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Document 62008CJ0565

Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 29. März 2011.
Europäische Kommission gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Art. 43 EG und 49 EG - Rechtsanwälte - Verpflichtung zur Beachtung von Gebührenhöchstsätzen - Keine Behinderung des Marktzugangs.
Rechtssache C-565/08.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-02101

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:188

Rechtssache C‑565/08

Europäische Kommission

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG und 49 EG – Rechtsanwälte – Verpflichtung zur Beachtung von Gebührenhöchstsätzen – Keine Behinderung des Marktzugangs“

Leitsätze des Urteils

Freier Dienstleistungsverkehr – Niederlassungsfreiheit – Beschränkungen – Nationale Regelung, nach der Rechtsanwälte Gebührenhöchstsätze beachten müssen – Zulässigkeit

(Art. 43 EG und 49 EG)

Ein Mitgliedstaat, nach dessen Rechtsvorschriften Rechtsanwälte Gebührenhöchstsätze beachten müssen, verstößt nicht gegen seine Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 49 EG, sofern die fragliche Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie den Zugang – unter Bedingungen eines normalen und wirksamen Wettbewerbs – zum Markt für Rechtsanwaltsdienstleistungen beeinträchtigt. Dies ist bei einer Regelung der Fall, die sich durch eine Flexibilität auszeichnet, die eine angemessene Vergütung aller Arten von Dienstleistungen, die von Rechtsanwälten erbracht werden, dadurch erlaubt, dass die Gebührenobergrenzen unter bestimmten Voraussetzungen überschritten und die Gebühren auf das Doppelte oder Vierfache oder sogar darüber hinaus erhöht werden können. Daher können die Rechtsanwälte unter verschiedenen Umständen eine besondere Vereinbarung mit ihren Mandanten schließen, um die Höhe ihrer Gebühren festzulegen.

Die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats stellen nämlich nicht allein deshalb eine Beschränkung im Sinne des EG‑Vertrags dar, weil andere Mitgliedstaaten in ihrem Gebiet ansässige Erbringer gleichartiger Dienstleistungen weniger strengen oder wirtschaftlich interessanteren Vorschriften unterwerfen. Das Vorliegen einer Beschränkung im Sinne des EG‑Vertrags lässt sich daher nicht allein aus dem Umstand herleiten, dass in anderen Mitgliedstaaten als dem Aufnahmemitgliedstaat niedergelassene Rechtsanwälte sich zur Berechnung ihrer Gebühren für im Aufnahmemitgliedstaat erbrachte Dienstleistungen mit den dort geltenden Regeln vertraut machen müssen, sondern muss darauf beruhen, dass eine solche Regelung den Zugang von Rechtsanwälten aus anderen Mitgliedstaaten zum Markt des Aufnahmemitgliedstaats behindert.

(vgl. Randnrn. 49-50, 53-54)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

29. März 2011(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Art. 43 EG und 49 EG – Rechtsanwälte – Verpflichtung zur Beachtung von Gebührenhöchstsätzen – Keine Behinderung des Marktzugangs“

In der Rechtssache C‑565/08

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 19. Dezember 2008,

Europäische Kommission, vertreten durch E. Traversa und L. Prete als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten zunächst durch I. Bruni, dann durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.‑C. Bonichot, der Richter A. Rosas, M. Ilešič, J. Malenovský, U. Lõhmus (Berichterstatter), E. Levits, A. Ó Caoimh und L. Bay Larsen sowie der Richterinnen P. Lindh und M. Berger,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 2010,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juli 2010

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 43 EG und 49 EG verstoßen hat, dass sie Bestimmungen vorgesehen hat, nach denen die Rechtsanwälte bei den Gebühren Obergrenzen beachten müssen.

 Nationaler rechtlicher Rahmen

2        Der Beruf des Rechtsanwalts ist in Italien im Königlichen Gesetzesdekret Nr. 1578 zur Regelung der Berufe des Rechtsanwalts und des „procuratore legale“ (Regio decreto legge n. 1578 – Ordinamento delle professioni di avvocato e procuratore legale) vom 27. November 1933 (GURI Nr. 281 vom 5. Dezember 1933, S. 5521), das mit Gesetz Nr. 36 vom 22. Januar 1934 (GURI Nr. 24 vom 30. Januar 1934) nach Änderung in ein Gesetz umgewandelt wurde, in der geänderten Fassung (im Folgenden: Regio decreto legge) geregelt. Gemäß den Art. 52 bis 55 des Regio decreto legge ist der Consiglio nazionale forense (Nationaler Rat der Rechtsanwälte, im Folgenden: CNF) dem Justizminister zugeordnet und besteht aus Rechtsanwälten, die von den Angehörigen des Anwaltsstands gewählt werden, wobei auf den Gerichtsbezirk jeder Corte di appello ein Mitglied entfällt.

3        Art. 57 des Regio decreto legge bestimmt, dass die Maßstäbe für die Festsetzung der Gebühren und Entgelte, die den Rechtsanwälten und den „procuratori“ sowohl in Zivil- und Strafsachen als auch für außergerichtliche Tätigkeiten zustehen, alle zwei Jahre durch Beschluss des CNF festgelegt werden. Diese Maßstäbe müssen anschließend nach Einholung einer Stellungnahme des Comitato interministeriale dei prezzi (Interministerieller Preisausschuss) und eines Gutachtens des Consiglio di Stato (Staatsrat) vom Justizminister genehmigt werden.

4        Gemäß Art. 58 des Regio decreto legge werden die in Art. 57 genannten Maßstäbe anhand des Streitwerts und der mit der Sache befassten gerichtlichen Instanz sowie – bei Strafverfahren – der Verfahrensdauer festgelegt. Für jede Handlung oder Abfolge von Handlungen ist eine Mindest- und eine Höchstgebühr festzulegen. Bei außergerichtlichen Tätigkeiten ist die Bedeutung der Sache zu berücksichtigen.

5        Nach Art. 60 des Regio decreto legge werden die Gebühren anhand dieser Maßstäbe unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und der Anzahl der behandelten Probleme gerichtlich festgesetzt. Die Festsetzung muss sich im Rahmen der zuvor festgelegten Unter- und Obergrenze bewegen. Das Gericht kann die Obergrenze jedoch überschreiten, wenn die Sache wegen des besonderen Charakters der Streitigkeit außergewöhnliche Bedeutung hat und der eigentliche Wert der Leistung dies rechtfertigt. Umgekehrt kann es eine Gebühr unter der Untergrenze festsetzen, wenn die Sache einfach gelagert ist. In beiden Fällen muss das Gericht seine Entscheidung begründen.

6        Gemäß Art. 61 Abs. 1 des Regio decreto legge werden die Gebühren, die der Rechtsanwalt seinem Mandanten in Rechnung stellt, sowohl bei gerichtlichen als auch bei außergerichtlichen Tätigkeiten – soweit keine besondere Vereinbarung getroffen wurde – unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und der Anzahl der behandelten Probleme auf der Grundlage der in Art. 57 genannten Maßstäbe festgesetzt. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift können die Gebühren diejenigen übersteigen, die zulasten der Partei, der die Kosten des Rechtsstreits auferlegt worden sind, festgesetzt worden sind, wenn der besondere Charakter des Rechtsstreits oder der Wert der Leistung dies rechtfertigen.

7        Art. 24 des Gesetzes Nr. 794 über die Vergütung der Rechtsanwälte für gerichtliche Tätigkeiten in Zivilsachen (Legge n. 794 – Onorari di avvocato e di procuratore per prestazioni giudiziali in materia civile) vom 13. Juni 1942 (GURI Nr. 172 vom 23. Juli 1942) sieht vor, dass von den für die Rechtsanwaltsleistungen festgelegten Mindestgebühren nicht abgewichen werden darf und abweichende Vereinbarungen nichtig sind.

8         Art. 13 des Gesetzes Nr. 31 über den freien Dienstleistungsverkehr der Rechtsanwälte, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind (Legge n. 31 – Libera prestazione di servizi da parte degli avvocati cittadini di altri Stati membri della Comunità europea), vom 9. Februar 1982 (GURI Nr. 42 vom 12. Februar 1982, S. 1030), mit dem die Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. L 78, S. 17) umgesetzt wurde, dehnt die Verpflichtung zur Beachtung der geltenden Gebühren auf Rechtsanwälte anderer Mitgliedstaaten aus, die in Italien gerichtliche und außergerichtliche Tätigkeiten ausüben.

9        Die Rechtsanwaltsgebühren und ‑honorare wurden nacheinander durch verschiedene Ministerialdekrete geregelt, von denen die letzten drei die Dekrete Nr. 392 vom 24. November 1990, Nr. 585 vom 5. Oktober 1994 und Nr. 127 vom 8. April 2004 sind.

10      Nach dem Beschluss des CNF, der dem Ministerialdekret Nr. 127 vom 8. April 2004 (GURI Nr. 115 vom 18. Mai 2004) als Anhang beigefügt ist (im Folgenden: Beschluss des CNF), sind die Sätze für die Rechtsanwaltsgebühren in drei Kapitel eingeteilt, nämlich Kapitel I über gerichtliche Tätigkeiten in Zivil‑, Verwaltungs‑ und Steuersachen, Kapitel II über gerichtliche Tätigkeiten in Strafsachen und Kapitel III über außergerichtliche Tätigkeiten.

11      Für Kapitel I ist gemäß Art. 4 Abs. 1 des Beschlusses des CNF jegliche Abweichung von den für Anwaltsleistungen festgelegten Honoraren und Gebühren verboten.

12      In Bezug auf Kapitel II ist in Art. 1 Abs. 1 und 2 dieses Beschlusses vorgesehen, dass bei der Bestimmung der in der Tabelle aufgeführten Gebühren die Art, die Komplexität und die Schwere des Falles, die Beschuldigungen und Anklagepunkte, die Zahl und die Bedeutung der behandelten Probleme sowie deren vermögensrechtliche Auswirkungen, die Dauer des Verfahrens und des Gerichtsverfahrens, der Wert der erbrachten Leistung, die Zahl der an der Verteidigung beteiligten Rechtsanwälte, das erzielte Ergebnis, auch hinsichtlich der zivilrechtlichen Folgen, sowie die finanzielle Lage des Mandanten zu berücksichtigen sind. Für Rechtssachen, die aufgrund der Komplexität des Sachverhalts oder der behandelten Rechtsfragen besonderen Einsatz erfordern, können die Gebühren das Vierfache der festgelegten Höchstbeträge erreichen.

13      In Bezug auf Kapitel III ist in Art. 1 Abs. 3 des Beschlusses des CNF vorgesehen, dass die Gebührenobergrenze nach Einholung einer Stellungnahme des Vorstands der zuständigen Rechtsanwaltskammer bei Angelegenheiten, die besonders umfangreich, komplex oder schwierig sind, bis auf das Doppelte und bei Angelegenheiten von außergewöhnlicher Bedeutung bis auf das Vierfache erhöht werden kann. Nach Art. 9 dieses Beschlusses können die Höchstbeträge bei einem aufgrund besonderer Umstände des Falles bestehenden offensichtlichen Missverhältnis zwischen der Leistung und den in der Tabelle vorgesehenen Gebühren nach Einholung einer Stellungnahme des Vorstands der zuständigen Rechtsanwaltskammer auch über die in Art. 1 Abs. 3 des genannten Beschlusses vorgesehenen Beträge hinaus erhöht oder die Mindestbeträge herabgesetzt werden.

14      Durch das Decreto-legge Nr. 223 vom 4. Juli 2006 (GURI Nr. 153 vom 4. Juli 2006), das mit Gesetz Nr. 248 vom 4. August 2006 (GURI Nr. 186 vom 11. August 2006) in ein Gesetz umgewandelt wurde (im Folgenden: Bersani-Dekret), wurden die Vorschriften über Rechtsanwaltsgebühren geändert. Art. 2 („Dringende Vorschriften zum Schutz des Wettbewerbs im Bereich der beruflichen Dienstleistungen“) dieses Dekrets sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„1.      Gemäß dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des freien Wettbewerbs und dem des freien Personen- und Dienstleistungsverkehrs sowie zu dem Zweck, den Nutzern eine effektive Wahlmöglichkeit bei der Ausübung ihrer Rechte und eine Vergleichsmöglichkeit in Bezug auf die auf dem Markt angebotenen Leistungen zu sichern, werden mit Inkrafttreten des vorliegenden Dekrets die Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen aufgehoben, die im Hinblick auf freiberufliche und geistige Tätigkeit Folgendes vorsehen:

a)      verbindliche Fest‑ oder Mindestentgelte, also das Verbot, eine erfolgsabhängige Vergütung zu vereinbaren;

2.      Bestimmungen über … etwaige zum Schutze der Dienstleistungsempfänger im Voraus und allgemein festgesetzte Höchstentgelte. Bei der gerichtlichen Kostenfestsetzung und der Gewährung von Prozesskostenhilfe setzt der Richter die zu erstattenden Kosten und Gebühren auf der Grundlage der Gebührenordnung fest. ...“

15      Gemäß Art. 2233 des italienischen Zivilgesetzbuchs (Codice civile) wird die Vergütung im Rahmen eines Dienstvertrags, wenn sie nicht von den Parteien vereinbart wurde und nicht nach den geltenden Tarifen oder den Gebräuchen bestimmt werden kann, vom Richter nach Anhörung der berufsständischen Vereinigung festgesetzt, der der Dienstverpflichtete angehört. In jedem Fall muss die Höhe der Vergütung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Arbeit und der Würde des Berufs stehen. Eine zwischen einem Rechtsanwalt oder einem ermächtigten Rechtsanwaltsanwärter und seinem Mandanten getroffene Honorarvereinbarung ist nichtig, wenn sie nicht schriftlich niedergelegt ist.

 Vorverfahren

16      Mit Mahnschreiben vom 13. Juli 2005 wies die Kommission die italienischen Behörden darauf hin, dass bestimmte nationale Vorschriften über außergerichtliche anwaltliche Tätigkeiten möglicherweise nicht mit Art. 49 EG vereinbar seien. Die italienischen Behörden antworteten mit Schreiben vom 19. September 2005.

17      In der Folge ergänzte die Kommission zweimal die in dem Mahnschreiben vorgenommene Analyse. In einem ersten ergänzenden Mahnschreiben vom 23. Dezember 2005 hielt sie die italienischen Bestimmungen, mit denen die Verpflichtung begründet wird, sich an für gerichtliche und außergerichtliche anwaltliche Tätigkeiten vorgegebene Gebührensätze zu halten, für mit den Art. 43 EG und 49 EG unvereinbar.

18      Die Italienische Republik antwortete mit Schreiben vom 9. März, 10. Juli und 17. Oktober 2006 und informierte die Kommission über die neue für Rechtsanwaltsgebühren geltende italienische Regelung, das Bersani-Dekret.

19      In einem zweiten ergänzenden Mahnschreiben vom 23. März 2007 ergänzte die Kommission unter Berücksichtigung dieser neuen Regelung nochmals ihren Standpunkt. Die Italienische Republik antwortete mit Schreiben vom 21. Mai 2007.

20      Mit Schreiben vom 3. August 2007 bat die Kommission die italienischen Behörden sodann um Auskunft über die Modalitäten der Erstattung der Auslagen der Rechtsanwälte. Die Italienische Republik antwortete mit Schreiben vom 28. September 2007.

21      Da diese Antwort die Kommission nicht zufriedenstellte, übersandte sie der Italienischen Republik am 4. April 2008 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie geltend machte, dass die nationalen Vorschriften, mit denen die Rechtsanwälte dazu verpflichtet würden, Gebührenobergrenzen zu beachten, mit den Art. 43 EG und 49 EG unvereinbar seien. Diese Verpflichtung ergebe sich insbesondere aus den Art. 57 und 58 des Regio decreto legge, aus Art. 24 des Gesetzes Nr. 794 vom 13. Juni 1942, aus Art. 13 des Gesetzes Nr. 31 vom 9. Februar 1982, aus den einschlägigen Vorschriften der Ministerialdekrete Nr. 392 vom 24. November 1990, Nr. 585 vom 5. Oktober 1994 und Nr. 127 vom 8. April 2004 sowie aus den Vorschriften des Bersani-Dekrets (im Folgenden zusammen: streitige Vorschriften). Sie forderte diesen Mitgliedstaat auf, binnen zwei Monaten nach Eingang der Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser nachzukommen. Die Italienische Republik antwortete mit Schreiben vom 9. Oktober 2008.

22      Da die Kommission der Meinung war, dass die Italienische Republik die ihr zur Last gelegte Vertragsverletzung nicht behoben habe, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Parteien

23      Mit ihrer Klage wirft die Kommission der Italienischen Republik vor, unter Verstoß gegen die Art. 43 EG und 49 EG Vorschriften erlassen zu haben, mit denen die Rechtsanwälte dazu verpflichtet würden, bei der Bestimmung ihrer Gebühren Höchstsätze zu beachten.

24      Nach Ansicht der Kommission ergibt sich diese Verpflichtung aus dem Bersani-Dekret, mit dem zwar die festen oder Mindestsätze für Rechtsanwaltsgebühren abgeschafft worden seien, die Verpflichtung zur Beachtung von Höchstsätzen im Interesse des Verbraucherschutzes jedoch ausdrücklich beibehalten worden sei. Diese Auslegung werde im Übrigen durch den CNF, den Vorstand der Rechtsanwaltskammer Turin und die Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Kartellbehörde) in ihren offiziellen Dokumenten bestätigt.

25      Dass mit diesem Dekret das Verbot der vertraglichen Vereinbarung von Erfolgshonoraren – des sogenannten pactum de quota litis – aufgehoben worden sei, könne nichts daran ändern, dass die Beachtung dieser Höchstsätze in allen Fällen, in denen keine solche Vereinbarung geschlossen worden sei, verpflichtend sei. Im Übrigen hätten die italienischen Behörden im Vorverfahren die Verbindlichkeit dieser Höchstsätze nicht in Abrede gestellt.

26      Auch dass von den Höchstsätzen für Rechtsanwaltsgebühren Ausnahmen vorgesehen seien, schließe nicht aus, dass diese Höchstsätze in der Regel gälten, sondern bestätige dies vielmehr.

27      Die streitigen Vorschriften wirkten sich dahin gehend aus, dass sie in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Rechtsanwälte davon abhielten, sich in Italien niederzulassen oder dort vorübergehend ihre Dienstleistungen zu erbringen, und stellten somit Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 43 EG sowie des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 49 EG dar.

28      Eine verbindliche Höchstgebühr, die unabhängig von der Qualität der Leistung, des dafür erforderlichen Aufwands und der damit verbundenen Kosten gelte, könne nämlich den italienischen Markt für juristische Dienstleistungen für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Berufsträger weniger attraktiv machen.

29      Diese Beschränkungen ergäben sich erstens daraus, dass die Rechtsanwälte verpflichtet würden, ihre Gebühren auf der Grundlage einer außerordentlich komplexen Gebührentabelle zu berechnen, was insbesondere für außerhalb Italiens niedergelassene Rechtsanwälte Zusatzkosten verursache. Sofern diese Rechtsanwälte bisher ein anderes Gebührenberechnungssystem verwendet hätten, müssten sie dieses aufgeben, um sich an das italienische System anzupassen.

30      Zweitens verhinderten Höchstsätze für Rechtsanwaltsgebühren, dass Dienstleistungen von in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik niedergelassenen Rechtsanwälten angemessen vergütet würden, und hielten bestimmte Rechtsanwälte, die höhere Gebühren verlangten als die mit den streitigen Vorschriften festgesetzten, davon ab, vorübergehend in Italien ihre Dienstleistungen zu erbringen oder sich in diesem Mitgliedstaat niederzulassen. Die maximale Gewinnspanne werde nämlich unabhängig von der Qualität der erbrachten Dienstleistung, der Erfahrung des Rechtsanwalts, seiner Spezialisierung, der auf die Sache verwendeten Zeit, der wirtschaftlichen Lage des Mandanten und vor allem dem Umstand, dass der Rechtsanwalt möglicherweise weite Reisen auf sich nehmen müsse, festgelegt.

31      Drittens beeinträchtige das italienische Gebührensystem die Vertragsfreiheit der Rechtsanwälte, da es sie daran hindere, in bestimmten Situationen oder bei besonderen Mandanten einzelfallbezogene Angebote zu machen. Die streitigen Vorschriften könnten somit im Ausland niedergelassene Rechtsanwälte weniger wettbewerbsfähig machen, weil sie diesen wirksame Methoden zur Erschließung des italienischen Marktes für juristische Dienstleistungen verwehrten. Sie behinderten daher für in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Rechtsanwälte den Zugang zum italienischen Markt für juristische Dienstleistungen.

32      Die Italienische Republik trägt vor, dass es diese Höchstsätze in der italienischen Rechtsordnung zwar gebe, dass sie aber nicht zwingend seien, da es zahlreiche Ausnahmen gebe, die ein Überschreiten dieser Grenzen, sei es durch eine Entscheidung der Rechtsanwälte und ihrer Mandanten, sei es durch richterliche Anordnung, ermöglichten.

33      Das Hauptkriterium für die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren gemäß Art. 2233 des Codice civile sei der zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten geschlossene Vertrag, während die Rechtsanwaltsgebührensätze lediglich subsidiär heranzuziehen seien, wenn keine von den Vertragsparteien in Ausübung ihrer Vertragsfreiheit frei festgelegte Vergütung vereinbart worden sei.

34      Außerdem würden auf Stundenbasis berechnete Honorare in Kapitel III Nr. 10 des Beschlusses des CNF ausdrücklich als alternative Methode der Gebührenberechnung bei außergerichtlichen Tätigkeiten aufgeführt.

35      Mit dem Erlass des Bersani-Dekrets sei auch das Verbot von Verträgen zwischen Rechtsanwalt und Mandant, die ein Erfolgshonorar vorsähen, endgültig aus der italienischen Rechtsordnung entfernt worden.

36      Zu den Abweichungen von den für Rechtsanwaltsgebühren geltenden Höchstsätzen trägt die Italienische Republik vor, Rechtsanwälte und ihre Mandanten könnten bei allen Angelegenheiten, die aufgrund der behandelten Rechtsfragen besonders umfangreich, komplex oder schwierig seien, vereinbaren, dass sich die Gebühren bis auf das Doppelte dieser Höchstsätze und in Strafsachen sogar bis auf das Vierfache dieser Sätze belaufen, ohne dass eine Stellungnahme des Vorstands der zuständigen Rechtsanwaltskammer erforderlich wäre.

37      Eine vorherige Stellungnahme des Vorstands der zuständigen Rechtsanwaltskammer sei dagegen sowohl in Zivilsachen als auch in außergerichtlichen Angelegenheiten erforderlich, wenn es darum gehe, die Gebühren bei Angelegenheiten von außergewöhnlicher Bedeutung bis auf das Vierfache der vorgesehenen Höchstsätze und bei einem offensichtlichen Missverhältnis zwischen der fachlichen Leistung und den nach den Gebührensätzen vorgesehenen Gebühren auf einen über diesen Höchstsätzen liegenden Betrag zu erhöhen.

38      Hilfsweise macht die Italienische Republik geltend, dass die streitigen Vorschriften keine Maßnahmen enthielten, die die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr beschränkten, und dass die Rügen der Kommission unbegründet seien.

39      Was die Zusatzkosten betreffe, könnten die streitigen Vorschriften nicht allein deshalb als beschränkend angesehen werden, weil es zwei Regelungen gebe, nämlich die des Herkunftsmitgliedstaats und die des Aufnahmemitgliedstaats. Die im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Berufsregelungen gälten nämlich gemäß den Richtlinien 77/249 und 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. L 77, S. 36), unabhängig von den im Herkunftsmitgliedstaat geltenden Regelungen für die aus anderen Mitgliedstaaten kommenden Rechtsanwälte.

40      Was die angebliche Reduzierung der Gewinnspannen angehe, sähen die streitigen Vorschriften detailliert die vollständige Erstattung sämtlicher nachgewiesener Reisekosten vor und gewährten zusätzlich eine Entschädigung für die während der Reise verlorene Arbeitszeit. Diese Auslagen kämen zu den Gebühren, Honoraren und allgemeinen Auslagen der Rechtsanwälte hinzu und würden in Anwendung des Diskriminierungsverbots sowohl in Italien niedergelassenen Rechtsanwälten, die innerhalb Italiens reisen müssten, als auch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Rechtsanwälten, die nach Italien reisen müssten, erstattet.

 Würdigung durch den Gerichtshof

41      Vorab ist festzustellen, dass sich aus der Gesamtheit der streitigen Vorschriften ergibt, dass die Höchstsätze für Rechtsanwaltsgebühren rechtsverbindliche Regeln darstellen, da sie gesetzlich vorgesehen sind.

42      Selbst wenn es Rechtsanwälten und Mandanten, wie die Italienische Republik geltend macht, in der Praxis freistehen sollte, vertraglich eine Rechtsanwaltsvergütung auf der Grundlage eines Stunden‑ oder Erfolgshonorars zu vereinbaren, bleiben die Höchstsätze doch für den Fall verbindlich, dass keine Vereinbarung zwischen Rechtsanwalt und Mandant getroffen wurde.

43      Darüber hinaus hat die Kommission zu Recht festgestellt, dass das Bestehen von Ausnahmen, die es ermöglichen, die Gebührenobergrenzen unter bestimmten Voraussetzungen zu überschreiten und auf das Doppelte bzw. das Vierfache oder sogar darüber hinaus zu erhöhen, bestätigt, dass diese Höchstsätze in der Regel gelten.

44      Das Vorbringen der Italienischen Republik, dass die Rechtsanwälte nach italienischem Recht nicht verpflichtet seien, bei der Bestimmung ihrer Gebühren die Höchstsätze zu beachten, ist daher zurückzuweisen.

45      In Bezug auf das Bestehen von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 43 EG und 49 EG ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass derartige Beschränkungen solche Maßnahmen sind, die die Ausübung dieser Freiheiten verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Januar 2002, Kommission/Italien, C‑439/99, Slg. 2002, I‑305, Randnr. 22, vom 5. Oktober 2004, CaixaBank France, C‑442/02, Slg. 2004, I‑8961, Randnr. 11, vom 30. März 2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, C‑451/03, Slg. 2006, I‑2941, Randnr. 31, und vom 4. Dezember 2008, Jobra, C‑330/07, Slg. 2008, I‑9099, Randnr. 19).

46      Insbesondere umfasst der Begriff der Beschränkung die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den Marktzugang von Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten betreffen (vgl. u. a. Urteile CaixaBank France, Randnr. 12, und vom 28. April 2009, Kommission/Italien, C‑518/06, Slg. 2009, I‑3491, Randnr. 64).

47      In der vorliegenden Rechtssache steht fest, dass die streitigen Vorschriften unterschiedslos auf alle Rechtsanwälte anwendbar sind, die Dienstleistungen in Italien erbringen.

48      Die Kommission ist jedoch der Ansicht, dass diese Vorschriften insofern eine Beschränkung im Sinne der genannten Bestimmungen darstellten, als sie für in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik niedergelassene Rechtsanwälte, die Dienstleistungen in Italien erbrächten, durch die Anwendung des italienischen Gebührensystems verursachte Zusatzkosten, eine Reduzierung der Gewinnspannen und einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bedeuten könnten.

49      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Regelung eines Mitgliedstaats nicht allein deshalb eine Beschränkung im Sinne des EG‑Vertrags darstellt, weil andere Mitgliedstaaten in ihrem Gebiet ansässige Erbringer gleichartiger Dienstleistungen weniger strengen oder wirtschaftlich interessanteren Vorschriften unterwerfen (vgl. Urteil vom 28. April 2009, Kommission/Italien, Randnr. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Das Vorliegen einer Beschränkung im Sinne des EG‑Vertrags lässt sich daher nicht allein aus dem Umstand herleiten, dass in anderen Mitgliedstaaten als der Italienischen Republik niedergelassene Rechtsanwälte sich zur Berechnung ihrer Gebühren für in Italien erbrachte Dienstleistungen mit den dort geltenden Regeln vertraut machen müssen.

51      Eine solche Beschränkung besteht hingegen insbesondere dann, wenn diesen Rechtsanwälten die Möglichkeit genommen wird, unter Bedingungen eines normalen und wirksamen Wettbewerbs in den Markt des Aufnahmemitgliedstaats einzutreten (vgl. in diesem Sinne Urteile CaixaBank France, Randnrn. 13 und 14, vom 5. Dezember 2006, Cipolla u. a., C‑94/04 und C‑202/04, Slg. 2006, I‑11421, Randnr. 59, und vom 11. März 2010, Attanasio Group, C‑384/08, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 45).

52      Die Kommission hat jedoch nicht dargetan, dass die streitigen Vorschriften ein solches Ziel verfolgen oder eine derartige Wirkung haben.

53      Es ist ihr nämlich nicht gelungen, nachzuweisen, dass die fragliche Regelung so gestaltet ist, dass sie den Zugang – unter Bedingungen eines normalen und wirksamen Wettbewerbs – zum italienischen Markt der in Rede stehenden Dienstleistungen beeinträchtigt. Die italienische Gebührenregelung zeichnet sich durch eine Flexibilität aus, die offenbar eine angemessene Vergütung aller Arten von Dienstleistungen, die von Rechtsanwälten erbracht werden, erlaubt. So können die Gebühren bei Angelegenheiten, die besonders umfangreich, komplex oder schwierig sind, bis auf das Doppelte der bei Fehlen einer Vereinbarung geltenden Gebührenhöchstsätze, bei Angelegenheiten von außergewöhnlicher Bedeutung bis auf das Vierfache dieser Sätze oder, wenn unter den vorliegenden Umständen ein offensichtliches Missverhältnis zwischen den Leistungen des Rechtsanwalts und den vorgesehenen Höchstgebühren besteht, sogar darüber hinaus erhöht werden. Daher können die Rechtsanwälte unter verschiedenen Umständen eine besondere Vereinbarung mit ihren Mandanten schließen, um die Höhe ihrer Gebühren festzulegen.

54      Da die Kommission somit nicht dargetan hat, dass die streitigen Vorschriften den Zugang von Rechtsanwälten aus anderen Mitgliedstaaten zum fraglichen italienischen Markt behindern, ist ihr Vorbringen im Hinblick auf die Feststellung des Bestehens einer Beschränkung im Sinne der Art. 43 EG und 49 EG zurückzuweisen.

55      Die Klage ist daher abzuweisen.

 Kosten

56      Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Italienische Republik nicht beantragt hat, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, ist zu entscheiden, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Die Europäische Kommission und die Italienische Republik tragen jeweils ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.

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