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Document 62009CJ0327

Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 14. April 2011.
Mensch und Natur AG gegen Freistaat Bayern.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof - Deutschland.
Art. 249 Abs. 4 EG - Handlungen der Organe - An einen Einzelnen gerichtete Entscheidung der Kommission - Verordnung (EG) Nr. 258/97 - Neuartiges Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutat - Entscheidung 2000/196/EG - ‚Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ - Verweigerung der Genehmigung für das Inverkehrbringen - Wirkung gegenüber Dritten.
Rechtssache C-327/09.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-02897

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:249

Rechtssache C‑327/09

Mensch und Natur AG

gegen

Freistaat Bayern

(Vorabentscheidungsersuchen des

Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs)

„Art. 249 Abs. 4 EG – Handlungen der Organe – An einen Einzelnen gerichtete Entscheidung der Kommission – Verordnung (EG) Nr. 258/97 – Neuartiges Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutat – Entscheidung 2000/196/EG – ‚Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ – Verweigerung der Genehmigung für das Inverkehrbringen – Wirkung gegenüber Dritten“

Leitsätze des Urteils

Rechtsangleichung – Neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten – Inverkehrbringen – Verordnung Nr. 258/97 – Entscheidung der Kommission, mit der die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat in der Union verweigert wird – Kein verbindlicher Charakter für andere Personen als diejenigen, an die die fragliche Entscheidung gerichtet ist – Vermarktung eines Erzeugnisses mit ähnlichen Eigenschaften wie das Erzeugnis, auf das sich die Entscheidung über die Verweigerung der Genehmigung für das Inverkehrbringen bezieht, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – Pflichten der zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats

(Verordnung Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 1 Abs. 2 und 7)

Eine auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 258/97 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten erlassene Entscheidung der Kommission, mit der die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat in der Union verweigert wird, ist gegenüber anderen Personen als der oder denjenigen, an die sie gerichtet ist, nicht verbindlich. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats müssen jedoch überprüfen, ob ein im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vermarktetes Erzeugnis, dessen Eigenschaften denjenigen des Erzeugnisses zu entsprechen scheinen, das Gegenstand dieser Entscheidung der Kommission war, ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat im Sinne des Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung darstellt, und gegebenenfalls der betreffenden Person aufgeben, dass sie die Vorschriften dieser Verordnung befolgt.

(vgl. Randnr. 36 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

14. April 2011(*)

„Art. 249 Abs. 4 EG – Handlungen der Organe – An einen Einzelnen gerichtete Entscheidung der Kommission – Verordnung (EG) Nr. 258/97 – Neuartiges Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutat – Entscheidung 2000/196/EG – ‚Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ – Verweigerung der Genehmigung für das Inverkehrbringen – Wirkung gegenüber Dritten“

In der Rechtssache C‑327/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 1. Juli 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 14. August 2009, in dem Verfahren

Mensch und Natur AG

gegen

Freistaat Bayern

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, J. Malenovský und T. von Danwitz,

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. September 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Mensch und Natur AG, vertreten durch Rechtsanwalt H. Schmidt,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch E. Leftheriotou und A. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

–        der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, A. Engman und S. Johannesson als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Pignataro-Nolin und T. Scharf als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 249 Abs. 4 EG der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl. L 43, S. 1) sowie der Entscheidung 2000/196/EG der Kommission vom 22. Februar 2000 über die Verweigerung der Zulassung von „Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter“ als neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten gemäß der Verordnung Nr. 258/97 (ABl. L 61, S. 14).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Mensch und Natur AG (im Folgenden: Mensch und Natur) und dem Freistaat Bayern über das Verbot des Inverkehrbringens bestimmter von dieser Gesellschaft vermarkteter Produkte in Deutschland, das damit begründet wird, dass in der Zusammensetzung dieser Produkte Stevia rebaudiana Bertoni (im Folgenden: Stevia) enthalten sei.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Die Verordnung Nr. 258/97

3        Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Verordnung Nr. 258/97 lauten:

„(1)      Die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten können den freien Verkehr mit Lebensmitteln behindern. Sie können zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen führen und dadurch das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes unmittelbar beeinträchtigen.

(2)      Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ist dafür Sorge zu tragen, dass neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten einer einheitlichen Sicherheitsprüfung in einem Gemeinschaftsverfahren unterliegen, bevor sie in der Gemeinschaft in den Verkehr gebracht werden. …“

4        Art. 1 der genannten Verordnung sieht vor:

„(1)      In dieser Verordnung ist das Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel und neuartiger Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft geregelt.

(2)      Diese Verordnung findet Anwendung auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft, die in dieser bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die unter nachstehende Gruppen von Erzeugnissen fallen:

e)      Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die aus Pflanzen bestehen oder aus Pflanzen isoliert worden sind, und aus Tieren isolierte Lebensmittelzutaten, außer Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die mit herkömmlichen Vermehrungs- oder Zuchtmethoden gewonnen wurden und die erfahrungsgemäß als unbedenkliche Lebensmittel gelten können;

(3)      Gegebenenfalls kann nach dem Verfahren des Artikels 13 festgelegt werden, ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat unter Absatz 2 dieses Artikels fällt.“

5        Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die unter diese Verordnung fallen, dürfen

–        keine Gefahr für den Verbraucher darstellen;

–        keine Irreführung des Verbrauchers bewirken;

–        sich von Lebensmitteln oder Lebensmittelzutaten, die sie ersetzen sollen, nicht so unterscheiden, dass ihr normaler Verzehr Ernährungsmängel für den Verbraucher mit sich brächte.

(2)      Im Hinblick auf das Inverkehrbringen der unter diese Verordnung fallenden Lebensmittel und Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft finden die Verfahren der Artikel 4, 6, 7 und 8 anhand der in Absatz 1 dieses Artikels festgelegten Kriterien und der in diesen Artikeln erwähnten sonstigen relevanten Faktoren Anwendung.

…“

6        Art. 4 der Verordnung Nr. 258/97 bestimmt:

„(1)      Die Person, die für das Inverkehrbringen des Erzeugnisses in der Gemeinschaft verantwortlich ist (im Folgenden ‚der Antragsteller‘ genannt), unterbreitet dem Mitgliedstaat, in dem das Erzeugnis erstmals in den Verkehr gebracht werden soll, einen Antrag. Gleichzeitig übermittelt sie der Kommission eine Antragskopie.

(2)      Die Erstprüfung gemäß Artikel 6 wird durchgeführt.

Nach Abschluss des Verfahrens des Artikels 6 Absatz 4 unterrichtet der in Absatz 1 bezeichnete Mitgliedstaat unverzüglich den Antragsteller darüber, dass

–        er das Lebensmittel oder die Lebensmittelzutat in den Verkehr bringen darf, wenn die ergänzende Prüfung nach Artikel 6 Absatz 3 nicht erforderlich und kein begründeter Einwand gemäß Artikel 6 Absatz 4 erhoben worden ist, oder

–        eine Entscheidung über die Genehmigung gemäß Artikel 7 erforderlich ist.

(3)      Jeder Mitgliedstaat teilt der Kommission den Namen und die Anschrift der zuständigen Lebensmittelprüfstellen in seinem Hoheitsgebiet mit, die für die Ausarbeitung der Berichte über die Erstprüfung gemäß Artikel 6 Absatz 2 verantwortlich sind.

(4)      Vor Inkrafttreten dieser Verordnung veröffentlicht die Kommission Empfehlungen zu den wissenschaftlichen Aspekten der

–        zur Antragstellung erforderlichen Informationen sowie ihrer Aufmachung,

–        Erstellung der Berichte über die Erstprüfung gemäß Artikel 6.

…“

7        Art. 6 der genannten Verordnung sieht vor:

„(1)      Der Antrag gemäß Artikel 4 Absatz 1 enthält die erforderlichen Angaben, einschließlich einer Kopie der durchgeführten Studien, und alle sonstigen Elemente, anhand deren nachgewiesen werden kann, dass das Lebensmittel oder die Lebensmittelzutat den Kriterien gemäß Artikel 3 Absatz 1 entspricht, sowie einen angemessenen Vorschlag für die Aufmachung und Etikettierung des Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat entsprechend den Anforderungen des Artikels 8. Ferner ist dem Antrag eine Zusammenfassung des Antragsdossiers beizufügen.

(2)      Nach Eingang des Antrags sorgt der in Artikel 4 Absatz 1 bezeichnete Mitgliedstaat dafür, dass eine Erstprüfung durchgeführt wird. Dazu teilt er entweder der Kommission den Namen der mit der Ausarbeitung des Berichts über die Erstprüfung beauftragten zuständigen Lebensmittelprüfstelle mit oder ersucht die Kommission, in Absprache mit einem anderen Mitgliedstaat eine der in Artikel 4 Absatz 3 genannten Prüfstellen mit der Ausarbeitung eines solchen Berichts zu beauftragen.

Die Kommission leitet an die Mitgliedstaaten unverzüglich eine Kopie der vom Antragsteller vorgelegten Zusammenfassung weiter und gibt ihnen den Namen der mit der Erstprüfung beauftragten zuständigen Lebensmittelprüfstelle bekannt.

(3)      Innerhalb von drei Monaten nach Eingang des in Übereinstimmung mit den Bedingungen des Absatzes 1 erstellten Antrags wird im Einklang mit den Empfehlungen gemäß Artikel 4 Absatz 4 ein Bericht über die Erstprüfung erstellt, aus dem hervorgeht, ob das Lebensmittel oder die Lebensmittelzutat einer ergänzenden Prüfung nach Artikel 7 zu unterziehen ist.

(4)      Der betreffende Mitgliedstaat übermittelt den Bericht der zuständigen Lebensmittelprüfstelle unverzüglich der Kommission, die ihn an die übrigen Mitgliedstaaten weiterleitet. Ein Mitgliedstaat oder die Kommission kann innerhalb von 60 Tagen nach Vorlage des Berichts durch die Kommission Bemerkungen übermitteln oder einen begründeten Einwand gegen das Inverkehrbringen des Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat erheben. Die Bemerkungen oder Einwände können auch die Aufmachung oder Etikettierung des Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat betreffen.

Die Bemerkungen oder Einwände sind an die Kommission zu richten, die sie innerhalb der vorgenannten Frist von 60 Tagen an die Mitgliedstaaten weiterleitet.

Auf Verlangen eines Mitgliedstaats übermittelt der Antragsteller eine Kopie der mit dem Antrag vorgelegten zweckdienlichen Informationen.“

8        Art. 7 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Ist gemäß Artikel 6 Absatz 3 eine ergänzende Prüfung erforderlich oder wird gemäß Artikel 6 Absatz 4 ein Einwand erhoben, so wird eine Entscheidung über die Genehmigung nach dem Verfahren des Artikels 13 getroffen.

(2)      Bei dieser Entscheidung wird der Geltungsbereich der Genehmigung und gegebenenfalls Folgendes vorgeschrieben:

–        die Bedingungen für die Verwendung des Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat;

–        die Bezeichnung des Lebensmittels oder der Lebensmittelzutat sowie seine/ihre genauen Merkmale;

–        die spezifischen Etikettierungsanforderungen gemäß Artikel 8.

(3)      Die Kommission unterrichtet den Antragsteller unverzüglich über die getroffene Entscheidung. Die Entscheidungen werden im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht.“

9        Art. 13 der Verordnung Nr. 258/97 lautet:

„(1)      Bei der Anwendung des in diesem Artikel festgelegten Verfahrens wird die Kommission von dem Ständigen Lebensmittelausschuss, nachstehend ‚Ausschuss‘ genannt, unterstützt.

(2)      Der Vorsitzende des Ausschusses befasst diesen von sich aus oder auf Antrag des Vertreters eines Mitgliedstaats.

(3)      Der Vertreter der Kommission unterbreitet dem Ausschuss einen Entwurf der zu treffenden Maßnahmen. Der Ausschuss gibt seine Stellungnahme zu diesem Entwurf innerhalb einer Frist ab, die der Vorsitzende unter Berücksichtigung der Dringlichkeit der betreffenden Frage festsetzen kann. Die Stellungnahme wird mit der Mehrheit abgegeben, die in Artikel [205 Absatz 2 EG] für die Annahme der vom Rat auf Vorschlag der Kommission zu fassenden Beschlüsse vorgesehen ist. Bei der Abstimmung im Ausschuss werden die Stimmen der Vertreter der Mitgliedstaaten gemäß dem vorgenannten Artikel gewogen. Der Vorsitzende nimmt an der Abstimmung nicht teil.

(4) a) Die Kommission erlässt die beabsichtigten Maßnahmen, wenn sie mit der Stellungnahme des Ausschusses übereinstimmen.

…“

10      Gemäß Art. 15 der Verordnung Nr. 258/97 ist diese 90 Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften in Kraft getreten.

 Die Entscheidung 2000/196

11      Der dritte Bezugsvermerk der Entscheidung 2000/196 nennt „den Antrag auf Zulassung von ‚[Stevia]: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ als neuartige Lebensmittel oder neuartige Lebensmittelzutaten, den Professor J. Geuns des pflanzenphysiologischen Labors der KUL am 5. November 1997 bei der zuständigen belgischen Behörde gestellt hat“.

12      Die Erwägungsgründe dieser Entscheidung lauten wie folgt:

„(1)      Der erste Bewertungsbericht der zuständigen belgischen Behörden kam zu dem Schluss, dass auf der Grundlage der vorliegenden Informationen eine Zulassung des Erzeugnisses nicht erteilt werden sollte.

(2)      Als Reaktion auf den ersten Bewertungsbericht ließ der Antragsteller der Kommission weitere Unterlagen zukommen; die Kommission brachte diese Informationen den Mitgliedstaaten und dem Wissenschaftlichen Lebensmittelausschuss zur Kenntnis.

(3)      Gemäß Artikel 7 der Verordnung wurde eine ergänzende Prüfung vorgenommen. Der Wissenschaftliche Lebensmittelausschuss gab am 17. Juni 1999 seine Stellungnahme ab, in der er den ersten Bewertungsbericht im Wesentlichen bestätigte.

(4)      ‚Stevia rebaudiana Bertoni: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ sind neuartige Lebensmittel im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 258/97. Es wurde nicht nachgewiesen, dass das Erzeugnis den Kriterien gemäß Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung entspricht; es darf daher in der Gemeinschaft nicht in Verkehr gebracht werden.

(5)      Die in dieser Entscheidung vorgesehenen Maßnahmen stehen im Einklang mit der Stellungnahme des Ständigen Lebensmittelausschusses.“

13      Die Art. 1 und 2 der Entscheidung 2000/196 bestimmen Folgendes:

„Artikel 1

‚[Stevia]: Pflanzen und getrocknete Blätter‘ sind als [anders als die allein verbindliche niederländische Fassung enthält die deutsche Fassung hier das Adjektiv ‚neuartige‘] Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Gemeinschaft nicht zugelassen.

Artikel 2

Diese Entscheidung ist an Professor J. Geuns, KUL – Pflanzenphysiologisches Labor, Kardinal Mercierlaan 92, 3001 Heverlee, Belgien, gerichtet.“

 Nationales Recht

14      Nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 des Bayerischen Lebensmittelüberwachungsgesetzes (LÜG) vom 11. November 1997 können die Lebensmittelbehörden zur Erfüllung ihrer Aufgaben für den Einzelfall Anordnungen treffen, um Verstöße gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften zu verhüten oder zu unterbinden.

15      Art. 3 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten sieht vor, dass Lebensmittel und Lebensmittelzutaten im Sinne des Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 von demjenigen, der für das Inverkehrbringen verantwortlich ist, nicht ohne eine nach den in Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 genannten Verfahren erteilte Genehmigung in den Verkehr gebracht werden dürfen.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16      Mensch und Natur stellt verschiedene Teesorten her und vertreibt diese. In einigen von ihnen werden Bestandteile von Stevia-Blättern als Süßungsmittel verwendet.

17      Die Kommission hat mit ihrer Entscheidung 2000/196 entschieden, dass Stevia als Lebensmittel oder Lebensmittelzutat in der Union nicht zugelassen ist. Diese Entscheidung erging auf einen Antrag von Prof. Geuns hin, an den die Entscheidung gerichtet ist.

18      Mit einem an Mensch und Natur gerichteten Bescheid vom 8. April 2003 untersagte das Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen das Inverkehrbringen mehrerer Teesorten und drohte für den Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld an.

19      In diesem Bescheid stellte das Landratsamt fest, dass der Antrag auf Zulassung von Stevia als neuartiges Lebensmittel mit der Entscheidung 2000/196 abgelehnt worden sei; diese Entscheidung verpflichte alle Mitgliedstaaten dazu, das Inverkehrbringen von Stevia zu untersagen. Mensch und Natur habe nicht dargelegt, dass die fraglichen Teesorten bereits vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 258/97 am 15. Mai 1997 in der Europäischen Union in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr in den Verkehr gebracht worden seien.

20      Mensch und Natur erhob gegen die Entscheidung des Landratsamts Bad Tölz-Wolfratshausen vom 8. April 2003 Klage beim Verwaltungsgericht München und trug vor, dass die Stevia enthaltenden Erzeugnisse seit Anfang der 90er Jahre von ihren Rechtsvorgängern entwickelt und schon vor dem 15. Mai 1997 im Wege des Versandhandels und über Naturkostgeschäfte in sehr großen Mengen in der Union in den Verkehr gebracht worden seien. Im Übrigen habe die Entscheidung 2000/196 ihr gegenüber keinerlei Bindungswirkung.

21      Das Verwaltungsgericht München gab dieser Klage mit Urteil vom 13. Mai 2004 statt.

22      Der Freistaat Bayern legte gegen dieses Urteil Berufung beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein.

23      Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hält für die Entscheidung des Rechtsstreits die Auslegung des Unionsrechts für nötig und hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Schließt es Art. 249 Abs. 4 EG aus, eine nach ihrem Wortlaut nur an einen bestimmten Betroffenen gerichtete Entscheidung der Kommission so zu verstehen, dass sie auch gegenüber anderen Unternehmen verbindlich ist, die nach Sinn und Zweck der Entscheidung in gleicher Weise zu behandeln sind?

2.      Ist die Entscheidung 2000/196, nach deren Art. 1 Stevia als neuartiges Lebensmittel oder Lebensmittelzutat in der Gemeinschaft nicht zugelassen ist, auch gegenüber Mensch und Natur verbindlich, die Stevia derzeit in der Gemeinschaft in Verkehr bringt?

 Zu den Vorlagefragen

24      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um Erläuterung der Rechtswirkungen einer auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 258/97 erlassenen Entscheidung der Kommission, mit der die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses als Lebensmittel oder Lebensmittelzutat in der Union verweigert wird.

25      Gemäß Art. 249 Abs. 4 EG ist „die Entscheidung … in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet“. Diese Bestimmung ist zu Art. 288 Abs. 4 AEUV geworden, wonach „Beschlüsse … in allen ihren Teilen verbindlich [sind]. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.“

26      Auch die Art des in der Verordnung Nr. 258/97 vorgesehenen Verfahrens schließt hinsichtlich der Adressaten einer nach diesem Rechtsakt erlassenen Entscheidung eine weite Auslegung aus.

27      Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass diese Verordnung nur auf neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten im Sinne ihres Art. 1 Abs. 2 anwendbar ist. Um solche handelt es sich, wenn diese Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten in der Union vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden.

28      Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 258/97 sieht lediglich die Möglichkeit vor, „gegebenenfalls“ im Wege des sogenannten „Komitologieverfahrens“ nach Art. 13 der Verordnung festzulegen, ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat unter die Verordnung fällt (vgl. Urteil vom 15. Januar 2009, M‑K Europa, C‑383/07, Slg. 2009, I‑115, Randnr. 40). Es obliegt jedoch nicht dem Unternehmer, das Verfahren nach Art. 13 zu betreiben (Urteil M‑K Europa, Randnr. 43).

29      Zum anderen beruht eine Entscheidung der Kommission über die Verweigerung der Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses, wie sich u. a. aus den Art. 4 Abs. 1 und 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 258/97 ergibt, im Wesentlichen auf dem Antrag einer Person auf Genehmigung des Inverkehrbringens des betreffenden Erzeugnisses und den von dieser Person vorgelegten Angaben.

30      Aus dem Wortlaut der Entscheidung 2000/196 geht nicht mit Sicherheit hervor, dass die Kommission geprüft hat, ob das fragliche Erzeugnis in der Union vor dem Inkrafttreten der genannten Verordnung in nennenswertem Umfang Gegenstand des menschlichen Verzehrs war oder nicht.

31      Die Mitgliedstaaten, die durch die in Art. 10 EG und derzeit in Art. 4 Abs. 3 EUV genannte Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit gebunden sind, müssen jedoch die Verordnung Nr. 258/97 beachten und somit dafür sorgen, dass Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die „neuartig“ im Sinne von Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung sind und daher in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen, in ihrem Hoheitsgebiet nicht vermarktet werden, sofern nicht die zuständige Behörde des betroffenen Mitgliedstaats gemäß Art. 4 dieser Verordnung festgestellt hat, dass es keiner Genehmigung bedarf, oder gegebenenfalls eine Genehmigung der Kommission gemäß Art. 7 dieser Verordnung vorliegt.

32      Gemäß Art. 7 Abs. 3 der Verordnung Nr. 258/97 werden die nach dieser Vorschrift erlassenen Entscheidungen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht.

33      Verfügen die Behörden eines Mitgliedstaats somit über Informationen, nach denen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats Erzeugnisse vermarktet werden, deren Eigenschaften denjenigen von Erzeugnissen zu entsprechen scheinen, für deren Inverkehrbringen in der Union die Kommission die Genehmigung verweigert hat, so müssen sie die Umstände dieser Vermarktung auf der Grundlage der Vorschriften dieser Verordnung überprüfen und gegebenenfalls die Vermarktung dieser Erzeugnisse unterbinden.

34      Ihre Aufgabe besteht zunächst darin, festzustellen, ob es sich bei dem fraglichen Erzeugnis um ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat im Sinne von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 258/97 handelt, wobei sie dem Betroffenen die Möglichkeit geben, nachzuweisen, dass dieses Erzeugnis in der Union vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung in nennenswertem Umfang in den Verkehr gebracht worden ist.

35      Wird festgestellt, dass es sich bei dem Erzeugnis um ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat handelt, muss die zuständige Behörde des betroffenen Mitgliedstaats sodann die für eine wirksame Anwendung der Vorschriften der Verordnung Nr. 258/97 erforderlichen Maßnahmen ergreifen, was eine an den Betroffenen gerichtete Anordnung einschließen kann, einen Antrag nach Art. 4 dieser Verordnung zu stellen, um das genannte Erzeugnis weiter vermarkten zu können.

36      Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass eine auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung Nr. 258/97 erlassene Entscheidung der Kommission, mit der die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat in der Union verweigert wird, gegenüber anderen Personen als der oder denjenigen, an die sie gerichtet ist, nicht verbindlich ist. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats müssen jedoch überprüfen, ob ein im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vermarktetes Erzeugnis, dessen Eigenschaften denjenigen des Erzeugnisses zu entsprechen scheinen, das Gegenstand dieser Entscheidung der Kommission war, ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat im Sinne des Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung darstellt, und gegebenenfalls der betreffenden Person aufgeben, dass sie die Vorschriften dieser Verordnung befolgt.

 Kosten

37       Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Eine auf der Grundlage von Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten erlassene Entscheidung der Kommission, mit der die Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat in der Union verweigert wird, ist gegenüber anderen Personen als der oder denjenigen, an die sie gerichtet ist, nicht verbindlich. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats müssen jedoch überprüfen, ob ein im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats vermarktetes Erzeugnis, dessen Eigenschaften denjenigen des Erzeugnisses zu entsprechen scheinen, das Gegenstand dieser Entscheidung der Kommission war, ein neuartiges Lebensmittel oder eine neuartige Lebensmittelzutat im Sinne des Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung darstellt, und gegebenenfalls der betreffenden Person aufgeben, dass sie die Vorschriften dieser Verordnung befolgt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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