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Document 62006CJ0435
Judgment of the Court (Grand Chamber) of 27 November 2007.#C.#Reference for a preliminary ruling: Korkein hallinto-oikeus - Finland.#Judicial cooperation in civil matters - Jurisdiction, recognition and enforcement of judgments in matrimonial matters and the matters of parental responsibility - Regulation (EC) No 2201/2003 - Substantive and temporal scope - Definition of ‘civil matters’ - Decision concerning the taking into care and placement of children outside the family home - Public law measures for child protection.#Case C-435/06.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 27. November 2007.
C.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Korkein hallinto-oikeus - Finnland.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich - Begriff der Zivilsachen - Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung von Kindern außerhalb der eigenen Familie - Dem öffentlichen Recht unterliegende Maßnahmen des Kindesschutzes.
Rechtssache C-435/06.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 27. November 2007.
C.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Korkein hallinto-oikeus - Finnland.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich - Begriff der Zivilsachen - Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung von Kindern außerhalb der eigenen Familie - Dem öffentlichen Recht unterliegende Maßnahmen des Kindesschutzes.
Rechtssache C-435/06.
Sammlung der Rechtsprechung 2007 I-10141
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:714
Rechtssache C‑435/06
Im Verfahren
C
(Vorabentscheidungsersuchen des Korkein hallinto-oikeus)
„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich – Begriff der Zivilsachen – Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung von Kindern außerhalb der eigenen Familie – Dem öffentlichen Recht unterliegende Maßnahmen des Kindesschutzes“
Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 20. September 2007
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 27. November 2007
Leitsätze des Urteils
1. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003
(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 7)
2. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003
(Beitrittsakte von 1994, 28. Gemeinsame Erklärung; Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates)
1. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 in der durch die Verordnung Nr. 2116/2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine einheitliche Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie anordnet, unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist.
Der Begriff „Zivilsachen“ im Sinne der genannten Vorschrift ist nämlich autonom auszulegen. Nur eine einheitliche Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 in den Mitgliedstaaten, die voraussetzt, dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung durch das Gemeinschaftsrecht und nicht durch die nationalen Rechte bestimmt wird, kann die Verwirklichung der mit der Verordnung verfolgten Ziele sicherstellen, zu denen die Gleichbehandlung aller betroffenen Kinder zählt. Nach dem fünften Erwägungsgrund der genannten Verordnung ist dieses Ziel nur sichergestellt, wenn alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen. Diese Verantwortung wird in Art. 2 Nr. 7 der genannten Verordnung weit in dem Sinne definiert, dass sie die gesamten Rechte und Pflichten umfasst, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen werden. Dabei ist unbeachtlich, ob die elterliche Verantwortung durch eine staatliche Schutzmaßnahme berührt wird oder durch eine Entscheidung, die auf Initiative eines bzw. der Sorgerechtsinhaber ergangen ist.
(vgl. Randnrn. 46-50, 53, Tenor 1)
2. Die Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 in der durch die Verordnung Nr. 2116/2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine harmonisierte nationale Regelung über die Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und Unterbringung von Personen, die im Rahmen der nordischen Zusammenarbeit ergangen ist, auf eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes, die in den Anwendungsbereich der genanten Verordnung fällt, nicht angewandt werden kann.
Die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und über die Unterbringung von Personen ist nämlich bei den in der Verordnung Nr. 2201/2003 abschließend aufgezählten Ausnahmen nicht aufgeführt.
Diese Auslegung wird auch durch die 28. Gemeinsame Erklärung zur nordischen Zusammenarbeit nicht in Frage gestellt, die der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge beigefügt ist. Nach dieser Erklärung haben sich nämlich die an der nordischen Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten der Union dazu verpflichtet, diese Zusammenarbeit in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht weiterzuführen. Daraus folgt, dass bei dieser Zusammenarbeit die Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung zu beachten sind. Das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, ist verpflichtet, die volle Wirksamkeit dieser Normen sicherzustellen, indem es nötigenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis jede entgegenstehende Bestimmung der nationalen Rechtsordnung unangewandt lässt.
(vgl. Randnrn. 57, 61, 63-66, Tenor 2)
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
27. November 2007(*)
„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Sachlicher und zeitlicher Anwendungsbereich – Begriff der Zivilsachen – Entscheidung über die Inobhutnahme und Unterbringung von Kindern außerhalb der eigenen Familie – Dem öffentlichen Recht unterliegende Maßnahmen des Kindesschutzes“
In der Rechtssache C‑435/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Korkein hallinto-oikeus (Finnland) mit Entscheidung vom 13. Oktober 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Oktober 2006, in dem Verfahren
C
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas und A. Tizzano, der Richter R. Schintgen und J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter), der Richterin R. Silva de Lapuerta, sowie der Richter J.‑C. Bonichot, T. von Danwitz und A. Arabadjiev,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von C, vertreten durch M. Fredman, asianajaja,
– der finnischen Regierung, vertreten durch A. Guimaraes-Purokoski als Bevollmächtigte,
– der deutschen Regierung vertreten durch M. Lumma als Bevollmächtigten,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A.‑L. During als Bevollmächtigte,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster als Bevollmächtigte,
– der slowakischen Regierung, vertreten durch J. Čorba als Bevollmächtigten,
– der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Wilderspin und P. Aalto als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. September 2007
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 (ABl. L 367, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2201/2003).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsmittels von C, der Mutter der Kinder A und B, gegen die Entscheidung des Oulun hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Oulu [Finnland]), mit der die Anordnung der finnischen Polizei, die Kinder den schwedischen Behörden zu überstellen, bestätigt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 In der 28. Gemeinsamen Erklärung zur nordischen Zusammenarbeit, die der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge beigefügt ist (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1), heißt es:
„Die Vertragsparteien stellen fest, dass Schweden, Finnland und Norwegen als Mitglieder der Europäischen Union beabsichtigen, die zwischen ihnen sowie mit anderen Ländern und Gebieten bestehende nordische Zusammenarbeit in völligem Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und den sonstigen Bestimmungen des Vertrags über die Europäische Union weiterzuführen.“
4 Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 lautet:
„Um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, gilt diese Verordnung für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes, ohne Rücksicht darauf, ob eine Verbindung zu einem Verfahren in Ehesachen besteht.“
5 Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:
„(1) Diese Verordnung gilt, ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit, für Zivilsachen mit folgendem Gegenstand:
…
b) die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.
(2) Die in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Zivilsachen betreffen insbesondere:
a) das Sorgerecht und das Umgangsrecht,
…
d) die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim,
…“
6 Art. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
1. ‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;
…
4. ‚Entscheidung‘ jede … Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss;
…
7. ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;
…
9. ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;
…“
7 Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:
„Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“
8 Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung bestimmt:
„Ein Gericht gilt als angerufen,
a) zu dem Zeitpunkt, zu dem das verfahrenseinleitende Schriftstück oder ein gleichwertiges Schriftstück bei Gericht eingereicht wurde, vorausgesetzt, dass der Antragsteller es in der Folge nicht versäumt hat, die ihm obliegenden Maßnahmen zu treffen, um die Zustellung des Schriftstücks an den Antragsgegner zu bewirken“.
9 Art. 59 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:
„(1) Unbeschadet der Artikel 60, 61, 62 und des Absatzes 2 des vorliegenden Artikels ersetzt diese Verordnung die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestehenden, zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten geschlossenen Übereinkünfte, die in dieser Verordnung geregelte Bereiche betreffen.
(2) a) Finnland und Schweden können erklären, dass das Übereinkommen vom 6. Februar 1931 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des internationalen Verfahrensrechts über Ehe, Adoption und Vormundschaft einschließlich des Schlussprotokolls anstelle dieser Verordnung ganz oder teilweise auf ihre gegenseitigen Beziehungen anwendbar ist. Diese Erklärungen werden dieser Verordnung als Anhang beigefügt und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Die betreffenden Mitgliedstaaten können ihre Erklärung jederzeit ganz oder teilweise widerrufen.
…“
10 Art. 64 dieser Verordnung sieht vor:
„(1) Diese Verordnung gilt nur für gerichtliche Verfahren, öffentliche Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien, die nach Beginn der Anwendung dieser Verordnung gemäß Artikel 72 eingeleitet, aufgenommen oder getroffen wurden.
(2) Entscheidungen, die nach Beginn der Anwendung dieser Verordnung in Verfahren ergangen sind, die vor Beginn der Anwendung dieser Verordnung, aber nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 [des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten] [ABl. L 160, S. 19] eingeleitet wurden, werden nach Maßgabe des Kapitels III der vorliegenden Verordnung anerkannt und vollstreckt, sofern das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II der vorliegenden Verordnung oder der Verordnung … Nr. 1347/2000 oder eines Abkommens übereinstimmen, das zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens zwischen dem Ursprungsmitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat in Kraft war.
…“
11 Nach Art. 72 tritt die Verordnung Nr. 2201/2003 am 1. August 2004 in Kraft und gilt ab 1. März 2005 mit Ausnahme der Art. 67, 68, 69 und 70, die ab dem 1. August 2004 gelten.
Die nationalen Rechtsordnungen
12 Das schwedische Gesetz über besondere Bestimmungen zum Schutz Minderjähriger (Lag med särskilda bestämmelser om vård av unga, SFS [1990:52]) sieht Schutzmaßnahmen für Kinder wie ihre Inobhutnahme und Unterbringung gegen den Willen der Eltern vor. Bei Gefahren für die Gesundheit oder Entwicklung eines Kindes kann der Sozialausschuss der Gemeinde beim Länsrätt (Verwaltungsgericht) den Erlass geeigneter Maßnahmen beantragen. In Eilfällen kann der Sozialausschuss zunächst auch selbst diese Maßnahmen anordnen, die nachträglich vom Länsrätt zu genehmigen sind.
13 Nach § 1 Abs. 1 des finnischen Gesetzes über die Überstellung nach Island, Norwegen, Schweden oder Dänemark zur Vollstreckung von Entscheidungen über die Betreuung oder Behandlung (Laki huoltoa tai hoitoa koskevan päätöksen täytäntöönpanoa varten tapahtuvasta luovuttamisesta Islantiin, Norjaan, Ruotsiin tai Tanskaan [761/1970], im Folgenden: Laki 761/1970) kann, wer aufgrund einer Entscheidung der isländischen, norwegischen, schwedischen oder dänischen Behörden betreut oder behandelt werden soll, auf Antrag zur Vollstreckung einer solchen Entscheidung von Finnland in den betreffenden Staat überstellt werden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Am 23. Februar 2005 entschied der Sozialausschuss der Stadt L (Schweden), die sich in dieser Stadt aufhaltenden Kinder A und B sofort in Obhut zu nehmen, um sie in einer Pflegefamilie unterzubringen. Der 2001 geborene A und die 1999 geborene B sind beide finnische Staatsangehörige; A besitzt außerdem noch die schwedische Staatsangehörigkeit.
15 Am 1. März 2005 verzog Frau C mit den Kindern A und B nach Finnland. Am 2. März 2005 meldete sie sich in diesem Mitgliedstaat an. Die finnischen Behörden trugen den neuen Wohnsitz am 10. März 2005 rückwirkend zum 1. März 2005 ein.
16 Die Entscheidung des Sozialausschusses der Stadt L wurde vom Länsrätt i K län (Verwaltungsgericht der Provinz K [Schweden]) am 3. März 2005 bestätigt, das hierzu am 25. Februar 2005 angerufen worden war. Dieses Verfahren der gerichtlichen Bestätigung sieht das schwedische Recht für sämtliche Fälle vor, in denen ein Kind ohne Einverständnis der Eltern in Obhut genommen wird.
17 Nach der Feststellung, dass die schwedischen Gerichte für die Rechtssache zuständig seien, wies das Kammarrätt i M (Berufungsverwaltungsgericht M [Schweden]) das Rechtsmittel von C gegen die Entscheidung des Länsrätt i K län zurück.
18 Die Zuständigkeit der schwedischen Gerichte wurde am 20. Juni 2006 vom Regeringsrätt (Oberster Verwaltungsgerichtshof [Schweden]) bestätigt.
19 Bereits am Tag der Verkündung der Entscheidung des Länsrätt i K län hatte die schwedische Polizei die finnische Polizei in H, wo sich die beiden Kinder bei ihrer Großmutter aufhielten, um Amtshilfe bei der Vollstreckung dieser Entscheidung ersucht. Dieses Ersuchen war auf der Grundlage des Laki 761/1970 ergangen.
20 Mit Entscheidung vom 8. März 2005 ordnete die finnische Polizei an, die Kinder A und B den schwedischen Behörden zu überstellen. C klagte gegen diese Entscheidung vor dem Oulun hallinto-oikeus, das die Klage abwies.
21 C legte daraufhin Rechtsmittel beim Korkein hallinto-oikeus (Oberster Verwaltungsgerichtshof) ein, das zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits eine Auslegung des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 2201/2003 für erforderlich hält.
22 Das Korkein hallinto-oikeus wirft unter Hinweis darauf, dass die Entscheidung über die Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes in Finnland unter das öffentliche Recht fällt, die Frage auf, ob eine derartige Entscheidung vom Begriff der Zivilsachen in dieser Verordnung erfasst wird. Da der Kindesschutz in Finnland den Erlass nicht nur einer, sondern einer ganzen Reihe von Entscheidungen erfordert, möchte das Gericht außerdem wissen, ob die genannte Verordnung sowohl die Inobhutnahme als auch die Unterbringung von Kindern betrifft oder lediglich die Entscheidung über die Unterbringung.
23 In Anbetracht dessen hat das Korkein hallinto-oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. a) Ist die Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Vollstreckung einer Entscheidung in allen ihren Teilen, wie sie hier vorliegt, anwendbar, wenn diese Entscheidung in Form eines einzigen Beschlusses über die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist,
b) oder ist die Verordnung Nr. 2201/2003 angesichts ihres Art. 1 Abs. 2 Buchst. d nur auf den Teil des Beschlusses anwendbar, der die Unterbringung außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie betrifft,
c) und ist im letztgenannten Fall die Verordnung Nr. 2201/2003 auf die Entscheidung über die Unterbringung, die Bestandteil des Beschlusses über die Inobhutnahme ist, anwendbar, auch wenn der Beschluss über die Inobhutnahme selbst, von der die Entscheidung über die Unterbringung abhängt, den Rechtsvorschriften der betroffenen Mitgliedstaaten unterliegen würde, die die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen und Verwaltungsentscheidungen betreffen und in Form einer Zusammenarbeit harmonisiert sind?
2. Ist es, wenn die Frage 1a bejaht wird, angesichts der Tatsache, dass diese auf Betreiben des Rats der nordischen Länder harmonisierten Rechtsvorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung der dem öffentlichen Recht unterliegenden Betreuungsentscheidungen in der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht berücksichtigt werden, sondern nur das entsprechende, auf dem Gebiet des Zivilrechts erlassene Abkommen, dennoch möglich, die vorgenannten harmonisierten Rechtsvorschriften, die sich auf die unmittelbare Vollstreckung und Anerkennung von Verwaltungsentscheidungen in Form der Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden gründen, auf die Inobhutnahme eines Kindes anzuwenden?
3. Ist die Verordnung Nr. 2201/2003, wenn die Frage 1a zu bejahen und die Frage 2 zu verneinen ist, in zeitlicher Hinsicht auf eine Rechtssache anwendbar, wenn die Art. 72 und 64 Abs. 2 der Verordnung sowie die genannten harmonisierten Rechtsvorschriften der nordischen Länder über die dem öffentlichen Recht unterliegenden Unterbringungsentscheidungen Berücksichtigung finden und davon auszugehen ist, dass die schwedischen Behörden ihre Entscheidungen sowohl über die sofortige Inobhutnahme als auch über die Unterbringung in einer Pflegefamilie am 23. Februar 2005 getroffen haben, ihre Entscheidung über die sofortige Inobhutnahme dem Länsrätt am 25. Februar 2005 zur Bestätigung vorgelegt haben und dieses Gericht aufgrund dieser Vorlage die Entscheidung am 3. März 2005 bestätigt hat?
Zu den Vorlagefragen
Zu Frage 1a
24 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung auf eine einheitliche Entscheidung anwendbar ist, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie anordnet, und diese Entscheidung unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn sie im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist.
25 In Bezug auf die Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes ist zu klären, ob sie sich auf die elterliche Verantwortung bezieht und somit in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.
26 Die Verordnung Nr. 2201/2003 gilt nach ihrem Art. 1 Abs. 1 Buchst. b ungeachtet der Art der Gerichtsbarkeit für Zivilsachen, die die Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung zum Gegenstand haben. Der Ausdruck „Gericht“ bezeichnet nach Art. 2 Nr. 1 dieser Verordnung alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen.
27 Nach Art. 2 Nr. 7 dieser Verordnung umfasst die „elterliche Verantwortung“ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden, insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht.
28 Die Inobhutnahme eines Kindes wird nicht ausdrücklich unter den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung gemäß Art. 1 Abs. 2 der Verordnung genannt.
29 Dieser Umstand kann allerdings eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 ausschließen.
30 Der Begriff „insbesondere“ in Art. 1 Abs. 2 dieser Verordnung bedeutet nämlich, dass die Aufzählung in dieser Vorschrift lediglich beispielhaft ist.
31 Wie sich außerdem aus dem fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt, gilt diese Verordnung, um die Gleichbehandlung aller Kinder sicherzustellen, für alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung, einschließlich der Maßnahmen zum Schutz des Kindes.
32 Eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes wie die im Ausgangsverfahren streitgegenständliche fügt sich naturgemäß in den Rahmen einer öffentlichen Maßnahme ein, die an den Erfordernissen des Jugendschutzes und der Jugendhilfe ausgerichtet ist.
33 Im Übrigen geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervor, dass in Finnland mit der Inobhutnahme eines Kindes die Befugnis der Sozialausschüsse dieses Mitgliedstaats zur Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes einhergeht. Diese Maßnahme kann die Ausübung des Sorgerechts beeinflussen, das gemäß Art. 2 Nr. 9 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausdrücklich das Recht auf Bestimmung dieses Aufenthaltsorts umfasst. Daher betrifft diese Befugnis die elterliche Verantwortung, da das Sorgerecht nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung zu den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung gehört.
34 Hinsichtlich der Unterbringung ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung Nr. 2201/2003 die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie oder in einem Heim zu den Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung gehört.
35 Wie die Generalanwältin in Nr. 28 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, stehen Inobhutnahme und Unterbringung in einem sehr engen Zusammenhang, da zum einen eine Inobhutnahme nur als einstweilige Maßnahme isoliert ergehen kann und zum anderen die Unterbringung eines Kindes gegen den Willen der Eltern nur durchgeführt werden kann, wenn die zuständige Behörde das Kind zuvor in Obhut nimmt.
36 Infolgedessen könnte der Ausschluss der Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 die Wirksamkeit dieser Verordnung in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen, in denen der Schutz der Kinder, einschließlich ihrer Unterbringung, den Erlass mehrerer Entscheidungen erfordert. Da in anderen Mitgliedstaaten dieser Schutz mit einer einzigen Entscheidung sichergestellt wird, wäre auch die Gleichbehandlung der betroffenen Kinder gefährdet.
37 Im Folgenden ist zu bestimmen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 für Entscheidungen über die Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes gilt, die dem öffentlichen Recht unterliegen.
38 Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 begrenzt den Anwendungsbereich dieser Verordnung grundsätzlich auf „Zivilsachen“, ohne allerdings Inhalt und Tragweite dieses Begriffs zu definieren.
39 Es ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof im Rahmen des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der durch die Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und – geänderter Text – S. 77), vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Hellenischen Republik (ABl. L 388, S. 1), vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) und vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen) den Begriff „Zivil- und Handelssachen“ aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 dieses Übereinkommens auszulegen hatte.
40 Wie der Gerichtshof mehrfach entschieden hat, können die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe – um so weit wie möglich sicherzustellen, dass sich aus dem Brüsseler Übereinkommen für die Vertragsstaaten und die betroffenen Personen gleiche und einheitliche Rechte und Pflichten ergeben – nicht als bloße Verweisung auf das innerstaatliche Recht des einen oder anderen beteiligten Staates verstanden werden. Der Begriff „Zivil- und Handelssachen“ ist als autonomer Begriff anzusehen, bei dessen Auslegung die Ziele und die Systematik des Brüsseler Übereinkommens sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich aus der Gesamtheit der nationalen Rechtsordnungen ergeben, berücksichtigt werden müssen (vgl. Urteil vom 15. Februar 2007, Lechouritou u. a., C‑292/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Obwohl die schwedische Regierung ebenso wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die anderen Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften einräumt, dass der Begriff „Zivilsachen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 im Gemeinschaftsrecht ebenfalls autonom ausgelegt werden müsse, macht sie geltend, dass eine Entscheidung über die Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes, mit der die Ausübung hoheitlicher Befugnisse einhergehe, nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung falle.
42 Die schwedische Regierung stützt sich hierbei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, der zufolge bestimmte Rechtsstreitigkeiten, in denen sich eine Behörde und eine Person des Privatrechts gegenüberstehen, zwar unter das Brüsseler Übereinkommen fallen, dies aber nicht gilt, wenn die Behörde hoheitlich tätig wird (Urteile vom 1. Oktober 2002, Henkel, C‑167/00, Slg. 2002, I‑8111, Randnrn. 26 und 30, und vom 15. Mai 2003, Préservatrice foncière TIARD, C‑266/01, Slg. 2003, I‑4867, Randnr. 22).
43 Nach Ansicht der schwedischen Regierung ist kaum eine Entscheidung vorstellbar, die einen noch offenkundigeren Fall hoheitlichen Handelns darstelle als die Anordnung der Inobhutnahme eines Kindes, durch die unter bestimmten Umständen dem Kind sogar seine Freiheit entzogen werde.
44 Dieser Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 kann nicht gefolgt werden.
45 Da der Begriff „Zivilsachen“ im Hinblick auf die Ziele der Verordnung Nr. 2201/2003 auszulegen ist, würde nämlich gerade das Ziel der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Angelegenheiten der elterlichen Verantwortung offenkundig aufs Spiel gesetzt, wenn die Entscheidungen über die Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes, die in einigen Mitgliedstaaten unter das öffentliche Recht fallen, allein aus diesem Grund vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen werden müssten. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 weder die Gerichtsverfassung der Mitgliedstaaten noch die Zuweisung von Zuständigkeiten an Verwaltungsbehörden irgendeinen Einfluss auf den Anwendungsbereich der Verordnung und die Auslegung des Begriffs „Zivilsachen“ haben kann.
46 Der Begriff „Zivilsachen“ ist somit autonom auszulegen.
47 Nur eine einheitliche Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 in den Mitgliedstaaten, die voraussetzt, dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung durch das Gemeinschaftsrecht und nicht durch die nationalen Rechte bestimmt wird, kann die Verwirklichung der mit der Verordnung verfolgten Ziele sicherstellen, zu denen die Gleichbehandlung aller betroffenen Kinder zählt.
48 Nach dem fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dieses Ziel nur sichergestellt, wenn alle Entscheidungen über die elterliche Verantwortung in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen.
49 Diese Verantwortung wird in Art. 2 Nr. 7 der genannten Verordnung weit in dem Sinne definiert, dass sie die gesamten Rechte und Pflichten umfasst, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen werden.
50 Wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge aufgezeigt hat, ist dabei unbeachtlich, ob die elterliche Verantwortung durch eine staatliche Schutzmaßnahme berührt wird oder durch eine Entscheidung, die auf Initiative eines bzw. der Sorgerechtsinhaber selbst ergangen ist.
51 Der Begriff der Zivilsachen ist dahin auszulegen, dass er sogar Maßnahmen umfassen kann, die in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats dem öffentlichen Recht unterliegen.
52 Diese Auslegung lässt sich außerdem auf den zehnten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 stützen, wonach die Verordnung nicht für „Maßnahmen allgemeiner Art des öffentlichen Rechts in Angelegenheiten der Erziehung und Gesundheit“ gilt. Dieser Ausschluss bestätigt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber nicht sämtliche unter das öffentliche Recht fallenden Maßnahmen vom Anwendungsbereich dieser Verordnung ausnehmen wollte.
53 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf Frage 1a zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine einheitliche Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie anordnet, unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist.
Zu den Fragen 1b und 1c
54 Diese Fragen wurden vom vorlegenden Gericht nur für den Fall gestellt, dass der Gerichtshof in seiner Antwort auf Frage 1a den Begriff der Zivilsachen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auslegt, dass dieser Begriff eine einheitliche Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie anordnet, wenn diese Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist, nicht umfasst.
55 In Anbetracht der Antwort auf Frage 1a sind die Fragen 1b und 1c nicht zu beantworten.
Zu Frage 2
56 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine harmonisierte nationale Regelung über die Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und Unterbringung von Personen, die im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten ergangen ist, auf eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes, die in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fällt, angewandt werden kann, wenn die Verordnung hierzu keine Vorschrift enthält.
57 Nach ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Normen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, die volle Wirksamkeit dieser Normen sicherzustellen, indem es nötigenfalls aus eigener Entscheidungsbefugnis jede entgegenstehende Bestimmung der nationalen Rechtsordnung unangewandt lässt (vgl. u. a. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 bis 24, vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C‑213/89, Slg. 1990, I‑2433, Randnrn. 19 bis 21, und vom 18. Juli 2007, Lucchini, C‑119/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnr. 61).
58 Gemäß ihrem Art. 59 Abs. 1 ersetzt die Verordnung Nr. 2201/2003 für die Mitgliedstaaten die zwischen ihnen geschlossenen Übereinkünfte, die die in dieser Verordnung geregelten Bereiche betreffen.
59 Nach Art. 59 Abs. 2 Buchst. a der genannten Verordnung „[können] Finnland und Schweden … erklären, dass das Übereinkommen vom 6. Februar 1931 zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden mit Bestimmungen des internationalen Verfahrensrechts über Ehe, Adoption und Vormundschaft einschließlich des Schlussprotokolls anstelle dieser Verordnung ganz oder teilweise auf ihre gegenseitigen Beziehungen anwendbar ist“.
60 Hierbei handelt es sich um die einzige Ausnahmevorschrift zu der in Randnr. 58 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Regel. Als solche ist sie eng auszulegen.
61 Die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Staaten auf dem Gebiet der Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und über die Unterbringung von Personen ist bei den in der Verordnung Nr. 2201/2003 abschließend aufgezählten Ausnahmen nicht aufgeführt.
62 Eine harmonisierte nationale Regelung wie das Laki 761/1970 kann somit nicht auf eine Entscheidung über die Inobhutnahme und über die Unterbringung eines Kindes angewandt werden, die in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt.
63 Dieses Ergebnis wird durch die 28. Gemeinsame Erklärung zur nordischen Zusammenarbeit nicht in Frage gestellt.
64 Nach dieser Erklärung haben sich nämlich die an der nordischen Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten der Union dazu verpflichtet, diese Zusammenarbeit in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht weiterzuführen.
65 Daraus folgt, dass bei dieser Zusammenarbeit die Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung zu beachten sind.
66 Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass eine harmonisierte nationale Regelung über die Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und Unterbringung von Personen, die im Rahmen der nordischen Zusammenarbeit ergangen ist, auf eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes, die in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fällt, nicht angewandt werden kann.
Zu Frage 3
67 Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie in zeitlicher Hinsicht auf eine Rechtssache wie das Ausgangsverfahren anwendbar ist.
68 Nach ihren Art. 64 Abs. 1 und 72 gilt die Verordnung Nr. 2201/2003 nur für gerichtliche Verfahren, öffentliche Urkunden und Vereinbarungen zwischen den Parteien, die nach dem 1. März 2005 eingeleitet, aufgenommen oder getroffen wurden.
69 Außerdem sieht Art. 64 Abs. 2 dieser Verordnung vor: „Entscheidungen, die nach Beginn der Anwendung dieser Verordnung in Verfahren ergangen sind, die vor Beginn der Anwendung dieser Verordnung, aber nach Inkrafttreten der Verordnung … Nr. 1347/2000 eingeleitet wurden, werden nach Maßgabe des Kapitels III der vorliegenden Verordnung anerkannt und vollstreckt, sofern das Gericht aufgrund von Vorschriften zuständig war, die mit den Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II der vorliegenden Verordnung oder der Verordnung … Nr. 1347/2000 oder eines Abkommens übereinstimmen, das zum Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens zwischen dem Ursprungsmitgliedstaat und dem ersuchten Mitgliedstaat in Kraft war.“
70 In einer Rechtssache wie dem Ausgangsrechtsstreit ist die Verordnung Nr. 2201/2003 nur anwendbar, wenn die drei in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind.
71 Zu der ersten Bedingung ist festzustellen, dass nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist, die Entscheidung, deren Vollstreckung streitgegenständlich ist, diejenige des Länsrätt i K län vom 3. März 2005 ist. Die Entscheidung ist somit nach Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen.
72 In Bezug auf die zweite Bedingung geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Verfahren der Inobhutnahme der Kinder A und B „im Herbst 2004“ eingeleitet worden ist, d. h. vor Beginn der Anwendung der Verordnung Nr. 2201/2003, aber nach Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1347/2000, die gemäß ihrem Art. 46 am 1. März 2001 in Kraft getreten ist. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, ob dies tatsächlich der Fall gewesen ist.
73 Zur dritten in Randnr. 69 des vorliegenden Urteils genanten Bedingung ist Folgendes festzustellen.
74 Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind nach Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
75 Das Regeringsrätt hat auf der Grundlage des nationalen Rechts mit Entscheidung vom 20. Juni 2006 die Zuständigkeit der schwedischen Gerichte für die Rechtssache bestätigt. Es war der Ansicht, dass die Kinder A und B sich zu dem Zeitpunkt, zu dem der Sozialausschuss eine Untersuchung zu ihrer familiären Lage eingeleitet habe, in Schweden im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Länsrätt i K län aufgehalten hätten.
76 Daraus folgt, dass die auf der Grundlage des nationalen Rechts angewandten Zuständigkeitsvorschriften mit denen der Verordnung Nr. 2201/2003 im Sinne von Art. 64 Abs. 2 dieser Verordnung übereinstimmen. Folglich ist die dritte Bedingung erfüllt.
77 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass vorbehaltlich der Beurteilung des Sachverhalts, für die allein das vorlegende Gericht zuständig ist, die Verordnung Nr. 2201/2003 dahin auszulegen ist, dass sie in zeitlicher Hinsicht auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
Kosten
78 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine einheitliche Entscheidung, die die sofortige Inobhutnahme und die Unterbringung eines Kindes außerhalb der eigenen Familie in einer Pflegefamilie anordnet, unter den Begriff der Zivilsachen im Sinne dieser Bestimmung fällt, wenn die Entscheidung im Rahmen des dem öffentlichen Recht unterliegenden Kindesschutzes ergangen ist.
2. Die Verordnung Nr. 2201/2003 in der durch die Verordnung Nr. 2116/2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine harmonisierte nationale Regelung über die Anerkennung und Vollstreckung von Verwaltungsentscheidungen über die Inobhutnahme und Unterbringung von Personen, die im Rahmen der nordischen Zusammenarbeit ergangen ist, auf eine Entscheidung über die Inobhutnahme eines Kindes, die in den Anwendungsbereich der genannten Verordnung fällt, nicht angewandt werden kann.
3. Vorbehaltlich der Beurteilung des Sachverhalts, für die allein das vorlegende Gericht zuständig ist, ist die Verordnung Nr. 2201/2003 in der durch die Verordnung Nr. 2116/2004 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass sie in zeitlicher Hinsicht auf eine Rechtssache wie die des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Finnisch.