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Document 62007CC0200

    Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 26. Juni 2008.
    Alfonso Luigi Marra gegen Eduardo De Gregorio (C-200/07) und Antonio Clemente (C-201/07).
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Corte suprema di cassazione - Italien.
    Vorabentscheidungsersuchen - Europäisches Parlament - Flugblatt mit beleidigenden Äußerungen eines Mitglieds des Europäischen Parlaments - Antrag auf Ersatz des immateriellen Schadens - Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments.
    Verbundene Rechtssachen C-200/07 und C-201/07.

    Sammlung der Rechtsprechung 2008 I-07929

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2008:369

    Schlußanträge des Generalanwalts

    Schlußanträge des Generalanwalts

    1. Mit diesem Vorlagebeschluss der Corte Suprema di Cassazione (Italien) wird der Gerichtshof nach der Auslegung der Bestimmungen des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften sowie der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments über die den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zustehende Immunität bei zivil- und strafrechtlicher Verfolgung befragt.

    2. Die beiden dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Fälle betreffen Verleumdungsklagen gegen ein italienisches Mitglied des Europäischen Parlaments (im Folgenden: Abgeordneter). Die nationalen Gerichte gaben den Klagen statt und sprachen den Klägern Schadensersatz zu. Der Gerichtshof wird gefragt, erstens, ob ein nationales Gericht, das mit einem Zivilverfahren gegen einen Abgeordneten befasst ist, verpflichtet ist, beim Europäischen Parlament die Aufhebung der Immunität des Abgeordneten zu beantragen, wenn dieser selbst beim Parlament keinen Antrag auf Schutz seiner Immunität gestellt hat, sowie zweitens, ob das nationale Gericht selbst über das Bestehen der Immunität für das Verhalten des Abgeordneten entscheiden kann, wenn keine Mitteilung des Europäischen Parlaments vorliegt, die Immunität des betroffenen Abgeordneten schützen zu wollen.

    I – Sachverhalt

    3. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens, Herr Alfonso Luigi Marra, war von 1994 bis 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments. Während seiner Zeit als Abgeordneter verteilte er eine Reihe von Flugblättern, in denen er die italienische Justiz und einzelne Richter kritisierte. Herr Antonio Clemente und Herr Eduardo De Gregorio, die in den Flugblättern genannt worden waren, erhoben jeweils Verleumdungsklage gegen Herrn Marra. Das erstinstanzliche Gericht gab den Klagen statt und sprach den Klägern Schadensersatz zu, woraufhin Herr Marra Berufung bei der Corte d’appello Neapel einlegte. Mit Urteilen vom 23. Januar und 6. März 2002 (im Fall von Herrn Clemente) und vom 22. Februar 2002 (im Fall von Herrn De Gregorio) bestätigte die Corte d’appello Neapel die Urteile der Vorinstanz mit der Begründung, die fraglichen Äußerungen seien durch das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften nicht geschützt. Herr Marra legte Revision bei der Corte Suprema di Cassazione ein und machte u. a. geltend, die Corte d’appello Neapel habe Art. 6 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, in dem das Verfahren bei Anträgen auf Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten geregelt sei, falsch angewendet.

    4. In der Zwischenzeit hatte Herr Marra mit an den Präsidenten des Europäischen Parlaments gerichtetem Schreiben vom 16. Februar 2001 beantragt, das Parlament möge gemäß Art. 6 zum Schutz seiner Immunität einschreiten. Mit Schreiben vom 11. April 2001 übermittelte der Präsident den Antrag von Herrn Marra dem Ausschuss Recht und Binnenmarkt. In seiner Sitzung vom 23. Januar 2002 beschloss der Ausschuss, zugunsten von Herrn Marra einzuschreiten, und in den Bericht vom 30. Mai 2002 über die Immunität der italienischen Mitglieder und die diesbezüglichen Praktiken der italienischen Behörden(2) wurde eine entsprechende Empfehlung aufgenommen. Am 11. Juni 2002 fasste das Europäische Parlament eine Entschließung zu der Immunität der italienischen Mitglieder und den diesbezüglichen Praktiken der italienischen Behörden(3), in der es heißt:

    „1. [Das Parlament] beschließt, dass in den Fällen von … Alfonso Marra ein Prima-facie-Fall von absoluter Immunität gegeben ist und dass die zuständigen Gerichte aufgefordert werden sollten, dem Parlament die erforderlichen Unterlagen zu übermitteln, damit festgestellt werden kann, ob ein Fall von absoluter Immunität gemäß Artikel 9 des Protokolls in Bezug auf die von den Abgeordneten in Ausübung ihres Mandats vorgenommenen Meinungsäußerungen und Stimmabgaben gegeben ist, und dass die zuständigen Gerichte ersucht werden sollen, die Verfahren bis zur Vorlage der endgültigen Entscheidung des Parlaments auszusetzen;

    2. beauftragt seinen Präsidenten, diesen Beschluss und den Bericht des Ausschusses dem Ständigen Vertreter Italiens mit dem Vermerk ‚zu Händen der zuständigen Behörde der Italienischen Republik‘ zu übermitteln.“

    II – Zu den Vorlagefragen

    5. Mit Beschluss vom 20. Februar 2007 hat die Corte Suprema di Cassazione dem Gerichtshof zwei Fragen zu den Bestimmungen über die Immunität von Abgeordneten vorgelegt.

    1. Ist in dem Fall, dass das Mitglied des Europäischen Parlaments sein Recht nach Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments, unmittelbar an den Präsidenten einen Antrag auf Schutz der Immunität und der Vorrechte zu richten, nicht ausgeübt hat, das Gericht, bei dem der Zivilrechtsstreit anhängig ist, gleichwohl verpflichtet, beim Präsidenten die Aufhebung der Immunität zu beantragen, damit das Verfahren fortgesetzt und die Entscheidung erlassen werden kann?

    2. Oder kann, wenn keine Mitteilung des Europäischen Parlaments in dem Sinne vorliegt, dass es die Immunität und die Vorrechte des Mitglieds zu schützen beabsichtigt, das Gericht, bei dem der Zivilrechtsstreit anhängig ist, über die Frage des Bestehens des Vorrechts unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles entscheiden?

    6. Der Formulierung der Fragen nach geht das nationale Gericht offenbar davon aus, dass Herr Marra beim Präsidenten des Europäischen Parlaments keinen Schutz seiner Immunität beantragt und dass das Parlament keine Absicht eines entsprechenden Tätigwerdens mitgeteilt hat. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass Herr Marra einen solchen Antrag gestellt und dass das Parlament mitgeteilt hat, dass sich die Immunität auf die Äußerungen von Herrn Marra erstrecken könnte, dass es veranlasst hat, das zuständige nationale Gericht zur Übermittlung der relevanten Unterlagen aufzufordern, und dass es seinen Präsidenten beauftragt hat, den Beschluss des Parlaments dem Ständigen Vertreter Italiens zu übermitteln.(4) In der mündlichen Verhandlung hat der Prozessbevollmächtigte des Europäischen Parlaments bestätigt, dass die Entschließung nicht unmittelbar dem nationalen Gericht mitgeteilt wurde, sondern dem Ständigen Vertreter Italiens. In dem Vorlagebeschluss ist der Bericht des Ausschusses Recht und Binnenmarkt vom 30. Mai 2002, nicht jedoch die eigentliche Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. Juni 2002 erwähnt, mit der die in dem Bericht enthaltenen Empfehlungen übernommen wurden. Als der Prozessbevollmächtigte der italienischen Regierung in der mündlichen Verhandlung um Klarstellung ersucht worden ist, hat er uns auf die Stellen im Vorlagebeschluss, in denen der Bericht vom 30. Mai 2002 erwähnt ist, verwiesen und geltend gemacht, das nationale Gericht habe seine Fragen in eben dieser Weise formuliert, weil es den Bericht als vorläufige und nicht als endgültige Haltung des Parlaments angesehen habe. Allerdings nahm das Parlament mit seiner Entschließung vom 11. Juni 2002 sehr wohl eine endgültige Haltung ein, die – wie uns der Prozessbevollmächtigte des Parlaments mitgeteilt hat – dem Ständigen Vertreter Italiens übermittelt wurde.

    7. Wie dem auch sei, da sowohl Herr Marra als auch das Europäische Parlament tätig geworden sind, können jedenfalls die beiden Fragen meines Erachtens wie folgt umformuliert werden:

    Ist in dem Fall, dass gegen ein Mitglied des Europäischen Parlaments eine zivilrechtliche Klage erhoben wird, das Gericht, bei dem die Klage anhängig ist, verpflichtet, eine Stellungnahme des Parlaments zu der Frage einzuholen, ob sich die parlamentarische Immunität auf das gerügte Verhalten erstreckt, oder kann das Gericht selbst über die Frage des Bestehens des Vorrechts entscheiden?

    III – Zur parlamentarischen Immunität im Europarecht

    Grundsätze

    8. Die einschlägigen Bestimmungen finden sich in den Art. 9 und 10 des Protokolls über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften. Art. 9 sieht vor:

    „Wegen einer in Ausübung ihres Amtes erfolgten Äußerung oder Abstimmung dürfen Mitglieder des Europäischen Parlaments weder in ein Ermittlungsverfahren verwickelt noch festgenommen oder verfolgt werden.“

    9. Art. 10 lautet:

    „Während der Dauer der Sitzungsperiode des Europäischen Parlaments

    a) steht seinen Mitgliedern im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu,

    b) können seine Mitglieder im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden.

    Die Unverletzlichkeit besteht auch während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments.

    Bei Ergreifung auf frischer Tat kann die Unverletzlichkeit nicht geltend gemacht werden; sie steht auch nicht der Befugnis des Europäischen Parlaments entgegen, die Unverletzlichkeit eines seiner Mitglieder aufzuheben.“

    10. Zunächst ist zu beachten, dass sich diese beiden Artikel nicht gegenseitig ausschließen; sie wirken kumulativ und sind zusammen zu lesen. Ein und dasselbe Verhalten kann daher in den Geltungs- und Schutzbereich beider Artikel fallen.

    11. Zweitens sind bei der Auslegung dieser Bestimmungen deren Ziel und Zweck im Auge zu behalten. Wie das Parlament und die Kommission zu Recht vorbringen, handelt es sich bei der parlamentarischen Immunität um eine institutionelle Regelung, die die Unabhängigkeit des Europäischen Parlaments und seiner Mitglieder gewährleisten und die Funktion des Parlaments als ein Kollektivorgan, das eine entscheidende Rolle in einer freien und demokratischen Gesellschaft spielt, erleichtern soll. Gleichzeitig muss man jedoch akzeptieren, dass diese Regelung auch zugunsten bestimmter Einzelpersonen, nämlich der Mitglieder dieses Parlaments, wirkt. Die parlamentarische Immunität verleiht naturgemäß bestimmten Einzelnen aufgrund ihrer institutionellen Funktion, die für die demokratische Aufgabe des Parlaments wesentlich ist, ein Vorrecht, das anderen Bürgern, die eine solche Funktion nicht wahrnehmen, nicht gewährt wird. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass wir uns als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft darauf verständigt haben, dass es im Rahmen einer repräsentativen Demokratie im Interesse aller Mitglieder der Gemeinschaft liegt, wenn unsere gewählten Vertreter dieses Vorrecht genießen, damit sie ihr Mandat ordnungsgemäß und wirksam ausüben können. Es dürfte daher nicht zweifelhaft sein, dass die parlamentarische Immunität sowohl den Schutz der Institution des Parlaments an sich als auch seiner Mitglieder als Individuen bezweckt.

    12. Der duale Charakter der parlamentarischen Immunität wird in Wortlaut und Systematik der Art. 9 und 10 des Protokolls erkennbar. Art. 10 nennt die Voraussetzungen, unter denen einem Mitglied während der Dauer der Sitzungsperiode des Parlaments im Hoheitsgebiet seines eigenen Mitgliedstaats, im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats und während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments Unverletzlichkeit zusteht, und bestimmt im Weiteren, dass die Unverletzlichkeit vom Parlament aufgehoben bzw. erst gar nicht geltend gemacht werden kann, wenn das Mitglied auf frischer Tat ergriffen wird. Hier ist der Gemeinschaftsgesetzgeber offenbar darauf bedacht, Abgeordnete vor Maßnahmen zu schützen, die ihre Fähigkeit zur Teilnahme an Sitzungen des Parlaments und zur Ausübung ihres parlamentarischen Amtes beeinträchtigen könnten. Das Parlament ist jedoch jederzeit befugt, dieses Vorrecht aufzuheben, wenn es der Ansicht ist, dass das Verhalten eines Mitglieds seiner Aufgabe als Mitglied des Parlaments nicht angemessen ist und ihm daher keine parlamentarische Immunität zukommen kann. Wird z. B. ein Mitglied des Betrugs oder des Mordes beschuldigt, sollte das Parlament seine Immunität grundsätzlich aufheben, auch wenn dem Betreffenden durch eine Verurteilung die Ausübung seines parlamentarischen Amtes unmöglich gemacht werden wird, denn hier geht es um Handlungen, die mit dem Wesen des Abgeordnetenmandats in keinerlei Zusammenhang stehen, es sei denn natürlich, das Parlament hat Grund zu der Annahme, dass der Tatvorwurf jeder Grundlage entbehrt und lediglich zum Ziel hat, die politische Tätigkeit des Abgeordneten zu beeinträchtigen und ihn an der Ausübung seines parlamentarischen Amtes zu hindern. Dagegen bezweckt Art. 9, der auf in Ausübung ihres Amtes erfolgte Äußerungen und Abstimmungen von Abgeordneten Anwendung findet, vor allem den Schutz der Integrität des politischen Diskurses und damit der Integrität des Europäischen Parlaments und seiner Abläufe selbst. Ein Vorgehen gegen ein Mitglied wegen einer von diesem in seiner Eigenschaft als Abgeordneter geäußerten Meinung oder abgegebenen Stimme stellt eine Verletzung der Institution des Parlaments als solcher dar, da es dessen Stellung als Forum par excellence für offene Diskussion und demokratische Beratungen untergraben würde. Selbstverständlich kommt die Immunität bei Art. 9 ebenso wie bei Art. 10 auch den einzelnen Mitgliedern zugute, insofern ihnen erspart wird, sich vor einem Gericht verantworten zu müssen; der Grund für diese Regelung besteht jedoch darin, dass es einen Anschlag auf das Wesen einer beratenden, repräsentativen Demokratie darstellen würde, wenn man Gerichtsverfahren wegen Äußerungen oder Abstimmungen zulassen wollte.

    13. Diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung findet ihren Ausdruck in der Tatsache, dass das Europäische Parlament die Unverletzlichkeit zwar nach Art. 10, nicht aber nach Art. 9 aufheben kann. Art. 10 hat einen weiteren Anwendungsbereich als Art. 9, da er nicht nur für Äußerungen und Abstimmungen, sondern auch für sonstiges Verhalten gilt; andererseits bietet er nur qualifizierten Schutz, da die Unverletzlichkeit vom Parlament aufgehoben werden kann. Demgegenüber hat Art. 9 einen engeren Anwendungsbereich – geschützt werden nur Äußerungen und Abstimmungen, die ein Mitglied in Ausübung seines parlamentarischen Amtes tätigt –, bietet aber absoluten Schutz: Wenn feststeht, dass eine Äußerung oder eine Abstimmung in einem Bezug zum parlamentarischen Amt eines Mitglieds steht, kann das Vorrecht unter keinen Umständen aufgehoben werden. Insoweit könnte man sagen, dass Art. 9 den harten Kern parlamentarischer Vorrechte darstellt, da diese nicht aufgehoben werden können und die Abgeordneten sich sogar dann darauf berufen können, wenn ein Verfahren nach Ende ihrer Amtszeit eingeleitet wird, während Art. 10 (durch seinen gegenüber Art. 9 weiteren Anwendungsbereich) zusätzlichen Schutz gewährt, der aber vom Parlament aufgehoben werden kann und nur für Verfahren gilt, die während des Bestehens des Mandats des Abgeordneten in die Wege geleitet werden.

    Zum Fall von Herrn Marra

    14. Herr Marra ist italienischer Staatsbürger, der in Italien Immunität für Vorgänge in Anspruch nehmen will, die sich während seiner Amtszeit als Mitglied des Europäischen Parlaments abgespielt haben. Er hatte die fraglichen Flugblätter 1996 und 1997 verteilt, und Herr De Gregorio reichte am 8. Juni 1998 seine Verleumdungsklage ein.(5) Da das Verfahren eingeleitet wurde, als Herr Marra noch Abgeordneter war, hatte dieser zunächst einmal Anspruch auf den Schutz aus Art. 10 des Protokolls; nach Art. 10 Satz 1 Buchst. a sind ihm die gleichen Vorrechte zu gewähren wie Abgeordneten des italienischen Parlaments.

    15. Nach Art. 68 Abs. 1 der italienischen Verfassung sind Äußerungen der Mitglieder des italienischen Parlaments wie folgt geschützt: „Die Mitglieder des Parlaments können für ihre Meinungsäußerungen und Stimmabgaben in Ausübung ihrer Funktionen nicht zur Verantwortung gezogen werden.“ Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass ein italienisches Gericht, bei dem ein Zivil- oder Strafverfahren gegen ein Mitglied des italienischen Parlaments eingeleitet wird, nicht verpflichtet ist, vor Zulassung des Verfahrens gegen den belangten Abgeordneten die Genehmigung des Parlaments einzuholen oder dieses um eine Stellungnahme zu der Frage zu ersuchen, ob die in Art. 68 Abs. 1 der italienischen Verfassung vorgesehene Immunität Anwendung findet. Die genannte Vorschrift gewährt italienischen Abgeordneten für ihre Äußerungen und Abstimmungen inhaltlich den gleichen Schutz wie Art. 9 des Protokolls, und – wie das Europäische Parlament in seiner Entschließung vom 11. Juni 2002 bemerkt hat(6) – beide Bestimmungen verleihen die gleiche Art absoluter Immunität. Das Gericht hat selbst zu beurteilen, ob diese Immunität im konkreten Einzelfall gilt, und entsprechend vorzugehen. Beschließt hingegen das italienische Parlament ausdrücklich, dass der Fall in den Geltungsbereich von Art. 68 Abs. 1 der Verfassung fällt und daher absolute Immunität gilt, muss das Gericht offenbar entweder diesem Beschluss Rechnung tragen und alle Verfahren gegen den betroffenen Abgeordneten einstellen oder die Entscheidung beim Verfassungsgerichtshof anfechten.

    16. Allerdings ist die vorherige Genehmigung des italienischen Parlaments dann erforderlich, wenn das Gericht eine der in Art. 68 Abs. 2 und Art. 68 Abs. 3 aufgezählten Maßnahmen gegen einen Abgeordneten anordnen will; hierzu gehören Durchsuchung, Festnahme oder sonstiger Freiheitsentzug, Überwachung der Kommunikation und Beschlagnahme des Schriftverkehrs. Mit diesen Vorschriften wird den Abgeordneten des italienischen Parlaments eine Art qualifizierter Immunität gewährt: Sie sind grundsätzlich vor derartigen Maßnahmen geschützt, es sei denn, das Parlament beschließt auf Antrag einer Justizbehörde die Zulassung der Maßnahmen.

    17. Würden Herrn Marra aufgrund der gegen ihn erhobenen Verleumdungsklagen Festnahme oder sonstige Freiheit entziehende Maßnahmen drohen, wäre das Gericht daher verpflichtet, beim Europäischen Parlament die Aufhebung seiner Unverletzlichkeit nach Art. 10 Satz 3 des Protokolls zu beantragen und sich bis zu einer Entscheidung des Parlaments über diesen Antrag jeder Maßnahme zu enthalten. Derartige Maßnahmen drohten Herrn Marra jedoch zu keiner Zeit; die Kläger des Ausgangsverfahrens hatten Klage in einem Zivilprozess gegen ihn erhoben, und er wurde zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt. Die italienischen Gerichte waren nicht verpflichtet, vor der Zuerkennung von Schadensersatz die Aufhebung der Immunität zu beantragen; Art. 10 Satz 3 des Protokolls ist in einem solchen Fall nicht anwendbar.

    18. Herr Marra macht geltend, seine Äußerungen seien von der absoluten Immunität nach Art. 9 des Protokolls erfasst, der den Mitgliedern des Europäischen Parlaments hinsichtlich Äußerungen im Wesentlichen den gleichen Schutz gewährt wie Art. 68 Abs. 1 der italienischen Verfassung den Mitgliedern des italienischen Parlaments.(7) Wie also müssen die nationalen Gerichte bei Geltendmachung eines solchen Immunitätsanspruchs vorgehen? Das ist die zentrale Frage, zu der das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Hinweise ersucht. Nach der entsprechenden absoluten Immunitätsvorschrift der italienischen Verfassung (Art. 68 Abs. 1) können sich die Gerichte im Einzelfall ihre eigene Meinung über das Bestehen des Vorrechts bilden, ohne die Stellungnahme des Parlaments einholen zu müssen, wenn dieses sich nicht dazu geäußert hat. Dürfen sie dies auch bei der Anwendung von Art. 9 des Protokolls? Oder ist eine Anrufung des Europäischen Parlaments zur Entscheidung in diesem Punkt erforderlich?

    19. In ihrer ersten Frage verweist die Corte Suprema di Cassazione auf einen Antrag auf „Aufhebung der Immunität“. Wie bereits erläutert, besteht eine solche Möglichkeit im Rahmen von Art. 9 des Protokolls bezüglich der absoluten Immunität nicht. Gemeint ist hier im Wesentlichen, ob das nationale Gericht in Fällen, in denen sich das Europäische Parlament nicht geäußert hat, dessen Stellungnahme oder Empfehlung zu der Frage einholen soll, ob nach dem Sachverhalt eines konkreten Rechtsstreits ein Fall absoluter Immunität gegeben ist.

    20. Ausgangspunkt bei der Beantwortung dieser Frage muss der Wortlaut von Art. 9 sein. Diese Bestimmung verleiht ein materielles Vorrecht – absolute Immunität in Bezug auf Verfahren jeder Art –, erlegt den nationalen Gerichten jedoch keine prozessuale Verpflichtung zur Befragung des Europäischen Parlaments bezüglich des Bestehens des Vorrechts im Einzelfall auf. Hätte der Gemeinschaftsgesetzgeber insoweit eine Beschränkung der Befugnisse der nationalen Gerichte beabsichtigt, wäre diese ausdrücklich erfolgt; ohne eine solche Regelung lässt sich Art. 9 des Protokolls nicht dahin auslegen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, eine Stellungnahme des Europäischen Parlaments zum Bestehen des Vorrechts einzuholen.

    21. Ein ähnlicher Schluss kann auch aus Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments gezogen werden, der lautet: „Jeder an den Präsidenten gerichtete Antrag eines Mitglieds oder eines ehemaligen Mitglieds auf Schutz der Immunität und der Vorrechte wird dem Plenum mitgeteilt und an den zuständigen Ausschuss überwiesen“ (Hervorhebung nur hier). In der Vorschrift wird deutlich gemacht, dass die Initiative von dem betroffenen Mitglied bzw. ehemaligen Mitglied ausgehen muss. Dieses muss seinen Fall dem Präsidenten vortragen und beantragen, dass das Parlament zum Schutz seiner Immunität einschreitet. Weder Art. 6 Abs. 3 noch andere Vorschriften der Geschäftsordnung bieten eine Grundlage für die Auffassung, dass die nationalen Gerichte selbst zur Einleitung dieses Verfahrens verpflichtet sind. Im Übrigen hätte eine solche Verpflichtung der nationalen Gerichte auch gar nicht in die Geschäftsordnung aufgenommen werden können. Während das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen zum primären Gemeinschaftsrecht gehört, handelt es sich bei der Geschäftsordnung lediglich um ein internes Dokument des Europäischen Parlaments, mit dem es seine eigenen Angelegenheiten regelt; die Geschäftsordnung hat keine Rechtswirkung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und kann nationalen Gerichten keine Verpflichtungen auferlegen.

    22. Liegt daher keine durch den Antrag eines Mitglieds oder ehemaligen Mitglieds veranlasste Mitteilung des Europäischen Parlaments vor, dass in einem konkreten Fall Immunität gegeben ist, so ist das nationale Gericht meines Erachtens nicht verpflichtet, von sich aus das Verfahren zu initiieren und die Stellungnahme des Parlaments zu der Frage einzuholen, ob Immunität besteht.

    23. Lassen Sie uns jetzt den umgekehrten Fall betrachten und annehmen, dass das Parlament sich tatsächlich geäußert hat. Bei dieser Variante hat das Mitglied oder ehemalige Mitglied, das Immunität in Anspruch nehmen will, beim Präsidenten einen Antrag auf Schutz der Immunität nach Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Parlaments gestellt, und das Parlament hat entschieden, dass in seinem Fall Immunität gegeben ist. Ist diese Entscheidung für das nationale Gericht verbindlich?

    24. Meiner Meinung nach ist dies grundsätzlich nicht der Fall. Rechtsgrundlage für das Verfahren, in dessen Rahmen das Parlament die Immunität seiner Mitglieder schützt und sich zu der Frage äußert, ob in einem konkreten Fall Immunität besteht, ist die Geschäftsordnung. Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich hierbei um interne Vorschriften für die Regelung der internen Angelegenheiten des Parlaments, aus denen sich keine Pflichten für nationale Einrichtungen herleiten lassen. Dies ergibt sich eindeutig aus Art. 7 Abs. 6, in dem es heißt: „In Fällen des Schutzes eines Vorrechts oder der Immunität … unterbreitet [das Parlament] einen Vorschlag, um die betreffende Behörde zu ersuchen, die erforderlichen Schlussfolgerungen zu ziehen.“ Hier ist das Parlament selbst – und zu Recht – der Auffassung, dass am Ende des Verfahrens zum Schutz eines Vorrechts ein Ersuchen an die nationale Behörde steht, die erforderlichen Schlussfolgerungen für die Vorgehensweise in einem bestimmten Fall zu ziehen.

    25. Gleichwohl sollte das nationale Gericht die Meinung des Parlaments zur absoluten Immunität, auch wenn sie keine Bindungswirkung entfaltet, ernsthaft in Betracht ziehen und ihr erhebliche Überzeugungskraft beimessen. Dieses Erfordernis ergibt sich aus dem Grundsatz loyaler Zusammenarbeit, der in Art. 10 EG verankert ist und der, was das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen angeht, in dessen Art. 19(8) wiederholt wird. Vermag sich das nationale Gericht der Meinung des Parlaments nicht anzuschließen, hat es die Gründe hierfür anzugeben. Sollte eine Meinungsverschiedenheit auftreten, wäre dies übrigens ein Anhaltspunkt dafür, dass sich der Fall für eine Vorlage an den Gerichtshof eignet, den das nationale Gericht um richtige Auslegung der betreffenden Bestimmungen ersuchen kann.

    26. In den vorangegangenen Ausführungen habe ich dargelegt, dass die nationalen Gerichte in Fällen, in denen sich das Europäische Parlament im Einzelfall zum Bestehen absoluter Immunität gemäß Art. 9 geäußert hat, dem Parlament „grundsätzlich“ nicht zu folgen brauchen und dass sie, falls sie anderer Meinung sind, die Sache dem Gerichtshof vorlegen „können“ (aber nicht müssen). Eine entsprechende Verpflichtung könnte sich jedoch unter Umständen aus dem Zusammenwirken der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts und Art. 10 Satz 1 Buchst. a ergeben.

    27. Wir haben gesehen, dass nach Art. 10 Satz 1 Buchst. a einem Mitglied des Europäischen Parlaments in seinem eigenen Staat genau die gleichen Vorrechte zuerkannt werden müssen, die den Mitgliedern des nationalen Parlaments zustehen. Damit wird strikte Äquivalenz verlangt. Angenommen, in einem bestimmten Mitgliedstaat besteht nun eine Vorschrift des nationalen Rechts, nach der die nationalen Gerichte in Fällen, in denen das nationale Parlament seine Auffassung mitgeteilt hat, dass für die Äußerungen eines Mitglieds Immunität gelte, entweder der Auffassung des Parlaments folgen oder die Sache an ein höheres Gericht wie etwa ein Verfassungsgericht oder einen Obersten Gerichtshof verweisen müssen. Ein aus diesem Staat stammendes Mitglied des Europäischen Parlaments hat dann Anspruch auf genau die gleiche Behandlung. Daraus folgt, dass das nationale Gericht, wenn das Europäische Parlament seine Auffassung zu dem Fall mitgeteilt hat, entweder dieser folgen oder die Sache dem Gerichtshof vorlegen muss. Grundlage für eine derartige Verpflichtung ist Art. 10 Satz 1 Buchst. a des Protokolls, der strikte Äquivalenz der den Mitgliedern des nationalen Parlaments und der den Mitgliedern des Europäischen Parlaments in ihrem eigenen Staat zuerkannten Vorrechte verlangt.(9) Ein nationales Gericht, bei dem ein Verfahren gegen einen Abgeordneten anhängig ist, hat somit zunächst zu prüfen, welche Pflichten ihm nach nationalem Recht oblägen, wenn der Betreffende kein Mitglied des Europäischen, sondern des nationalen Parlaments wäre. Könnte dieser Punkt gegebenenfalls auch mit einem der Stellungnahme des nationalen Parlaments zuwiderlaufenden Ergebnis entschieden werden, darf das Gericht bei Vorliegen einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments genauso verfahren, sollte dann aber ernsthaft erwägen, ob nicht ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof angebracht wäre. Wäre dagegen das nationale Gericht an die Stellungnahme des nationalen Parlaments gebunden oder wäre es verpflichtet, die Sache an ein höheres Gericht zu verweisen, hat es wiederum entweder der Stellungnahme des Europäischen Parlaments zu folgen oder ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof zu richten. Auf diese Weise genießen Mitglieder des Europäischen Parlaments genau die gleiche Immunität wie die Mitglieder des nationalen Parlaments. Natürlich ist die Auslegung des nationalen Rechts und die Feststellung der darin festgelegten Erfordernisse Sache der nationalen Gerichte.

    28. Noch einmal zusammengefasst: Das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen enthält keine Bestimmungen, die sich in Fällen, in denen das betreffende Mitglied beim Parlament keinen Antrag auf Schutz der Immunität gestellt hat, dahin auslegen ließen, dass die nationalen Gerichte verpflichtet sind, dieses Verfahren selbst einzuleiten und das Europäische Parlament um eine Stellungnahme oder eine Empfehlung zum Bestehen des Vorrechts im konkreten Fall zu ersuchen. Hat das Mitglied das Parlament um Schutz der Immunität ersucht und hat das Parlament hierzu eine Stellungnahme abgegeben, ist diese Stellungnahme für das nationale Gericht grundsätzlich nicht verbindlich, sollte jedoch ernsthaft berücksichtigt werden. Kommt das nationale Gericht zu einem anderen Ergebnis als das Europäische Parlament, kann eine Vorlage an den Gerichtshof angebracht sein. Soweit die nationalen Gerichte jedoch nach nationalem Recht in einer entsprechenden Situation verpflichtet wären, der Stellungnahme des nationalen Parlaments zu folgen oder die Sache an ein höheres Gericht zu verweisen, obliegt ihnen die gleiche Verpflichtung auch bezüglich der Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, so dass sie entweder diesen zu folgen oder den Fall dem Gerichtshof vorzulegen haben.

    29. Nach alldem sollte der Gerichtshof die Frage meines Erachtens wie folgt beantworten:

    Ein nationales Gericht, bei dem eine zivilrechtliche Klage gegen ein Mitglied des Europäischen Parlaments anhängig ist, ist nicht verpflichtet, die Stellungnahme des Parlaments zu der Frage einzuholen, ob sich die parlamentarische Immunität auf das gerügte Verhalten erstreckt, wenn das betreffende Mitglied selbst kein Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, der an das Parlament gerichtete Anträge von Mitgliedern auf Schutz der Immunität betrifft, eingeleitet hat. Hat das Mitglied das Verfahren eingeleitet und hat das Parlament eine Stellungnahme zur Immunität des Mitglieds abgegeben, ist diese Stellungnahme für das nationale Gericht nicht verbindlich, sie ist jedoch ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ist das nationale Gericht anderer Ansicht als das Parlament, kann ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof angebracht sein. Soweit jedoch die nationalen Gerichte in einer entsprechenden, ein Mitglied des nationalen Parlaments betreffenden Situation verpflichtet wären, der Stellungnahme des nationalen Parlaments zu folgen oder die Sache an ein höheres Gericht zu verweisen, obliegt ihnen die gleiche Verpflichtung auch bezüglich der Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, so dass sie entweder diesen zu folgen oder den Fall dem Gerichtshof vorzulegen haben, wobei diese Entscheidung Sache des nationalen Gerichts ist.

    IV – Zum Geltungsbereich von Art. 9 des Protokolls: „in Ausübung ihres Amtes“

    30. Obwohl das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um Hinweise zum Geltungsbereich von Art. 9 des Protokolls ersucht, geht es in weiten Teilen des Vorlagebeschlusses um eben diese Frage: Welche Meinungsäußerungen gehören zur Amtsausübung eines Mitglieds und sind daher durch die in der genannten Vorschrift vorgesehene absolute Immunität geschützt? Um es zu wiederholen: Eine solche Frage kann berechtigterweise Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein, vor allem dann, wenn die nationalen Gerichte sich der Einschätzung des Europäischen Parlaments über das Bestehen des Vorrechts in einem konkreten Fall nicht anschließen können. Im vorliegenden Fall wird die Corte Suprema di Cassazione letztlich entscheiden müssen, ob die Vorinstanzen Art. 9 richtig angewendet haben, so dass es nicht nur vernünftig, sondern auch wünschenswert ist, wenn der Gerichtshof zumindest einige Hinweise zu dieser Problematik gibt.(10)

    31. Es trifft zu, dass ein Bürger, der sich durch die Äußerung eines Parlamentsmitglieds beschwert fühlt und dem gerichtlicher Rechtsschutz verwehrt ist, weil sich das Parlamentsmitglied auf die parlamentarische Immunität beruft, in seinem Recht auf Zugang zur Justiz beeinträchtigt wird. Um zu verhindern, dass zwei Klassen von Bürgern entstehen – einerseits Parlamentsmitglieder, die sich für ihre Äußerungen nicht vor den Gerichten zu verantworten brauchen, und andererseits Normalbürger, die den zivil- und strafrechtlichen Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit unterworfen sind –, ist in praktisch allen Rechtsordnungen die Berufung auf die Immunität auf Fälle beschränkt, in denen das Mitglied seine parlamentarischen Aufgaben wahrnimmt. Parlamentarische Immunität ist kein Instrument, das Parlamentsmitglieder zur Lösung persönlicher Differenzen einsetzen können, sondern eine institutionelle Regelung zur Unterstützung der demokratischen Arbeitsweise der politischen Gemeinschaft. Insofern stellt sie grundsätzlich keine unverhältnismäßige Beschränkung des Rechts auf Zugang zu den Gerichten dar.(11)

    32. Hat ein Gericht zu beurteilen, ob die Meinungsäußerung eines Parlamentsmitglieds in Ausübung seines Amtes erfolgt ist, sollte zum Ausgangspunkt der Prüfung der die parlamentarische Immunität rechtfertigende Grundsatz genommen werden, nämlich dass die Mitglieder die Möglichkeit haben sollen, sich ungehindert an Debatten über Fragen von allgemeinem Interesse zu beteiligen, ohne ihre Meinungsäußerungen so zuschneiden zu müssen, dass der Zuhörer sie für akzeptabel oder unanstößig hält, weil sie befürchten, andernfalls verklagt oder strafrechtlich verfolgt zu werden.(12) Dies hat zwangsläufig zur Folge, dass die von einem Abgeordneten geäußerten Ansichten mitunter von bestimmten Personen als übertrieben, irritierend oder anstößig empfunden werden. In einem freiheitlichen demokratischen Staat ist jedoch ein ungehinderter Dialog über öffentliche Themen von solcher Bedeutung, dass grundsätzlich selbst anstößige oder extreme Meinungen nicht unterdrückt werden sollten. Dies gilt insbesondere für Parlamentsmitglieder, die aufgrund der Natur ihres Amtes eine zentrale Aufgabe im Aufbau der repräsentativen Staatsgewalt wahrnehmen.

    33. Die Ursprünge des parlamentarischen Vorrechts der freien Meinungsäußerung lassen sich in die Zeit der Tudor- und Stuartherrschaft in England zurückverfolgen. Das Vorrecht bildete sich schrittweise heraus als Reaktion des Parlaments auf Versuche der Krone, in die parlamentarische Debatte einzugreifen und das Recht des Parlaments zur Erörterung von Angelegenheiten aus eigener Initiative zu beschränken.(13) Gesetzlichen Niederschlag fand der Gedanke der Immunität in Art. 9 der Bill of Rights, der besagt, „dass die Redefreiheit und dass Debatten oder Vorgänge im Parlament nicht vor einem Gericht oder einem Ort außerhalb des Parlaments angeklagt oder in Frage gestellt werden sollten“. Das Vorrecht war zunächst als räumlich begrenzte institutionelle Regelung ausgestaltet, da zur damaligen Zeit der politische Diskurs nur innerhalb des Parlaments stattfand. Die Macht des Parlaments stand der Macht des Monarchen gegenüber, der die parlamentarische Tätigkeit als Bedrohung seiner eigenen Stellung betrachtete; so waren es die Bemühungen, in die Vorgänge im Parlament einzugreifen, und die Reaktion des Parlaments darauf, die zur Begründung des Rechtsinstituts der Immunität führten.

    34. Heutzutage hingegen ist das Forum für den politischen Diskurs und für die Debatte über Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung wesentlich weiter. Mittlerweile gibt es eine deutlich größere öffentliche Arena, die auch die Druck- und elektronischen Medien sowie das Internet umfasst, in der die Einzelnen interagieren und sich am öffentlichen Dialog beteiligen können. Die Rolle der Parlamentsmitglieder als Durchgangsstelle und Anstoßgeber der politischen Diskussion in dieser großen öffentlichen Arena ist genauso wichtig wie ihre Rolle in den engen Grenzen des Parlaments; kennzeichnend für die moderne Demokratie ist, dass wir von den Parlamentariern erwarten, einen Dialog mit der Zivilgesellschaft zu führen und ihre Vorstellungen nicht nur im Plenarsaal, sondern auch in den von der Zivilgesellschaft bereitgestellten Foren zu präsentieren. Ich wage sogar zu behaupten, dass ein sehr erheblicher Teil des politischen Diskurses heute völlig außerhalb des Parlaments stattfindet. Dies ist eine Realität, die wir nicht ignorieren dürfen; genau das aber täten wir mit der Auffassung, dass die parlamentarische Immunität ausschließlich Äußerungen schützt, die im Parlament selbst fallen.

    35. Die Frage, welche Äußerungen in Ausübung des Amtes eines Mitglieds erfolgen, kann daher nicht anhand eines räumlichen Kriteriums beurteilt werden. Die Auslegung, dass ausschließlich Äußerungen, die im Rahmen parlamentarischer Verfahren im Europäischen Parlament erfolgen, durch Art. 9 des Protokolls geschützt werden, wäre zu eng. Für Mitglieder des Europäischen Parlaments ist die Möglichkeit, sich ohne Furcht vor gerichtlichen Verfahren an Debatten im Plenarsaal des Parlaments beteiligen zu können, genauso wichtig wie die Möglichkeit, sich ohne Furcht am allgemeinen öffentlichen Dialog beteiligen zu können. Mit anderen Worten: Für die Beurteilung, ob Art. 9 des Protokolls Anwendung findet, kommt es auf den Wesensgehalt der Äußerung des Parlamentsmitglieds an und nicht auf den Ort , an dem sie erfolgt.(14)

    36. Diese Auffassung steht meiner Ansicht nach auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Bedeutung der politischen Meinungsäußerungsfreiheit. Es ist ein anerkannter Grundsatz, dass diese Freiheit Schutz auf höchstem Niveau nach Art. 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte genießt und dass nationale Maßnahmen, die die Äußerung politischer Meinungen betreffen, einer strengen Prüfung durch den Gerichtshof in Straßburg unterliegen.(15) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat diesen besonderen Schutz politischer Äußerungen auf andere Bereiche von öffentlichem Interesse ausgedehnt.(16) Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich durch die Überlegung, dass wir eine Zone gewährleisten müssen, in der öffentlicher Diskurs ungestört stattfinden kann; innerhalb dieser Zone können selbst beleidigende oder unverschämte Äußerungen geschützt sein, da sie es häufig „in einzigartiger Weise schaffen, Aufmerksamkeit zu erregen, althergebrachte Thesen zu erschüttern und diejenigen, die sie vernehmen, zur Wahrnehmung unvertrauter Lebensweisen aufzurütteln“(17) . Hierbei handelt es sich genau um die Art des öffentlichen Diskurses, dessen Schutz und Förderung durch Art. 9 des Protokolls bezweckt war, insbesondere im Hinblick auf Meinungsäußerungen von Mitgliedern des Europäischen Parlaments.

    37. Die Regel, dass Art. 9 weit auszulegen ist und den Mitgliedern des Europäischen Parlaments weitreichenden Schutz bieten soll, unterliegt zwei Qualifikationen. Erstens muss sich die fragliche Meinungsäußerung auf eine Angelegenheit beziehen, die tatsächlich von öffentlichem Interesse ist. Während Äußerungen zu Fragen von allgemeinem Belang durch das in Art. 9 garantierte absolute Vorrecht unabhängig davon geschützt sind, ob sie innerhalb oder außerhalb der Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments erfolgen, kann sich ein Abgeordneter nicht auf dieses Vorrecht berufen, wenn es um Vorgänge oder Auseinandersetzungen mit anderen Privatpersonen geht, die ihn persönlich betreffen, für die Allgemeinheit aber ohne besondere Bedeutung sind. Eine ähnliche Ansicht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum Schutzniveau vertreten, das verschiedenen Arten von Äußerungen zuerkannt wird. Eine Aussage, die nicht zu einer Debatte von allgemeinem Interesse beiträgt, fällt zwar unter das Recht auf freie Meinungsäußerung, ihr kommt aber nicht das besonders hohe Schutzniveau zu, das politische Äußerungen und Meinungsäußerungen zu anderen Themen von allgemeiner Bedeutung genießen.(18) Ich möchte mich hier klar ausdrücken: Die Frage, ob eine solche Äußerung zur öffentlichen Debatte beiträgt, ist nicht anhand des Stils, der Genauigkeit oder der Richtigkeit der Aussage, sondern anhand des Wesens ihres Gegenstands zu beurteilen. Selbst eine möglicherweise beleidigende oder ungenaue Aussage kann geschützt sein, wenn sie zur Äußerung einer bestimmten Sichtweise bei der Diskussion eines Themas von öffentlichem Interesse gehört. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, bei der Beurteilung der Richtigkeit oder Genauigkeit politischer Äußerungen ihre eigenen Ansichten an die Stelle der Ansichten des Publikums zu setzen.

    38. Zweitens ist zwischen gegen bestimmte Einzelpersonen erhobenen Tatsachenbehauptungen einerseits und Meinungen oder Werturteilen andererseits zu unterscheiden.(19) Dazu hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ausgeführt: „Während das Bestehen von Tatsachen nachgewiesen werden kann, ist der Wahrheitsgehalt eines Werturteils keinem Beweis zugänglich. Die Bedingung, den Wahrheitsbeweis für ein Werturteil zu erbringen, ist unmöglich zu erfüllen; sie stellt für sich selbst eine Verletzung der Freiheit auf Meinungsäußerung dar.“(20) Äußert ein Parlamentsmitglied zu einem Thema von allgemeiner Bedeutung ein Werturteil – wie ärgerlich oder anstößig einige dies auch immer empfinden mögen –, muss es sich grundsätzlich auf absolute Immunität berufen können. Art. 9 des Protokolls, in dem in der englischen Sprachfassung ausdrücklich von „opinions“ [in der deutschen Sprachfassung von „Äußerung“] die Rede ist, erstreckt sich jedoch nicht auf Aussagen eines Abgeordneten, die Tatsachenbehauptungen gegen andere Privatpersonen enthalten. Wenn man beispielsweise jemanden als inkompetent bezeichnet und sagt, er solle von seinem Amt zurücktreten, so ist das eine Form der Kritik, die zwar für den Betroffenen beleidigend ist, jedoch eine Meinungsäußerung darstellt und in den Geltungsbereich von Art. 9 des Protokolls fällt. Ebenso sollten Äußerungen, die sich nicht auf bestimmte Einzelpersonen beziehen, sondern mit denen vielmehr Institutionen charakterisiert werden, weiten Schutz genießen. Ohne in eine Diskussion über Tatsachenfeststellungen im vorliegenden Fall einsteigen zu wollen, besteht meines Erachtens ein entscheidender Unterschied zwischen Äußerungen, die einzelne Richter betreffen, und Äußerungen, die die Justiz im Allgemeinen zum Gegenstand haben. Die Justiz ist ein wichtiger Bereich des öffentlichen Lebens, so dass eine Diskussion über sie im Sinne einer politischen Debatte sicherlich relevant ist. Die Aussage, eine Person – ob ein Richter oder sonst jemand – habe öffentliche Gelder veruntreut oder sei korrupt, ist dagegen eine Tatsachenbehauptung; derjenige, gegen den sich diese Behauptung richtet, muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seines Rufs die Gerichte anzurufen, und von demjenigen, der die Äußerung getan hat, muss verlangt werden, die Wahrheit seiner Behauptung zu beweisen, und zwar unabhängig davon, ob er Parlamentsmitglied ist oder nicht.

    39. Diese Differenzierung zwischen einer Äußerung, die eine allgemeine Kritik enthält, und einer Tatsachenbehauptung, die sich gegen eine einzelne Person richtet, stand auch im Mittelpunkt des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Patrono, Cascini und Stefanelli/Italien(21), auf das die Corte Suprema di Cassazione in ihrem Vorlagebeschluss verweist. Der Fall betraf Äußerungen, die zwei Parlamentsmitglieder gegen mehrere Richter wegen deren beruflichen Verhaltens während ihrer Tätigkeit in der Legislativabteilung des Justizministeriums gerichtet hatten. Der Gerichtshof in Straßburg hob hervor, dass die verklagten Parlamentsmitglieder keine allgemeine politische Meinung zum Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive geäußert, sondern den klagenden Richtern bestimmte rechtswidrige Verhaltensweisen unterstellt und behauptet hätten, die Richter hätten sich strafbar gemacht.(22) Es trifft zu, dass der Gerichtshof auch darauf hingewiesen hat, dass die Äußerungen während einer Pressekonferenz gefallen waren und nicht in einer Parlamentskammer, aber hierbei handelt es sich um eine zweitrangige Erwägung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat noch nie entschieden, dass eine Äußerung nur deshalb nicht durch parlamentarische Immunität geschützt sei, weil sie außerhalb des Parlamentsgebäudes erfolgt ist.

    40. Abschließend ist also zu sagen, dass Art. 9 des Protokolls, der den Mitgliedern des Europäischen Parlaments hinsichtlich Äußerungen, die in Ausübung ihres Amtes erfolgen, absolute Immunität garantiert, weit auszulegen ist. Sie erstreckt sich auf Meinungen und Werturteile zu Fragen von öffentlicher und/oder politischer Bedeutung unabhängig davon, ob die Äußerungen innerhalb oder außerhalb des Europäischen Parlaments erfolgen. Dies gilt auch für Aussagen, durch die die Allgemeinheit oder die von den Aussagen unmittelbar oder mittelbar betroffenen Einzelpersonen verärgert oder beleidigt werden könnten. Andererseits ist eine Berufung auf die Immunität nicht möglich bei Tatsachenbehauptungen, die über eine Einzelperson oder im Rahmen von Privatangelegenheiten geäußert werden und die zu Themen von öffentlicher Bedeutung oder zu Themen, die Bestandteil der öffentlichen Debatte sind, keinen Bezug aufweisen.

    V – Ergebnis

    41. Aus den vorstehenden Gründen sollte der Gerichtshof der Corte Suprema di Cassazione meines Erachtens wie folgt antworten:

    Ein nationales Gericht, beim dem eine zivilrechtliche Klage gegen ein Mitglied des Europäischen Parlaments anhängig ist, ist nicht verpflichtet, die Stellungnahme des Parlaments zu der Frage einzuholen, ob sich die parlamentarische Immunität auf das gerügte Verhalten erstreckt, wenn das betreffende Mitglied selbst kein Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments, der an das Parlament gerichtete Anträge von Mitgliedern auf Schutz der Immunität betrifft, eingeleitet hat. Hat das Mitglied das Verfahren eingeleitet und hat das Parlament eine Stellungnahme zur Immunität des Mitglieds abgegeben, ist diese Stellungnahme für das nationale Gericht nicht verbindlich, sie ist jedoch ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ist das nationale Gericht anderer Ansicht als das Parlament, kann ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof angebracht sein. Soweit jedoch die nationalen Gerichte in einer entsprechenden, ein Mitglied des nationalen Parlaments betreffenden Situation verpflichtet wären, der Stellungnahme des nationalen Parlaments zu folgen oder die Sache an ein höheres Gericht zu verweisen, obliegt ihnen die gleiche Verpflichtung auch bezüglich der Stellungnahmen des Europäischen Parlaments, so dass sie entweder diesen zu folgen oder den Fall dem Gerichtshof vorzulegen haben, wobei diese Entscheidung Sache des nationalen Gerichts ist.

    (1) .

    (2)  – (2001/2099[REG]), A5-0213/2002, Berichterstatter: Sir Neil MacCormick.

    (3)  – (2001/2099[REG]), P5_TA (2002)0291.

    (4)  – Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass zum Zeitpunkt der Verhandlung über die Klagen gegen Herrn Marra vor dem erstinstanzlichen Gericht das Europäische Parlament seine Entschließung noch nicht gefasst hatte, so dass sich die Corte Suprema di Cassazione bei der Überprüfung der Entscheidungen der Vorinstanzen tatsächlich auf die Frage konzentriert hat, ob die dort ergangenen Urteile richtig waren, obwohl weder Herr Marra noch das Europäische Parlament tätig geworden waren. Wie dem auch sei, ich gehe jedenfalls davon aus, dass die Antworten, die ich auf den nachfolgenden Seiten geben werde, genügend Hinweise zur Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Protokolls enthalten, um dem nationalen Gericht die Entscheidung der Rechtssache auch in dem Fall zu ermöglichen, dass der Sachverhalt wie in der Vorlageentscheidung beschrieben gestaltet ist.

    (5)  – Im Vorlagebeschluss ist im Fall von Herrn Clemente nicht angegeben, wann dieser Klage gegen Herrn Marra erhoben hat.

    (6)  – Entschließung (2001/2099[REG]), P5_TA (2002)0291, Erwägungsgrund C.

    (7)  – Die in Art. 10 Satz 1 Buchst. a des Protokolls verlangte Äquivalenz besteht im vorliegenden Fall zwischen der Immunität, die den Mitgliedern des italienischen Parlaments nach Art. 68 Abs. 1 der Verfassung zusteht, und der Immunität, die die Mitglieder des Europäischen Parlaments nach Art. 9 des Protokolls genießen.

    (8)  – „Bei der Anwendung dieses Protokolls handeln die Organe der Gemeinschaften und die verantwortlichen Behörden der beteiligten Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen.“

    (9)  – Selbstverständlich ist die Ansicht des Europäischen Parlaments nur dann relevant, wenn es zu dem Ergebnis kommt, dass ein amtierender Abgeordneter Immunität nach Art. 10 Satz 1 Buchst. a genießt. Falls das Parlament die Unverletzlichkeit nach Art. 10 aufhebt, könnte das nationale Gericht das Vorrecht trotzdem zuerkennen, soweit es nämlich der Auffassung ist, dass eine bestimmte Meinungsäußerung von der in Art. 9 vorgesehenen Immunität erfasst wird, die das Parlament selbst nicht aufheben kann. Die durch die kumulative Anwendbarkeit der Art. 9 und 10 bedingte offenkundige Komplexität rührt daher, dass die Auslegung dieser Vorschriften von zwei verschiedenen Instanzen abhängt (dem Europäischen Parlament und den Gerichten) und dass eine Entscheidung über die Immunität in einem konkreten Fall von den Entscheidungen beider abhängen kann.

    (10)  – Man mag argumentieren, dass die Corte Suprema di Cassazione im vorliegenden Fall ein zweites Vorabentscheidungsersuchen stellen kann, wenn sie Auskunft zur materiell-rechtlichen Auslegung von Art. 9 des Protokolls benötigt. Gründe der Verfahrensökonomie, das Erfordernis einer raschen Erledigung des Rechtsstreits und das Interesse an einem sparsamen Zeit- und Mittelaufwand des Gerichtshofs sprechen jedoch dafür, die Frage an dieser Stelle zu erörtern. Selbstverständlich ist das nationale Gericht, auch wenn der Gerichtshof so vorgehen sollte, nicht an einem weiteren Ersuchen gehindert, falls es dies für erforderlich hält.

    (11)  – Vgl. die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Urteil Cordova/Italien (Nr. 1) vom 30. Januar 2003, Nr. 40877/98, EuGHMR 2003-I, §§ 58 bis 61.

    (12)  – Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil A/Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 2002, Nr. 35373/97, EuGHMR 2002-X, § 75, ausgeführt hat, „[besteht] der zugrunde liegende Zweck der den [Mitgliedern des Parlaments] zuerkannten Immunität darin …, [ihnen] die Beteiligung an einer sachdienlichen Debatte und die Vertretung der Bürger ihres Wahlkreises in Fragen von allgemeinem Interesse zu ermöglichen, ohne ihre Bemerkungen beschränken oder ihre Meinungen redigieren zu müssen, weil sie Gefahr liefen, vor Gericht oder einer entsprechenden anderen Einrichtung zur Verantwortung gezogen zu werden“.

    (13)  – Limon, D., und McKay, W. R., Erskine May's Treatise on The Law, Privileges, Proceedings and Usage of Parliament , Butterworths, 1997, S. 69 ff.; Blackburn, R., und Kennon, A., Griffith and Ryle on Parliament Functions, Practice and Procedures , Sweet and Maxwell, 2003, S. 126.

    (14)  – Sowohl das Europäische Parlament als auch die Kommission tragen vor, dass ein räumliches Kriterium unangemessen sei und dass auch Äußerungen außerhalb des Parlaments den Schutz von Art. 9 des Protokolls genießen sollten, wenn sie im Zusammenhang mit den Tätigkeiten eines Parlamentsmitglieds in seiner Eigenschaft als Mitglied erfolgen.

    (15)  – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteile Lingens/Österreich vom 8. Juli 1986, Nr. 9815/82, Serie A, Nr. 103, Barfod/Dänemark vom 22. Februar 1989, Serie A, Nr. 149, Castells/Spanien vom 23. April 1992, Serie A, Nr. 236, Schwabe/Österreich vom 28. August 1992, Serie A, Nr. 242-B, Oberschlick/Österreich (Nr. 1) vom 23. Mai 1991, Serie A, Nr. 204, Lehideux und Isorni/Frankreich vom 23. September 1998, EuGHMR 1998-VII. Vgl. ferner die Erörterung bei Loveland, I., Political Libels: A Comparative Study , Hart Publishing, 2000, S. 107 ff.

    (16)  – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Thorgeirson/Island vom 25. Juni 1992, Serie A, Nr. 239, § 64: „In der Rechtsprechung gibt es keine Rechtfertigung für eine Differenzierung … zwischen politischer Diskussion und der Diskussion anderer Themen von öffentlichem Interesse.“

    (17)  – Post, R., Constitutional Domains: Democracy, Co mmunity, Management , Harvard University Press, 1995, S. 139.

    (18)  – Der Gerichtshof in Straßburg entschied z. B. im Urteil von Hannover/Deutschland vom 24. Juni 2004, Nr. 59320/00, EuGHMR 2004-VI, dass die Veröffentlichung von Fotos, die Prinzessin Caroline von Monaco bei alltäglichen Beschäftigungen wie beim Abendessen oder Einkaufen zeigen, im Vergleich zu Veröffentlichungen politischer Natur einen begrenzten Schutz nach Art. 10 der Konvention genießt.

    (19)  – Es trifft zu, dass die Differenzierung zwischen einem Werturteil und einer Tatsachenäußerung nicht immer einfach sein wird; verschiedene Richter und Autoren haben hierzu eine Reihe von Prüfmaßstäben entwickelt. Sie bleibt jedoch nach wie vor die bestmögliche Differenzierung. Vgl. die Darstellung bei Post, R., a. a. O. (Fn. 17), S. 153 ff.

    (20)  – Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Feldek/Slowakei vom 12. Oktober 2001, Nr. 29032/95, EuGHMR 2001-VIII, § 75.

    (21)  – Urteil vom 20. April 2006, Nr. 10180/04.

    (22)  – Ebd., § 62: „[Die Beklagten] haben keine politischen Meinungen zum Verhältnis zwischen Judikative und Exekutive oder zum Gesetzesentwurf über Rechtshilfeersuchen geäußert, sondern den Klägern bestimmte, rechtswidrige Verhaltensweisen unterstellt. In einem solchen Fall kann eine Verwehrung von Rechtsschutz nicht allein damit begründet werden, dass der Rechtsstreit politischer Natur sein oder im Zusammenhang mit einer politischen Tätigkeit stehen könnte.“

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