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Document 62005CJ0097
Judgment of the Court (First Chamber) of 14 December 2006.#Mohamed Gattoussi v Stadt Rüsselsheim.#Reference for a preliminary ruling: Verwaltungsgericht Darmstadt - Germany.#Euro-Mediterranean Agreement - Tunisian worker with permission to remain in a Member State and to work there - Principle of non-discrimination as regards working conditions, remuneration and dismissal - Curtailment of the period of validity of the residence permit.#Case C-97/05.
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 14. Dezember 2006.
Mohamed Gattoussi gegen Stadt Rüsselsheim.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Verwaltungsgericht Darmstadt - Deutschland.
Europa-Mittelmeer-Abkommen - Tunesischer Arbeitnehmer, der die Erlaubnis zum Aufenthalt und zur Ausübung einer Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat - Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen - Befristung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis.
Rechtssache C-97/05.
Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 14. Dezember 2006.
Mohamed Gattoussi gegen Stadt Rüsselsheim.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Verwaltungsgericht Darmstadt - Deutschland.
Europa-Mittelmeer-Abkommen - Tunesischer Arbeitnehmer, der die Erlaubnis zum Aufenthalt und zur Ausübung einer Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat - Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen - Befristung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis.
Rechtssache C-97/05.
Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-11917
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:780
Rechtssache C-97/05
Mohamed Gattoussi
gegen
Stadt Rüsselsheim
(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Darmstadt)
„Europa-Mittelmeer-Abkommen – Tunesischer Arbeitnehmer, der die Erlaubnis zum Aufenthalt und zur Ausübung einer Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat erhalten hat – Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Arbeits‑, Entlohnungs‑ und Kündigungsbedingungen – Befristung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis“
Leitsätze des Urteils
1. Völkerrechtliche Verträge – Verträge der Gemeinschaft – Unmittelbare Wirkung
(Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Tunesien, Artikel 64 Absatz 1)
2. Völkerrechtliche Verträge – Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Tunesien – In einem Mitgliedstaat beschäftigte tunesische Arbeitnehmer
(Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommen EG–Tunesien, Artikel 64 Absatz 1)
1. Eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens ist unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen.
Dies ist bei Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommens der Fall.
(vgl. Randnrn. 25-28)
2. Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Assoziierungsabkommens EG–Tunesien ist dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben. Zwar ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Artikel 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens wie aus der Gemeinsamen Erklärung, die von den Vertragsparteien in der Schlussakte dieses Abkommens verabschiedet worden ist, dass diese Bestimmung als solche nicht der Regelung des Aufenthaltsrechts tunesischer Staatsangehöriger in den Mitgliedstaaten dient.
Daher untersagt es das Europa-Mittelmeer-Abkommen, das nicht die Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zum Gegenstand hat, einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht, Maßnahmen in Bezug auf das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen zu ergreifen, der zunächst die Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und zur Aufnahme einer Berufstätigkeit dort erhalten hat, und der Umstand, dass ein solches Vorgehen den Betroffenen dazu zwingt, sein Arbeitsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat vor dem mit dem Arbeitgeber vertraglich vereinbarten Termin zu beenden, ändert daran grundsätzlich nichts.
Jedoch kann der Aufnahmemitgliedstaat dann, wenn er dem Wanderarbeitnehmer ursprünglich in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hatte, die Situation dieses Arbeitnehmers nicht aus Gründen in Frage stellen, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen. Denn es kann nicht angenommen werden, dass die Mitgliedstaaten über das Diskriminierungsverbot des Artikels 64 Absatz 1 des Europa-Mittelmeer-Abkommens verfügen, indem sie dessen praktische Wirksamkeit durch Bestimmungen des nationalen Rechts beschränken.
(vgl. Randnrn. 35-37, 39-40, 43 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)
14. Dezember 2006(*)
„Europa–Mittelmeer‑Abkommen – Tunesischer Arbeitnehmer, der die Erlaubnis zum Aufenthalt und zur Ausübung einer Berufstätigkeit in einem Mitgliedstaat – Diskriminierungsverbot in Bezug auf die Arbeits‑, Entlohnungs‑ und Kündigungsbedingungen – Befristung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis“
In der Rechtssache C-97/05
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 25. Januar 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 2005, in dem Verfahren
Mohamed Gattoussi
gegen
Stadt Rüsselsheim
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter K. Lenaerts, J. N. Cunha Rodrigues, M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter),
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Mohamed Gattoussi, vertreten durch Rechtsanwältin P. von Schumann,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, C. Schulze‑Bahr und U. Bender als Bevollmächtigte,
– der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch G. Rozet und V. Kreuschitz als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. April 2006
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens vom 26. Januar 1998 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits, geschlossen in Brüssel am 17. Juli 1995 und genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch Beschluss 98/238/EG, EGKS des Rates und der Kommission vom 26. Januar 1998 (ABl. L 97, S. 1, im Folgenden: Europa–Mittelmeer‑Abkommen).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits von Herrn Gattoussi, einem tunesischen Staatsangehörigen, gegen die Stadt Rüsselsheim über die Entscheidung des Oberbürgermeisters dieser Stadt, die Aufenthaltserlaubnis des Betroffenen, der am Tag dieser Entscheidung über eine unbefristete Arbeitsgenehmigung verfügte und einer Beschäftigung nachging, nachträglich zu befristen.
Rechtlicher Rahmen
Das Europa–Mittelmeer‑Abkommen
3 Artikel 64 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens in Kapitel I („Bestimmungen über die Arbeitskräfte“) des Titels VI („Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Bereich“) lautet:
„(1) Jeder Mitgliedstaat gewährt den Arbeitnehmern tunesischer Staatsangehörigkeit, die in seinem Hoheitsgebiet beschäftigt sind, eine Behandlung, die hinsichtlich der Arbeits-, Entlohnungs- und Kündigungsbedingungen keine auf der Staatsangehörigkeit beruhende Benachteiligung gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen bewirkt.
(2) Absatz 1 gilt hinsichtlich der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für alle tunesischen Arbeitnehmer, die dazu berechtigt sind, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine befristete nichtselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben.
(3) Tunesien gewährt den in seinem Hoheitsgebiet beschäftigten Arbeitnehmern, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, die gleiche Behandlung.“
4 Artikel 66 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens sieht vor:
„Die Bestimmungen dieses Kapitels gelten nicht für die Staatsangehörigen einer der Vertragsparteien, die im Hoheitsgebiet des Gastlandes illegal wohnen oder arbeiten.“
5 In der Gemeinsamen Erklärung der Vertragsparteien zu Artikel 64 Absatz 1 in der Schlussakte des Europa–Mittelmeer‑Abkommens heißt es außerdem:
„Was die nichtdiskriminierende Behandlung bei der Entlassung anbetrifft, so kann Artikel 64 Absatz 1 nicht in Anspruch genommen werden, um die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Für die Erteilung, die Verlängerung oder die Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung sind ausschließlich die Rechtsvorschriften der einzelnen Mitgliedstaaten sowie die … bilateralen Übereinkünfte … maßgeblich.“
6 Gemäß Artikel 91 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens ist die Gemeinsame Erklärung Bestandteil dieses Abkommens.
Die einschlägigen Bestimmungen des deutschen Rechts
7 § 12 Absatz 2 des Ausländergesetzes in seiner Fassung vom 23. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1842, im Folgenden: AuslG) bestimmt:
„Die Aufenthaltsgenehmigung wird befristet oder, wenn es gesetzlich bestimmt ist, unbefristet erteilt. Ist eine für die Erteilung, die Verlängerung oder Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen, kann die befristete Aufenthaltsgenehmigung nachträglich zeitlich beschränkt werden.“
8 Nach § 19 Absatz 1 AuslG wird die Aufenthaltserlaubnis des Ehegatten im Falle der Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft als eigenständiges Aufenthaltsrecht u. a. dann verlängert, wenn die eheliche Lebensgemeinschaft seit mindestens zwei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden hat oder wenn es zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist, dem Ehegatten den weiteren Aufenthalt zu ermöglichen, es sei denn, für den Ausländer ist die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen.
9 Nach § 284 des Dritten Buches des Sozialgesetzbuchs in seiner Fassung vom 24. März 1997 (BGBl. I S. 594, im Folgenden: SGB III) dürfen Ausländer eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Agentur für Arbeit ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen. Nach § 284 Absatz 5 darf eine Arbeitserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung besitzt.
Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und die Vorlagefragen
10 Herr Gattoussi heiratete am 30. August 2002 eine deutsche Staatsangehörige. Die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Tunis stellte ihm für seine Einreise nach Deutschland ein Visum zur Familienzusammenführung aus.
11 Am 24. September 2002 wurde Herrn Gattoussi vom Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim, wo sich das Ehepaar niederlassen wollte, eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt.
12 Am 22. Oktober 2002 erteilte das Arbeitsamt Darmstadt Herrn Gattoussi eine unbefristete Arbeitsgenehmigung, in der auf die Anwendbarkeit von § 284 SGB III hingewiesen wurde.
13 Am 11. März 2003 schloss Herr Gattoussi einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag, der später bis zum 31. März 2005 verlängert wurde.
14 Nachdem der Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim von der Ehefrau von Herrn Gattoussi davon unterrichtet worden war, dass sie seit dem 1. April 2004 von ihrem Mann getrennt lebe, befristete er die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi mit Bescheid vom 23. Juni 2004 auf den Tag der Zustellung dieser Verfügung und forderte ihn auf, Deutschland bei Meidung der Abschiebung nach Tunesien unverzüglich zu verlassen.
15 Zur Begründung wurde in dem Bescheid ausgeführt, dass zum einen der ursprüngliche Grund für die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi entfallen sei, da die eheliche Lebensgemeinschaft nicht mehr bestehe, und dass zum anderen eine unbefristete Arbeitsgenehmigung nach deutschem Recht kein von der Aufenthaltserlaubnis unabhängiges übergeordnetes Recht auf Fortsetzung einer nichtselbständigen Erwerbstätigkeit und auf weiteren Aufenthalt vermittle.
16 Der Bescheid ging ferner davon aus, dass Herr Gattoussi kein eigenständiges Aufenthaltsrecht besitze. Er könne sich nämlich nicht auf die Bestimmungen des AuslG berufen, da die eheliche Lebensgemeinschaft nicht zwei Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet bestanden habe und da in seiner Person keine besondere Härte vorliege.
17 Schließlich könne Herr Gattoussi auch aus dem Europa–Mittelmeer‑Abkommen kein Aufenthaltsrecht ableiten, weil sich aus dem dort in Artikel 64 Absatz 1 angeführten Diskriminierungsverbot keine aufenthaltsrechtlichen Ansprüche für tunesische Staatsangehörige ergäben.
18 Herr Gattoussi legte gegen diesen Bescheid beim Regierungspräsidium Darmstadt Widerspruch ein und machte geltend, dass die Beendigung seines Aufenthalts in Deutschland zu einer besonderen Härte für ihn führe, weil unter diesen Umständen seine Versuche, die eheliche Lebensgemeinschaft fortzuführen und die durch die Hochzeit entstandenen Schulden zurückzuzahlen, erschwert, wenn nicht gar vereitelt würden.
19 Der Widerspruch von Herrn Gattoussi wurde durch Bescheid vom 17. September 2004 mit der Begründung zurückgewiesen, dass es keine nationale Rechtsgrundlage gebe, nach der ihm ein Aufenthaltsrecht zuerkannt werden könne, und dass der Oberbürgermeister der Stadt Rüsselsheim bei der Entscheidung, die Aufenthaltserlaubnis von Herrn Gattoussi nachträglich zu befristen, ermessensfehlerfrei gehandelt habe.
20 Herr Gattoussi erhob gegen diesen Widerspruchsbescheid Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt mit der Begründung, eine Rückkehr nach Tunesien würde für ihn eine besondere familiäre wirtschaftliche Härte darstellen, da er eine Vollzeitbeschäftigung in Deutschland ausübe, wo er sich in die Lebensverhältnisse vollkommen integriert habe und beabsichtige, erneut eine deutsche Staatsangehörige zu heiraten.
21 Im Rahmen des Verfahrens über diese Klage hat das Verwaltungsgericht dem Gerichtshof folgende vier Fragen vorgelegt:
1. Entfaltet Artikel 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens mit Tunesien aufenthaltsrechtliche Wirkung?
Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 1 bejaht wird:
2. Kann aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens eine aufenthaltsrechtliche Position abgeleitet werden, die einer Befristung des Aufenthaltsrechts entgegensteht, wenn ein tunesischer Staatsangehöriger im Besitz einer unbefristeten Arbeitsgenehmigung ist, tatsächlich einer Beschäftigung nachgeht und im Zeitpunkt der ausländerrechtlichen Entscheidung über ein befristetes Aufenthaltsrecht verfügt?
Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 2 bejaht wird:
3. Kann zur Bestimmung der sich aus dem Diskriminierungsverbot des Artikels 64 des Europa–Mittelmeer-Abkommens ergebenden aufenthaltsrechtlichen Position auf einen Zeitpunkt nach Erlass der ausländerrechtlichen Befristungsverfügung abgestellt werden?
Für den Fall, dass die Frage unter Ziffer 3 bejaht wird:
4. Ist zur Konkretisierung des Vorbehalts der Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates auf die zu Artikel 39 Absatz 3 EG entwickelten Grundsätze zurückzugreifen?
Zu den Vorlagefragen
22 Mit seinen Vorlagefragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob sich das Urteil des Gerichtshofes vom 2. März 1999 in der Rechtssache C‑416/96 (El‑Yassini, Slg. 1999, I‑1209) zur Auslegung von Artikel 40 Absatz 1 des am 27. April 1976 in Rabat unterzeichneten und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2211/78 des Rates vom 26. September 1978 (ABl. L 264, S. 1) im Namen der Gemeinschaft genehmigten Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem Königreich Marokko (im Folgenden: Abkommen EWG–Marokko) auf das Ausgangsverfahren übertragen lässt und ob Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens den Aufnahmemitglied daran hindert, das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen, dem er die Erlaubnis zum Aufenthalt im Inland befristet und die Genehmigung zur Ausübung einer Beschäftigung unbefristet erteilt hat, zu beschränken, wenn der ursprüngliche Grund für die Aufenthaltserlaubnis vor deren Ablauf entfallen ist.
23 Um dem vorlegenden Gericht eine zweckdienliche Antwort geben zu können, ist zunächst zu prüfen, ob sich ein Einzelner vor den Gerichten eines Mitgliedstaats auf Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens berufen kann; wenn ja, ist sodann die Tragweite des in dieser Vorschrift ausgesprochenen Diskriminierungsverbots zu bestimmen.
Zur unmittelbaren Wirkung von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens
24 Da im Europa–Mittelmeer‑Abkommen die Frage der Wirkung seiner Bestimmungen in der Rechtsordnung der Parteien dieses Abkommens nicht geregelt worden ist, hat der Gerichtshof über diese Frage ebenso wie über jede andere Auslegungsfrage zu entscheiden, die sich im Zusammenhang mit der Anwendung von Abkommen in der Gemeinschaft stellt (vgl. entsprechend u. a. Urteile vom 23. November 1999 in der Rechtssache C‑149/96, Portugal/Rat, Slg. 1999, I‑8395, Randnr. 34, und vom 12. April 2005 in der Rechtssache C‑265/03, Simutenkov, Slg. 2005, I‑2579, Randnr. 20).
25 Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Bestimmung eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen Abkommens unmittelbar anwendbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Zweck und die Natur des Abkommens eine klare und präzise Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Aktes abhängen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. September 2001 in der Rechtssache C‑63/99, Gloszczuk, Slg. 2001, I‑6369, Randnr. 30, vom 8. Mai 2003 in der Rechtssache C‑171/01, Wählergruppe Gemeinsam, Slg. 2003, I‑4301, Randnr. 54, und Simutenkov, Randnr. 21).
26 Was erstens den Wortlaut von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens angeht, so entspricht er nahezu dem des Artikels 40 Absatz 1 des Abkommens EWG–Marokko, gegenüber dem er lediglich das Diskriminierungsverbot auf die Kündigungsbedingungen erstreckt. Wie der Gerichtshof entschieden hat, erfüllte dieser Artikel 40 Absatz 1 die Anforderungen für die Zuerkennung unmittelbarer Wirkung (Urteil El‑Yassini, Randnr. 27).
27 Was zweitens Zweck und Natur des Europa–Mittelmeer‑Abkommens angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass es gemäß seinem Artikel 96 Absatz 2 das Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen Republik, genehmigt im Namen der Gemeinschaft durch die Verordnung (EWG) Nr. 2212/78 des Rates vom 26. September 1978 über den Abschluss des Kooperationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Tunesischen Republik (ABl. 265, S. 2, im Folgenden: Abkommen EWG‑Tunesien), ersetzt, mit dem es in einer Linie steht, da es u. a. die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Soziales, Kultur und Finanzen fördern soll. Dieses Kooperationsabkommen war im Wesentlichen identisch mit dem Abkommen EWG–Marokko, dessen Zweck und Natur insbesondere im Hinblick auf die Zusammenarbeit im Bereich der Arbeitskräfte nach der Feststellung des Gerichtshofes mit der direkten Wirkung seines Artikels 40 Absatz 1 vereinbar sind (Urteil El Yassini, Randnrn. 28 bis 31). Dies gilt umso mehr, als das Europa–Mittelmeer‑Abkommen im Gegensatz zum Abkommen EWG–Marokko in seinem Artikel 1 Absatz 1 eine Assoziation zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Tunesien andererseits vorsieht.
28 Daher ist festzustellen, dass Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens unmittelbare Wirkung hat.
Zur Tragweite von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens
29 Im Urteil El‑Yassini hat der Gerichtshof wie folgt für Recht erkannt: Beim Stand des Gemeinschaftsrechts zum Zeitpunkt seiner Entscheidung war Artikel 40 Absatz 1 des Abkommens EWG–Marokko dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagte, es abzulehnen, die Aufenthaltserlaubnis eines marokkanischen Staatsangehörigen, dem er die Einreise und die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt hatte, für die gesamte Dauer dieser Beschäftigung zu verlängern, wenn der ursprüngliche Grund für die Gewährung des Aufenthaltsrechts bei Ablauf der ursprünglichen Aufenthaltserlaubnis nicht mehr bestand. Anders verhielte es sich nur, wenn dem Betroffenen durch ein derartiges Vorgehen das Recht auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung, das ihm durch eine von der zuständigen nationalen Behörde ordnungsgemäß erteilte Arbeitserlaubnis erteilt worden war, die länger als die Aufenthaltserlaubnis war, entzogen würde, ohne dass Gründe des Schutzes eines berechtigten Interesses des Staates, namentlich Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, dies rechtfertigten (Urteil El‑Yassini, Randnr. 67).
30 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Umstände des vorliegenden Ausgangsverfahrens mit denjenigen vergleichbar sind, die der Gerichtshof im Urteil El-Yassini untersucht hat.
31 In beiden Fällen beschränkte nämlich der Aufnahmemitgliedstaat durch eine Befristung des Aufenthaltsrechts des Staatsangehörigen eines Drittlands dessen Recht auf Ausübung einer beruflichen Tätigkeit, obwohl ihm dieses Recht durch eine Arbeitsgenehmigung bewilligt worden war.
32 Allerdings hebt die deutsche Regierung einige Unterschiede zwischen Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens und Artikel 40 Absatz 1 des Abkommens EWG–Marokko hervor, die dem entgegenstünden, dass der angeführte Artikel 64 Absatz 1 so ausgelegt werde, wie die letztgenannte Bestimmung im Urteil El‑Yassini ausgelegt worden sei.
33 Erstens bringe die Gemeinsame Erklärung zu Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens den Willen der Vertragsparteien dieses Abkommens zum Ausdruck, zu verhindern, dass sich tunesische Staatsangehörige auf das in dieser Bestimmung enthaltene Diskriminierungsverbot stützten, um daraus Aufenthaltsrechte geltend zu machen.
34 Zum anderen könne dieser Bestimmung wegen ihres Wortlauts, ihrer praktischen Wirksamkeit und ihrer systematischen Stellung keine aufenthaltsrechtliche Wirkung für tunesische Staatsangehörige beigemessen werden.
35 Wie die deutsche Regierung ausführt, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens wie aus der Gemeinsamen Erklärung dazu, dass diese Bestimmung als solche nicht der Regelung des Aufenthaltsrechts tunesischer Staatsangehöriger in den Mitgliedstaaten dient.
36 Daher ist, dem folgend, was der Gerichtshof in der Rechtssache El‑Yassini in Bezug auf das Abkommen EWG–Marokko entschieden hat, festzustellen, dass das Europa–Mittelmeer‑Abkommen, das nicht die Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zum Gegenstand hat, es einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht untersagt, Maßnahmen in Bezug auf das Aufenthaltsrecht eines tunesischen Staatsangehörigen zu ergreifen, der zunächst die Erlaubnis zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat und zur Aufnahme einer Berufstätigkeit dort erhalten hat (Urteil El‑Yassini, Randnrn. 58 bis 62).
37 Dass ein solches Vorgehen den Betroffenen dazu zwingt, sein Arbeitsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat vor dem mit dem Arbeitgeber vertraglich vereinbarten Termin zu beenden, ändert daran grundsätzlich nichts (Urteil El‑Yassini, Randnr. 63).
38 Allerdings ergibt sich entgegen der Ansicht der deutschen Regierung aus dieser Auslegung nicht, dass ein tunesischer Staatsangehöriger sich in keinem Fall auf das Diskriminierungsverbot des Artikels 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens berufen kann, um eine Maßnahme anzufechten, die ein Mitgliedstaat ergriffen hat, um sein Aufenthaltsrecht zu beschränken.
39 Denn es kann nicht angenommen werden, dass die Mitgliedstaaten über das Diskriminierungsverbot des Artikels 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens verfügen, indem sie dessen praktische Wirksamkeit durch Bestimmungen des nationalen Rechts beschränken. Eine solche Möglichkeit würde zum einen die Bestimmungen eines von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten geschlossenen Abkommens beeinträchtigen und zum anderen die einheitliche Anwendung dieses Verbots in Frage stellen.
40 Insbesondere kann, wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache El‑Yassini entschieden hat, der Aufnahmemitgliedstaat dann, wenn er dem Wanderarbeitnehmer ursprünglich in Bezug auf die Ausübung einer Beschäftigung weitergehende Rechte als in Bezug auf den Aufenthalt verliehen hatte, die Situation dieses Arbeitnehmers nicht aus Gründen in Frage stellen, die nicht dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates, wie der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dienen (Urteil El‑Yassini, Randnrn. 64, 65 und 67).
41 Der Begriff der öffentlichen Ordnung setzt nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache 36/75, Rutili, Slg. 1975, I‑1279, Randnr. 28, vom 10. Februar 2000 in der Rechtssache C‑340/97, Nazli, Slg. 2000, I‑957, Randnr. 57, und vom 25. Juli 2002 in der Rechtssache C‑459/99, MRAX, Slg. 2002, I‑6591, Randnr. 79).
42 In Anbetracht der Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit gilt das in Randnummer 40 Gesagte erst recht, wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aufnahmemitgliedstaat die Aufenthaltserlaubnis nachträglich befristet.
43 Nach allem ist Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben.
Kosten
44 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 64 Absatz 1 des Europa–Mittelmeer‑Abkommens vom 17. Juli 1995 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits ist dahin auszulegen, dass er Wirkungen auf das Recht eines tunesischen Staatsangehörigen entfaltet, sich im Gebiet eines Mitgliedstaats aufzuhalten, wenn dieser Staatsangehörige von diesem Mitgliedstaat eine ordnungsgemäße Genehmigung erhalten hat, eine Berufstätigkeit für eine die Dauer seiner Aufenthaltserlaubnis übersteigende Zeit auszuüben.
Unterschriften
* Verfahrenssprache: Deutsch.