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Document 62004CJ0199

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 1. Februar 2007.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Vereinigtes Königreich Grossbritannien und Nordirland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats -Richtlinien 85/337/EG und 97/11/EG - Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten -Erhebliche Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks - Unzulässigkeit der Klage.
Rechtssache C-199/04.

Sammlung der Rechtsprechung 2007 I-01221

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:72

Rechtssache C-199/04

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinien 85/337/EWG und 97/11/EG – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten – Erhebliche Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks – Unzulässigkeit der Klage“

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 1. Februar 2007 

Leitsätze des Urteils

Vertragsverletzungsverfahren – Streitgegenstand – Bestimmung während des Vorverfahrens

(Art. 226 EG)

Die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage gemäß Art. 226 EG müssen eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des diesem Staat vorgeworfenen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich gebührend verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt.

Eine Vertragsverletzungsklage, die auf einer widersprüchlichen Argumentation beruht und daher nicht diesen Erfordernissen des Zusammenhangs und der Genauigkeit entspricht, ist als unzulässig abzuweisen.

(vgl. Randnrn. 21, 25-26)




URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

1. Februar 2007(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats –Richtlinien 85/337/EG und 97/11/EG – Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten Projekten –Erhebliche Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks – Unzulässigkeit der Klage“

In der Rechtssache C-199/04

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 4. Mai 2004,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch C.‑F. Durand und F. Simonetti als Bevollmächtigte im Beistand von A. Howard, Barrister, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch M. Bethell, dann durch E. O’Neill als Bevollmächtigte im Beistand von D. Elvin, QC, und J. Maurici, Barrister, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, des Richters R. Schintgen, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. Makarczyk (Berichterstatter) und L. Bay Larsen,

Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2006,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1       Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften beantragt in ihrer Klageschrift die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40) in der durch die Richtlinie 97/11/EG des Rates vom 3. März 1997 (ABl. L 73, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 85/337) verstoßen hat, dass es nicht alle erforderlichen Maßnahmen für die vollständige und genaue Umsetzung der Art. 2 bis 6, 8 und 9 dieser Richtlinie erlassen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

2       Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337 lautet wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.“

3       Art. 3 der Richtlinie bestimmt:

„Die Umweltverträglichkeitsprüfung identifiziert, beschreibt und bewertet in geeigneter Weise nach Maßgabe eines jeden Einzelfalls gemäß den Artikeln 4 bis 11 die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen eines Projekts auf folgende Faktoren:

–       Mensch, Fauna und Flora,

–       Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft,

–       Sachgüter und kulturelles Erbe,

–       die Wechselwirkung zwischen den unter dem ersten, dem zweiten und dem dritten Gedankenstrich genannten Faktoren.“

4       Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie lautet:

„Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 3 anhand

a)      einer Einzelfalluntersuchung

oder

b)      der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien,

ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden muss.

Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren anzuwenden.“

5       Anhang II der Richtlinie („Projekte nach Artikel 4 Absatz 2“) erwähnt unter Nr. 5 Buchst. b Anlagen zur Zementherstellung.

 Nationales Recht

6       Im Vereinigten Königreich sind die Zuständigkeiten für den Umweltschutz im Rahmen des Verfahrens zur Erteilung einer Genehmigung für die Verbrennung von Abfallbrennstoffen zwischen den Raumordnungsbehörden und den Umweltbehörden aufgeteilt.

7       Erstere, insbesondere die örtlichen Planungsämter, sind zuständig für die Entscheidung über Anträge auf Baugenehmigungen. Lehnt ein örtliches Planungsamt einen Antrag ab oder erteilt es keinen Bescheid, kann der Antragsteller Klage gegen die ablehnende Entscheidung oder die Untätigkeit der Behörde beim Minister erheben. Dieser kann auch beschließen, eine örtliche Planungsbehörde für unzuständig zu erklären, und selbst über den Bauantrag entscheiden. In Wales werden die dem Minister übertragenen Raumordnungszuständigkeiten durch die National Assembly for Wales wahrgenommen.

8       Nach Section 57 des Raumordnungsgesetzes von 1990 (Town and Country Planning Act 1990, im Folgenden: TCPA) ist eine Baugenehmigung für jedes „Bauvorhaben“ notwendig, das in Section 55 TCPA wie folgt definiert wird: „Durchführung von Hoch‑, Tief‑ oder Bergbauarbeiten oder andere Maßnahmen in, auf, über und unter dem Erdboden oder eine erhebliche Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks“.

9       Anlässlich eines Antrags auf Baugenehmigung entscheiden die Raumordnungsbehörden auch über die Notwendigkeit, die in der Richtlinie 85/337 vorgesehene Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen.

10     Die Raumordnungsverordnung (Umweltverträglichkeitsprüfung) von 1988 (Town and Country Planning [Assessment of Environmental Effects] Regulations 1988) setzte die ursprüngliche Fassung der Richtlinie 85/337 in das nationale Recht um und übernahm dabei insbesondere die gegenüber der bestehenden Bebauungs‑ und Raumordnungsregelung neuen Verfahrenserfordernisse.

11     Die Richtlinie 97/11 wurde in die nationale Rechtsordnung durch die Raumordnungsverordnung (Umweltverträglichkeitsprüfung) (England und Wales) von 1999 (Town and Country Planning [Environmental Impact Assessment] [England and Wales] Regulations 1999) umgesetzt.

12     Im Rahmen der Regelung über die Vermeidung und Verringerung der Umweltverschmutzung (integrated pollution control), die durch Teil I des Umweltschutzgesetzes von 1990 (Environmental Protection Act 1990) eingeführt wurde, prüfte bis zur Gründung der Environment Agency (Umweltbehörde) Her Majesty’s Inspectorate of Pollution und prüft jetzt die Umweltbehörde die schädlichen Auswirkungen eines Verfahrens für die Umwelt. Nach Section 6 dieses Gesetzes kann ein „reglementiertes Verfahren“, d. h. eine möglicherweise die Umwelt verschmutzende Tätigkeit, die vom Minister reglementiert worden ist, insbesondere in England und Wales nur fortgesetzt werden, wenn die Environment Agency eine Genehmigung ausgestellt hat.

13     Im Februar 1997 veröffentlichte das Umweltministerium die Erläuterung Nr. 23 (Planning Policy Guidance Note 23) zur Raumordnungspolitik und Bekämpfung der Umweltverschmutzung. Darin werden u. a. die Zusammenhänge zwischen der Aufgabe der Raumordnungsbehörden und der rechtlich getrennten Aufgabe der Behörden für die Bekämpfung der Umweltverschmutzung beschrieben.

 Vorprozessuales Verfahren

14     1997 und 1998 gingen bei der Kommission zwei Beschwerden gegen die Genehmigung ein, die dem von Castle Cement in Clitheroe in Lancashire betriebenen Zementwerk für die Verwendung eines Gemischs aus flüssigen Industrieabfällen mit der Bezeichnung „Cemfuel“ als Ersatz für einen Teil des üblichen Brennstoffs erteilt worden war. Nach Ansicht der Beschwerdeführer hatten die zuständigen nationalen Behörden nicht geprüft, ob das betreffende Projekt vor der Erteilung einer solchen Genehmigung einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden musste.

15     1999 ging bei der Kommission auch eine Beschwerde gegen das vom selben Unternehmen in Padeswood in Flintshire betriebene Zementwerk ein. Laut der Beschwerde sollen in diesem Fall die Errichtung eines zusätzlichen Ofens und der Ersatz des üblichen Brennstoffs durch Cemfuel, ganze Reifen und ein Gemisch aus Papierabfällen und Kunststoffen mit der Bezeichnung „Profuel“ zwar einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen, jedoch von der National Assembly for Wales genehmigt worden sein, bevor die Environment Agency zu dem an sie gerichteten Genehmigungsantrag Stellung genommen habe.

16     Aufgrund der Beschwerden gegen das Zementwerk Clitheroe gab es vom 11. Juli 1997 bis 30. März 1999 einen zweimaligen Schriftwechsel zwischen der Kommission und der Regierung des Vereinigten Königreichs. Auch die Beschwerde gegen das Zementwerk Padeswood führte zu einem Schriftwechsel; die Kommission bat die Regierung des Vereinigten Königreichs am 19. April 1999 um Erläuterungen, und diese antwortete mit Schreiben vom 18. Juni 1999.

17     Aufgrund dessen gelangte die Kommission zu der Ansicht, dass die Anwendung des Kriteriums der „erheblichen Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks“ im TCPA durch die zuständigen nationalen Behörden dazu führe, dass einige Projekte nicht den in der Richtlinie 85/337 vorgesehenen Verfahren unterworfen würden; zu diesen Projekten gehöre insbesondere die Änderung des in einem Zementwerk verwendeten Brennstoffs. Außerdem habe das Vereinigte Königreich die raumordnungsrechtlichen Bestimmungen und die Bestimmungen über die Bekämpfung der Umweltverschmutzung nicht ausreichend koordiniert, um die Einhaltung der in der genannten Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Ziele zu gewährleisten. Die Kommission übersandte daher dem Vereinigten Königreich am 7. Mai 2001 ein Mahnschreiben.

18     Da die Antwort der Behörden des Vereinigten Königreichs auf dieses Schreiben die Kommission zu der Überzeugung gelangen ließ, dass die Umsetzung und konkrete Anwendung der Richtlinie 85/337 nicht zufriedenstellend seien, übersandte sie dem Vereinigten Königreich am 18. Juli 2002 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, mit der sie es aufforderte, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um den Verpflichtungen aus dieser Richtlinie binnen zwei Monaten ab Eingang dieser Stellungnahme nachzukommen.

19     Die Kommission ist der Ansicht, dass die Antwort der Regierung des Vereinigten Königreichs auf diese mit Gründen versehene Stellungnahme nicht zufriedenstellend sei; sie hat daher beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Zulässigkeit der Klage

20     Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof von Amts wegen prüfen kann, ob die gemäß Art. 226 EG für die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage geltenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. u. a. Urteile des Gerichtshofs vom 31. März 1992, Kommission/Italien, C-362/90, Kommission/Italien, Slg. 1992, I-2353, Randnr. 8, und vom 27. Oktober 2005, Kommission/Italien, C-525/03, Slg. 2005, I‑9405, Randnr. 8).

21     So müssen im Vertragsverletzungsverfahren die mit Gründen versehene Stellungnahme und die Klage eine zusammenhängende und genaue Darstellung der Rügen enthalten, damit der Mitgliedstaat und der Gerichtshof die Tragweite des diesem Staat vorgeworfenen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht richtig erfassen können, was notwendig ist, damit der betreffende Staat sich gebührend verteidigen und der Gerichtshof überprüfen kann, ob die behauptete Vertragsverletzung vorliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 4. Mai 2006, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑98/04, Slg. 2006, I‑4003, Randnr. 18).

22     Im vorliegenden Fall beantragt die Kommission die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich nicht alle Maßnahmen ergriffen habe, die für die vollständige und genaue Umsetzung der Art. 2 bis 6, 8 und 9 der Richtlinie 85/337 erforderlich sind.

23     Die Kommission stützt ihre Klage auf zwei Rügen. Mit der einen greift sie die Sections 55 und 57 des TCPA an, wonach die Raumordnungsbehörden das innerstaatliche Kriterium der „erheblichen Änderung der Nutzung eines Bauwerks oder eines Grundstücks“ anwenden können, wenn ein Antrag auf Baugenehmigung gestellt wird, was angeblich bewirkt, dass bestimmte Projekte vom Anwendungsbereich der Richtlinie 85/337 ausgenommen würden; mit der anderen beanstandet sie, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht die raumordnungsrechtlichen Bestimmungen und die Bestimmungen über die Bekämpfung der Umweltverschmutzung nicht ausreichend koordiniert habe, um die Einhaltung sämtlicher Verpflichtungen aus Art. 3 und 8 der Richtlinie sicherzustellen.

24     Die Kommission hat in ihrer Klageschrift jedoch ausdrücklich anerkannt, dass das Vereinigte Königreich durch die Raumordnungsverordnungen (Umweltverträglichkeitsprüfung) von 1988 bzw. im Fall von England und Wales von 1999 die notwendigen Rechtsvorschriften erlassen habe, um die Richtlinie 85/337 in innerstaatliches Recht umzusetzen.

25     Daher entspricht die vorliegende Vertragsverletzungsklage nicht den oben in Randnr. 21 dargestellten Erfordernissen des Zusammenhangs und der Genauigkeit, da sie auf einer widersprüchlichen Argumentation seitens der Kommission beruht.

26     Nach alledem ist die Klage als unzulässig abzuweisen.

 Kosten

27     Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich die Verurteilung der Kommission zur Tragung der Kosten beantragt hat und die von dieser erhobene Klage unzulässig ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird als unzulässig abgewiesen.

2.      Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trägt die Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.

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