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Document 62007CJ0157

Urteil des Gerichtshofes (Vierte Kammer) vom 23. Oktober 2008.
Finanzamt für Körperschaften III in Berlin gegen Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland.
Niederlassungsfreiheit - Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) - Steuerrecht - Steuerliche Behandlung von Verlusten aus einer Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat des EWR, die zu einer Gesellschaft gehört, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat.
Rechtssache C-157/07.

Sammlung der Rechtsprechung 2008 I-08061

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2008:588

Rechtssache C‑157/07

Finanzamt für Körperschaften III in Berlin

gegen

Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs)

„Niederlassungsfreiheit – Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Steuerrecht – Steuerliche Behandlung von Verlusten aus einer Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat des EWR, die zu einer Gesellschaft gehört, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat“

Leitsätze des Urteils

1.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums – Niederlassungsfreiheit – Vorschriften des Vertrags – Anwendungsbereich

(Art. 43 EG; EWR-Abkommen, Art. 31)

2.        Völkerrechtliche Verträge – Abkommen über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums – Niederlassungsfreiheit – Steuerrecht – Körperschaftsteuer

(EWR-Abkommen, Art. 31)

1.        Die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit verbieten es, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert, wobei alle Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkungen anzusehen sind. Diese Grundsätze gelten, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft über eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist.

(vgl. Randnrn. 29-31)

2.        Art. 31 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) steht einer nationalen Steuerregelung nicht entgegen, nach der die Verluste einer Betriebsstätte, die in einem anderen Staat als dem Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses belegen ist, bei der Festsetzung der Einkommensteuer des Stammhauses berücksichtigt werden können, später aber, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet, steuerlich wieder hinzugerechnet werden müssen, wenn der Betriebsstättenstaat keinen Vortrag von Verlusten einer Betriebsstätte einer in einem anderen Staat ansässigen Gesellschaft zulässt und wenn nach einem zwischen den beiden betreffenden Staaten abgeschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte einer solchen Einheit im Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses von der Steuer befreit sind.

Eine solche Steuerregelung führt zwar zu einer Beschränkung des Rechts aus Art. 31 des EWR-Abkommens, da die steuerliche Situation einer Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat hat und eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat besitzt, weniger günstig ist als die, in der sie sich befände, wenn die Betriebsstätte im erstgenannten Mitgliedstaat belegen wäre. Auch wenn nämlich in einem ersten Schritt bei der Veranlagung des Stammhauses im erstgenannten Mitgliedstaat die gesamten Verluste aus der in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte von den Gewinnen des Stammhauses abgezogen werden und der erstgenannte Mitgliedstaat damit einen Steuervorteil in der gleichen Weise gewährt, wie wenn die Betriebsstätte im Inland belegen wäre, entzieht die nationale Steuerregelung, indem in einem zweiten Schritt die Verluste der Betriebsstätte zum zu versteuernden Einkommen ihres Stammhauses wieder hinzugerechnet werden, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet, diesen Steuervorteil doch wieder und behandelt damit gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich ungünstiger als gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten im Inland. Aufgrund dieses Unterschieds in der steuerlichen Behandlung könnte eine gebietsansässige Gesellschaft davon abgehalten werden, ihre Tätigkeiten weiterhin über eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebsstätte auszuüben.

Eine solche Beschränkung ist jedoch durch das Erfordernis, die Kohärenz des Steuersystems zu gewährleisten, gerechtfertigt. Die von der fraglichen Steuerregelung vorgesehene Hinzurechnung der Verluste darf nicht von der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste getrennt werden. Die Hinzurechnung folgt nämlich im Fall einer Gesellschaft mit einer in einem anderen Staat belegenen Betriebsstätte, für die dem Ansässigkeitsstaat dieser Gesellschaft kein Besteuerungsrecht zusteht, einer spiegelbildlichen Logik. Somit besteht ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten der fraglichen Steuerregelung, da die Hinzurechnung das logische Pendant zum vorher gewährten Abzug darstellt. Diese Beschränkung ist auch für die Erreichung eines solchen Ziels geeignet, da sie vollkommen symmetrisch vorgeht, indem nur die in Abzug gebrachten Verluste wieder hinzugerechnet werden. Zudem ist die Beschränkung in Bezug auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig, denn die Verluste werden nur bis zur Höhe der erwirtschafteten Gewinne wieder hinzugerechnet.

Diese Beurteilung kann nicht durch das Zusammenwirken der vorgenannten Steuerregelung mit den Steuervorschriften des Betriebsstättenstaats in Frage gestellt werden. In Ermangelung gemeinschaftlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen bleiben die Mitgliedstaaten dafür zuständig, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um die Doppelbesteuerung gegebenenfalls im Vertragswege zu beseitigen. Diese Zuständigkeit beinhaltet auch, dass ein Staat für die Zwecke seines eigenen Steuerrechts nicht verpflichtet sein kann, die eventuell ungünstigen Auswirkungen der Besonderheiten einer Regelung eines anderen Staates zu berücksichtigen, die auf eine Betriebsstätte anwendbar ist, die in diesem Staat belegen ist und zu einer im erstgenannten Staat ansässigen Gesellschaft gehört. Selbst wenn man unterstellt, dass das Zusammenwirken der Besteuerung im Ansässigkeitsstaat des Stammhauses der betreffenden Betriebsstätte mit der Besteuerung im Betriebsstättenstaat zu einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit führen kann, ist eine solche Beschränkung ausschließlich dem letztgenannten Staat zuzurechnen, da sich die Beschränkung nicht aus der fraglichen Steuerregelung ergäbe, sondern aus der Aufteilung der Steuerhoheit durch das zwischen den beiden betreffenden Staaten abgeschlossene Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung.

Die Wertung, dass die sich aus der fraglichen Steuerregelung ergebende Beschränkung durch das Erfordernis, die Kohärenz dieser Regelung zu gewährleisten, gerechtfertigt ist, kann auch nicht durch den Umstand in Frage gestellt werden, dass die betreffende Betriebsstätte von ihrem Stammhaus aufgegeben wurde und die Gewinne und Verluste, die die Betriebsstätte, solange sie bestand, erzielt hatte, insgesamt zu einem Negativsaldo führten. Die Hinzurechnung der Betriebsstättenverluste zu den Einkünften des Stammhauses ist nämlich das untrennbare und logische Pendant der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste.

(vgl. Randnrn. 34-39, 42-46, 48-49, 51-55 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

23. Oktober 2008(*)

„Niederlassungsfreiheit – Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) – Steuerrecht – Steuerliche Behandlung von Verlusten aus einer Betriebsstätte in einem Mitgliedstaat des EWR, die zu einer Gesellschaft gehört, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat“

In der Rechtssache C‑157/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. November 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 21. März 2007, in dem Verfahren

Finanzamt für Körperschaften III in Berlin

gegen

Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, der Richterin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis und J. Malenovský,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Juli 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Finanzamts für Körperschaften III in Berlin, vertreten durch J.-P. Panthen und P. Lamprecht als Bevollmächtigte,

–        der Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt J. Schönfeld,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und C. Blaschke als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch A. Hubert als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels und C. ten Dam als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Z. Bryanston-Cross als Bevollmächtigte im Beistand von R. Hill, Barrister,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und W. Mölls als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3, im Folgenden: EWR-Abkommen).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt für Körperschaften III in Berlin (im Folgenden: Finanzamt) und der Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt GmbH (im Folgenden: KR Wannsee) über die steuerliche Behandlung in Deutschland von Verlusten einer Betriebsstätte von KR Wannsee in Österreich.

 Rechtlicher Rahmen

 Internationales Recht

3        Art. 6 des EWR-Abkommens bestimmt:

„Unbeschadet der künftigen Entwicklung der Rechtsprechung werden die Bestimmungen dieses Abkommens, soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der aufgrund dieser beiden Verträge erlassenen Rechtsakte in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind, bei ihrer Durchführung und Anwendung im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen ausgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens erlassen hat.“

4        In Art. 31 des EWR-Abkommens heißt es:

„Im Rahmen dieses Abkommens unterliegt die freie Niederlassung von Staatsangehörigen eines [Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft] oder eines [Staates der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA)] im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten keinen Beschränkungen. Das gilt gleichermaßen für die Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines [Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaft] oder eines EFTA-Staates, die im Hoheitsgebiet eines dieser Staaten ansässig sind.

Vorbehaltlich des Kapitels 4 umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 34 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.

…“

5        Art. 34 Abs. 2 des EWR-Abkommens sieht vor:

„Als Gesellschaften gelten die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen.“

6        Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 4. Oktober 1954 (BGBl. 1955 II S. 749) in der durch das Abkommen vom 8. Juli 1992 (BGBl. 1994 II S. 122) geänderten Fassung (im Folgenden: deutsch-österreichisches Abkommen) bestimmt in Art. 4:

„(1)      Bezieht eine Person mit Wohnsitz in einem der Vertragsstaaten als Unternehmer oder Mitunternehmer Einkünfte aus einem gewerblichen Unternehmen, dessen Wirkung sich auf das Gebiet des anderen Staates erstreckt, so hat der andere Staat das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte nur insoweit, als sie auf eine dort befindliche Betriebsstätte des Unternehmens entfallen.

(2)      Dabei sollen der Betriebsstätte diejenigen Einkünfte zugewiesen werden, die sie als selbständiges Unternehmen durch eine gleiche oder ähnliche Tätigkeit unter denselben oder ähnlichen Bedingungen und ohne jede Abhängigkeit von dem Unternehmen, dessen Betriebsstätte sie ist, erzielt hätte.

(3)      Betriebsstätte im Sinne dieses Abkommens ist eine ständige Geschäftseinrichtung des gewerblichen Unternehmens, in der die Tätigkeit dieses Unternehmens ganz oder teilweise ausgeübt wird.

…“

7        In Art. 15 des deutsch-österreichischen Abkommens heißt es:

„(1)      Der Wohnsitzstaat hat kein Besteuerungsrecht, wenn es in den vorgehenden Artikeln dem anderen Vertragstaate zugewiesen worden ist.

(3)      Absatz 1 schließt nicht aus, dass der Wohnsitzstaat die Steuern von den ihm zur Besteuerung überlassenen Einkünften und Vermögensteilen nach dem Satz erheben kann, der dem Gesamteinkommen oder dem Gesamtvermögen der steuerpflichtigen Person entspricht.“

8        Art. 12 Buchst. b des Protokolls zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 24. August 2000 (BGBl. 2002 II S. 734) sieht vor, dass ab dem Wirtschaftsjahr 1998 entstandene Verluste auf der Grundlage der Gegenseitigkeit im Betriebsstättenstaat zu berücksichtigen sind. Die Vorschrift lautet:

„Erleiden in der Bundesrepublik Deutschland ansässige Personen ab dem Wirtschaftsjahr 1990 (1989/90) Verluste in österreichischen Betriebsstätten, werden bis einschließlich des Wirtschaftsjahres 1997 (1996/97) entstandene Verluste nach den Vorschriften des § 2a Absatz 3 des deutschen Einkommensteuergesetzes [BGBl. 1988 I S. 1093, im Folgenden: EStG] berücksichtigt. Ab der Veranlagung 1994 unterbleiben Hinzurechnungen gemäß § 2a Absatz 3 dritter Satz [EStG]. Soweit eine steuerliche Verwertung nach diesen Vorschriften in der Bundesrepublik Deutschland nicht vorgenommen werden kann, weil bereits Rechtskraft eingetreten und eine Verfahrenswiederaufnahme wegen Ablaufes der Festsetzungsfrist nicht mehr möglich ist, ist eine Berücksichtigung in der Republik Österreich im Wege des Verlustabzugs zulässig. Ab dem Wirtschaftsjahr 1998 (1997/98) entstehende Verluste sind auf der Grundlage der Gegenseitigkeit im Betriebstättenstaat zu berücksichtigen. Die vorstehenden Regelungen sind nur insoweit wirksam, als dies nicht zu einer Doppelberücksichtigung der Verluste führt.“

 Deutsches Recht

9        § 2 Abs. 1 des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen bei Auslandsinvestitionen der deutschen Wirtschaft (Auslandsinvestitionsgesetz) vom 18. August 1969 (BGBl. 1969 I S. 1211, im Folgenden: AIG) in der im entscheidungserheblichen Zeitraum geltenden Fassung lautet:

„Sind nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung bei einem unbeschränkt Steuerpflichtigen aus einer in einem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätte stammende Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit von der Einkommensteuer zu befreien, so ist auf Antrag des Steuerpflichtigen ein Verlust, der sich nach den Vorschriften des inländischen Steuerrechts bei diesen Einkünften ergibt, bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte abzuziehen, soweit er vom Steuerpflichtigen ausgeglichen oder abgezogen werden könnte, wenn die Einkünfte nicht von der Einkommensteuer zu befreien wären, und soweit er nach diesem Abkommen zu befreiende positive Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit aus anderen in diesem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätten übersteigt. Soweit der Verlust dabei nicht ausgeglichen wird, ist bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 10d des Einkommensteuergesetzes der Verlustabzug zulässig. Der nach den Sätzen 1 und 2 abgezogene Betrag ist, soweit sich in einem der folgenden Veranlagungszeiträume bei den nach diesem Abkommen zu befreienden Einkünften aus gewerblicher Tätigkeit aus in diesem ausländischen Staat belegenen Betriebsstätten insgesamt ein positiver Betrag ergibt, in dem betreffenden Veranlagungszeitraum bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte wieder hinzuzurechnen. Satz 3 ist nicht anzuwenden, sofern der Steuerpflichtige nachweist, dass nach den für ihn geltenden Vorschriften des ausländischen Staates ein Abzug von Verlusten in anderen Jahren als dem Verlustjahr allgemein nicht beansprucht werden kann.“

10      Ab 1990 war die Regelung des Abzugsrechts in § 2a Abs. 3 EStG enthalten.

 Österreichisches Recht

11      Bis 1988 sah das österreichische Steuerrecht keinen Verlustvortrag für beschränkt steuerpflichtige Gesellschaften vor, d. h. für Betriebsstätten von Gesellschaften, die in einem anderen Staat als der Republik Österreich ansässig waren. Erst 1989 wurde in Österreich der Verlustabzug für Betriebsstätten eingeführt, und zwar auch für solche vor dem 31. Dezember 1988 entstandenen Verluste, die in den vorangegangenen sieben Jahren entstanden waren.

12      Ein Verlustvortrag wurde jedoch für Verluste von in der Republik Österreich belegenen Betriebsstätten einer in einem anderen Staat niedergelassenen Gesellschaft, d. h. eines beschränkt Steuerpflichtigen, nur dann zugelassen, wenn das betreffende Unternehmen insgesamt, d. h. bezogen auf sein Welteinkommen, keine Gewinne erwirtschaftet hatte. Die in einer Betriebsstätte in Österreich entstandenen Verluste konnten demnach nur insoweit berücksichtigt werden, als sie die nicht der beschränkten Steuerpflicht unterliegenden Einkünfte überstiegen. Des Weiteren war ein solcher Abzug nur möglich, wenn die Verluste durch ordnungsgemäße Buchführung ermittelt wurden und nicht bereits bei der Veranlagung für die vorangegangenen Steuerjahre berücksichtigt worden waren.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Die Revisionsbeklagte KR Wannsee ist eine in Deutschland ansässige Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die von 1982 bis 1994 eine Betriebsstätte in Österreich unterhielt. Bis Ende 1990 erzielte sie in dieser Betriebsstätte Verluste in Höhe von insgesamt 2 467 407 DM, davon 36 295 DM im Jahr 1990.

14      Auf Antrag von KR Wannsee wurden diese Verluste vom Finanzamt, dem Revisionskläger, bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens für die Veranlagungszeiträume 1982 bis 1990, d. h. bei ihren positiven Einkünften in Deutschland berücksichtigt.

15      Von 1991 bis 1994 erwirtschaftete KR Wannsee in ihrer Betriebsstätte in Österreich Gewinne in Höhe von 1 191 672 DM, davon 746 828 DM im Streitjahr 1994. Im gleichen Jahr veräußerte KR Wannsee diese Betriebsstätte.

16      Gemäß den damals geltenden deutschen Steuervorschriften rechnete das Finanzamt die von 1991 bis 1994 in der Betriebsstätte in Österreich erwirtschafteten Gewinne dem Gesamtbetrag der Einkünfte von KR Wannsee in Deutschland hinzu. Das Finanzamt nahm somit eine Nachversteuerung der Beträge vor, die zuvor bei der inländischen Veranlagung als Verluste der Betriebsstätte in Österreich abgezogen worden waren. Für den im Ausgangsverfahren streitigen Veranlagungszeitraum (1994) wurden die zu versteuernden Einkünfte von KR Wannsee folglich um die Gewinne der Betriebsstätte in diesem Jahr erhöht, also um einen Betrag von 746 828 DM.

17      In Österreich wurde KR Wannsee in den Jahren 1992 und 1993, in denen ihre Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet hatte, zur Körperschaftsteuer veranlagt. Dabei wurden die von KR Wannsee zuvor in ihrer Betriebsstätte erlittenen Verluste nicht berücksichtigt. Da Österreich einen Verlustabzug nur subsidiär für den Fall zuließ, dass eine Verlustberücksichtigung im Stammhausstaat nicht möglich war, und KR Wannsee von 1982 bis 1990 in Deutschland Gewinne erwirtschaftet hatte, wurde ihr in Österreich der Verlustausgleich für die Jahre 1992 und 1993 versagt.

18      Im Jahr 1994 hätten die im Verlauf dieses Jahres erwirtschafteten Gewinne der Betriebsstätte von KR Wannsee nach den österreichischen Steuervorschriften besteuert werden müssen. Dennoch wurde in Österreich für dieses Jahr – anders als in den Jahren 1992 und 1993 – keine Körperschaftsteuer festgesetzt.

19      Auf die Entscheidung des Finanzamts hin, den Gesamtbetrag der Einkünfte von KR Wannsee in Deutschland unter Berücksichtigung der Gewinne der Betriebsstätte in Österreich zu berechnen, erhob KR Wannsee gegen die Steuerbescheide der Jahre 1992 bis 1994 Klage mit dem Antrag, die hinzugerechneten Beträge von der Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer abzuziehen. Zur Begründung machte KR Wannsee geltend, dass wegen der Beschränkung des Verlustvortrags in Österreich auf sieben Jahre eine Hinzurechnung nach den Vorschriften des AIG rechtswidrig sei.

20      Das Finanzgericht Berlin wies die Klage von KR Wannsee gegen die Steuerbescheide 1992 und 1993 ab. Der Klage gegen den Steuerbescheid 1994 gab es dagegen statt.

21      Der Bundesfinanzhof, der – vom Finanzamt angerufen – letztinstanzlich mit der Rechtssache wegen der für die Steuerveranlagung 1994 hinzugerechneten Beträge befasst ist, hat Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht.

22      Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht Art. 31 des EWR‑Abkommens der Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, nach welcher ein in dem einen Mitgliedstaat ansässiger und dort unbeschränkt Steuerpflichtiger zwar nach einem Doppelbesteuerungsabkommen von der Einkommensteuer befreite Verluste aus einer in einem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte unter bestimmten Voraussetzungen bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte abziehen kann,

–        nach der der abgezogene Betrag jedoch, soweit sich in einem der folgenden Veranlagungszeiträume bei den nach dem Doppelbesteuerungsabkommen zu befreienden Einkünften aus gewerblicher Tätigkeit aus in dem anderen Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätten insgesamt ein positiver Betrag ergibt, in dem betreffenden Veranlagungszeitraum bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte wieder hinzuzurechnen ist,

–        Letzteres allerdings dann nicht, wenn der Steuerpflichtige nachweist, dass nach den für ihn geltenden Vorschriften des anderen Mitgliedstaats ein Abzug von Verlusten in anderen Jahren als dem Verlustjahr „allgemein“ nicht beansprucht werden kann, woran es fehlt, wenn ein Verlustabzug in dem anderen Staat nach dessen Recht zwar allgemein eingeräumt wird, jedoch in der konkreten Situation, in der sich der Steuerpflichtige befindet, unterbleibt?

2.      Bejahendenfalls: Wirkt es sich auf den Ansässigkeitsstaat aus, wenn die Verlustabzugsbeschränkungen in dem anderen Mitgliedstaat (als dem Quellenstaat) ihrerseits gegen Art. 31 des EWR‑Abkommens verstoßen, weil diese den dort mit seinen Betriebsstätteneinkünften nur beschränkt Steuerpflichtigen gegenüber den dort unbeschränkt Steuerpflichtigen benachteiligen?

3.      Weiterhin bejahendenfalls: Muss der Ansässigkeitsstaat auf die Nachversteuerung der ausländischen Betriebsstättenverluste verzichten, soweit diese andernfalls in keinem Mitgliedstaat abgezogen werden können, weil die Betriebsstätte im anderen Mitgliedstaat aufgegeben worden ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Anwendbarkeit des Art. 31 des EWR-Abkommens

23      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens über die Niederlassungsfreiheit auf die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich in der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1994 anwendbar waren, da der Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 erfolgte.

24      Zur Bedeutung dieser Vorschriften hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen des Art. 31 des EWR-Abkommens, die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit verbieten, mit denen des Art. 43 EG identisch sind (vgl. Urteil vom 23. Februar 2006, Keller Holding, C‑471/04, Slg. 2006, I‑2107, Randnr. 49). Der Gerichtshof hat ebenfalls festgestellt, dass die Vorschriften des EWR-Abkommens und die des EG-Vertrags in dem betreffenden Bereich einheitlich ausgelegt werden müssen (vgl. Urteile vom 23. September 2003, Ospelt und Schlössle Weissenberg, C‑452/01, Slg. 2003, I‑9743, Randnr. 29, und vom 1. April 2004, Bellio F.lli, C‑286/02, Slg. 2004, I‑3465, Randnr. 34).

25      Hinsichtlich der Anwendbarkeit des Art. 31 des EWR-Abkommens auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens macht die deutsche Regierung geltend, dass die im Ausgangsverfahren streitige Steuerregelung nicht anhand dieser Vorschrift beurteilt werden könne, da das entscheidende zeitliche Moment für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften der ursprünglich erfolgte Verlustabzug sei und das EWR-Abkommen in den gesamten Jahren des Verlustabzugs (1982 bis 1990) noch nicht in Kraft gewesen sei.

26      Hierzu ist festzustellen, dass dessen ungeachtet nicht der Verlustabzug, sondern die steuerliche Hinzurechnung der Verluste vom Gerichtshof zu beurteilen ist. Diese erfolgte 1994. Da das EWR-Abkommen am 1. Januar 1994 in Kraft getreten ist, kann die im Ausgangsverfahren streitige Steuerregelung anhand des Art. 31 dieses Abkommens geprüft werden.

 Zum Vorliegen einer Beschränkung des Rechts aus Art. 31 des EWR-Abkommens

27      Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 des EWR-Abkommens einer nationalen Steuerregelung entgegensteht, nach der die Verluste einer Betriebsstätte, die in einem anderen Staat als dem Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses belegen ist, bei der Festsetzung der Einkommensteuer des Stammhauses berücksichtigt werden können, später aber, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet, steuerlich wieder hinzugerechnet werden müssen, wenn der Betriebsstättenstaat keinen Vortrag von Verlusten einer Betriebsstätte einer in einem anderen Staat ansässigen Gesellschaft zulässt und wenn nach einem zwischen den beiden betreffenden Staaten abgeschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte einer solchen Einheit im Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses von der Steuer befreit sind.

28      Es ist daran zu erinnern, dass mit der Niederlassungsfreiheit für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, das Recht verbunden ist, ihre Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (vgl. Urteile vom 21. September 1999, Saint-Gobain ZN, C‑307/97, Slg. 1999, I‑6161, Randnr. 35, vom 14. Dezember 2000, AMID, C‑141/99, Slg. 2000, I‑11619, Randnr. 20, und Keller Holding, Randnr. 29).

29      Der Gerichtshof hat zudem entschieden, dass die Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit, auch wenn sie nach ihrem Wortlaut die Inländerbehandlung im Aufnahmestaat sichern sollen, es doch auch verbieten, dass der Herkunftsstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Staat behindert (vgl. Urteile vom 16. Juli 1998, ICI, C‑264/96, Slg. 1998, I‑4695, Randnr. 21, und vom 6. Dezember 2007, Columbus Container Services, C‑298/05, Slg. 2007, I‑10451, Randnr. 33).

30      Ferner sind nach ständiger Rechtsprechung als derartige Beschränkungen alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. Urteile vom 30. November 1995, Gebhard, C‑55/94, Slg. 1995, I‑4165, Randnr. 37, und vom 5. Oktober 2004, CaixaBank France, C‑442/02, Slg. 2004, I‑8961, Randnr. 11).

31      Diese Grundsätze gelten, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft über eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat tätig ist (vgl. Urteil vom 15. Mai 2008, Lidl Belgium, C‑414/06, Slg. 2008, I‑0000, Randnr. 20).

32      Was die gemeinschaftsrechtlichen Auswirkungen der deutschen Steuerregelung betrifft, so ergibt sich aus Randnr. 23 des Urteils Lidl Belgium, dass Bestimmungen, die die Berücksichtigung von Verlusten einer Betriebsstätte für die Ermittlung der Einkünfte und die Berechnung des zu versteuernden Einkommens des Stammhauses erlauben, einen Steuervorteil begründen. Die Gewährung oder Versagung eines solchen Steuervorteils aufgrund einer Betriebsstätte, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist als das Stammhaus, kann daher die Niederlassungsfreiheit beeinträchtigen.

33      Allerdings sah die im Ausgangsverfahren streitige deutsche Steuerregelung im Gegensatz zu der Regelung, die Gegenstand des Urteils Lidl Belgium war, die Berücksichtigung der Verluste der in Österreich belegenen Betriebsstätte bei den Einkünften des in Deutschland ansässigen Stammhauses vor.

34      Wie in Randnr. 14 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wurden nämlich in einem ersten Schritt bei der Veranlagung des Stammhauses in Deutschland die gesamten Verluste aus der Betriebsstätte in Österreich von den Gewinnen des Stammhauses abgezogen.

35      Damit gewährte die Bundesrepublik Deutschland dem gebietsansässigen Stammhaus der in Österreich belegenen Betriebsstätte einen Steuervorteil in der gleichen Weise, wie wenn die Betriebsstätte in Deutschland belegen gewesen wäre.

36      Doch indem in einem zweiten Schritt die Verluste der Betriebsstätte zum zu versteuernden Einkommen ihres Stammhauses wieder hinzugerechnet wurden, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftete, hat die deutsche Steuerregelung diesen Steuervorteil wieder entzogen.

37      Auch wenn die Verluste nur bis zur Höhe der Gewinne der Betriebsstätte wieder hinzugerechnet wurden, ändert das nichts daran, dass die deutschen Rechtsvorschriften insoweit gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten in Österreich steuerlich ungünstiger behandelten als gebietsansässige Gesellschaften mit Betriebsstätten in Deutschland.

38      Unter diesen Umständen ist die steuerliche Situation einer Gesellschaft, die ihren satzungsmäßigen Sitz in Deutschland hat und eine Betriebsstätte in Österreich besitzt, weniger günstig als die, in der sie sich befände, wenn die Betriebsstätte in Deutschland belegen wäre. Aufgrund dieses Unterschieds in der steuerlichen Behandlung könnte eine deutsche Gesellschaft davon abgehalten werden, ihre Tätigkeiten weiterhin über eine in Österreich belegene Betriebsstätte auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil Lidl Belgium, Randnr. 25).

39      Im Ergebnis ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren streitige Regelung zu einer Beschränkung des Rechts aus Art. 31 des EWR-Abkommens führt.

 Zum Vorliegen einer Rechtfertigung

40      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nur statthaft, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In diesem Fall muss die Beschränkung aber außerdem geeignet sein, die Erreichung des in Rede stehenden Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. Urteil Lidl Belgium, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Einkünfte der in Österreich belegenen Betriebsstätte nach den Bestimmungen des deutsch-österreichischen Abkommens nicht in Deutschland, d. h. im Stammhausstaat, sondern in Österreich besteuert würden.

42      Hierzu ist festzustellen, dass die von der im Ausgangsverfahren streitigen deutschen Steuerregelung vorgesehene Hinzurechnung der Verluste nicht von der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste getrennt werden darf. Diese Hinzurechnung folgt nämlich, wie das vorlegende Gericht ausführt, im Fall einer Gesellschaft mit einer in einem anderen Staat belegenen Betriebsstätte, für die dem Ansässigkeitsstaat dieser Gesellschaft kein Besteuerungsrecht zusteht, einer spiegelbildlichen Logik. Somit bestand ein direkter, persönlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten der im Ausgangsverfahren streitigen Steuerregelung, da die Hinzurechnung das logische Pendant zum vorher gewährten Abzug darstellte.

43      Folglich ist die Beschränkung, die sich aus dieser Hinzurechnung ergibt, durch das Erfordernis, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu gewährleisten, gerechtfertigt.

44      Diese Beschränkung ist auch für die Erreichung eines solchen Ziels geeignet, da sie vollkommen symmetrisch vorgeht, indem nur die in Abzug gebrachten Verluste wieder hinzugerechnet werden.

45      Zudem ist die Beschränkung in Bezug auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig, denn die Verluste werden nur bis zur Höhe der erwirtschafteten Gewinne wieder hinzugerechnet.

46      Diese Beurteilung kann durch das vom vorlegenden Gericht in seinen ersten beiden Fragen angeführte Zusammenwirken der im Ausgangsverfahren streitigen deutschen Steuerregelung mit den betreffenden österreichischen Steuervorschriften nicht in Frage gestellt werden.

47      Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass die deutschen Steuervorschriften eine Hinzurechnung der Verluste wie im Ausgangsverfahren dann nicht vorgesehen hätten, wenn der Steuerpflichtige nachgewiesen habe, dass die für ihn in einem anderen Staat als seinem Ansässigkeitsstaat geltenden Vorschriften allgemein keinen Abzug von Verlusten in anderen Jahren als ihrem Entstehungsjahr zuließen. Ein solcher Fall liege nicht vor, wenn dieser Staat grundsätzlich die Möglichkeit eines Verlustabzugs eingeräumt habe, der Steuerpflichtige aber in der konkreten Situation diese Möglichkeit nicht habe beanspruchen können. Im Ausgangsverfahren habe KR Wannsee eine Berücksichtigung der von 1982 bis 1990 erlittenen Verluste durch die österreichischen Finanzbehörden nicht erreichen können.

48      Hierzu ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung in Ermangelung gemeinschaftlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen die Mitgliedstaaten dafür zuständig bleiben, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um die Doppelbesteuerung gegebenenfalls im Vertragswege zu beseitigen (vgl. Urteile vom 3. Oktober 2006, FKP Scorpio Konzertproduktionen, C‑290/04, Slg. 2006, I‑9461, Randnr. 54, vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation, C‑374/04, Slg. 2006, I‑11673, Randnr. 52, und vom 18. Juli 2007, Oy AA, C‑231/05, Slg. 2007, I‑6373, Randnr. 52).

49      Diese Zuständigkeit beinhaltet auch, dass ein Staat für die Zwecke seines eigenen Steuerrechts nicht verpflichtet sein kann, die eventuell ungünstigen Auswirkungen der Besonderheiten einer Regelung eines anderen Staates zu berücksichtigen, die auf eine Betriebsstätte anwendbar ist, die in diesem Staat belegen ist und zu einer im ersten Staat ansässigen Gesellschaft gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile Columbus Container Services, Randnr. 51, und vom 28. Februar 2008, Deutsche Shell, C‑293/06, Slg. 2008, I‑0000, Randnr. 42).

50      Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass die Niederlassungsfreiheit nicht dahin verstanden werden kann, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, seine Steuervorschriften auf diejenigen eines anderen Mitgliedstaats abzustimmen, um in allen Situationen eine Besteuerung zu gewährleisten, die jede Ungleichheit, die sich aus den nationalen Steuerregelungen ergibt, beseitigt, da die Entscheidungen, die eine Gesellschaft in Bezug auf die Festlegung von Unternehmensstrukturen im Ausland trifft, je nach Fall Vor- oder Nachteile für sie haben können (vgl. Urteil Deutsche Shell, Randnr. 43).

51      Selbst wenn man unterstellt, dass das Zusammenwirken der Besteuerung im Ansässigkeitsstaat des Stammhauses der betreffenden Betriebsstätte mit der Besteuerung im Betriebsstättenstaat zu einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit führen kann, ist eine solche Beschränkung ausschließlich dem letztgenannten Staat zuzurechnen.

52      In einem solchen Fall ergäbe sich die Beschränkung nicht aus der im Ausgangsverfahren streitigen Steuerregelung, sondern aus der Aufteilung der Steuerhoheit durch das deutsch-österreichische Abkommen.

53      Die Wertung, dass die sich aus der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung ergebende Beschränkung durch das Erfordernis, die Kohärenz dieser Regelung zu gewährleisten, gerechtfertigt ist, kann auch nicht durch den vom vorlegenden Gericht in seiner dritten Frage angeführten Umstand in Frage gestellt werden, dass die betreffende Betriebsstätte von ihrem Stammhaus aufgegeben wurde und die Gewinne und Verluste, die die Betriebsstätte, solange sie bestand, erzielt hatte, insgesamt zu einem Negativsaldo führten.

54      Wie in Randnr. 42 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist nämlich die Hinzurechnung der Betriebsstättenverluste zu den Einkünften des Stammhauses das untrennbare und logische Pendant der vorangegangenen Berücksichtigung dieser Verluste.

55      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 31 des EWR-Abkommens einer nationalen Steuerregelung nicht entgegensteht, nach der die Verluste einer Betriebsstätte, die in einem anderen Staat als dem Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses belegen ist, bei der Festsetzung der Einkommensteuer des Stammhauses berücksichtigt werden können, später aber, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet, steuerlich wieder hinzugerechnet werden müssen, wenn der Betriebsstättenstaat keinen Vortrag von Verlusten einer Betriebsstätte einer in einem anderen Staat ansässigen Gesellschaft zulässt und wenn nach einem zwischen den beiden betreffenden Staaten abgeschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte einer solchen Einheit im Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses von der Steuer befreit sind.

 Kosten

56      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 31 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 steht einer nationalen Steuerregelung nicht entgegen, nach der die Verluste einer Betriebsstätte, die in einem anderen Staat als dem Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses belegen ist, bei der Festsetzung der Einkommensteuer des Stammhauses berücksichtigt werden können, später aber, sobald die Betriebsstätte Gewinne erwirtschaftet, steuerlich wieder hinzugerechnet werden müssen, wenn der Betriebsstättenstaat keinen Vortrag von Verlusten einer Betriebsstätte einer in einem anderen Staat ansässigen Gesellschaft zulässt und wenn nach einem zwischen den beiden betreffenden Staaten abgeschlossenen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung die Einkünfte einer solchen Einheit im Ansässigkeitsstaat ihres Stammhauses von der Steuer befreit sind.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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