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Document 62006CC0147

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 27. November 2007.
SECAP SpA (C-147/06) und Santorso Soc. coop. arl (C-148/06) gegen Comune di Torino.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Consiglio di Stato - Italien.
Öffentliche Bauaufträge - Vergabeverfahren - Ungewöhnlich niedrige Angebote - Modalitäten des Ausschlusses - Bauaufträge mit einem Auftragswert unterhalb der in den Richtlinien 93/37EWG und 2004/18/EG vorgesehenen Schwellenwerte - Pflichten des öffentlichen Auftraggebers, die sich aus den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ergeben.
Verbundene Rechtssachen C-147/06 und C-148/06.

Sammlung der Rechtsprechung 2008 I-03565

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:711

Schlußanträge des Generalanwalts

Schlußanträge des Generalanwalts

I – Einleitung

1. Der Consiglio di Stato (Staatsrat) der Italienischen Republik fragt den Gerichtshof gemäß Art. 234 EG, ob Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge(2) über diese Richtlinie hinausweist und auch die Vergabe von Aufträgen regelt, die nicht in ihren Anwendungsbereich fallen.

2. Im Urteil vom 27. September 2001, Lombardini und Mantovani(3), ist diese Bestimmung ausgelegt und als „von entscheidender Bedeutung“ bezeichnet worden, dass jeder Bieter, dessen Angebot als ungewöhnlich niedrig beanstandet wird, die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt dazu darzulegen, indem er geeignete Erläuterungen einreicht (Randnr. 53).

3. In diesem Vorabentscheidungsverfahren soll geklärt werden, ob diese Vorschrift des positiven Rechts unabhängig von der Anwendbarkeit der sektoriellen Richtlinien einen für das öffentliche Auftragswesen geltenden allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts enthält(4) .

4. Das hohe italienische Gericht stellt die Frage vor einem ganz besonderen Hintergrund, nämlich einer innerstaatlichen Regelung, die zum automatischen Ausschluss dieser Art von Angeboten bei Verfahren zur Vergabe von Aufträgen mit einem unterhalb des in den Richtlinien festgelegten Auftragswerts in Verbindung mit einer Praxis verpflichtet, bei der einige Bieter bei dieser Art von Aufträgen den Ablauf des Verfahrens mit dem Trick(5) beeinflussen, dass sie Absprachen zur Abgabe ähnlicher Angebote treffen, um dadurch eine bestimmte Ungewöhnlichkeitsschwelle zu erreichen und andere Bieter fernzuhalten.

5. Dieses Vorabentscheidungsersuchen ist daher von großer Bedeutung, denn es bezieht sich auf die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, lässt aber nicht außer Acht, dass die Lösung nur auf das Rechtssystem der Europäischen Union gestützt werden kann. Der Gerichtshof muss sich in beiden Dimensionen bewegen, um dem italienischen Gericht eine für die Entscheidung des Rechtsstreits sachdienliche Antwort geben zu können.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Gemeinschaftsrecht

6. In den Art. 43 EG und 49 EG sind jeweils die Niederlassungsfreiheit und der freie Dienstleistungsverkehr niedergelegt. Die Richtlinie 71/305/EWG(6), mit der die Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge in Gang gesetzt wurde, zielte – wie im ersten Erwägungsgrund hervorgehoben wurde – hauptsächlich auf die gleichzeitige Verwirklichung dieser beiden Freiheiten ab. Durch die Richtlinie, die ausschließlich für Aufträge mit einem Wert von mindestens einer Million Rechnungseinheiten (achter Erwägungsgrund) galt, wurden als Zuschlagskriterien der niedrigste Preis oder das wirtschaftlich günstigste Angebot festgelegt (Art. 29 Abs. 1) und vorausgesehen, dass es ungewöhnlich niedrige Angebote geben werde, deren Ablehnung nach Anhörung des leichtfertigen Bieters ermöglicht wurde (Art. 29 Abs. 5).

7. Bei der Auslegung der letztgenannten Vorschrift hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Ablehnung erst erfolgen darf, nachdem dem Unternehmer Gelegenheit gegeben wurde, sein Angebot zu erläutern, d. h. nach Durchführung eines kontradiktorischen Prüfungsverfahrens, und dass damit automatische Ablehnungen ausgeschlossen sind(7) .

8. Die Richtlinie 71/305 erfuhr verschiedene aufeinander folgende Änderungen (8), was ihre Kodifizierung als ratsam erscheinen ließ; diese wurde auch zur Sicherstellung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs (zweiter Erwägungsgrund) durch die Richtlinie 93/37 vorgenommen. Anwendbar auf Aufträge ab 5 Millionen ECU (Art. 6 Abs. 1) und getreu den vorhergehenden Vergabekriterien (Art. 30 Abs. 1) wurde in dieser Richtlinie in Art. 30 Abs. 4 der Wortlaut des alten Art. 29 Abs. 5 mit geringfügigen Abweichungen wiederholt:

„Scheinen bei einem Auftrag Angebote im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig, so muss der öffentliche Auftraggeber vor der Ablehnung dieser Angebote schriftlich Aufklärung über die Einzelposten der Angebote verlangen, wo er dies für angezeigt hält; die anschließende Prüfung dieser Einzelposten erfolgt unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen.

Der öffentliche Auftraggeber kann Erläuterungen bezüglich der Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, der gewählten technischen Lösungen, außergewöhnlich günstiger Bedingungen, über die der Bieter bei der Durchführung der Arbeiten verfügt, oder der Originalität des Projekts des Bieters anerkennen.

Wenn die Auftragsunterlagen den Zuschlag auf das niedrigste Angebot vorsehen, muss der öffentliche Auftraggeber der Kommission die Ablehnung von als zu niedrig erachteten Angeboten mitteilen.

…“

9. Durch die Richtlinie 2004/18, die die Mitgliedstaaten bis zum 31. Januar 2006 umzusetzen hatten (Art. 80 Abs. 1), wurde die Richtlinie 97/37 mit Wirkung vom 31. März 2004 aufgehoben (Art. 82 und 83). Bei der Vergabe von Bauaufträgen, deren Wert mindestens 5 278 000 Euro beträgt (Art. 7 Buchst. c)(9), können die öffentlichen Auftraggeber ungewöhnlich niedrige Angebote nach Durchführung eines kontradiktorischen Überprüfungsverfahrens ausschließen (Art. 55 Abs. 1 und 2).

B – Die italienische Regelung

10. Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 97/37 wurde durch Art. 21 Abs. 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 vom 11. Februar 1994, des Rahmengesetzes über öffentliche Bauarbeiten (10), in das italienische Recht übernommen; der letztgenannte Artikel wurde in die ursprüngliche Fassung durch Art. 7 des Gesetzes Nr. 216/1995 vom 2. Juni 1995 (11) eingefügt. Diese Vorschrift bestimmt:

„Werden öffentliche Bauaufträge mit einem Auftragswert von 5 Millionen ECU oder mehr nach dem Kriterium des niedrigsten Preises gemäß Absatz 1 vergeben, so bewertet die betroffene Verwaltung die Ungewöhnlichkeit der Angebote im Sinne des Art. 30 der Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 in Bezug auf alle Angebote, die einen Preisnachlass aufweisen, der dem arithmetischen Mittel der prozentualen Preisnachlässe aller zugelassenen Angebote entspricht oder darüber liegt, mit Ausnahme von aufgerundet zehn Prozent der Angebote, die den jeweils niedrigsten bzw. höchsten Preisnachlass beinhalten, zuzüglich der mittleren arithmetischen Differenz der prozentualen Preisnachlässe, die das zuvor genannte Mittel übersteigen.

Dazu prüft die öffentliche Verwaltung innerhalb von 60 Tagen nach Abgabe der Angebote ausschließlich die Erläuterungen bezüglich der Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, der gewählten technischen Lösungen oder besonders günstiger Bedingungen, über die der Bieter verfügt, mit Ausnahme jedoch von Erläuterungen zu all den Elementen, für die Mindestwerte in Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften festgelegt ist oder deren Werte amtlichen Angaben entnommen werden können .

Die Angebote sind mit Belegen zu den wichtigsten in der Ausschreibung oder in der brieflichen Aufforderung zur Angebotsabgabe angegebenen Preisposten zu unterbreiten, die zusammen mindestens 75 % des als Richtwert festgelegten Auftragspreises entsprechen.

Nur bei öffentlichen Bauaufträgen, deren Wert unterhalb der Gemeinschaftsschwelle liegt, schließt die Verwaltung Angebote mit einem prozentualen Preisnachlass, der dem des Unterabs. 1 dieses Absatzes entspricht oder darüber liegt, automatisch aus. Das Verfahren des automatischen Ausschlusses ist nicht anwendbar, wenn die Zahl der gültigen Angebote weniger als fünf beträgt.“(12)

11. Durch das Gesetzesdekret Nr. 163 vom 12. April 2006(13) wurde die Richtlinie 2004/18 im nationalen Recht umgesetzt. In den Bestimmungen über ungewöhnlich niedrige Angebote (Art. 86 bis 88) findet sich der letzte Unterabsatz des Art. 21 Abs. 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 nicht mehr.

III – Die Ausgangsverfahren

12. Mit Beschluss vom 28. Januar 2003 entschied die Stadt Turin, Art. 21 Abs. 1a des Gesetzes Nr. 109/1994 künftig nicht mehr anzuwenden, um den automatischen Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote zu vermeiden, so dass solche Angebote bei der Vergabe städtischer Bauanträge, einschließlich derjenigen, die die Gemeinschaftsschwelle nicht erreichten, nach dem durch die Richtlinie 93/97 eingeführten kontradiktorischen Verfahren geprüft wurden.

13. Die italienischen Gesellschaften SECAP SpA (Rechtssache C‑147/06) und Santorso Soc. Coop. Arl. (Rechtssache C‑148/06) nahmen jeweils an einer Ausschreibung der genannten Körperschaft für die Vergabe bestimmter Arbeiten(14) teil, deren Wert die genannte Schwelle nicht überschritt. In der Ausschreibung wurde das Kriterium des höchsten Preisnachlasses nach erfolgter Feststellung regelwidriger Angebote festgelegt, ohne aufgrund des Beschlusses vom 28. Januar 2003 ungewöhnlich niedrige Angebote automatisch auszuschließen. Ihre Angebote waren die ersten unter den „korrekten“, doch vor ihrer Entscheidung stellte die Kommunalverwaltung die Seriosität derjenigen, die ungewöhnlich erschienen, fest und beschloss, die Aufträge an andere Teilnehmer zu vergeben.

14. Beide Gesellschaften erhoben Klage beim Tribunale amministrativo regionale del Piemonte und brachten vor, Art. 21 Abs. 1a des Gesetzes Nr. 109/94 schließe ungewöhnliche Angebote automatisch aus, so dass die öffentlichen Auftraggeber daran gehindert seien, vor einer Ablehnung die Urheber dieser Angebote anzuhören und diese zu prüfen. Das Gericht teilte dieses Argument nicht und wies die Klage mit der Begründung ab, dass die Bestimmung den automatischen Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote zwar zulasse, aber nicht vorschreibe, so dass die den Auftrag vergebende Verwaltung nicht daran gehindert sei, die Urheber dieser Angebote anzuhören und diese zu vergleichen.

15. Der Consiglio di Stato, der mit den von den Klägerinnen eingelegten Rechtsmitteln befasst ist, teilt deren Ansicht und beanstandet die Auslegung durch das regionale Gericht, verschließt sich aber nicht den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts, auf die sich die Stadt Turin beruft, und legt gemäß Art. 234 EG dem Gerichtshof folgende Fragen vor:

1. Enthält die in Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37/EWG 1 festgelegte Regel oder die in Art. 55 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/18/EG 2 enthaltene entsprechende Regel (falls dieser Artikel einschlägig sein sollte), nach der der öffentliche Auftraggeber bei im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrigen Angeboten vor der Ablehnung dieser Angebote, wo er dies für angezeigt hält, schriftlich Aufklärung über die Einzelposten der Angebote verlangen und diese Einzelposten unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen prüfen muss, ein grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts?

2. Falls diese Frage verneint werden sollte: Ist die in Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 festgelegte Regel oder die in Art. 55 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/18 enthaltene entsprechende Regel (falls dieser Artikel einschlägig sein sollte), nach der der öffentliche Auftraggeber bei im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrigen Angeboten vor der Ablehnung dieser Angebote, wo er dies für angezeigt hält, schriftlich Aufklärung über die Einzelposten der Angebote verlangen und diese Einzelposten unter Berücksichtigung der eingegangenen Erläuterungen prüfen muss, auch wenn sie kein grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts ist, Ausdruck einer impliziten Folge oder eines „abgeleiteten Grundsatzes“ des Grundsatzes des Wettbewerbs in Verbindung mit den Grundsätzen der Transparenz der Verwaltung und der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und gilt diese Regel als solche demzufolge unmittelbar und mit Vorrang vor möglicherweise zuwiderlaufenden nationalen Vorschriften, die von den Mitgliedstaaten zur Regelung der Vergabe öffentlicher Bauaufträge erlassen wurden, die nicht in den unmittelbaren Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen?

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

16. Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 10. Mai 2006 sind die beiden Rechtssachen in Anbetracht ihres sachlichen Zusammenhangs miteinander verbunden worden.

17. Die Klägerin der Ausgangsverfahren, die Stadt Turin, die italienische, die deutsche, die österreichische, die slowakische, die französische, die litauische und die niederländische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen mit unterschiedlicher Ausrichtung eingereicht, die sich aber zwei Kategorien zuordnen lassen: diejenige unter der Ägide der Stadt Turin, zu der Litauen, die Slowakei(15) und die Kommission gehören, sowie die der übrigen Beteiligten an diesem Vorabentscheidungsverfahren, die sich dafür aussprechen, die Vorlagefragen zu verneinen. In der mündlichen Verhandlung am 25. Oktober 2007 sind die Vertreter der Santorso Soc. coop. arl., der Stadt Turin, der Regierungen Italiens, Deutschlands und Litauens sowie der Kommission aufgetreten, um mündliche Ausführungen zu machen.

V – Untersuchung der Vorlagefragen

18. Die beiden Fragen des Consiglio di Stato reduzieren sich in der Praxis auf eine einzige, die dahin geht, festzustellen, ob Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37, der ungewöhnlich niedrige Angebote vor der Entscheidung über ihren möglichen Ausschluss einem kontradiktorischen Verfahren unterwirft, bei Aufträgen Anwendung findet, die von seinem Anwendungsbereich ausgenommen sind, mit anderen Worten, ob die genannte Bestimmung bei solchen Aufträgen den Mitgliedstaaten verwehrt, den automatischen Ausschluss derartiger Angebote anzuordnen.

19. Daher ist die Natur dieser Vorschrift zu prüfen, um feststellen zu können, ob sie dem primären Gemeinschaftsrecht zuzuordnen ist und über die Richtlinie 93/37 hinausgeht.

A – Der Ausgangspunkt

20. Die Prüfung stützt sich auf solide Fundamente, die fest in der von mir bereits untersuchten(16) Rechtsprechung verankert sind; die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge, die aus unterschiedlichen Gründen (quantitativer und begrifflicher Art) außerhalb der einschlägigen Richtlinien stehen, können sich nicht dem Einfluss der Rechtsordnung der Europäischen Union entziehen, so dass deren Grundprinzipien und insbesondere die grundlegenden Verkehrsfreiheiten zu unüberwindlichen Schranken werden.

21. Dieser Gedanke, der im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18(17) seinen Niederschlag gefunden hat, hat in den Annalen des Gerichtshofs bereits eine gewisse Tradition(18) . Im Urteil vom 7. September 2000, Telaustria und Telefonadress(19), ist festgestellt worden, dass die Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen, die vom Anwendungsbereich der Sektorenrichtlinien ausgenommen sind, die Regeln des Vertrags zu beachten haben (Randnr. 60)(20) . Diese Rechtsprechung ist im Urteil vom 18. Juni 2002, HI (Randnr. 47), wiederholt(21) und in jüngerer Zeit, ganz natürlich und ohne Berufung auf Präzedenzfälle, im Urteil vom 21. Juli 2005, Coname(22), übernommen worden.

22. Im Beschluss vom 3. Dezember 2001, Vestergaard(23), ist dann hervorgehoben worden, dass der bloße Umstand, dass die besonderen und strengen Verfahren der Richtlinien für Aufträge mit geringem Wert nicht geeignet sind, nicht bedeutet, dass das Gemeinschaftsrecht für diese nicht gilt, denn auch sie unterliegen dem Vertrag (Randnrn. 19 bis 21) (24), wenn sie für Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten von Interesse sind(25) . Das Urteil vom 25. Oktober 2005, Kommission/Frankreich(26), liegt ebenfalls auf dieser Linie (Randnr. 33).

23. Die Festlegung einer wirtschaftlichen Schwelle für die Anwendbarkeit der Richtlinien über das Auftragswesen beruht auf einer Vermutung: Aufträge mit geringem Wert ziehen Wirtschaftsteilnehmer, die jenseits der Landesgrenzen niedergelassen sind, nicht an; sie sind nicht von gemeinschaftlicher Tragweite. Doch lässt diese Vermutung iuris tantum den Beweis des Gegenteils zu, so dass es – wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt – nicht auszuschließen ist, dass ein Auftrag mit geringem Wert ausländische Unternehmer reizt, z. B. wegen des Ausführungsorts in der Nähe ihres Landes oder weil er ihrer kommerziellen Strategie zustatten kommt.

24. Folglich kann dieser quantitativen Grenze ihr konventioneller Charakter nicht abgesprochen werden, weshalb nichts dagegen spricht, dass ein Auftrag mit niedrigerem Wert in anderen Mitgliedstaaten Aufmerksamkeit erregt, und auf diese Weise der Faktor zum Tragen kommt, der das Gemeinschaftsrecht und dessen Ziele ins Spiel bringt. Infolgedessen müssen Verfahren über die Vergabe solcher Aufträge, die trotz ihres geringen Interesses europäische Tragweite haben, den Grundsätzen des Vertrags entsprechen, unbeschadet des Umstands, dass diejenigen, deren Preis über den in den Richtlinien festgelegten Beträgen liegt, strengeren Koordinierungsbestimmungen unterliegen(27) .

25. Eine dieser Bestimmungen, der ratione temporis auf die Ausgangsverfahren anwendbare Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37, der in Art. 55 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/18 wiederholt wird, verbietet den automatischen Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote. Der Consiglio di Stato möchte wissen, ob dieses Verbot ein grundlegendes Prinzip des Gemeinschaftsrechts darstellt oder zumindest eine Folge des Grundsatzes des Wettbewerbs in Verbindung mit den Grundsätzen der Transparenz der Verwaltung und der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die auch bei der Vergabe von Aufträgen, die nicht durch die den genannten Richtlinien erfasst werden, zu beachten sind.

B – Weniger als ein grundlegendes Prinzip…

26. Die in der von mir zitierten Rechtsprechung verwendeten Begriffe „grundlegendes Prinzip“ und „Grundregel“ haben einen sehr präzisen Inhalt. Sie beziehen sich nicht auf irgendein im Vertrag verborgenes axiologisches Element, auch nicht auf irgendeine Maßnahme, die erlassen wurde, um die Ziele des Vertrags zu erreichen; sie sind genau zwischen beiden Extremen angesiedelt, in den Buchstaben des Primärrechts, dort, wo der „Verfassungsgeber“ der Gemeinschaft die von ihm angestrebten Ziele und die grundlegenden Mittel, um sie zu erreichen, niedergelegt hat. Eine oberflächliche Lektüre der Art. 2 EG und 3 EG offenbart, dass sie sich auf den unbeschränkten Personen‑, Waren‑, Dienstleistungs‑ und Kapitalverkehr beziehen, der durch die entsprechenden Verkehrsfreiheiten eingeführt wird (Art. 23 EG, 43 EG und 49 EG), zu denen die Abschaffung jeglicher Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit als transversaler Wert, von dem sich ein Vorhaben der Integration zwischen mehreren Ländern leiten lässt, hinzukommt (Art. 12 EG).

27. Diese These, die der des zweiten Erwägungsgrunds der Richtlinie 2004/18 ähnelt, ist auch in den besprochenen Entscheidungen erkennbar. Im Urteil Telaustria und Telefonadress wurde der Grundsatz der Gleichbehandlung von Staatsangehörigen der verschiedenen Mitgliedstaaten herangezogen (Randnr. 60), darüber hinaus wurden im Urteil HI die Niederlassungs‑ und die Dienstleistungsfreiheit angesprochen (Randnrn. 42 und 47), im Beschluss Vestergaard wurde auf eine andere Verkehrsfreiheit, den freien Warenverkehr, als ratio decidendi zurückgegriffen (Randnr. 21), und im Urteil Coname wurde erneut auf die Art. 43 EG und 49 EG Rückgriff genommen, um eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zurückzuweisen.

28. Genau betrachtet stimmen die „Grundprinzipien“ des Vertrags, durch die die Befugnis der Mitgliedstaaten in Verfahren zur Vergabe von Aufträgen, die von der mit den sektoriellen Richtlinien eingeleiteten Koordinierung ausgeschlossen sind, mit den in den Präambeln dieser Richtlinien genannten überein, auf die der Gerichtshof besonderen Nachdruck gelegt hat.

29. Dieser Umstand sollte im Übrigen niemanden erstaunen, denn wie im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 betont wird, beruhen deren Vorschriften auf diesen Grundsätzen, und mit den genannten Richtlinien wird ein begrenztes unmittelbares Ziel verfolgt, nämlich die erwähnte Koordinierung der Verfahren, um die Entwicklung eines echten Wettbewerbs auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge zur Verwirklichung der Grundfreiheiten der europäischen Integration zu fördern(28) . Insbesondere sollen die Hemmnisse für den freien Dienstleistungsverkehr beseitigt und auf diese Weise die Interessen der in einem Mitgliedstaat niedergelassen Wirtschaftsteilnehmer geschützt werden, die den in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen öffentlichen Auftraggebern Waren oder Dienstleistungen anbieten möchten(29) .

30. Die Kehrseite dieses Bildes lässt erkennen, dass eine doppelte Zielsetzung verfolgt wird: Es soll die Gefahr ausgeschlossen werden, dass einheimische Bieter bevorzugt werden (buy national) und dass die für die Vergabe zuständige Stelle sich von anderen als wirtschaftlichen Überlegungen leiten lässt(30) (auf diese Weise ist das vorrangige Vergabekriterium immer das des niedrigsten oder wirtschaftlich vorteilhaftesten Angebots).

31. In diesem Kontext kann die erste Vorlagefrage nur verneint werden, denn der automatische Ausschluss von ungewöhnlich niedrigen Angeboten von der Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags setzt keine Kernmaxime des Vertrags voraus, und die genannten Grundfreiheiten oder das Diskriminierungsverbot erfordern also nicht unter allen Umständen und absolut, dass ein Bieter, der eine derartiges Angebot unterbreitet, angehört wird, bevor über dieses Angebot entschieden wird.

32. Dies gilt u. a., weil es die Logik des Effektivitätsprinzips, das auch im Vergaberecht der Gemeinschaft Anwendung findet, gebietet. Letztlich verlangt die Wahrnehmung öffentlicher Interessen diese Effizienz, die gelegentlich im Widerstreit zu der zeitlichen Gestaltung liegt, die ein mit zahlreichen Garantien ausgestattetes Verfahren erfordert(31) .

C – … aber mehr als eine bloße Vorschrift des positiven Rechts

1. Die impliziten Grundsätze

33. Ebenso wenig beinhaltet Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 eine ermessensabhängige oder gar willkürliche Vorsichtsmaßnahme des Gesetzgebers, die keine Verbindung nach außen aufweist, und die genauso gut nicht hätte existieren können.

34. Ich habe bereits ausgeführt, dass im Urteil Lombardini und Mantovani die in dieser Vorschrift geregelte Anhörung als „von entscheidender Bedeutung“ qualifiziert wurde(32) . Hinter dem Adjektiv verbirgt sich die Überzeugung, dass die kontradiktorische Überprüfung der ungewöhnlich niedrigen Angebote unverzichtbar ist, um einen echten Wettbewerb bei der öffentlichen Auftragsvergabe herzustellen und die Vertragsfreiheiten zu gewährleisten, was, worauf ich in meinen Schlussanträgen in den beiden Rechtssachen hinweise, eine Teilnahme der Bieter unter den gleichen Bedingungen, ohne auch nur einen Anschein von Diskriminierung, mit sich bringt (Randnr. 24).

35. Das Verbot jeglicher Diskriminierung, insbesondere wenn dafür die Staatsangehörigkeit als Vorwand genommen wird, impliziert eine Verpflichtung zur Transparenz, die für jeden potentiellen Bieter eine angemessene Publizität sicherstellt, um den Markt für den Wettbewerb zu öffnen und die Unparteilichkeit der Vergabeverfahren zu kontrollieren, wie im Urteil vom 18. November 1999, Unitron Scandinavia und 3‑S (Randnrn. 31 und 32)(33), hervorgehoben wurde.

36. Unter diesen Umständen erscheint es legitim, sich wie der Consiglio di Stato zu fragen, ob bei Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37, auch wenn in ihm kein Grundprinzip des Rechts der Europäischen Union zum Ausdruck kommt, eines der unverzichtbaren Korollarien dieses Rechts durchscheint, die für öffentliche Aufträge unabhängig davon gelten müssen, ob diese von den Richtlinien erfasst werden, sofern sie für die Gemeinschaft von Interesse sind.

37. Mit anderen Worten: Wenn der automatische Ausschluss ungewöhnlich niedriger Angebote gegen diese Korollarien verstößt, kann dann die streitige Regelung auf Aufträge angewendet werden, die nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/37 fallen?

2. Die Bieter und der Begriff des ungewöhnlich niedrigen Angebots

38. Der Begriff des ungewöhnlich niedrigen Angebots wird nicht abstrakt bestimmt; er ist vielmehr im Hinblick auf den zu vergebenden Auftrag und im Zusammenhang mit der Leistung, auf die er sich bezieht, zu definieren(34) . Er weist somit die Merkmale eines unbestimmten Rechtsbegriffs auf, der zwar a priori ungenau, aber im Hinblick auf die Besonderheiten des Auftragsgegenstands vorhersehbar ist.

39. Diese Charakteristik verstärkt sich in dem italienischen System, das den Begriff vertieft und im Wege eines mathematischen Mechanismus zur Ermittlung der Ungewöhnlichkeitsschwelle auf den Inhalt des Geschäfts und die verschiedenen Angebotssummen abstellt.

40. Die Wettbewerber, die die Dienstleistung und ihre Natur dank der Bekanntmachung kennen, arbeiten ihre Projekte vertraulich aus, so dass jeder ausschließlich sein eigenes kennt. Im Allgemeinen werden angesichts dessen, dass das System das niedrigste oder wirtschaftlich vorteilhafteste Angebot belohnt, auf der Suche nach dem niedrigsten Preis sehr knapp kalkulierte Kostenvoranschläge vorgelegt, selbst wenn dies den Unternehmensgewinn schmälert.

41. Daher gehen alle dasselbe Risiko ein, dass ihr Angebot nach Öffnung der Umschläge zu den ungewöhnlichen Angeboten gehört.

42. Dieses Gleichgewicht wird jedoch gestört, wenn ein oder mehrere Wettbewerber über maßgebliche Anhaltspunkte für die Beurteilung hinsichtlich der Festlegung der Ungewöhnlichkeitsschwelle verfügen, und auf diese Weise die unverzichtbare Unparteilichkeit zerstört wird.

3. Kollusive Praktiken bei der Vorlage von Angeboten

43. Der Consiglio di Stato skizziert bei der Prüfung des von der Stadt Turin vorgetragenen Sachverhalts ein Bild, das der Gerichtshof nicht unbeachtet lassen kann; darin schafft der automatische Ausschluss von unangemessenen Nachlässen, der nach Art. 21 Abs. 1a letzter Unterabsatz der Gesetzes Nr. 109/1994 unumgänglich ist, einen Anreiz für kollusive Vereinbarungen zwischen Unternehmen, um ex ante auf das Ergebnis des Auswahlprozesses Einfluss zu nehmen.

44. Angesichts dieses Bildes bleibt das Gemeinschaftsrecht nicht außen vor.

45. Es erscheint offenkundig, dass der mechanische Ausschluss von Angeboten, die sich nach Unterabs. 1 der genannten Vorschrift als ungewöhnlich niedrig erweisen, in Anbetracht seiner Objektivität nicht als solcher diskriminierend ist. In den Schlussanträgen in der Rechtssache Lombardini und Mantovani lege ich dar, dass die italienischen Rechtsvorschriften einen mathematischen und somit automatischen Mechanismus für die Festsetzung der Ungewöhnlichkeitsschwelle schaffen, der in vollem Einklang mit dem Konzept der Richtlinie 93/37 steht und es ermöglicht, dass der Markt selbst für jeden Auftrag die Grenze festlegt, von der ab ein Angebot als ungewöhnlich angesehen werden kann. Alle Bewerber werden gleichbehandelt und niemand genießt bei der Ausarbeitung seines Angebots einen Vorteil gegenüber den anderen (Nrn. 33 und 35). Demzufolge würde durch die unmittelbare Ablehnung der irregulären Bieter, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Angebote zu erläutern, niemand diskriminiert.

46. Doch ändert sich die Beurteilung, wenn eine Gruppe von Unternehmern – in der Regel diejenigen, die auf dem Markt des jeweiligen Gebiets tätig sind – sich aufgrund rechtswidriger Vereinbarungen abspricht, um gleichlautende Voranschläge auszuarbeiten, die unendlich kleine Unterschiede aufweisen, und auf diese Weise den Angeboten der Wettbewerber, die von diesen Machenschaften ausgeschlossen sind, die Eigenschaft verleihen, ungewöhnlich niedrig zu sein, ohne dass diese sich verteidigen oder die Vertrauenswürdigkeit ihrer Lösung nachweisen könnten.

47. Auf diese Weise werden die Transparenz und der gesunde Wettbewerb gefährdet, die das Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet der öffentlichen Aufträge fordert, denn wenn die Geschädigten in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, müssen sie die Möglichkeit haben, ihre Haltung zu erläutern, wenn es nicht zu einer vertragswidrigen Diskriminierung kommen soll. Die Stadt Turin hat in der mündlichen Verhandlung in diesem Vorabentscheidungsverfahren dargelegt, dass es nach der Entscheidung, die nationale Regelung nicht anzuwenden, zu einem signifikanten Rückgang von Angeboten gekommen sei, die zu dem Zweck vorgelegt worden seien, den freien Wettbewerb zu verfälschen.

48. Kurz gefasst verlangen die genannten Postulate, dass die ausschreibende Verwaltung bei der Vergabe von Aufträgen, die auf Gemeinschaftsebene relevant sind, im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens die Erläuterungen der Unternehmer, deren Angebote als ungewöhnlich niedrig qualifiziert wurden, berücksichtigt. Sie stehen daher einer nationalen Regelung entgegen, die bei Aufträgen, deren Wert unter der in den sektoriellen Richtlinien festgelegten Schwelle liegt, den automatischen Ausschluss solcher Angebote ohne Anhörung vorschreibt.

4. Das Recht auf eine gute Verwaltung

49. Zu der vorgenannten objektiven und abstrakten Dimension, die über die individuellen Interessen der an einem Auswahlverfahren teilnehmenden Unternehmer hinausgeht, kommt eine weitere, subjektive hinzu, bei der Rechte dieser Unternehmer und insbesondere das Verbot, sie im Verwaltungsverfahren ohne Schutz zu lassen, große Bedeutung erlangen.

50. Das Verbot der Entziehung des Schutzes ist in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ausdrücklich anerkannt und gehört zu dem Recht auf eine gute Verwaltung, das in Art. 41 innerhalb des Kapitels V – Bürgerrechte – der Charta der Grundrechte der Europäischen Union(35) verankert ist. In Art. 41 Abs. 2 ist das Recht einer jeden Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, niedergelegt.

51. Die Charta, deren Bedeutung der Gerichtshof in jüngster Zeit hervorgehoben hat, insbesondere im Urteil vom 27. Juni 2006, Parlament/Rat(36), und im Urteil vom 8. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld(37), verlangt, dass ein Bieter vor seinem Ausschluss seine Auffassung darlegen kann, um den öffentlichen Auftraggeber von der Richtigkeit seines Vorschlags zu überzeugen.

52. Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass dieses Recht isoliert verstanden nicht bedeutet, dass ein mutmaßlich leichtfertiger Unternehmer stets anzuhören ist, da er grundsätzlich bereits durch die unparteiische Prüfung der Angebote geschützt ist, die nach vorgegebenen, objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien erfolgt. Doch erleidet ein Wettbewerber, der Gefahr läuft, wegen einer Absprache anderer übergangen zu werden, einen Nachteil, der darüber hinaus noch verschärft wird, wenn man ihn keine Erläuterungen abgeben lässt.

53. Demnach liefert das Recht auf Anhörung durch die Verwaltung Argumente für die Ablehnung eines automatischen Ausschlusses ungewöhnlich niedriger Angebote, denn der Begriff der „Ungewöhnlichkeit“ stellt, wie ich bereits angedeutet habe, einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, der je nach den Umständen des Einzelfalls ausgefüllt wird.

54. Daher ist es in Anbetracht des Rechts auf eine gute Verwaltung nicht ratsam, die kontradiktorische Prüfung der Angebote vor einer Entscheidung über ihre Zulässigkeit selbst bei den nicht durch die sektoriellen Richtlinien erfassten Aufträgen wegfallen zu lassen, denn dies würde eine Minderung der in den so genannten „Rechtsmittelrichtlinien“(38) niedergelegten Garantien mit sich bringen.

5. Der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten

55. Aus den gesamten vorstehenden Darlegungen ergibt sich, dass das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die die öffentlichen Auftraggeber verpflichtet, ungewöhnlich niedrige Angebote für öffentliche Aufträge, für die die Richtlinien zur Koordinierung der Vergabeverfahren nicht gelten, automatisch abzulehnen; es empfiehlt im Gegenteil, den Auftraggebern Gelegenheit zu geben, eine Beurteilung vorzunehmen, ob es, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles, zweckmäßig ist, eine Anhörung durchzuführen, um die Struktur solcher Angebote kontradiktorisch zu prüfen(39) .

56. Doch befreit die Autonomie der Mitgliedstaaten diese davon, dem Weg des Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 zu folgen, und erlaubt ihnen, die Mittel zum Schutz der Rechte, die die Rechtsordnung der Gemeinschaft den Bürgern einräumt, zu definieren, ohne hierbei weiteren Beschränkungen zu unterliegen als denen, die sich aus den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität ergeben, was bedeutet, dass die Verfahren nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als gleichartige Verfahren, die den Schutz der auf die innerstaatliche Rechtsordnung gestützten Rechte gewährleisten, und dass sie so ausgestaltet sein müssen, dass sie die Erreichung des verfolgten Zwecks nicht erschweren oder praktisch unmöglich machen(40) .

VI – Ergebnis

57. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Consiglio di Stato der Italienischen Republik wie folgt zu antworten:

Die Grundsätze des freien Wettbewerbs, der Transparenz der Verwaltung und der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, die den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über das öffentliche Auftragswesen zugrunde liegen, sowie das Recht auf eine gute Verwaltung stehen einer nationalen Regelung entgegen, die den öffentlichen Auftraggeber im Verfahren über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die nicht den einschlägigen Richtlinien unterliegen, dazu zwingt, ungewöhnlich niedrige Angebote ohne die Möglichkeit einer kontradiktorischen Überprüfung automatisch abzulehnen.

(1) .

(2)  – ABl. L 199, S. 54.

(3) – Rechtssachen C‑285/99 und C‑286/99, Slg. 2001, I‑9233.

(4)  – Neben der Richtlinie 93/37 über öffentliche Bauaufträge gibt es die Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 (ABl. 1977, L 13, S. 1), später geändert durch die Richtlinie 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über öffentliche Lieferaufträge (ABl. L 199, S. 1). Die öffentlichen Dienstleistungsaufträge und die Koordinierung der Verfahren zu ihrer Vergabe wurden in der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 (ABl. L 209, S. 1) geregelt. Diese Vorschriften (die durch die Richtlinie 97/52/EG [ABl. L 328, S. 1] geändert wurden), wurden in einem einzigen Text zusammengefasst: der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114).

(5)  – Derartige Tricks hat es immer gegeben, und Homer schildert in der Odyssee (Heimeran Verlag, Übertragung von Anton Weiher, München 1961) eine Vielzahl von Beispielen der sprichwörtlichen Schlauheit des Odysseus, wie in dem Abenteuer im neunten Gesang, in dem der Held den Polyphemos, dessen Gefangener er ist, betrunken macht und ihm erzählt, er heiße Keiner. Unter Ausnutzung der durch den Wein hervorgerufenen Schläfrigkeit stößt er ihm einen glühenden Ölbaumknittel in sein einziges Auge. Als auf die Hilfeschreie des Zyklopen hin seine Artgenossen diesen fragen, was mit ihm los sei und wer ihn angreife, antwortet Polyphemos: „Keiner will mich mit List … ermorden …“, und verhindert dadurch, dass sie ihm zu Hilfe eilen (408. Vers, S. 246).

(6)  – Richtlinie über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. L 185, S. 5).

(7)  – So ist im Urteil vom 22. Juni 1989, Fratelli Costanzo (103/88, Slg. 1989, 1839, Randnrn. 16, 18 und 19), entschieden worden, durch das ein Ausschluss von Amts wegen aufgrund mechanischer Kriterien untersagt worden ist (Nr. 1 des Tenors); diese Rechtsprechung ist im Urteil vom 18. Juni 1991, Donà Alfonso (C‑295/89, Slg. 1991, I‑2967), wiederholt worden. Einen Präzedenzfall stellte das Urteil vom 10. Februar 1982, Transporoute (76/81, Slg. 1982, 417, Randnr. 18), dar.

(8)  – Eine Änderung betraf Art. 29 Abs. 5, der seit der Richtlinie 89/440/EWG vom 18. Juli 1989 (ABl. L 210, S. 1) eine neue Fassung hat.

(9)  – Nach der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 2083/2005 vom 19. Dezember 2005 (ABl. L 333, S. 28).

(10) – Gazzetta Ufficiale della Repubblica italiana (im Folgenden: GURI) Nr. 41 vom 19. Februar 1994, S. 5).

(11) – GURI Nr. 127 vom 2. Juni 1995, S. 3. Diese Rechtsnorm ist das Ergebnis der unter Vornahme von Änderungen erfolgten Umwandlung des Gesetzesdekrets Nr. 101/1995 vom 3. April 1995 über dringliche Regelungen auf dem Gebiet der öffentlichen Bauarbeiten (GURI Nr. 78 vom 3. April 1995, S. 8) in ein Gesetz.

(12)  – Durch Art. 7 des Gesetzes Nr. 415/1998 vom 18. November 1998 (GURI Nr. 284 vom 4. Dezember 1998, Supplemento ordinario, S. 5) geänderte Fassung.

(13)  – GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006.

(14)  – Der Umbau eines alten Palastes in eine Jugendherberge (4 699 999 Euro) bzw. die umweltgerechte Sanierung des Corso Francia zwischen der Piazza Statuto und der Piazza Bernini (5 172 579 Euro).

(15)  – Wenn auch mit einigen Nuancen gegenüber der Position Litauens und der Stadt Turin, denn die slowakische Regierung spricht sich dafür aus, die erste Vorlagefrage zu verneinen, da sie sich dagegen wehrt, die Vorschrift des Art. 30 Abs. 4 der Richtlinie 93/37 von den im Vertrag verankerten Grundätzen zu trennen; damit liegt sie auf einer Linie mit der Entscheidung der Stadt.

(16)  – Schlussanträge vom 8. November 2006 in der noch anhängigen Rechtssache C‑412/04, Kommission/Italien (Nrn. 44 bis 47).

(17)  – „Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z.B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz. …“

(18)  – Auch bei der Kommission, konkret in der „Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen“ (ABl. 2006, C 179, S. 2, insbes. S. 5 und 6).

(19)  – Rechtssache C‑324/98, Slg. 2000, I‑10745.

(20)  – In dieser Rechtssache von der Richtlinie 93/38/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. L 199, S. 84), die durch die Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. L 134, S. 1) ersetzt worden ist.

(21)  – Rechtssache C‑92/00, Slg. 2002, I‑5553. Tatsächlich bezog sich das Urteil weniger auf einen von der Richtlinie nicht umfassten Auftrag, als auf einen in der Vorschrift nicht geregelten Verfahrensabschnitt: Der Vertrag fordert ein Nachprüfungsverfahren im Fall des Widerrufs einer Ausschreibung, das in der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 92/50/EWG geänderten Fassung nicht vorgesehen war.

(22)  – Rechtssache C‑231/03, Slg. 2005, I‑7287. In Randnr. 16 des Urteils wurde daran erinnert, dass die Vergabe einer solchen Konzession (für die Verwaltung der öffentlichen Dienstleistung der Gasversorgung durch eine Gemeinde an eine Gesellschaft mit überwiegend öffentlichem Stammkapital) von keiner der Richtlinien erfasst wird, mit denen der Gemeinschaftsgesetzgeber den Bereich des öffentlichen Auftragswesens geregelt hat. In Ermangelung einer solchen Regelung sind die Folgen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht für die Erteilung solcher Konzessionen ergeben, anhand des Primärrechts und insbesondere der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten zu prüfen. Auf derselben Linie liegen die Urteile vom 13. Oktober 2005, Parking Brixen (C‑458/03, Slg. 2005, I‑8585, Randnr. 46), und vom 6. April 2006, ANAV (C‑410/04, Slg. 2006, I‑3303, Randnr. 18).

(23)  – Rechtssache C‑59/00, Slg. 2001, I‑9505.

(24)  – Nach dieser Entscheidung verstößt eine Klausel in den Ausschreibungsunterlagen zu einem den Schwellenwert überschreitet wollen öffentlichen Bauauftrag, die die Verwendung von Material einer bestimmten Marke vorschreibt, gegen Art. 28 EG.

(25)  – Randnr. 20, a contrario sensu, des Urteils Coname.

(26)  – Rechtssache C‑264/03, Slg. 2005, I‑8831.

(27)  – Ich erinnere an den zweiten Absatz des zweiten Erwägungsgrunds der Richtlinie 2004/18.

(28)  – Urteil Fratelli Costanzo, Randnr. 18.

(29)  – Urteile vom 10. November 1998, BFI Holding (C‑360/96, Slg. 1998. I‑6821, Randnr. 41), vom 3. Oktober 2000, University of Cambridge (C‑380/98, Slg. 2000, I‑8035, Randnr. 16), und vom 1. Februar 2001, Kommission/Frankreich (C‑237/99, Slg. 2001, I‑939, Randnr. 41).

(30)  – Urteile vom 15 Januar 1998, Mannesmann Anlagenbau Austria u. a. (C‑44/96, Slg. 1998, I‑73, Randnr. 33), BFI Holding, Randnr. 42, University of Cambridge, Randnr. 17, und Kommission/Frankreich (C‑237/99), Randnr. 42.

(31)  – Nr. 30 meiner Schlussanträge vom 5. Juni 2001 in der Rechtssache, die zum Urteil Lombardini und Mantovani geführt hat.

(32)  – In dem Urteil wurde unterstrichen, dass nach dieser Vorschrift der öffentliche Auftraggeber verpflichtet ist, die zweifelhaften Angebote zu ermitteln, es den betroffenen Unternehmen zu ermöglichen, deren Seriosität darzutun, die Stichhaltigkeit der von den Betroffenen eingereichten Erklärungen zu beurteilen und über die Zulassung oder die Ablehnung dieser Angebote zu entscheiden (Randnr. 55).

(33)  – Rechtssache C‑275/98, Slg. 1999, I‑8291. In diese Richtung gehen auch die Urteile Telaustria und Telefonadress (Randnrn. 61 und 62) und Parking Brixen (Randnr. 49).

(34)  – Nr. 32 der Schlussanträge Lombardini und Mantovani.

(35)  – ABl. 2000, C 364, S. 1.

(36)  – Rechtssache C‑540/03, Slg. 2006, I‑5769.

(37)  – Rechtssache C‑303/05, Slg. 2007, I‑0000. Zur Rechtsnatur der Charta vgl. Nrn. 76 bis 79 meiner Schlussanträge in dieser Rechtssache.

(38)  – Die bereits genannte Richtlinie 89/665 sowie die Richtlinie 92/13/EWG des Rates vom 25. Februar 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften über die Auftragsvergabe durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie im Telekommunikationssektor (ABl. L 76, S. 14).

(39)  – Im Urteil vom 7. Oktober 2004, Sintesi (C‑247/02, Slg. 2004, I‑9215), wird eine nationale Regelung beanstandet, die ein ausschließliches Kriterium für die Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen festlegt und so den öffentlichen Auftraggebern die Möglichkeit nimmt, die Art und die Besonderheiten derartiger Aufträge nach dem Kriterium zu beurteilen, das am besten geeignet ist, den freien Wettbewerb zu sichern und so die Auswahl des besten Angebots zu gewährleisten (Randnr. 40).

(40)  – Nach ständiger Rechtsprechung, deren erstes Glied das Urteil vom 16. Dezember 1976, Rewe (33/76, Slg. 1976, 1989), darstellt.

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