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Document 62005CC0376

Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 28. September 2006.
A. Brünsteiner GmbH (C-376/05) und Autohaus Hilgert GmbH (C-377/05) gegen Bayerische Motorenwerke AG (BMW).
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland.
Wettbewerb - Vertriebsvereinbarung über Kraftfahrzeuge - Gruppenfreistellung - Verordnung (EG) Nr. 1475/95 - Artikel 5 Absatz 3 - Kündigung durch den Lieferanten - Umstrukturierung des Netzes - Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 - Artikel 4 Absatz 1 - Kernbeschränkungen - Folgen.
Verbundene Rechtssachen C-376/05 und C-377/05.

Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-11383

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:622

Schlußanträge des Generalanwalts

Schlußanträge des Generalanwalts

1. In dieser Rechtssache stehen wieder die Probleme betreffend die Folgen des Ablaufs der alten und des Inkrafttretens einer neuen Gruppenfreistellung im Kraftfahrzeugsektor im Mittelpunkt. Auch hier geht es um die Frage, ob das Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellung die Kündigung bestehender Vertriebsvereinbarungen mit verkürzter Kündigungsfrist rechtfertigen kann. Zugleich spielt vorliegend die Frage der Nichtigkeit eine Rolle.

I – Rechtlicher Rahmen

2. In der 19. Begründungserwägung der Verordnung (EG) Nr. 1475/95(2) heißt es:

„In Artikel 5 Absatz 2 Nummern 2 und 3 und Absatz 3 sind für die Freistellung Mindestvoraussetzungen hinsichtlich der Dauer und Beendigung der Vertriebs- und Kundendienstvereinbarung festgelegt, weil sich die Abhängigkeit des Händlers vom Lieferanten bei kurzfristigen Vereinbarungen oder kurzfristig beendbaren Vereinbarungen erheblich erhöht, wenn er Investitionen zur Verbesserung der Struktur des Vertriebs und Kundendienstes von Vertragswaren vornimmt. Um jedoch die Entwicklung anpassungs- und leistungsfähiger Strukturen nicht zu hemmen, ist dem Lieferanten ein außerordentliches Recht auf Beendigung der Vereinbarung zuzuerkennen, falls es sich als erforderlich erweist, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzugestalten …“

3. Artikel 5 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 1475/95 bestimmt:

„(2) Sofern der Händler nach Artikel 4 Absatz 1 Verpflichtungen zur Verbesserung der Strukturen von Vertrieb und Kundendienst übernommen hat, gilt die Freistellung unter der Voraussetzung,

2. dass die Dauer der Vereinbarung mindestens fünf Jahre oder die Frist für die ordentliche Kündigung einer auf unbestimmte Dauer geschlossenen Vereinbarung für beide Vertragspartner mindestens zwei Jahre beträgt; diese Frist verkürzt sich auf mindestens ein Jahr,

(3) Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Voraussetzungen für die Freistellung berühren nicht

– das Recht des Lieferanten, die Vereinbarung innerhalb einer Frist von mindestens einem Jahr zu kündigen, falls sich die Notwendigkeit ergibt, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren,

…“

4. In dem Leitfaden, in dem die Kommission diese Verordnung erläutert, wird in der Antwort auf Frage 16 Buchstabe a – die die vorzeitige Kündigung der Vertriebsvereinbarung betrifft – ausdrücklich hierauf eingegangen. Darin wird im Wesentlichen dargelegt, dass ein Hersteller zu einer vorzeitigen Kündigung (mit einer Frist von einem Jahr) berechtigt ist, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren, dass die Möglichkeit einer vorzeitigen Kündigung vorgesehen wurde, um dem Hersteller eine flexible Anpassung an Veränderungen in den Vertriebsstrukturen zu ermöglichen, dass ein Umstrukturierungsbedarf sich z. B. aufgrund des Verhaltens von Wettbewerbern oder sonstiger wirtschaftlicher Entwicklung ergeben kann und dass in jedem Einzelfall anhand des spezifischen Aufbaus des Händlernetzes zu entscheiden ist, ob ein „wesentlicher“ Teil des Händlernetzes betroffen ist, ferner, dass „wesentlich“ sowohl einen wirtschaftlichen als auch einen räumlichen Aspekt betrifft, wobei sich dieser auf das Vertriebsnetz eines bestimmten Mitgliedstaats oder einen Teil desselben beziehen kann.

5. Die Verordnung Nr. 1475/95, die gemäß ihrem Artikel 13 bis zum 30. September 2002 galt, wurde zum 1. Oktober 2002 durch die Verordnung (EG) Nr. 1400/2002(3) ersetzt.

6. Die 12. Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1400/2002 lautet:

„Ungeachtet der Marktanteile der beteiligten Unternehmen erstreckt sich diese Verordnung nicht auf vertikale Vereinbarungen, die bestimmte Arten schwerwiegender wettbewerbsschädigender Beschränkungen (Kernbeschränkungen) enthalten, welche den Wettbewerb in der Regel, auch bei einem geringen Marktanteil, spürbar beschränken und für die Herbeiführung der oben erwähnten günstigen Wirkungen nicht unerlässlich sind. Dies gilt insbesondere für vertikale Vereinbarungen, die Beschränkungen wie die Festsetzung von Mindest- oder Festpreisen für den Weiterverkauf oder – abgesehen von bestimmten Ausnahmefällen – die Begrenzung des Gebiets oder des Kundenkreises enthalten, in dem/an den der Händler oder die Werkstatt die Vertragswaren oder -dienstleistungen verkaufen kann. Diese Vereinbarungen sollten vom Vorteil der Freistellung ausgeschlossen werden.“

7. In Artikel 4 der Verordnung wird dies dahin gehend konkretisiert, dass die Freistellung nicht für vertikale Vereinbarungen gilt, die die in der Bestimmung spezifisch angeführten Beschränkungen (insgesamt 13), die so genannten „Kernbeschränkungen“, bezwecken.

8. In Artikel 10 dieser neuen Verordnung, einer Übergangsbestimmung, heißt es:

„Das Verbot nach Artikel 81 Absatz 1 gilt vom 1. Oktober 2002 bis zum 30. September 2003 nicht für Vereinbarungen, die am 30. September 2002 bereits in Kraft waren und die die Voraussetzungen für eine Freistellung zwar nach der Verordnung (EG) Nr. 1475/95, nicht aber nach der vorliegenden Verordnung erfüllen.“

9. Im Leitfaden zu dieser Verordnung legt die Kommission in ihrer Antwort auf die Frage 20 Folgendes dar:

„… Die Tatsache, dass die Geltungsdauer der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 am 30. September 2002 endet und sie durch eine neue Verordnung ersetzt wird, bedeutet noch nicht, dass ein Vertriebsnetz umgestaltet werden muss. Nach dem Inkrafttreten der Verordnung kann ein Fahrzeughersteller dennoch beschließen, sein Netz zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren. Um die Verordnung (EG) Nr. 1475/95 einzuhalten und den Übergangszeitraum in Anspruch nehmen zu können, müssen Vertragskündigungen zwei Jahre im Voraus erfolgt sein, es sei denn, es erfolgt eine Umstrukturierung des Händlernetzes oder es besteht eine Verpflichtung zur Zahlung einer Entschädigung.“

Im vierten Absatz der Antwort auf Frage 68 heißt es im Leitfaden:

„Ob eine Umstrukturierung erforderlich ist oder nicht, ist eine objektiv zu beantwortende Frage; die Tatsache, dass der Lieferant sie für nötig erachtet, ist im Falle von Meinungsverschiedenheiten nicht ausschlaggebend. In einem solchen Fall obliegt es einem einzelstaatlichen Richter oder einem Schiedsrichter, über die Streitfrage unter Berücksichtigung der Umstände zu entscheiden.“

II – Sachverhalt, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

A – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

10. 1996 schlossen zum einen die A. Brünsteiner GmbH (im Folgenden: Brünsteiner) und zum anderen die Autohaus Hilgert GmbH (im Folgenden: Hilgert) mit der Bayerische Motorenwerke AG (im Folgenden: BMW) eine Vertriebsvereinbarung.

11. Gemäß Artikel 11.3 kann BMW die Vereinbarung mit einer Frist von 24 Monaten kündigen. Artikel 11.6 regelt den Fall der Kündigung der Vereinbarung wegen Umstrukturierung des Vertriebsnetzes. Er lautet:

„Falls sich die Notwendigkeit ergibt, das BMW Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren, ist BMW berechtigt, den Vertrag mit einer Frist von 12 Monaten zu kündigen.

Dies gilt auch für den Fall, dass sich die diesem Vertrag zugrunde liegenden rechtlichen Rahmenbedingungen in we­sentlichen Bereichen ändern.“

12. Im September 2002 kündigte BMW alle Vertriebsvereinbarungen ihres europäischen Vertriebsnetzes zum 30. September 2003. Sie begründete dies damit, dass sie sich veranlasst sehe, ihr Vertriebsnetz umzustrukturieren, da die am 1. Oktober 2002 in Kraft tretende Verordnung Nr. 1400/2002 gravierende rechtliche und strukturelle Veränderungen für die Automobilindustrie mit sich bringe.

13. BMW schloss in der Folgezeit mit den meisten ihrer bisherigen Händler mit Wirkung zum 1. Oktober 2003 neue, an den Vorgaben der Verordnung Nr. 1400/2002 ausgerichtete Vereinbarungen.

14. Jedoch wurden u. a. mit Brünsteiner und mit Hilgert keine neuen Vereinbarungen geschlossen. Diese machten daraufhin gerichtlich geltend, die Kündigungsfrist sei nicht eingehalten worden, da die Kündigung nicht vor Ablauf der Zweijahresfrist habe erfolgen dürfen. Darum beantragten sie, festzustellen, dass das Vertragshändlerverhältnis über den 30. September 2003 hinaus bis längstens 30. September 2004 fortbestehe.

15. Das Berufungsgericht, das Oberlandesgericht München, wies diese Klage ab. Nach seiner Auffassung machten die sich aus dem Erlass der Verordnung Nr. 1400/2002 ergebenden Änderungen eine Umstrukturierung des Vertriebsnetzes von BMW notwendig. Eine Reihe von Wettbewerbsbeschränkungen, die bisher durch die Verordnung Nr. 1475/95 freigestellt gewesen seien, stellten nun nach Artikel 4 der neuen Verordnung Kernbeschränkungen dar, so dass ohne die Kündigung zum 30. September 2003 die Freistellung für sämtliche wettbewerbsbeschränkenden Klauseln der Händlerverträge von BMW am 1. Oktober 2003 entfallen wäre. Es sei BMW nicht zumutbar – auch nicht bis zum 30. September 2004, dem Ablauf der Frist für eine ordentliche Kündigung – einen Rechtszustand zu akzeptieren, der allenfalls in einem Vertragstorso ohne wettbewerbsbeschränkende Klauseln oder gar in einem vertragslosen Zustand bestünde, da die bestehende Vereinbarung nichtig sei.

16. Gegen diese Entscheidung legten Brünsteiner und Hilgert Revision zum Bundesgerichtshof ein. Sie verfolgten damit ihr Feststellungsbegehren weiter.

17. Der Bundesgerichtshof (Kartellsenat) hielt es daraufhin für erforderlich, zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen. Dabei wurde ausgeführt, dass zwar gemäß einer engeren Auffassung aufgrund des Leitfadens der Kommission die Notwendigkeit einer Umstrukturierung nicht allein mit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1400/2002, sondern nur durch wirtschaftliche Umstände gerechtfertigt werden könne. Doch könne davon ausgegangen werden, dass das Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellung sich auf die inhaltliche Ausgestaltung der Automobil-Vertriebssysteme auswirke und deshalb nicht allein wirtschaftliche Gründe, sondern auch rechtliche Umstände zu einer Umstrukturierung dieser Systeme veranlassen könnten.

18. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Verordnung Nr. 1400/2002 einen bis dahin nicht bekannten Änderungsbedarf für die Vertriebssysteme in diesem Sektor zur Folge habe, da die bisher weit verbreitete Kombination von Alleinvertrieb und selektivem Vertrieb nicht mehr freigestellt sei. Die Hersteller müssten sich daher für eines der beiden Systeme entscheiden. Um weiterhin unter die Gruppenfreistellung zu fallen, müssten ferner Verkauf und Kundendienst, die bis dahin zwangsweise kombiniert gewesen seien, entkoppelt werden und die Markenexklusivität müsste entfallen.

19. Gelinge es nicht, die bestehenden Vereinbarungen vor Ablauf der Übergangsfrist anzupassen oder zu beenden und neue Vereinbarungen zu schließen, seien die wettbewerbsbeschränkenden Klauseln nichtig. Dies könne dazu führen, dass innerhalb eines Vertriebssystems eine duale rechtliche Situation entstünde, in der die Händler, die nicht bereit seien, den Änderungen zuzustimmen, eine freiere Stellung bekämen als die anderen Händler des Netzes. Das vorlegende Gericht hält ebenso wie das Berufungsgericht diese Situation nicht für wünschenswert.

20. Andererseits sieht sich das vorlegende Gericht vor das Problem gestellt, dass die Vertriebsvereinbarung unabhängig von der Frage nach der Wirksamkeit der Kündigung und dem Zeitpunkt ihres Zugangs nach Ablauf des Übergangszeitraums ohnehin nicht mehr wirksam sei, so dass die erste Frage eigentlich obsolet wäre. Darum stellten sich folgende Fragen:

– Ist Artikel 4 der neuen Verordnung grundsätzlich so zwingend, dass nicht fristgemäß gekündigte oder nicht angepasste Vereinbarungen nach der Übergangsfrist ab dem 1. Oktober 2003 per definitionem unwirksam werden?

– Falls ja, können nicht rechtzeitig gekündigte Vereinbarungen auch nach dem Inkrafttreten der neuen Verordnung wirksam bleiben, bis die Kündigungsfrist von zwei Jahren abgelaufen ist?

B – Vorlagefragen

21. Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof daraufhin folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

1. Ist Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 erster Spiegelstrich der Verordnung Nr. 1475/95 dahin auszulegen, dass sich die Notwendigkeit, das Vertriebsnetz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren, und das davon abhängige Recht des Lieferanten, Verträge mit Händlern seines Vertriebsnetzes mit einer Frist von einem Jahr zu kündigen, auch daraus ergeben kann, dass mit dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1400/2002 tief greifende Änderungen des von dem Lieferanten und seinen Händlern bis dahin praktizierten, an der Verordnung Nr. 1475/95 ausgerichteten und durch diese Verordnung freigestellten Vertriebssystems erforderlich wurden?

2. Falls die erste Frage zu verneinen ist:

Ist Artikel 4 der Verordnung Nr. 1400/2002 dahin auszulegen, dass die in einem Kraftfahrzeughändlervertrag enthaltenen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen, die nach dieser Verordnung an sich Kernbeschränkungen („schwarze Klauseln“) darstellen, ausnahmsweise dann nicht mit Ablauf der einjährigen Übergangsfrist nach Artikel 10 der Verordnung am 30. September 2003 zum Wegfall der Freistellung für sämtliche wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen des Vertrages vom Verbot des Artikels 81 Absatz 1 EG geführt haben, wenn dieser Vertrag unter der Geltung der Verordnung Nr. 1475/95 abgeschlossen, an den Vorgaben dieser Verordnung ausgerichtet und durch diese Verordnung freigestellt worden ist?

Gilt dies jedenfalls dann, wenn die aus dem Gemeinschaftsrecht folgende Nichtigkeit aller wettbewerbsbeschränkenden Vertragsbestimmungen nach nationalem Recht die Gesamtnichtigkeit des Händlervertrags zur Folge hat?

C – Verfahren vor dem Gerichtshof

22. Sowohl Brünsteiner, Hilgert und BMW als auch die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Während der mündlichen Verhandlung vom 7. September 2006 haben sie ihre Standpunkte näher erläutert.

III – Würdigung

A – Erste Vorlagefrage

23. In Bezug auf diese erste Frage kann ich mich kurz fassen. Diese Frage stimmt mit der elften Frage in der Rechtssache Vulcan Silkeborg überein, in der ich meine Schlussanträge am 27. April 2006 gehalten habe und in der kürzlich das Urteil des Gerichtshofes ergangen ist(4) .

24. Ich verweise daher für die Beantwortung der ersten Frage auf die Randnummern 53 bis 66 jenes Urteils.

25. Im Wesentlichen wird darin Folgendes ausgeführt:

– Die neue Gruppenfreistellung hat zu wesentlichen Änderungen der Vorgängerregelung geführt, sie ist strenger als diese;

– Lieferanten sind zwar nicht verpflichtet, haben aber die Möglichkeit, bestimmte wettbewerbsbeschränkende Klauseln in ihre Vereinbarungen aufzunehmen;

– das Inkrafttreten der neuen Gruppenfreistellung als solches bedeutet nicht, dass das Vertriebsnetz umstrukturiert werden muss;

– im Hinblick auf die wesentlichen Änderungen der neuen Freistellungsregelung könnten sich die Hersteller jedoch veranlasst sehen, die Vereinbarungen anzupassen, um so sicherzustellen, dass die Vereinbarungen weiterhin unter die neue Freistellungsverordnung fallen. Dies gilt insbesondere für die Klauseln, die aufgrund der Verordnung Nr. 1475/95 freigestellt waren, aber nun in Artikel 4 der Verordnung Nr. 1400/2002 als „Kernbeschränkungen“ angesehen werden;

– gerade auch wegen dieser wesentlichen Änderungen sieht die Verordnung Nr. 1400/2002 in Artikel 10 eine Übergangsfrist vor;

– daher kann der Hersteller die Vereinbarungen anpassen, aber es gibt auch Situationen, in denen es um umfassendere Änderungen geht und es sich um eine Umstrukturierung im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1475/95 handelt. Eine solche Umstrukturierung kann sich z. B. als notwendig erweisen, um die Kombination eines Alleinvertriebssystems mit einem selektiven System zu entflechten und so einzurichten, dass nur ein selektives oder nur ein Alleinvertriebssystem übrig bleibt, das weiterhin unter die neue Gruppenfreistellung fällt.

26. Der Gerichtshof beschließt seine Argumentation wie folgt:

„Folglich ist … zu antworten, dass das Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1400/2002 als solches eine Umstrukturierung des Vertriebssystems eines Lieferanten nach Artikel 5 Absatz 3 Unterabsatz 1 erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1475/95 nicht notwendig gemacht hat. Jedoch konnte dieses Inkrafttreten nach Maßgabe des spezifischen Aufbaus des Vertriebsnetzes des einzelnen Lieferanten Änderungen von solcher Bedeutung notwendig machen, dass diese eine echte Umstrukturierung dieses Netzes im Sinne dieser Bestimmung darstellen. Es ist Sache der nationalen Gerichte und der Schiedsgerichte, zu beurteilen, ob dies unter Berücksichtigung aller konkreten Gegebenheiten der Streitigkeit, mit der sie befasst sind, der Fall ist.“

27. Aus diesem Diktum ergibt sich meines Erachtens eindeutig, dass das nationale Gericht prüfen kann, ob die wirtschaftlichen Folgen des Inkrafttretens der neuen Verordnung als solche die Umstrukturierung des Vertriebsnetzes notwendig gemacht haben. Überdies behält das in Artikel 5 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1475/95 genannte Kriterium für die Beendigung der Vereinbarung mit verkürzter Kündigungsfrist seine volle Gültigkeit. Es muss also glaubhaft gemacht werden, dass es tatsächlich notwendig war, das Netz insgesamt oder zu einem wesentlichen Teil umzustrukturieren. Dabei kann sich weiter die Frage ergeben, ob eine Umstrukturierung, in deren Verlauf die Vertriebsvereinbarungen mit ungefähr 90 % der bisherigen Händler erneuert werden, als eine Umstrukturierung des Netzes insgesamt oder eines wesentlichen Teils davon angesehen werden kann. Selbstverständlich bleibt es Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der genannten Bestimmung erfüllt sind.

B – Zweite Vorlagefrage

28. Die zweite Frage befasst sich im Wesentlichen mit den Folgen, die sich für eine bestehende und nicht angepasste oder nicht fristgerecht gekündigte Vereinbarung ergeben, die Kernbeschränkungen im Sinne von Artikel 4 der Verordnung Nr. 1400/2002 enthält, vor allem, wenn dies nach nationalem Recht zur Nichtigkeit der gesamten Vertriebsvereinbarung führt.

29. Alle Beteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, sind der Ansicht, dass eine Vereinbarung, die „Beschränkungen nach Artikel 4“ enthält, nach der Übergangsfrist nicht mehr unter die Gruppenfreistellung fallen kann. Brünsteiner und Hilgert sind jedoch der Auffassung, dass die Unwirksamkeit dieser „Beschränkungen nach Artikel 4“ nicht automatisch zur Nichtigkeit der gesamten Vereinbarung führt. Eine Vertriebsvereinbarung ohne wettbewerbsbeschränkende Klauseln sei sehr wohl möglich. Nach nationalem Recht könne eine Vereinbarung nur dann als insgesamt nichtig angesehen werden, wenn der Lieferant sich gemäß einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung um eine Anpassung der Vereinbarung an die neue rechtliche Lage bemüht und der Vertragspartner sich ohne ernsthafte Gründe geweigert habe, dem zuzustimmen.

30. Ich teile die Auffassung, dass eine Vereinbarung, die die Voraussetzungen der alten Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 1475/95 erfüllt, aber nach der Übergangsfrist des Artikels 10 der Verordnung Nr. 1400/2002 immer noch Kernbeschränkungen im Sinne von Artikel 4 der neuen Gruppenfreistellung enthält, insgesamt nicht unter die Gruppenfreistellung fallen kann.

31. Insofern ist der Wortlaut von Artikel 4 klar. Im Gegensatz etwa zu Artikel 5 der Verordnung Nr. 1400/2002, der bestimmt, dass die Freistellung „nicht für folgende in vertikalen Vereinbarungen enthaltene Verpflichtungen“ gilt, heißt es in Artikel 4, dass „[d]ie Freistellung … nicht für vertikale Vereinbarungen [gilt], die …“.

32. Der Wortlaut von Artikel 10 der Verordnung Nr. 1400/2002 ist ebenfalls klar. Die Übergangsfrist beträgt ein Jahr. Bereits bestehende Vereinbarungen, die die Voraussetzungen für eine Freistellung nach der Verordnung Nr. 1475/95 erfüllen, einschließlich der darin möglicherweise enthaltenen und jetzt als Kernbeschränkungen gekennzeichneten Beschränkungen, können nur noch bis zum Ablauf dieser Übergangsfrist, d. h. bis zum 30. September 2003, unter die Ausnahme vom Verbot des Artikels 81 Absatz 1 EG fallen, danach nicht mehr.

33. Bis zu diesem Zeitpunkt können die Marktteilnehmer ihre Vereinbarungen anpassen und/oder Umstrukturierungen durchführen, wenn sie in den Genuss der neuen Freistellung kommen wollen.

34. Wie sich bereits aus der Beantwortung der ersten Frage ergibt, ist es Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob es sich um eine Umstrukturierung des Vertriebsnetzes oder eines wesentlichen Teils davon und um die damit verbundene Kündigungsfrist von einem Jahr handelt. Sollte sich herausstellen, dass die Voraussetzungen der Verordnung Nr. 1475/95 für die Anwendung der verkürzten Kündigungsfrist nicht erfüllt sind und daher eine Kündigungsfrist von zwei Jahren anzuwenden ist, beurteilt das nationale Gericht die Folgen, die sich für die verbleibende Vertriebsvereinbarung ergeben.

35. Jedenfalls können die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1400/2002 nicht dahin ausgelegt werden, dass die Freistellung ausnahmsweise über die Übergangsfrist von einem Jahr hinaus noch ein Jahr zusätzlich gilt.

36. Die vorliegende Vereinbarung fällt also nicht unter die Gruppenfreistellung, und die in ihr enthaltenen wettbewerbsbeschränkenden Klauseln sind an Artikel 81 EG zu messen.

37. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass nun die Verordnung (EG) Nr. 1/2003(5) gilt. Das heißt, dass der Richter im Einzelfall befugt ist, zu beurteilen, ob die Voraussetzungen von Artikel 81 Absatz 3 EG erfüllt sind, wenn eine Vereinbarung eventuell nicht unter eine Gruppenfreistellung fällt. Zwar stellt eine Gruppenfreistellung für die Marktteilnehmer einen „sicheren Hafen“ dar, doch schließt dies nicht aus, dass die Vereinbarung nie die Voraussetzungen von Artikel 81 Absatz 3 EG wird erfüllen können, wenn die Voraussetzungen der Gruppenfreistellung nicht erfüllt sind. Im Hinblick auf den Grundgedanken, Vereinbarungen, die bestimmte Klauseln enthalten, ausdrücklich von der Gruppenfreistellung auszuschließen, soll das nationale Gericht in seiner Beurteilung eben gerade nicht zu einem anderen Ergebnis kommen, auch wenn es nur um ein Jahr geht. Das bedeutet, dass diese Klauseln nach Artikel 81 Absatz 2 EG nichtig sind. Möglicherweise ist dies aufgrund von Artikel 81 Absatz 3 EG anders zu beurteilen, wenn wettbewerbsbeschränkende Klauseln nicht ausdrücklich von der Gruppenfreistellung ausgeschlossen sind. Übrigens hat keine der Parteien beim nationalen Gericht eine solche Beurteilung beantragt. BMW nicht, weil sie die neue Gruppenfreistellung zum Anlass nahm, eine Umstrukturierung durchzuführen. Die beiden Klägerinnen nicht, weil sie eine Fortsetzung der Vertragsbeziehung verlangen, notfalls ohne jegliche wettbewerbsbeschränkende Klausel. Eine Meinungsverschiedenheit in Bezug darauf, ob eine individuelle Freistellung in Betracht kommen kann, scheint nicht zu bestehen.

38. Im Ausgangsverfahren wären Brünsteiner und Hilgert die Geschädigten, falls die Kündigung zu Unrecht mit verkürzter Frist ausgesprochen wurde.

39. Selbstverständlich darf BMW ohne weiteres ihr Vertriebsnetz (um)strukturieren und bestimmen, wie und mit wem sie Vertriebsvereinbarungen schließen möchte; aber die vorherige Kündigung bestehender Vereinbarungen muss gemäß Artikel 5 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 1475/95 erfolgen(6) .

40. Wäre hier für den Fall, dass die Vereinbarungen zu spät gekündigt worden sind (da von einer Umstrukturierung offenbar nicht die Rede sein kann), davon auszugehen, dass die Bestimmungen der Vereinbarung, die nicht mit Artikel 4 der Verordnung Nr. 1400/2002 vereinbar sind, nichtig sind, und die Vereinbarungen aus diesem Grund auch nach nationalem Recht nichtig sind, sind grundsätzlich zwei Lösungen denkbar, um die Not der geschädigten Händler zu lindern. Entweder, BMW beschließt nachträglich, eine neue Vereinbarung zu schließen, die die Voraussetzungen der neuen Verordnung erfüllt, oder die Händler, hier Brünsteiner und Hilgert, werden für die nicht fristgerechte Kündigung entschädigt. Auch das hat selbstverständlich das nationale Gericht nach nationalem Recht zu beurteilen.

41. Am Rande weise ich noch darauf hin, dass die von BMW in ihren schriftlichen Erklärungen und in ihrer in der mündlichen Verhandlung aufgestellte These, dass die Kommission nicht berechtigt sei, in ihre Gruppenfreistellungen eine Bestimmung betreffend die einzuhaltenden Kündigungsfristen aufzunehmen, nicht durchgreifen kann. Denn mit dieser These wird die Gültigkeit einer Bestimmung der Freistellungsverordnung angefochten. Da das vorlegende Gericht nur nach der Auslegung dieser Bestimmungen fragt, sind die Parteien nicht berechtigt, in einem Vorabentscheidungsverfahren die Gültigkeit der betreffenden Bestimmungen zu bestreiten(7) .

IV – Ergebnis

42. Nach alledem schlage ich vor, die vom Bundesgerichtshof vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten.

– Das Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor hat als solches die Umstrukturierung des Vertriebsnetzes eines Lieferanten nicht notwendig gemacht im Sinne von Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 erster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel [81] Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge. Es ist jedoch möglich, dass dieses Inkrafttreten abhängig vom spezifischen Aufbau des Vertriebsnetzes jedes Lieferanten so umfangreiche Änderungen notwendig gemacht hat, dass es sich um eine echte Umstrukturierung dieses Netzes im Sinne dieser Bestimmung handelt. Es ist Sache der nationalen Gerichte und der Schiedsgerichte, anhand aller konkreten Einzelheiten des ihnen vorliegenden Falles zu beurteilen, ob dies der Fall ist.

– Die Bestimmungen nicht rechtzeitig gekündigter Vereinbarungen, die mit der Verordnung Nr. 1400/2002 unvereinbar sind, fallen auf jeden Fall nach dem Übergangszeitraum fort und sind nichtig. Ob dies die Nichtigkeit der gesamten Vereinbarung zur Folge hat, ist eine Frage nationalen Rechts. Jedoch kann auf keinen Fall davon ausgegangen werden, dass eine Vereinbarung, die zu spät gekündigt wurde, aufgrund von Artikel 5 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1465/95 nach Ablauf der Übergangsfrist wirksam bleibt.

(1) .

(2) – Verordnung (EG) Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. L 145, S. 25).

(3) – Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission vom 31. Juli 2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor (ABl. L 203, S. 30).

(4) – Urteil des Gerichtshofes vom 7. September 2006 in der Rechtssache C‑125/05 (Slg. 2006, I‑0000).

(5) – Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).

(6) – Selbstverständlich gemäß Artikel 3 Absatz 5 der Verordnung Nr. 1400/2002, falls BMW wenig später die Umstrukturierung beschließt.

(7) – Vgl. Urteil vom 9. Dezember 1965 in der Rechtssache 44/65 (Singer, Slg. 1965, 1268). Vgl. z. B. das Urteil vom 6. Juli 2000 in der Rechtssache C‑402/98 (ATB u. a., Slg. 2000, I‑5501) und das Urteil vom 12. Februar 2004 in der Rechtssache C‑236/02 (Slob, Slg. 2004, I‑1861).

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