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Document 62007CJ0546

Urteil des Gerichtshofes (Dritte Kammer) vom 21. Januar 2010.
Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Freier Dienstleistungsverkehr - Art. 49 EG - Anhang XII der Beitrittsakte - Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte: Polen - Kapitel 2 Nr. 13 - Möglichkeit für die Bundesrepublik Deutschland, von Art. 49 Abs. 1 EG abzuweichen - Stillhalteklausel - Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen vom 31. Januar 1990 über die Entsendung von Arbeitnehmern polnischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen - Ausschluss der Möglichkeit für in anderen Mitgliedstaaten ansässige Unternehmen, mit polnischen Unternehmen Werkverträge über die Ausführung von Arbeiten in Deutschland abzuschließen - Ausweitung der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags bestehenden Beschränkungen des Zugangs polnischer Arbeitnehmer zum deutschen Arbeitsmarkt.
Rechtssache C-546/07.

Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-00439

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:25

Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑546/07

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 5. Dezember 2007,

Europäische Kommission, vertreten durch E. Traversa und P. Dejmek als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

unterstützt durch

Republik Polen, vertreten durch M. Dowgielewicz als Bevollmächtigten,

Streithelferin,

gegen

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller, M. Lumma und C. Blaschke als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter A. Rosas, U. Lõhmus, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: R. Grass,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2009

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 EG und gegen die Stillhalteklausel in Kapitel 2 Nr. 13 des Anhangs XII der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33, im Folgenden: Beitrittsakte) verstoßen hat, dass sie

– in ihrer administrativen Praxis den Begriff „Unternehmen der anderen Seite“ in Art. 1 Abs. 1 der Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen vom 31. Januar 1990 über die Entsendung von Arbeitnehmern polnischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen in der am 1. März und am 30. April 1993 geänderten Fassung (BGBl. 1993 II, S. 1125, im Folgenden: deutsch-polnische Vereinbarung) als „deutsches Unternehmen“ auslegt und

– nach der im Merkblatt 16a der Bundesagentur für Arbeit („Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten der EU im Rahmen von Werkverträgen in der Bundesrepublik Deutschland“, im Folgenden: Merkblatt 16a) enthaltenen sogenannten Arbeitsmarktschutzklausel die regionalen Beschränkungen für den Zugang von Arbeitnehmern nach dem 16. April 2003, d. h. nach dem Tag der Unterzeichnung des Vertrags über den Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union (ABl. 2003, L 236, S. 17, im Folgenden: Beitrittsvertrag), ausgedehnt hat.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

Beitrittsakte

2. Art. 24 der Beitrittsakte bestimmt:

„Die in den Anhängen V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII und XIV zu dieser Akte aufgeführten Maßnahmen finden auf die neuen Mitgliedstaaten unter den in diesen Anhängen festgelegten Bedingungen Anwendung.“

3. Anhang XII der Beitrittsakte ist mit „Liste nach Artikel 24 der Beitrittsakte: Polen“ überschrieben. Kapitel 2 („Freizügigkeit“) dieses Anhangs enthält eine Nr. 13, in der es heißt:

„Um tatsächlichen oder drohenden schwerwiegenden Störungen in bestimmten empfindlichen Dienstleistungssektoren auf ihren Arbeitsmärkten zu begegnen, die sich in bestimmten Gebieten aus der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen im Sinne des Artikels 1 der Richtlinie 96/71/EG ergeben könnten, können Deutschland und Österreich, solange sie gemäß den vorstehend festgelegten Übergangsbestimmungen nationale Maßnahmen oder Maßnahmen aufgrund von bilateralen Vereinbarungen über die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer anwenden, nach Unterrichtung der Kommission von Artikel 49 Absatz 1 des EG-Vertrags abweichen, um im Bereich der Erbringung von Dienstleistungen durch in Polen niedergelassene Unternehmen die zeitweilige grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern einzuschränken, deren Recht, in Deutschland oder Österreich eine Arbeit aufzunehmen, nationalen Maßnahmen unterliegt.

Die Anwendung dieser Nummer darf nicht zu Bedingungen für die zeitweilige Freizügigkeit von Arbeitnehmern im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen zwischen Deutschland bzw. Österreich und Polen führen, die restriktiver sind als die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags geltenden Bedingungen.“

Deutsch-polnische Vereinbarung

4. Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung lautet:

„Polnischen Arbeitnehmern, die auf der Grundlage eines Werkvertrags zwischen einem polnischen Arbeitgeber und einem Unternehmen der anderen Seite für eine vorübergehende Tätigkeit entsandt werden (Werkvertragsarbeitnehmer), wird die Arbeitserlaubnis unabhängig von der Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts erteilt.“

5. Art. 2 Abs. 5 der Vereinbarung bestimmt:

„Die Bundesanstalt für Arbeit der Bundesrepublik Deutschland achtet bei der Durchführung dieser Vereinbarung in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Sozialpolitik der Republik Polen darauf, dass es nicht zu einer regionalen oder sektoralen Konzentration der beschäftigten Werkvertragsarbeitnehmer kommt. Diese Vereinbarung wird nicht auf Arbeitnehmer im Bereich des Feuerfest- und Schornsteinbaus angewendet.“

Durchführungsanweisungen der Bundesagentur für Arbeit der Bundesrepublik Deutschland

6. Die von der Bundesagentur für Arbeit erlassenen Durchführungsanweisungen sind u. a. im Merkblatt 16a enthalten, das die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten der Union im Rahmen von Werkverträgen in der Bundesrepublik Deutschland betrifft und eine Arbeitsmarktschutzklausel enthält. Nach dieser Klausel sind Werkverträge mit ausländischen Arbeitnehmern grundsätzlich nicht zugelassen, soweit sie in einem Agenturbezirk durchgeführt werden sollen, in dem die Arbeitslosenquote im Durchschnitt der letzten sechs Monate mindestens um 30 % über der Arbeitslosenquote der Bundesrepublik Deutschland gelegen hat. Die Zusammenstellung der Agenturbezirke, die unter diese Regelung fallen, wird vierteljährlich aktualisiert.

Vorverfahren

7. Mit Aufforderungsschreiben vom 3. April 1996 wies die Kommission die Bundesrepublik Deutschland darauf hin, dass die deutsche Verwaltungspraxis zur Durchführung der deutsch-polnischen Vereinbarung mit Art. 49 EG unvereinbar sei, soweit die deutschen Behörden den Begriff „Unternehmen der anderen Seite“ in Art. 1 Abs. 1 dieser Vereinbarung dahin auslegten, dass nur deutsche Unternehmen erfasst seien. Im Gegensatz zu diesen seien Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland, die in Deutschland Dienstleistungen im Bausektor erbrächten, aufgrund dieser Praxis daran gehindert, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abzuschließen.

8. Mit Schreiben vom 28. Juni 1996 teilte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission mit, dass sie den Standpunkt, den diese in ihrem Schreiben vom 3. April 1996 dargelegt habe, nicht teile.

9. Am 12. November 1997 übersandte die Kommission der Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie diesen Standpunkt wiederholte und die Bundesrepublik aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um dieser Stellungnahme binnen zwei Monaten nachzukommen.

10. Nach einem Treffen zwischen Vertretern der Kommission und der Bundesrepublik Deutschland am 5. Mai 1998 teilte Deutschland in einem Schreiben vom 19. Juli 1998 mit, dass eine politische Lösung im Rahmen des am 16. Dezember 1991 in Brüssel unterzeichneten Europaabkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften sowie ihren Mitgliedstaaten auf der einen Seite und der Republik Polen auf der anderen Seite angestrebt werde. Diese Bestrebungen führten jedoch nicht zum Erfolg.

11. Auf eine Anfrage, die die Kommission am 15. Juni 2004 an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet hatte, antwortete diese, dass sie ihre Praxis hinsichtlich der Auslegung der deutsch-polnischen Vereinbarung beibehalten werde und dass sie angesichts der Tatsache, dass die Kommission seit beinahe sieben Jahren untätig geblieben sei, zu Recht davon habe ausgehen dürfen, dass das Vertragsverletzungsverfahren nicht mehr fortgesetzt werde.

12. In einem ergänzenden Aufforderungsschreiben vom 10. April 2006 machte die Kommission die Bundesrepublik Deutschland darauf aufmerksam, dass sie weiterhin der Auffassung sei, es liege ein Verstoß gegen Art. 49 EG vor. Darüber hinaus verstoße Deutschland auch gegen die Stillhalteklausel in Kapitel 2 Nr. 13 des Anhangs XII der Beitrittsakte (im Folgenden: Stillhalteklausel), da die Ausdehnung der regionalen Beschränkungen, die nach der auf Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung beruhenden und im Merkblatt 16a enthaltenen Arbeitsmarktschutzklausel verhängt worden seien, gegen das Verbot verstoße, die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung der Beitrittsakte bestehenden Beschränkungen zu verschärfen.

13. Mit Schreiben vom 8. Juni 2006 teilte die Bundesrepublik Deutschland der Kommission in Erwiderung auf die erste Rüge mit, dass es nicht sachgerecht sei, die deutsch-polnische Vereinbarung auf alle Mitgliedstaaten und deren Unternehmen anzuwenden. Darüber hinaus verwies sie auf den Ordre-public-Vorbehalt des Art. 46 EG und machte geltend, dass eine ordnungsgemäße Durchführung dieser Vereinbarung sowie die notwendige Kontrolle der Einhaltung der geltenden Regelungen und eine effiziente Verfolgung von Verstößen gewährleistet werden müssten. Doch könnten sozialversicherungsrechtliche Forderungen gegenüber Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten nicht zeitnah und sicher vollstreckt werden. Zur zweiten Rüge machte die Bundesrepublik Deutschland geltend, die Ausdehnung der auf der Arbeitsmarktschutzklausel beruhenden regionalen Beschränkungen auf im April 2003 noch nicht erfasste Gebiete verstoße nicht gegen die Stillhalteklausel, da die Aktualisierung der Liste der in Anwendung des Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung erlassenen regionalen Beschränkungen keine Änderung der Regelung selbst, sondern lediglich eine Folge aus den Veränderungen auf den regionalen Arbeitsmärkten sei.

14. In ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 15. Dezember 2006 wiederholte die Kommission ihre Rügen, während die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Erwiderung vom 19. Februar 2007 bei ihrem Standpunkt blieb.

15. Unter diesen Umständen hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

Zur Klage

Zur Zulässigkeit

Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

16. Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, die Klage sei jedenfalls hinsichtlich der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 49 EG unzulässig.

17. Hierzu trägt sie vor, sie habe berechtigterweise annehmen dürfen, dass die Untätigkeit der Kommission zwischen November 1997 und Juni 2004, d. h. während eines Zeitraums von fast sieben Jahren, bedeute, dass die Kommission diese Rüge fallen gelassen habe. Das berechtigte Vertrauen der deutschen Behörden auf die Aufgabe dieser Rüge sei umso gerechtfertigter, als die Kommission eine Aufhebung der deutsch-polnischen Vereinbarung einem Schreiben zufolge, das ihr Mitglied Herr Monti im Juli 1998 an die deutschen Behörden gesandt habe, nicht begrüßt und bis November 1998 abgewartet habe, ob andere Lösungen in Betracht kämen. Da die Kommission nach Ablauf dieser Frist nicht tätig geworden sei, hätten die deutschen Behörden zu Recht davon ausgehen dürfen, dass die Kommission ihre Rüge eines Verstoßes gegen Art. 49 EG fallen gelassen habe.

18. Erst nach der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags, d. h. zu einer Zeit, in der die Bundesrepublik Deutschland die deutsch-polnische Vereinbarung nicht mehr habe kündigen können, ohne gegen die Stillhalteverpflichtung zu verstoßen, habe die Kommission missbräuchlich weitere Verfahrensschritte eingeleitet, obwohl Deutschland gerade auf ihren Wunsch hin auf die Kündigung der Vereinbarung verzichtet habe.

19. Die Kommission erwidert, eine überlange Dauer des in Art. 226 EG vorgesehenen vorprozessualen Verfahrens könne es dem Mitgliedstaat, gegen den sich das Verfahren richte, in manchen Fällen zwar erschweren, die Argumente der Kommission zu widerlegen, und somit seine Verteidigungsrechte beeinträchtigen, dies sei hier jedoch nicht der Fall. Im Übrigen könne der Umstand, dass auf eine mit Gründen versehene Stellungnahme nicht unmittelbar oder binnen kurzer Zeit weitere Schritte erfolgt seien, beim betroffenen Mitgliedstaat kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass das Verfahren abgeschlossen worden sei.

20. Sie fügt hinzu, dass in dem in Randnr. 17 des vorliegenden Urteils genannten Schreiben von Herrn Monti ausdrücklich darauf hingewiesen worden sei, dass eine Einstellung des Verfahrens aus der Sicht des Binnenmarkts nicht vertretbar sei, und dass sie zu keinem Zeitpunkt Anhaltspunkte dafür habe erkennen lassen, dass sie die erste Rüge aufgeben werde.

Würdigung durch den Gerichtshof

21. Nach ständiger Rechtsprechung ist es Sache der Kommission, den Zeitpunkt für die Erhebung der Vertragsverletzungsklage zu wählen, wobei die Erwägungen, die für diese Wahl bestimmend sind, die Zulässigkeit der Klage nicht beeinflussen können (vgl. u. a. Urteil vom 1. Juni 1994, Kommission/Deutschland, C‑317/92, Slg. 1994, I‑2039, Randnr. 4).

22. Die Bestimmungen des Art. 226 EG sind anzuwenden, ohne dass die Kommission eine bestimmte Frist einhalten muss, sofern nicht ein Fall vorliegt, in dem eine zu lange Dauer des in diesem Artikel vorgesehenen Vorverfahrens es dem betroffenen Staat erschweren könnte, die Argumente der Kommission zu widerlegen, und damit die Verteidigungsrechte verletzen würde. Dass dies der Fall ist, hat der betroffene Mitgliedstaat nachzuweisen (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, C‑490/04, Slg. 2007, I‑6095, Randnr. 26).

23. Im vorliegenden Fall hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nachgewiesen, dass sich die ungewöhnlich lange Verfahrensdauer auf die Organisation ihrer Verteidigung ausgewirkt hätte.

24. Wie der Generalanwalt in Nr. 21 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, konnte der Umstand, dass die Stillhalteklausel während der vorgerichtlichen Phase des vorliegenden Verfahrens in Kraft getreten ist – was die Bundesrepublik Deutschland nach deren Ansicht daran gehindert hat, die deutsch-polnische Vereinbarung zu kündigen –, es als solcher der Bundesrepublik Deutschland nicht erschweren, die von der Kommission im Rahmen der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 49 EG vorgebrachten Argumente zu widerlegen. Wie die Kommission vorträgt, haben zudem das ergänzende Aufforderungsschreiben vom 10. April 2006 und die ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme vom 15. Dezember 2006, in denen insbesondere diese Rüge wiederholt wurde, der Bundesrepublik Deutschland erlaubt, die Gründe, aus denen sie sich gegen diese Rüge wandte, in voller Kenntnis der Sachlage darzulegen.

25. Außerdem hängt das Vertragsverletzungsverfahren von der objektiven Feststellung eines Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen seine Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht ab, und ein Mitgliedstaat kann sich in einem Fall wie dem vorliegenden nicht auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes berufen, um eine solche Feststellung zu verhindern, da die Zulassung einer solchen Rechtfertigung dem Zweck des Verfahrens nach Art. 226 EG widerspräche (vgl. u. a. Urteil vom 24. April 2007, Kommission/Niederlande, C‑523/04, Slg. 2007, I‑3267, Randnr. 28).

26. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann nämlich der Umstand, dass die Kommission auf eine mit Gründen versehene Stellungnahme nicht unmittelbar oder binnen kurzer Zeit weitere Schritte folgen ließ, beim betroffenen Mitgliedstaat kein berechtigtes Vertrauen darauf begründen, dass das Verfahren abgeschlossen worden ist (vgl. u. a. Urteil vom 1. Juni 1994, Kommission/Deutschland, Randnr. 4). Dies gilt erst recht, wenn wie hier feststeht, dass während des Zeitraums der angeblichen Untätigkeit Anstrengungen unternommen wurden, insbesondere im Rahmen des in Randnr. 10 des vorliegenden Urteils genannten Assoziationsabkommens, um eine Lösung zu finden, die den behaupteten Verstoß beendet.

27. Da schließlich weder dem in den Randnrn. 17 und 20 des vorliegenden Urteils genannten Schreiben von Herrn Monti noch irgendeinem anderen Verfahrensstadium eine Stellungnahme der Kommission dahin zu entnehmen ist, dass sie das eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren abzuschließen beabsichtigte – was die Bundesrepublik Deutschland nicht bestreitet –, kann diese nicht mit Erfolg geltend machen, die Kommission habe gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, indem sie das Verfahren nicht abgeschlossen habe.

28. Daher ist die von der Bundesrepublik Deutschland erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen und die Klage der Kommission für zulässig zu erklären.

Zur Begründetheit

Zur ersten Rüge

– Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

29. Die Kommission trägt vor, dass die deutschen Behörden dadurch, dass sie die Formulierung „Unternehmen der anderen Seite“ in Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung dahin auslegten, dass sie nur deutsche Unternehmen erfasse, Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten, die in Deutschland Arbeiten ausführen wollten, daran hinderten, Verträge mit polnischen Unternehmern abzuschließen, sofern die Unternehmen aus diesen anderen Mitgliedstaaten nicht ein Tochterunternehmen in Deutschland gründeten. Durch diese Auslegung, die nicht zwingend sei, würden diese Unternehmen davon abgehalten, ihre Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EG wahrzunehmen, um für die Ausführung von Arbeiten in Deutschland Werkverträge mit polnischen Unternehmen nach der deutsch-polnischen Vereinbarung abzuschließen und die in dieser Vereinbarung vorgesehene Quote für polnische Arbeitnehmer zu nutzen.

30. Eine derartige Auslegung des Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung stelle eine direkte, auf die Staatsangehörigkeit oder den Sitz des Unternehmens gestützte Diskriminierung dar, die nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt werden könne. Die Berufung auf solche Gründe setze voraus, dass die Aufrechterhaltung einer diskriminierenden Maßnahme erforderlich sei, um einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung zu begegnen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dies sei hier jedoch nicht der Fall.

31. Allein der Umstand, dass die Unternehmen, die einen Werkvertrag mit einem polnischen Unternehmer abschließen wollten, nicht in Deutschland ansässig seien, verhindere nämlich nicht die Kontrolle der ordnungsgemäßen Durchführung der deutsch-polnischen Vereinbarung. Bezüglich der wirksamen Durchsetzung der Haftung des Unternehmens im Fall der Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen führt die Kommission aus, dass rein administrative Erwägungen kein zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses darstellten und daher Beschränkungen einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit nicht rechtfertigten. Im Übrigen gebe es entgegen der Behauptung der Bundesrepublik Deutschland keinen Grund, zu befürchten, dass die Öffnung der deutsch-polnischen Vereinbarung für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten zu einer unkorrekten Anwendung oder Umgehung der Übergangsvorschriften des Beitrittsvertrags führe oder diese fördere; abgesehen davon bringe eine solche Befürchtung auf keinen Fall eine hinreichend schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit mit sich, die eine diskriminierende Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen könnte.

32. Schließlich hebt die Kommission unter Hinweis u. a. auf das Urteil vom 15. Januar 2002, Gottardo (C‑55/00, Slg. 2002, I‑413, Randnr. 34), hervor, dass der fundamentale Grundsatz der Gleichbehandlung einen Mitgliedstaat, wenn dieser mit einem Drittstaat eine bilaterale Vereinbarung abschließe, dazu zwinge, den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten die gleichen Vorteile zu gewähren, die auch seinen eigenen Staatsangehörigen aufgrund dieser Vereinbarung zustünden, es sei denn, dass er eine objektive Rechtfertigung für seine Weigerung, auf diese Weise vorzugehen, vorbringen könne. Dies sei hier jedoch nicht der Fall.

33. Die Republik Polen, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten ist, macht u. a. geltend, dass polnische Unternehmen aufgrund der in der deutschen Verwaltungspraxis angewandten Auslegung des Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung auf deutschem Gebiet keine mit Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland geschlossenen Werkverträge durchführen könnten und dass die in diesen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen keine polnischen Unternehmen als Subunternehmer beauftragen könnten. Wie die Kommission zieht die Republik Polen den Schluss, dass diese Praxis einen Verstoß gegen den Grundsatz der Inländerbehandlung darstelle, der durch keinen der in Art. 46 EG genannten Gründe gerechtfertigt werden könne, und dass einer Erstreckung der Vergünstigungen aus der genannten Vereinbarung auf Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland nichts entgegenstehe.

34. Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, die streitige Auslegung stehe mit dem Wortlaut der deutsch-polnischen Vereinbarung in Einklang. Dass die Vereinbarung nur deutschen Unternehmen Rechte einräume, stelle keine verbotene Diskriminierung im Sinne des Art. 49 EG dar. Unternehmer aus anderen Mitgliedstaaten dürften grundsätzlich Dienstleistungen in Deutschland erbringen, sie könnten sich lediglich nicht auf Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung mit dem Ziel berufen, polnische Unternehmen bei der Durchführung eines Auftrags einzuschalten.

35. Im Übrigen seien deutsche Unternehmen, die sich auf die deutsch-polnische Vereinbarung berufen könnten, alle in Deutschland niedergelassenen Unternehmen, einschließlich der Ableger von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten.

36. Ferner befänden sich deutsche und ausländische Unternehmen nicht in einer vergleichbaren Situation, was von vornherein eine verbotene Diskriminierung ausschließe. Im Übrigen stelle die deutsch-polnische Vereinbarung ein ausgewogenes Abkommen dar, das auf Gegenseitigkeit beruhe und aus dem nicht einfach einzelne Rechte zugunsten von Angehörigen eines Mitgliedstaats herausgelöst werden könnten, der nicht an ihm beteiligt sei. Die Bundesrepublik Deutschland verweist hinsichtlich dieser beiden Argumente u. a. auf das Urteil vom 5. Juli 2005, D. (C‑376/03, Slg. 2005, I‑5821, Randnrn. 61 ff.).

37. Zudem würden die in der Beitrittsakte enthaltenen Übergangsvorschriften, deren Hintergrund und Zweck es gewesen sei, die Auswirkungen unterschiedlicher Wettbewerbsvoraussetzungen in dienstleistungsintensiven Branchen einzudämmen und Verwerfungen des Arbeitsmarkts zu verhindern, durch eine extensive Auslegung des Art. 49 EG ihres Inhalts entleert.

38. Wollte man annehmen, dass die in der deutschen Verwaltungspraxis angewandte Auslegung des Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung eine Beschränkung im Sinne des Art. 49 EG begründe, wäre diese jedenfalls nach Art. 55 EG in Verbindung mit Art. 46 EG gerechtfertigt, da bei einer Ausweitung der Vergünstigung dieser Vereinbarung auf nicht in Deutschland ansässige Unternehmen eine angemessene Kontrolle der ordnungsgemäßen Durchführung dieser Vereinbarung nur unter unverhältnismäßigem Verwaltungsaufwand gewährleistet sei und die wirksame Durchsetzung der Haftung des Unternehmens, das ein polnisches Subunternehmen mit der Erbringung von Bauleistungen beauftrage, für den Fall, dass dieses Subunternehmen die Sozialversicherungsbeiträge nicht entrichte, nicht sichergestellt werden könne.

– Würdigung durch den Gerichtshof

39. Nach ständiger Rechtsprechung setzt der freie Dienstleistungsverkehr insbesondere die Beseitigung jeder Diskriminierung gegenüber dem Dienstleistenden aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder des Umstands voraus, dass er in einem anderen als dem Mitgliedstaat niedergelassen ist, in dem die Dienstleistung zu erbringen ist (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Bedingung, wonach ein Unternehmen in dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, eine feste Niederlassung oder ein Tochterunternehmen gründen muss, läuft dem freien Dienstleistungsverkehr direkt zuwider, da sie die Erbringung von Dienstleistungen in diesem Mitgliedstaat durch in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen unmöglich macht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 4. Dezember 1986, Kommission/Deutschland, 205/84, Slg. 1986, 3755, Randnr. 52, vom 7. Februar 2002, Kommission/Italien, C‑279/00, Slg. 2002, I‑1425, Randnr. 17, und vom 11. März 2004, Kommission/Frankreich, C‑496/01, Slg. 2004, I‑2351, Randnr. 65).

40. Hierzu ist festzustellen, dass Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung, wie er in der deutschen Verwaltungspraxis ausgelegt wird, gegenüber Dienstleistungserbringern, die in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen sind und die einen Werkvertrag mit einem polnischen Unternehmen abschließen wollen, um Dienstleistungen in Deutschland zu erbringen, eine unmittelbare Diskriminierung begründet, die gegen Art. 49 EG verstößt.

41. Denn nach der Auslegung dieser Vorschrift in der deutschen Verwaltungspraxis können nur Unternehmen, die ihren Sitz oder eine feste Niederlassung in Deutschland haben, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abschließen und damit bei der Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland ungeachtet der in der Beitrittsakte enthaltenen Übergangsbestimmungen von der Quote für polnische Arbeitnehmer profitieren, die nach der deutsch-polnischen Vereinbarung garantiert wird.

42. Soweit die Bundesrepublik Deutschland vorträgt, die streitige Verwaltungspraxis sei gerechtfertigt, weil es sich um eine in einem internationalen bilateralen Abkommen enthaltene Bestimmung handele, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung der Vereinbarungen, die sie aufgrund von internationalen Abkommen eingegangen sind, unabhängig davon, ob es sich um ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten oder zwischen einem Mitgliedstaat und einem oder mehreren Drittstaaten handelt, vorbehaltlich des Art. 307 EG ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht beachten müssen (vgl. u. a. Urteil Gottardo, Randnr. 33).

43. Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass die Gefährdung des Gleichgewichts und der Gegenseitigkeit eines bilateralen Abkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat eine objektive Rechtfertigung für die Weigerung des an diesem Abkommen beteiligten Mitgliedstaats darstellen kann, die Vorteile, die seine eigenen Staatsangehörigen aus diesem Abkommen ziehen, auf die Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zu erstrecken (vgl. u. a. Urteile vom 21. September 1999, Saint-Gobain ZN, C‑307/97, Slg. 1999, I‑6161, Randnr. 60, und Gottardo, Randnr. 36).

44. Anders als in den Situationen, um die es in diesen Rechtssachen und in der Rechtssache ging, in der das Urteil D. erlassen wurde, auf das sich die Bundesrepublik Deutschland stützt, betrifft die Anwendung der deutsch-polnischen Vereinbarung seit dem Beitritt der Republik Polen zur Union jedoch zwei Mitgliedstaaten, so dass die Bestimmungen dieser Vereinbarung auf die Beziehungen zwischen diesen Mitgliedstaaten nur unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Regeln des Vertrags im Bereich der Dienstleistungsfreiheit, Anwendung finden können (vgl. entsprechend u. a. Urteile vom 27. September 1988, Matteucci, 235/87, Slg. 1988, 5589, Randnrn. 16 und 19 bis 21, und vom 8. September 2009, Budĕjovický Budvar, C‑478/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 97 und 98).

45. Wie die Republik Polen zutreffend ausgeführt hat, kann darüber hinaus die Erstreckung des Rechts, Werkverträge mit polnischen Subunternehmen abzuschließen, auf Unternehmen, die in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland niedergelassen sind, als solche die nach Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung festgelegte Quote nicht beeinträchtigen.

46. Entgegen der Auffassung der Bundesrepublik Deutschland erlaubt auch nichts die Annahme, ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenes Unternehmen befinde sich in Bezug auf die Möglichkeit, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abzuschließen, um Dienstleistungen in Deutschland zu erbringen, in einer anderen Situation als die in Deutschland niedergelassenen Unternehmen.

47. Im Übrigen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Bestimmungen wie die in Rede stehenden Vorschriften der deutsch-polnischen Vereinbarung mit dem Gemeinschaftsrecht nur dann vereinbar sind, wenn sie unter eine ausdrückliche Ausnahmebestimmung fallen, wie z. B. Art. 46 EG, auf den Art. 55 EG verweist (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 86).

48. Nach Art. 46 EG, der eng auszulegen ist, können diskriminierende Vorschriften aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juli 2007, Kommission/Deutschland, Randnr. 86).

49. Ein derartiger Rechtfertigungsgrund setzt jedoch voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 29. Oktober 1998, Kommission/Spanien, C‑114/97, Slg. 1998, I‑6717, Randnr. 46, und vom 1. Oktober 2009, Woningstichting Sint Servatius, C‑567/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 28).

50. Zur Rechtfertigung des Verbots der Entsendung polnischer Arbeitnehmer im Rahmen von Werkverträgen mit Unternehmen, die weder ihren Sitz noch eine feste Niederlassung in Deutschland haben, beruft sich die Bundesrepublik Deutschland insbesondere auf die Notwendigkeit, eine wirksame Kontrolle der ordnungsgemäßen Anwendung der deutsch-polnischen Vereinbarung zu gewährleisten, die gegenüber in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen nur unter Aufbringung übermäßiger zusätzlicher Verwaltungskosten sichergestellt werden könne, sowie auf Probleme, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Beitreibung sozialversicherungsrechtlicher Forderungen gegenüber Unternehmen, die nach den deutschen Regelungen für die Zahlung der diesen Forderungen entsprechenden Beträge hafteten, entstehen könnten, wenn diese Unternehmen nicht über eine feste Niederlassung in Deutschland verfügten.

51. Damit hat die Bundesrepublik Deutschland keine überzeugenden Gesichtspunkte geltend gemacht, die unter einen der in Art. 46 EG genannten Gründe fallen könnten, da wirtschaftliche Erwägungen und schlichte praktische Schwierigkeiten bei der Durchführung der deutsch-polnischen Vereinbarung Beschränkungen einer Grundfreiheit jedenfalls nicht rechtfertigen können (vgl. entsprechend u. a. Urteil vom 26. Januar 1999, Terhoeve, C‑18/95, Slg. 1999, I‑345, Randnr. 45) und erst recht nicht eine Abweichung gemäß Art. 46 EG, die eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, voraussetzt.

52. Hinsichtlich der behaupteten Gefahr einer Umgehung der für die Bundesrepublik günstigen Übergangsvorschriften, die in die Beitrittsakte aufgenommen wurden, um schwerwiegende Störungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu verhindern, genügt schließlich der Hinweis, dass die Erstreckung des Rechts, Werkverträge mit polnischen Unternehmen abzuschließen, auf in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Unternehmen, um diesen zu ermöglichen, in den Genuss der nach Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung festgelegten Quote für polnische Arbeitnehmer zu kommen, keine derartigen Auswirkungen haben kann, da die Zahl der polnischen Arbeitnehmern gewährten Arbeitserlaubnisse jedenfalls nicht durch eine solche Erstreckung zugunsten von in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen verändert wird.

53. Unter diesen Umständen ist der ersten Rüge stattzugeben.

Zur zweiten Rüge

– Vorbringen der Verfahrensbeteiligten

54. Die Kommission macht geltend, die im Merkblatt 16a enthaltene Arbeitsmarktschutzklausel verstoße, abgesehen davon, dass zweifelhaft sei, ob sie auf Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung gestützt werden könne, gegen die Stillhalteklausel.

55. Nach dieser Stillhalteklausel sei jede Verschärfung der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags, d. h. am 16. April 2003, bestehenden Beschränkungen verboten, gleich ob sie auf der Anwendung einer bereits bestehenden oder auf einer nach diesem Zeitpunkt erlassenen Regelung beruhe, da der Stillhalteklausel sonst die praktische Wirksamkeit genommen würde. Nach dem 16. April 2003 seien neue Bezirke, u. a. Bremerhaven, Bochum, Dortmund, Duisburg, Essen, Wuppertal, Dresden, Köln, Oberhausen und Recklinghausen, neu in die Liste der Bezirke aufgenommen worden, die unter die im Merkblatt 16a enthaltene Arbeitsmarktschutzklausel fielen. Die Anwendung dieser Klausel habe daher für die polnischen Arbeitnehmer zu einer tatsächlichen Verschlechterung des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zu der vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags bestehenden Situation geführt, was offenkundig gegen die Stillhalteklausel verstoße.

56. Die Republik Polen führt u. a. aus, die im Merkblatt 16a enthaltene Arbeitsmarktschutzklausel stelle keine Umsetzung des Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung dar, da mit dieser Klausel nicht die Zahl der Arbeitnehmer in einem bestimmten Bezirk geregelt werde – in Abhängigkeit davon, ob es bereits zu einer Konzentration von beschäftigten Werkvertragsarbeitnehmern gekommen sei –, sondern der entsprechende Bezirk für den Abschluss von Werkverträgen vollständig gesperrt werde. Überdies sei für die Aufnahme eines Bezirks in die von der Bundesagentur für Arbeit erstellte Zusammenstellung der Grad der dort herrschenden Arbeitslosigkeit und nicht die Konzentration von zur Durchführung von Werkverträgen entsandten polnischen Arbeitnehmern entscheidend.

57. Die Bundesrepublik Deutschland erwidert, es sei zwar für die gemeinschaftsrechtliche Bewertung der Situation unerheblich, ob Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung durch die im Merkblatt 16a enthaltene Arbeitsmarktschutzklausel in korrekter Weise umgesetzt worden sei, dies sei jedoch durchaus der Fall.

58. Im Übrigen verstoße diese Arbeitsmarktschutzklausel nicht gegen die Stillhalteklausel. Entscheidend für die Einhaltung dieser Klausel sei allein, dass es seit der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags zu keiner negativen Veränderung der Rechtslage oder der Verwaltungspraxis gekommen sei; hierzu beruft sich die Bundesrepublik Deutsch land auf die Urteile vom 11. Mai 2000, Savas (C‑37/98, Slg. 2000, I‑2927, Randnr. 69), vom 20. September 2007, Tum und Dari (C‑16/05, Slg. 2007, I‑7415, Randnr. 49), vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C‑317/01 und C‑369/01, Slg. 2003, I‑12301, Randnr. 81), vom 1. Juni 1999, Konle (C‑302/97, Slg. 1999, I‑3099, Randnrn. 52 ff.), und vom 24. Mai 2007, Holböck (C‑157/05, Slg. 2007, I‑4051, Randnr. 41).

59. Die Anwendung der Arbeitsmarktschutzklausel, deren Inhalt seit dem 4. Januar 1993 unverändert geblieben sei, habe im Verhältnis zu Polen weder zu einer nachteiligen Änderung der Rechtslage noch zu einer Änderung der Verwaltungspraxis geführt. Lediglich die Situation auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland habe sich seit dem Inkrafttreten der Stillhalteklausel geändert. Ein Verstoß gegen diese Klausel sei ausgeschlossen, wenn die Verwaltung wie hier eine Bestimmung, die nicht geändert worden sei, in der gleichen Weise anwende wie in der Vergangenheit.

– Würdigung durch den Gerichtshof

60. Nach der im Merkblatt 16a enthaltenen Arbeitsmarktschutzklausel, die seit 1993 unstreitig nicht geändert worden ist, sind Werkverträge mit ausländischen Arbeitnehmern grundsätzlich nicht zugelassen, soweit sie in einem Bezirk der Agentur für Arbeit durchgeführt werden sollen, in dem die Arbeitslosenquote im Durchschnitt der letzten sechs Monate mindestens um 30 % über der Arbeitslosenquote der Bundesrepublik Deutschland gelegen hat. Die Zusammenstellung der Bezirke, die unter diese Regelung fallen, wird vierteljährlich aktualisiert.

61. Wie die Bundesrepublik Deutschland zu Recht ausgeführt hat, ist der Gerichtshof mit der vorliegenden Rüge nicht aufgefordert, zu prüfen, ob diese Klausel und ihre Anwendung durch die deutschen Verwaltungsbehörden eine ordnungsgemäße Umsetzung des Art. 2 Abs. 5 der deutsch-polnischen Vereinbarung darstellen, sondern, ob die Klausel so, wie sie von den deutschen Verwaltungsbehörden angewandt wird, gegen die Stillhalteklausel verstößt, wie dies von der Kommission geltend gemacht wird.

62. Kapitel 2 Nr. 13 des Anhangs XII der Beitrittsakte erlaubt der Bundesrepublik Deutschland, von Art. 49 Abs. 1 EG abzuweichen, um im Bereich der Erbringung von Dienstleistungen durch in Polen niedergelassene Unternehmen die zeitweilige grenzüberschreitende Beschäftigung von Arbeitnehmern einzuschränken, deren Recht, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, nationalen Maßnahmen unterliegt. Diese Abweichung soll es der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, tatsächlichen oder drohenden schwerwiegenden Störungen in bestimmten empfindlichen Dienstleistungssektoren auf ihrem Arbeitsmarkt zu begegnen, die sich in bestimmten Gebieten aus der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen ergeben könnten, solange sie gemäß den Übergangsbestimmungen nationale Maßnahmen oder Maßnahmen aufgrund von bilateralen Vereinbarungen über die Freizügigkeit polnischer Arbeitnehmer anwendet.

63. Darüber hinaus enthält diese Nr. 13 eine Stillhalteklausel, nach der die Anwendung dieser Bestimmung nicht zu Bedingungen für die zeitweilige Freizügigkeit von Arbeitnehmern im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen zwischen Deutschland und Polen führen darf, die restriktiver sind als die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags geltenden Bedingungen.

64. Entgegen der von der Kommission vertretenen These begründet der Umstand, dass nach diesem Zeitpunkt weitere Bezirke neu in die Liste der Bezirke aufgenommen wurden, in denen Werkverträge nach der deutsch-polnischen Vereinbarung nicht zugelassen werden, keinen Verstoß gegen die Stillhalteklausel.

65. Nach dieser Klausel dürfen nämlich keine „Bedingungen, die restriktiver sind“ als die zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags geltenden Bedingungen, geschaffen werden. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall, wenn die Verringerung der Zahl der polnischen Arbeitnehmer, die im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland entsendet werden können, lediglich die Folge davon ist, dass eine Klausel, deren Wortlaut identisch geblieben ist, nach diesem Zeitpunkt auf eine geänderte faktische Lage auf dem Arbeitsmarkt angewandt wurde. Wie die Bundesrepublik Deutschland zutreffend ausgeführt hat, hat die vierteljährlich aktualisierte Liste der Bezirke, die unter das auf der Arbeitsmarktschutzklausel des Merkblatts 16a beruhende Verbot fallen, in diesem Zusammenhang rein deklaratorischen Charakter, und es ist weder zu einer Verschlechterung der Rechtslage noch zu einer nachteiligen Änderung der Verwaltungspraxis gekommen.

66. Diese Auslegung wird durch den Zweck derartiger Stillhalteklauseln bestätigt, der darin besteht, einen Mitgliedstaat daran zu hindern, neue Maßnahmen zu erlassen, die bezwecken oder bewirken, dass restriktivere Bedingungen geschaffen werden als die Bedingungen, die vor dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Klauseln galten (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, Randnr. 69, und vom 17. September 2009, Sahin, C‑242/06, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 63).

67. Daher ist die zweite Rüge als unbegründet zurückzuweisen.

68. Nach alledem ist festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 EG verstoßen hat, dass sie in ihrer Verwaltungspraxis den Begriff „Unternehmen der anderen Seite“ in Art. 1 Abs. 1 der deutsch-polnischen Vereinbarung als „deutsches Unternehmen“ auslegt.

Kosten

69. Nach Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Art. 69 § 3 der Verfahrensordnung kann der Gerichtshof die Kosten teilen oder beschließen, dass jede Partei ihre eigenen Kosten trägt, wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt oder wenn ein außergewöhnlicher Grund gegeben ist.

70. Im vorliegenden Fall sind die Kommission und die Bundesrepublik Deutschland zur Tragung ihrer eigenen Kosten zu verurteilen.

71. Nach Art. 69 § 4 der Verfahrensordnung trägt die Republik Polen ihre eigenen Kosten.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 49 EG verstoßen, dass sie in ihrer Verwaltungspraxis den Begriff „Unternehmen der anderen Seite“ in Art. 1 Abs. 1 der Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen vom 31. Januar 1990 über die Entsendung von Arbeitnehmern polnischer Unternehmen zur Ausführung von Werkverträgen in der am 1. März und am 30. April 1993 geänderten Fassung als „deutsches Unternehmen“ auslegt.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Europäische Kommission und die Bundesrepublik Deutschland tragen ihre eigenen Kosten.

4. Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.

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