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Document 62009CC0249

Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen vom 19. Oktober 2010.
Novo Nordisk AS gegen Ravimiamet.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tartu Ringkonnakohus - Estland.
Humanarzneimittel - Richtlinie 2001/83/EG - Werbung - Medizinische Zeitschrift - Angaben, die nicht in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels enthalten sind.
Rechtssache C-249/09.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-03155

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:616

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 19. Oktober 2010(1)

Rechtssache C‑249/09

Novo Nordisk A/S

gegen

Ravimiamet

(Vorabentscheidungsersuchen des Tartu Ringkonnakohus [Estland])

„Humanarzneimittel – Richtlinie 2001/83/EG – In einer medizinischen Zeitschrift verbreitete Werbung, die über die Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels hinausgeht – Zur Verschreibung berechtigte Personen“





1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel(2) in Bezug auf den Inhalt von Arzneimittelwerbung.

2.        Das Tartu Ringkonnakohus (Appellationsgericht Tartu, Estland) fragt in Bezug auf medizinischen Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken entnommene Zitate nach der Anwendbarkeit und der Reichweite des in Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Erfordernisses der Vereinbarkeit aller Elemente der Arzneimittelwerbung, die an zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigte Personen (im Folgenden: im Gesundheitswesen tätige Personen) gerichtet ist, mit den Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels (im Folgenden: Zusammenfassung).

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht(3)

3.        Die Erwägungsgründe 47, 48 und 52 der Richtlinie 2001/83 betreffen Arzneimittelwerbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist. Sie sehen Folgendes vor:

„(47)      Die Arzneimittelwerbung bei Personen, die zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigt sind, trägt zu deren Information bei. Diese Werbung ist jedoch strengen Voraussetzungen und einer wirksamen Kontrolle zu unterwerfen, wobei insbesondere den im Rahmen des Europarats durchgeführten Arbeiten Rechnung zu tragen ist.

(48)      Die Arzneimittelwerbung muss angemessen und wirksam kontrolliert werden. Die entsprechenden Kontrollmechanismen sollten in Anlehnung an die Richtlinie 84/450/EWG ausgewählt werden.

(52)      Die zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigten Personen müssen zwar über eine neutrale und objektive Informationsquelle über die auf dem Markt angebotenen Arzneimittel verfügen, es obliegt jedoch den Mitgliedstaaten, die dafür geeigneten Maßnahmen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen besonderen Lage zu treffen.“

4.        Art. 11 der Richtlinie 2001/83, der die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels betrifft, bezeichnet die Angaben, die diese enthalten muss, umfassend und erschöpfend, insbesondere die Zusammensetzung und die Informationen, deren Kenntnis für eine zweckgemäße Verabreichung des Mittels erforderlich ist, die für die therapeutische Anwendung zweckdienlichen Angaben, die Gegenanzeigen, die Häufigkeit und die Schwere der Nebenwirkungen, die Dosierung und Art der Anwendung sowie die (Haupt‑)Inkompatibilitäten.

5.        Nach Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83 hat der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen der zuständigen Behörde unverzüglich alle neuen Informationen mitzuteilen, die die Änderung der Angaben oder Unterlagen gemäß Art. 11 nach sich ziehen könnten.

6.        Titel VIII („Werbung“) der Richtlinie 2001/83 umfasst die Art. 86 bis 88, Titel VIIIa („Information und Werbung“) die Art. 88a bis 100.

7.        Nach Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83

„… gelten als ‚Werbung für Arzneimittel‘ alle Maßnahmen zur Information, zur Marktuntersuchung und zur Schaffung von Anreizen mit dem Ziel, die Verschreibung, die Abgabe, den Verkauf oder den Verbrauch von Arzneimitteln zu fördern; sie umfasst insbesondere:

–        die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel,

–        die Arzneimittelwerbung bei Personen, die zur Verschreibung oder zur Abgabe von Arzneimitteln befugt sind,

–        den Besuch von Arzneimittelvertretern bei Personen, die zur Verschreibung oder zur Abgabe von Arzneimitteln befugt sind,

…“

8.        Art. 87 der Richtlinie 2001/83 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten untersagen die Werbung für ein Arzneimittel, für dessen Inverkehrbringen keine Genehmigung nach den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft erteilt worden ist.

(2)      Alle Elemente der Arzneimittelwerbung müssen mit den Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels vereinbar sein.

(3)      Die Arzneimittelwerbung

–        muss einen zweckmäßigen Einsatz des Arzneimittels fördern, indem sie seine Eigenschaften objektiv und ohne Übertreibung darstellt;

–        darf nicht irreführend sein.“

9.        Die Art. 88 bis 90 der Richtlinie 2001/83 betreffen die Öffentlichkeitswerbung; Art. 88a betrifft allerdings die Information über Arzneimittel.

10.      Die Art. 91 bis 96 der Richtlinie 2001/83 betreffen die Arzneimittelwerbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist.

11.      Art. 91 der Richtlinie 2001/83 bestimmt:

„(1)      Jede Werbung für ein Arzneimittel bei den zu seiner Verschreibung oder Abgabe berechtigten Personen muss Folgendes enthalten:

–        die wesentlichen Informationen im Einklang mit der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels,

–        die Einstufung des Arzneimittels hinsichtlich der Abgabe.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die Werbung für ein Arzneimittel bei den zu seiner Verschreibung oder Abgabe berechtigten Personen abweichend von Absatz 1 nur den Namen des Arzneimittels oder gegebenenfalls seinen internationalen Freinamen oder das Warenzeichen enthalten muss, wenn ihr Zweck ausschließlich darin besteht, an diesen bzw. dieses zu erinnern.“

12.      Art. 92 der Richtlinie 2001/83 lautet:

„(1)      Alle Unterlagen über ein Arzneimittel, die im Rahmen der Verkaufsförderung für dieses Arzneimittel an die zur Verschreibung oder Abgabe berechtigten Personen abgegeben werden, müssen mindestens die in Artikel 91 Absatz 1 genannten Informationen einschließen, sowie die Angabe des Zeitpunkts, zu dem die Unterlagen erstellt oder zuletzt geändert worden sind.

(2)      Alle in den in Absatz 1 erwähnten Unterlagen enthaltenen Informationen müssen genau, aktuell, überprüfbar und vollständig genug sein, um dem Empfänger die Möglichkeit zu geben, sich persönlich ein Bild von dem therapeutischen Wert des Arzneimittels zu machen.

(3)      Die aus medizinischen Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken entnommenen Zitate, Tabellen und sonstigen Illustrationen, die in den in Absatz 1 genannten Unterlagen verwendet werden, müssen wortgetreu übernommen werden; dabei ist die genaue Quelle anzugeben.“

B –    Nationales Recht

13.      § 83 des Arzneimittelgesetzes (Ravimiseadus, im Folgenden: RavS) legt die allgemeinen Anforderungen an Arzneimittelwerbung fest. Nach Angabe des vorlegenden Gerichts bestimmt § 83 Abs. 3 Folgendes:

„Die Arzneimittelwerbung muss den im reklaamiseadus (Gesetz über die Werbung) niedergelegten grundlegenden und allgemeinen Anforderungen an die Werbung entsprechen und auf der vom Ravimiamet bestätigten Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels beruhen, und sie darf keine Angaben enthalten, die sich nicht in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels finden.“(4)

14.      § 85 RavS betrifft Arzneimittelwerbung gegenüber zur Verschreibung von Arzneimitteln berechtigten Personen, Apothekern und Pharmazeuten. Nach Angabe des vorlegenden Gerichts bestimmt § 85 Abs. 1 Folgendes:

„Zitate aus dem wissenschaftlichen Schrifttum, die in einer Arzneimittelwerbung verwendet werden, die sich an zur Verschreibung von Arzneimitteln berechtigte Personen, Apotheker und Pharmazeuten richtet, müssen unverändert und unter Hinweis auf die ursprüngliche Quelle wiedergegeben werden. Der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen hat auf Verlangen zu gewährleisten, dass innerhalb von drei Tagen, gerechnet ab dem Eingang des entsprechenden Verlangens, eine Kopie der ursprünglichen Quelle erhältlich ist.“

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15.      Die Novo Nordisk A/S (im Folgenden: Novo Nordisk) schaltete im April 2008 in der medizinischen Zeitschrift Lege Artis eine Werbung für das verschreibungspflichtige Arzneimittel Levemir (Insulin Detemir).

16.      Mit Verfügung vom 6. Juni 2008 verpflichtete das Ravimiamet (Arzneimittelamt), eine Regierungsbehörde, deren Aufgabe der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung durch die Überwachung der in Estland verwendeten Arzneimittel und medizinischen Geräte ist, Novo Nordisk dazu, die Verbreitung dieser Werbung für das Arzneimittel Levemir zu beenden (im Folgenden: angefochtene Verfügung), da sie nicht mit der Zusammenfassung übereinstimme, sowie dazu, in die Werbung für dieses Arzneimittel keine Angaben aufzunehmen, die nicht in der Zusammenfassung enthalten seien.

17.      Die angefochtene Verfügung erklärt folgende Aussagen, die in der Werbung für das betreffende Arzneimittel enthalten sind, für unvereinbar mit § 83 Abs. 3 RavS:

–        „Wirksame Kontrolle des Blutzuckers mit geringerem Hypoglykämierisiko“;

–        „68 % der Patienten nehmen nicht zu oder nehmen sogar ab“;

–        „82 % der Patienten wird in der klinischen Praxis einmal täglich Levemir (Insulin Detemir) injiziert“.

18.      Aus der Zusammenfassung gehe hingegen hervor, dass

–        gerade die Hypoglykämie die häufigste Nebenwirkung von Levemir sei;

–        Vergleichsuntersuchungen mit NPH-Insulinen und Glargin-Insulinen gezeigt hätten, dass es in der Levemir-Gruppe zu einer geringen oder keiner Zunahme des Körpergewichts gekommen sei;

–        Levemir ein- bis zweimal täglich verabreicht werde.

19.      Mit der angefochtenen Verfügung wird Novo Nordisk Folgendes zur Last gelegt:

–        In der Werbung werde nicht darauf hingewiesen, dass das Hypoglykämierisiko in der Nacht geringer sei.

–        Die Behauptung, dass das Körpergewicht sinke, finde sich in der Zusammenfassung nicht.

–        Der in der Werbung genannte Wert von 82 % finde sich in der Zusammenfassung nicht.

20.      Novo Nordisk erhob am 4. Juli 2008 beim Tartu Halduskohus (Verwaltungsgericht Tartu) Klage auf Nichtigerklärung dieser Verfügung. Sie machte insbesondere geltend, dass die Werbung für ein Arzneimittel, die sich an die zu seiner Verschreibung berechtigten Personen richte, zum Ziel habe, diesen Personen – auf der Grundlage von im wissenschaftlichen Schrifttum veröffentlichten Daten – ergänzende Informationen an die Hand zu geben, und dass es daher zulässig sei, Zitate aus dem medizinischen und wissenschaftlichen Schrifttum zu verwenden, die nicht ausdrücklich in der Zusammenfassung enthalten seien.

21.      Mit Urteil vom 24. November 2008 wies das Tartu Halduskohus die Klage ab. Es stellte insbesondere fest, dass nach Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 alle Elemente einer Arzneimittelwerbung mit den Angaben in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels vereinbar sein müssten und dass weder Art. 91 Abs. 1 oder Art. 92 Abs. 1 noch der 47. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 es zuließen, in einer Arzneimittelwerbung Angaben über ein Arzneimittel zu machen, die in der Zusammenfassung nicht enthalten seien.

22.      Novo Nordisk legte gegen dieses Urteil Berufung beim Tartu Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tartu) ein.

23.      Das Tartu Ringkonnakohus hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen, dass er auch Zitate aus medizinischen Zeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Werken erfasst, die in einer Werbung für ein Arzneimittel enthalten sind, die sich an die zu seiner Verschreibung berechtigten Personen richtet?

2.      Ist Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 dahin auszulegen, dass er es untersagt, in einer Arzneimittelwerbung Aussagen zu veröffentlichen, die im Widerspruch zur Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels stehen, aber nicht gebietet, dass alle in der Arzneimittelwerbung enthaltenen Aussagen in der Zusammenfassung enthalten oder aus den Angaben in der Zusammenfassung abzuleiten sein müssen?

III – Rechtliche Würdigung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

24.      Die erste Vorlagefrage geht im Wesentlichen dahin, ob Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83, der vorsieht, dass alle Elemente der Arzneimittelwerbung mit den Angaben in der Zusammenfassung vereinbar sein müssen, auf Zitate aus medizinischen Zeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Werken Anwendung findet, die in einer Werbung für ein Arzneimittel, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, enthalten sind.

25.      Die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten, die an diesem Verfahren beteiligt sind, sind übereinstimmend der Ansicht, dass Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 Zitate aus medizinischen Zeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Werken erfasse. Novo Nordisk ist auf diese Frage nicht ausdrücklich eingegangen.

26.      Aus meiner Sicht wirft diese Frage keine größeren Schwierigkeiten auf.

27.      Die von den Mitgliedstaaten vorgeschlagene Auslegung scheint mir auf Argumente aus der Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2001/83 sowie auf ihre Zielsetzung und ihre Systematik gestützt zu sein.

28.      Zunächst weise ich hinsichtlich der Verwendung von öffentlichen Äußerungen Dritter darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere in der Rechtssache Gintec, die Richtlinie 2001/83 diese nicht verbietet.(5) Auch wenn das Urteil Gintec Öffentlichkeitswerbung betrifft, gelten die darin gezogenen Schlussfolgerungen auch für Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist.

29.      Zweitens erkennt die Richtlinie 2001/83 ausdrücklich an, dass Zitate aus medizinischen Zeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Werken im Rahmen der Verkaufsförderung für ein Arzneimittel, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, verwendet werden können.(6)

30.      Aus einer systematischen Untersuchung der Titel VIII und VIIIa der Richtlinie 2001/83 ergeben sich vier Gruppen von Normen. Die Art. 86 und 87 der Richtlinie 2001/83 enthalten allgemeine Grundsätze für jede Arzneimittelwerbung, wohingegen die ausführlichen Vorschriften für die Öffentlichkeitswerbung sich in den Art. 88 bis 90 der Richtlinie finden und die für Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, in den Art. 91 bis 96. Die Vorschriften der Art. 97 bis 100 betreffen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Inhaber der Genehmigung sowie die Anwendung der Vorschriften über Arzneimittelwerbung auf homöopathische Arzneimittel.

31.      Auch wenn die Einfügung von Art. 88a und Titel VIIIa in gewisser Hinsicht die Kohärenz der normativen Systematik der Vorschriften über Arzneimittelwerbung der Richtlinie 2001/83 durchbrochen hat, steht meiner Ansicht nach außer Zweifel, dass die Art. 86 und 87 hinsichtlich der Arzneimittelwerbung eine allgemeine Tragweite haben. Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie bestätigt, da Art. 86 aus Art. 1 in Kapitel I („Begriffsbestimmungen, Anwendungsbereich und allgemeine Grundsätze“) der Richtlinie 92/28(7) hervorgegangen ist, der für die gesamte Richtlinie galt. Die Art. 86 und 87 sind daher auf jede Arzneimittelwerbung anwendbar (mit Ausnahme der Werbung für homöopathische Arzneimittel, auf die Art. 87 Abs. 1 nach Art. 100 Abs. 1 nicht anwendbar ist).

32.      Außerdem scheint mir die Kommission in ihrem Vorschlag die Absicht verfolgt zu haben, Art. 87 Abs. 2 sowohl auf Öffentlichkeitswerbung als auch auf Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, anzuwenden. Wie die Kommission dargelegt hat, war eine mit Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 vergleichbare Bestimmung bereits in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 92/28 enthalten. In der Begründung dieses Vorschlags hieß es: „Mit Ausnahme von bestimmten gemeinsamen und allgemeinen Grundsätzen (Art. 2) sieht der Richtlinienvorschlag unterschiedliche Vorschriften für die Öffentlichkeitswerbung und die Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, vor. …“(8)

33.      Dieses Ergebnis wird durch die Zielsetzung des Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 bestätigt, der in erster Linie die Gewährleistung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit anstrebt.(9) Konkret ist das Ziel der Vorschriften über Arzneimittelwerbung die Gewährleistung eines Gleichgewichts zwischen dem Informationszugang der im Gesundheitswesen tätigen Personen(10) und der Kontrolle der Werbung, um sicherzustellen, dass die in der Werbung enthaltenen Informationen neutral und objektiv sind(11).

34.      Daher ist der Begriff „alle Elemente der Arzneimittelwerbung“ in Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 so auszulegen, dass er Zitate aus medizinischen Zeitschriften erfasst, die in einer Werbung für ein Arzneimittel enthalten sind, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist

35.      Eine andere Auslegung, die derartige Zitate vom Anwendungsbereich des Art. 87 Abs. 2 ausschließen würde, wäre problematisch, da dies den pharmazeutischen Unternehmen die Verwendung von aus medizinischen Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken entnommenen Zitaten zur Beeinflussung des Ansehens ihres Arzneimittels auf dem Markt ermöglichen würde, auch wenn diese Informationen nicht mit den überprüften und kontrollierten Angaben in der Zusammenfassung vereinbar sind, was im Widerspruch zur Zielsetzung der Richtlinie 2001/83 stehen würde.

36.      Es ist demnach festzustellen, dass medizinischen Zeitschriften oder wissenschaftlichen Werken entnommene Zitate, die in einer an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichteten Werbung für ein Arzneimittel enthalten sind, von Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 erfasst werden.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

37.      Hinsichtlich der zweiten Vorlagefrage sind die Parteien übereinstimmend der Ansicht, dass Aussagen, die im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen, nicht in eine Arzneimittelwerbung aufgenommen werden dürfen. Damit stellt sich hier als eigentliche Schwierigkeit die Frage, ob die Richtlinie 2001/83 der Aufnahme zusätzlicher Informationen in die Arzneimittelwerbung entgegensteht, die nicht in der Zusammenfassung enthalten sind oder nicht aus dieser abgeleitet werden können.

1.      Vorbemerkungen

38.      Diese Frage bezieht sich auf Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83. Sie ist jedoch meiner Ansicht nach in Verbindung mit den Art. 91 und 92 der Richtlinie auszulegen, da sie insbesondere die Werbung betrifft, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist. Ergänzt sei, dass meines Erachtens angesichts der weiten Definition von „Werbung“ in Art. 86 der Richtlinie 2001/83 die Vorschriften des Art. 92 auch auf Bekanntmachungen und Anzeigen Anwendung finden, auch wenn der Wortlaut von Abs. 1 dieses Artikels darauf hinweist, dass er vor allem auf die Verkaufsförderung für Arzneimittel durch Arzneimittelvertreter abzielt.

39.      Art. 87 Abs. 2 sieht vor, dass Arzneimittelwerbung mit der Zusammenfassung „vereinbar“ sein muss. Die Art. 91 und 92 legen ausdrücklich fest, dass Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, die wesentlichen Informationen „im Einklang“ mit der Zusammenfassung enthalten muss.

40.      Aus dem Wortlaut der nationalen Vorschrift und dem Vorbringen der Parteien ergibt sich, dass eine ganze Reihe von Auslegungen möglich sind, etwa, dass alle in der Werbung für ein Arzneimittel enthaltenen Aussagen in der Zusammenfassung enthalten sein müssen, dass alle Aussagen der Werbung in der Zusammenfassung enthalten sein oder daraus abzuleiten sein müssen oder dass alle Aussagen zulässig sind, sofern sie nicht im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen.

41.      Meiner Ansicht nach handelt es sich hierbei eher um eine ineinander verschränkte Kette von Auslegungsvarianten als um klare, sich gegenseitig ausschließende Wahlmöglichkeiten. Zahlreiche Fälle könnten von mehreren dieser Auslegungsvarianten erfasst werden. Werbung auf der Grundlage der in der Zusammenfassung enthaltenen Informationen unter Verwendung synonymer Ausdrücke könnte etwa sowohl unter die erste als auch unter die zweite der oben genannten Auslegungsvarianten fallen, während die Erwähnung einer klinischen Prüfung, die genauere Ergebnisse bietet als die in der Zusammenfassung angeführten Parameter sowohl von der zweiten als auch von der dritten Auslegungsvariante erfasst sein könnte.

42.      Zudem ist der Umstand, dass im formallogischen Sinn kein Widerspruch zwischen den Merkmalen des Arzneimittels, die in der Werbung aufgeführt sind, und der Zusammenfassung vorliegt, ein zu schwaches Vereinbarkeitskriterium. Der Satz „A oder B“ steht logischerweise nicht im Widerspruch zum Satz „A“; er kann vielmehr aus diesem abgeleitet werden. Es scheint mir jedoch auf der Hand zu liegen, dass die Hinzufügung neuer alternativer Heilanzeigen, die nicht in der Zusammenfassung genannt sind, nicht mit dieser vereinbar wäre, auch wenn kein Widerspruch im formallogischen Sinn vorliegt.(12)

2.      Freie Meinungsäußerung im gewerblichen Bereich und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

43.      Vor der Bestimmung eines geeigneten Ansatzes sollten zwei Gesichtspunkte vertieft werden, die nach Ansicht von Novo Nordisk die dritte Auslegungsvariante stützen. Diese behauptet, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, das auch auf die kommerzielle Kommunikation Anwendung finde, nur diejenigen Informationen verboten sein sollten, die im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen.

44.      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gewiss bestimmte Rechte und Freiheiten auf Gesellschaften und andere Körperschaften ausgedehnt, die auch vom Gerichtshof in seiner Rechtsprechung angewandt werden.(13) Das Unionsrecht und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) gehen in dieselbe Richtung. Art. 10 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten(14) und Art. 11 der Charta betreffen das Recht auf freie Meinungsäußerung, das auch den gewerblichen Bereich erfasst.(15)

45.      Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unterscheidet jedoch auch zwischen dem Umfang des Schutzes, der natürlichen Personen einerseits und juristischen Personen andererseits gewährt wird.(16)

46.      So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass „zwingende Gründe der öffentlichen Gesundheit, zu denen übrigens sowohl auf nationaler Ebene wie auch auf der Ebene der Europäischen Union Rechtsvorschriften erlassen worden sind, einen Vorrang vor wirtschaftlichen Erfordernissen und sogar vor bestimmten Grundrechten, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung haben können“(17).

47.      Im Bereich der Arzneimittelwerbung hat der Unionsgesetzgeber eine Abwägung zwischen den sich aus der Notwendigkeit des Schutzes der öffentlichen Gesundheit ergebenden Erfordernissen einerseits und der freien Meinungsäußerung im gewerblichen Bereich andererseits vorgenommen und darauf aufbauend ein Gleichgewicht erarbeitet, das in der Richtlinie 2001/83 niedergelegt ist.(18) Meiner Ansicht nach kommt dem Schutz der öffentlichen Gesundheit bei der Auslegung der betreffenden Bestimmungen Vorrang zu. Daher erscheint es mir nicht gerechtfertigt, einen alternativen Ansatz zu vertreten, der eine möglichst weitreichende Meinungsäußerungsfreiheit in der kommerziellen Kommunikation der pharmazeutischen Labors und ein möglichst geringes Maß an Beschränkungen der Werbung zum Auslegungsgrundsatz der Richtlinie 2001/83 machen würde.

48.      Ein derartiger Ansatz ließe sich auch nicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen. Im Unionsrecht findet dieser Grundsatz in erster Linie auf die gerichtliche Kontrolle des Umfangs der Beschränkungen der Grundfreiheiten und den zulässigen Umfang des Tätigkeitsbereichs der Union Anwendung.(19) Er verlangt, dass die betreffenden Maßnahmen Kriterien der Geeignetheit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entsprechen, d. h., dass sie zu einer möglichst geringen Behinderung der Ausübung der Grundfreiheiten führen und einen möglichst großen Entscheidungsspielraum auf der nationalen Ebene einräumen.

49.      Meiner Ansicht nach findet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne keine Anwendung auf die Abwägung zwischen zwei Grundrechten, d. h. zwischen dem Recht auf Gesundheit(20) und dem Recht auf freie Meinungsäußerung, wenn er als die Notwendigkeit verstanden wird, Ersteres möglichst zu schmälern und Letzteres möglichst zu stärken. In diesem Fall zielt die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eher auf die Abwägung der relativen Bedeutung dieser beiden Grundrechte ab als auf eine Verringerung der Behinderungen der freien Meinungsäußerung im gewerblichen Bereich, die durch die vom Unionsgesetzgeber zum Schutz der öffentlichen Gesundheit erlassenen Maßnahmen zur Arzneimittelwerbung verursacht werden. Der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist notwendig zur Wahrung der Grundrechte, der Menschenwürde, des Rechts auf Leben sowie des Rechts auf körperliche und geistige Unversehrtheit, die in den Art. 1 bis 3 der Charta verankert sind.(21)

50.      Im Grundrechtssystem kommt dem Recht auf Leben eine Vorrangstellung zu, und es muss daher auch die Grundrechte der Handlungsfreiheit verdrängen.(22) Das Recht auf freie Meinungsäußerung im gewerblichen Bereich stellt nicht den Kern dieses Grundrechts dar. Der Unionsgesetzgeber verfügt somit über einen weiten Ermessensspielraum hinsichtlich des Umfangs des der öffentlichen Gesundheit gewährten Schutzes, und er muss sich daher nicht auf das zum Schutz der Meinungsfreiheit notwendige Mindestmaß beschränken. Das Argument, dass man nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Auslegung der Beschränkungen der Arzneimittelwerbung einen restriktiven Ansatz vertreten müsse, entbehrt somit meiner Ansicht nach der Grundlage.

3.      Zweck des Vereinbarkeitserfordernisses

51.      In Bezug auf die Formulierung „müssen … vereinbar sein“ in Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 scheint mir der erste vorgeschlagene Auslegungsansatz, wonach jede Aussage in der Arzneimittelwerbung in der Zusammenfassung enthalten sein muss, aufgrund der Art. 87 Abs. 2 und Art. 91 Abs. 1, die die Vereinbarkeit oder sogar einen Einklang, jedoch keine vollständige Identität der von der Werbung vermittelten Informationen mit der Zusammenfassung verlangen, zu eng zu sein. Außerdem sieht der 47. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83 vor, dass die Arzneimittelwerbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, zu deren Information beiträgt.

52.      Vor allem scheint der Wortlaut von Art. 91 Abs. 1 und Art. 92 darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2001/83 die Verbreitung zusätzlicher Informationen als einfache Mitteilungen oder als Werbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, gestattet. Diese Bestimmungen hätten keinen Sinn, wenn sich die Werbung nur auf die Angaben in der Zusammenfassung beziehen könnte.

53.      Die zweite angesprochene Auslegung, wonach alle Behauptungen in der Werbung in der Zusammenfassung enthalten oder daraus abzuleiten sein müssen, sowie die dritte, wonach alle Aussagen zulässig sind, sofern sie nicht im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen, verstehen die Tragweite des Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 in einem breiteren Sinn. Der Unterschied zur ersten angesprochenen Auslegung betrifft meiner Ansicht nach die Möglichkeit, gegenüber der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels zusätzliche Informationen anzugeben, was von der zweiten Auslegung ausgeschlossen, von der dritten Auslegung jedoch zugelassen wird, sofern die Informationen nicht im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen.

54.      In meinen Augen ist die dritte Auslegung die überzeugendste. Von dieser werde ich ausgehen. Meines Erachtens kann es wesentliche oder nützliche Informationen zu Arzneimitteln geben, die in der Zusammenfassung der Eigenschaften des Arzneimittels nicht enthalten sind, jedoch mit dieser im Einklang stehen. Der schlichte Umstand, dass kein Widerspruch zwischen der Zusammenfassung und der Werbung besteht, scheint mir gleichwohl als Kriterium zu schwach zu sein.

55.      Eine derartige Auslegung, die es ermöglichen würde, in der Werbung neue Informationen zu nutzen, die nicht in der Zusammenfassung enthalten sind oder die sich aus dieser nicht ableiten lassen, unter der einzigen Bedingung, dass sie nicht im Widerspruch zur Zusammenfassung stehen, wäre insofern problematisch, als wissenschaftliche Untersuchungen Unterschiede hinsichtlich ihrer Qualität und Stichhaltigkeit aufweisen und manchmal zu unterschiedlichen oder sogar einander widersprechenden Ergebnissen kommen. Folgte man einer solchen Auslegung, könnten die pharmazeutischen Unternehmen die für ihre Arzneimittel günstigsten Untersuchungen auswählen und in der Werbung verwenden, ohne die Kontrolle durch die in der Zusammenfassung enthaltenen Angaben, die mit dem Genehmigungsverfahren für das Inverkehrbringen einhergeht. Dies könnte im Widerspruch zum Ziel der Titel VIII und VIIIa der Richtlinie 2001/83 den objektiven und neutralen Charakter der Informationen, die im Gesundheitswesen tätige Personen aus solchen Quellen beziehen, ernsthaft beeinträchtigen.(23)

56.      Daher ist es notwendig, die Art der Informationen, die in der an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichteten Werbung verwendet werden können und die nicht in der Zusammenfassung enthalten sind, einzuschränken, auch wenn man den Ansatz vertritt, der es ermöglicht, zusätzliche Informationen, die nicht in der Zusammenfassung enthalten sind, in die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtete Werbung aufzunehmen.

57.      Bei der Auslegung des Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 ist nun eine Abwägung zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit(24) durch die wirksame Kontrolle der Werbung(25) und dem Ziel, den im Gesundheitswesen tätigen Personen neutrale und objektive Informationsquellen zu den am Markt verfügbaren Arzneimitteln zu bieten(26), vorzunehmen.

58.      In der Qualifizierung der erwähnten Beschränkungen werde ich keine Ausdrücke verwenden, die gegenüber den in der Richtlinie 2001/83 verwendeten Ausdrücken kein Mehr an begrifflicher Klarheit bieten. Ein meines Erachtens erfolgreicher Ansatz wäre es, bei der Auslegung des Begriffs der „Vereinbarkeit“ nach Art. 87 Abs. 2 Zweck und Inhalt der Zusammenfassung zu berücksichtigen.

59.      Die Zusammenfassung enthält wesentliche therapeutische, pharmakologische und pharmazeutische Angaben zu den Arzneimitteln.(27) Diese Angaben werden von den zuständigen Behörden(28) kontrolliert und überprüft, und der Inhaber der Genehmigung für das Inverkehrbringen hat die Zusammenfassung von sich aus zu aktualisieren.(29) Ein wesentlicher Aspekt der Kontrolle betrifft die Beurteilung der Stichhaltigkeit, der Relevanz und der Qualität der in der Zusammenfassung enthaltenen wissenschaftlichen Angaben.(30) Daraus folgt, dass die Auslegung von Art. 87 Abs. 2 nicht zu einer Umgehung der Pflicht des Inhabers der Genehmigung zur Aktualisierung der Zusammenfassung oder zur Vorlage der Informationen zur Kontrolle durch die Behörden führen darf.

60.      In der Regel sollte es nicht zulässig sein, in einer Werbung neue wissenschaftliche Entwicklungen und neue wissenschaftliche Ergebnisse zu zitieren, die über die Angaben in der Zusammenfassung hinausgehen, da es ein ausdrücklich vorgesehenes Verfahren zur regelmäßigen Aktualisierung der Zusammenfassung gibt. In diesem Fall ist es meines Erachtens nicht gerechtfertigt, zuzulassen, dass solche Informationen in an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtete Werbung aufgenommen werden, ohne dass die zuständigen Behörden dies genehmigt hätten. Eine gegenteilige Auslegung würde das in Art. 23 der Richtlinie 2001/83 vorgesehene Verfahren verletzen.

61.      Die Informationen, die in der Zusammenfassung enthalten sein sollten, in dieser jedoch nicht vorkommen, sollten ebenfalls nicht in der Werbung verwendet werden. Damit meine ich die in Art. 11 der Richtlinie 2001/83 vorgesehenen Angaben, die jedoch nicht in der Zusammenfassung enthalten sind, da die Informationen nicht bekannt waren, als die Zusammenfassung von den Behörden genehmigt wurde. Dies könnte etwa der Fall sein, wenn in der Zusammenfassung die Tatsache nicht erwähnt wurde, dass die Wirksamkeit des Arzneimittels durch den Verzehr einer Pampelmuse verringert werden kann, obwohl die Zusammenfassung nach Art. 11 die (Haupt‑)Inkompatibilitäten zu enthalten hat. Angesichts derartiger neuer Informationen hat das pharmazeutische Unternehmen – wie in der Richtlinie 2001/83 vorgesehen – das zur Änderung der Zusammenfassung geeignete Verfahren einzuleiten und darf sich nicht damit begnügen, diese neuen Informationen in der Form von Hinweisen im Rahmen der an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichteten Werbung zu verbreiten.

62.      Meiner Ansicht nach gibt es jedoch Fälle, in denen Informationen, die wegen ihrer Erwähnung in Art. 11 in der Zusammenfassung enthalten sein sollten, dort aber nicht aufgeführt sind, in die Werbung aufgenommen werden könnten. Dies ist bei Informationen der Fall, die eine Angabe bestätigen oder präzisieren, die in der Zusammenfassung enthalten ist. Neue wissenschaftliche Versuche, die die Angaben der Zusammenfassung bestätigen oder die Bandbreite der Parameter im Vergleich zu den in der Zusammenfassung angeführten Angaben verringern, sollten beispielsweise in der Arzneimittelwerbung, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, zugelassen werden. Es liegt auf der Hand, dass dies von Fall zu Fall zu prüfen ist. Um ein Beispiel zu geben: Falls die Zusammenfassung besagt, dass der Verzehr von Pampelmusen die Wirksamkeit eines Arzneimittels verringern kann, ist es meines Erachtens zulässig, in der Werbung eine neue Untersuchung zu erwähnen, die zu dem Ergebnis kommt, dass der Verzehr von täglich zwei Pampelmusen die Wirksamkeit des Arzneimittels in der untersuchten Patientengruppe um 15 % verringert hat.

63.      Dennoch sind Informationen oder Untersuchungen vorstellbar, die von Art. 11 der Richtlinie 2001/83 nicht verlangt werden, gleichwohl aber für die Ärzte bei der Suche nach der geeignetsten Behandlung für ihre Patienten nützlich sein können.

64.      Solche Untersuchungen und Versuche können etwa den Zufriedenheitsgrad der Patienten in Bezug auf das betreffende Medikament oder alternative Anwendungsarten für dieses betreffen oder aber die Frage, inwieweit sich die Patienten an die Behandlungsempfehlungen halten. Damit meine ich Informationen zu den Anwendungsarten (z. B. subkutane Injektion). Im Zusammenhang mit der Insulinbehandlung können die zusätzlichen Informationen etwa die Präferenz der Patienten für bestimmte Injektionsarten betreffen, wie die herkömmliche Spritze oder einen vom betroffenen pharmazeutischen Unternehmen angebotenen Insulin-Pen. Vergleichbare Untersuchungen sind für Arzneimittel gegen Asthma denkbar, die oral eingenommen oder aber mittels eines Röhrchens inhaliert werden können.

65.      Die Verwendung solcher Informationen in der Werbung sollte zulässig sein, soweit diese nicht im Widerspruch zu den Angaben in der Zusammenfassung stehen oder nicht gegen die anderen Anforderungen der Richtlinie 2001/83 – etwa das Verbot irreführender Werbung – verstoßen.

66.      Zusätzliche Informationen, die nicht in die Zusammenfassung hätten aufgenommen werden müssen, jedoch nicht im Widerspruch zu dieser stehen, können daher in die Arzneimittelwerbung aufgenommen werden, die an im Gesundheitswesen tätige Personen gerichtet ist, sofern sie wortgetreu übernommen werden, ihre genaue Quelle angegeben ist, sie nicht irreführend sind und dies nicht im Widerspruch zu den anderen Bedingungen der Richtlinie 2001/83 steht.

IV – Ergebnis

67.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tartu Ringkonnakohus wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung enthält eine allgemeine Regel, die sowohl Arzneimittelwerbung erfasst, die die Öffentlichkeit informieren soll, als auch Arzneimittelwerbung, die sich an zur Verschreibung oder Abgabe von Arzneimitteln berechtigte Personen richtet, und zwar auch dann, wenn sie Zitate aus medizinischen Zeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Werken enthält.

2.      Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 in der durch die Richtlinie 2004/27 geänderten Fassung ist so auszulegen, dass er es untersagt, in einer Arzneimittelwerbung Aussagen zu veröffentlichen, die im Widerspruch zur Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels stehen.

Es müssen allerdings nicht alle in der Arzneimittelwerbung enthaltenen Aussagen in der Zusammenfassung enthalten oder aus dieser abzuleiten sein. Eine Werbung kann

–        Aussagen enthalten, die die in Art. 11 dieser Richtlinie vorgesehenen Angaben ergänzen und bereits in der Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels enthalten sind, sofern diese zusätzlichen Informationen die in der Zusammenfassung enthaltenen Angaben präzisieren oder bestätigen, ohne sie zu entstellen, und

–        Aussagen enthalten, die die Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels ergänzen, auch wenn sie nicht in Art. 11 dieser Richtlinie erwähnt sind, sofern die zusätzlichen Informationen wortgetreu übernommen werden, ihre genaue Quelle angegeben ist, sie nicht irreführend sind und sie nicht im Widerspruch zu den anderen Anforderungen dieser Richtlinie stehen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 311, S. 67, in der durch die Richtlinie 2004/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 136, S. 34) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2001/83). Die Richtlinie 2001/83 hat mehrere einschlägige Richtlinien kodifiziert, indem sie sie in einem einzigen Text zusammengeführt hat (vgl. den ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83).


3 – Da das Vorabentscheidungsersuchen vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2008, C 115, S. 47) eingebracht wurde, bezieht sich das vorliegende Dokument auf die Artikel des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl. 2002, C 325, S. 33).


4 –      Die estnische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass der Wortlaut dieser Bestimmung vor Kurzem geändert worden sei, um ihn dem Wortlaut von Art. 87 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 anzugleichen.


5 – Urteil vom 8. November 2007 (C‑374/05, Slg. 2007, I‑9517, Randnr. 36).


6 – Art. 92 Abs. 3 der Richtlinie 2001/83.


7 –      Richtlinie 92/28/EWG des Rates vom 31. März 1992 über die Werbung für Humanarzneimittel (ABl. L 113, S. 13).


8 – KOM(90) 212 endg., Randnr. 12.


9 – Zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83. Urteile vom 2. April 2009, Damgaard (C‑421/07, Slg. 2009, I‑2629, Randnr. 22), und vom 22. April 2010, Association of the British Pharmaceutical Industry (C‑62/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 34).


10 – 47. und 52. Erwägungsgrund.


11 – 48. Erwägungsgrund.


12 – Zum sogenannten Ross-Paradoxon vgl. Moreso, J. J., Legal Indeterminacy and Constitutional Interpretation, Dordrecht 1998, S. 39.


13 – Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache Kommission/SGL Carbon (C‑301/04 P, Urteil vom 29. Juni 2006, Slg. 2006, I‑5915, Randnr. 64).


14 – Unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom.


15 – Vgl. die Schlussanträge von Generalanwalt Alber in der Rechtssache Karner (C‑71/02, Urteil vom 25. März 2004, Slg. 2004, I‑3025, Randnr. 75). Vgl. auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 20. November 1989, Markt Intern Verlag GmbH und Klaus Beermann/Deutschland, Série A, Nr. 165, Randnrn. 25 ff., und vom 24. Februar 1994, Casado Coca/Spanien, Série A, Nr. 285-A, Randnrn. 35 ff.


16 – Schlussanträge Kommission/SGL Carbon, Randnr. 64.


17 – Vgl. die beiden Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 5. März 2009, Hachette Filipacchi Presse automobile und Dupuy/Frankreich, Randnr. 56, und Société de conception de presse et d’édition und Ponson/Frankreich, Randnr. 46.


18 – Vgl. etwa den zweiten und den dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83.


19 – Zu letzterem Aspekt vgl. das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (dem Vertrag über die Europäische Union beigefügtes Protokoll Nr. 2) sowie Art. 5 Abs. 4 EU.


20 – Vgl. Art. 11 der revidierten Europäischen Sozialcharta sowie Art. 12 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (BGBl. der Bundesrepublik Deutschland 1973 II S. 1570). Im Urteil vom 9. Juni 1998, L.C.B./Vereinigtes Königreich (Recueil des arrêts et décisions 1998–III), hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Existenz eines Rechts auf Gesundheit anerkannt, das mit dem Recht auf Leben verbunden ist.


21 – Das in Art. 35 der Charta vorgesehene Grundrecht auf Gesundheitsschutz ist im vorliegenden Fall nicht das einzige relevante Grundrecht. Meiner Ansicht nach rechtfertigt die in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 23. September 1998, A/Vereinigtes Königreich, Recueil des arrêts et décisions 1998–VI) anerkannte Pflicht der Staaten zur Ergreifung positiver Maßnahmen auch Maßnahmen, deren Ziel die Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Gesundheit ist, die aus den Tätigkeiten privater Akteure erwachsen.


22 – Vgl. Alexy, R., „On Balancing and Subsumption. A Structural Comparison“, Ratio Juris Vol. 14 Nr. 4 2003, S. 433, 440.


23 – 47. und 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83.


24 – Zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83.


25 – 47. und 48. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83.


26 – 52. Erwägungsgrund der Richtlinie 2001/83.


27 – Art. 11 der Richtlinie 2001/83.


28 – Art. 21 der Richtlinie 2001/83.


29 – Art. 23 der Richtlinie 2001/83.


30 – Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2001/83.

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