gerichtshof hierzu Stellung nimmt, denn nach ständiger Rechtsprechung kann er auf unionsrechtliche Vorschriften eingehen, die in den Vorlagefragen nicht angeführt sind. Vgl. statt aller Urteil vom 8. Dezember 2011, Bilbao Vizcaya Argentaria (C-157/10, Slg. 2011, I-13023, Randnr. 19).

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