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Document 62004CC0237

Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 12. Januar 2006.
Enirisorse SpA gegen Sotacarbo SpA.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Cagliari - Italien.
Staatliche Beihilfen - Artikel 87 EG und 88 EG - Begriff der Beihilfe - Beteiligung eines öffentlichen Unternehmens am Kapital eines privaten Unternehmens - Befugnis zum Austritt unter Verzicht auf alle Rechte am Gesellschaftsvermögen.
Rechtssache C-237/04.

Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-02843

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:21

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 12. Januar 20061(1)

Rechtssache C-237/04

Enirisorse SpA

gegen

Sotacarbo SpA

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale Cagliari [Italien])

„Begriff der staatlichen Beihilfen – Öffentliches Unternehmen mit Kapitalbeteiligung an einem Privatunternehmen – Befugnis zum Ausscheiden unter Verzicht auf alle Rechte am Gesellschaftsvermögen“





1.     Mit Beschluss vom 14. Mai 2004 hat das Tribunale Cagliari (Italien) dem Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 87 EG und 88 EG sowie der Artikel 43 EG, 44 EG, 48 EG und 49 EG zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die Prüfung der ersten dieser Fragen führt zu einer – erneuten – Erörterung der Voraussetzungen des Begriffes der staatlichen Beihilfe.

I –    Tatsächlicher und rechtlicher Rahmen des Ausgangsverfahrens

2.     Das Vorabentscheidungsersuchen erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Enirisorse SpA (im Folgenden: Klägerin) und der Società Tecnologie Avanzate Carbone SpA (im Folgenden: Beklagte). Diesem Rechtsstreit liegen folgende Umstände zugrunde. Die Klägerin ist eine Tochtergesellschaft des Konzerns Ente Nazionale Idrocarburi (im Folgenden: ENI), des öffentlichen Unternehmens, das die staatlichen Beteiligungen im Energiesektor verwaltet. Durch das Gesetz Nr. 351 vom 27. Juni 1985 (GURI Nr. 166 vom 16. Juli 1985, S. 5019, im Folgenden: Gesetz Nr. 351/85) wurde ENI dazu ermächtigt, gemeinsam mit zwei anderen öffentlichen Unternehmen – ENEL und ENEA – eine Aktiengesellschaft zur Entwicklung innovativer und fortschrittlicher Technologien für den Einsatz von Kohle zu gründen. Das Gesetz sah außerdem vor, dass die Finanzierung dieses Vorhabens zur Gänze aus dem Staatshaushalt erfolgen sollte. Daraufhin wurde die Beklagte gegründet. Als Beitrag zur Verwirklichung eines Kohleforschungszentrums auf Sardinien zahlte ENI an die Beklagte 12 708 900 033 ITL als Kapitalzuführung.

3.     1992 wurden ENI und ENEL privatisiert und in Aktiengesellschaften umgewandelt. Im Zuge dieser Umwandlung ermächtigte das Gesetz Nr. 140 vom 11. Mai 1999 (GURI Nr. 117 vom 21. Mai 1999, S. 4, im Folgenden: Gesetz Nr. 140/99) die beiden Gesellschaften, nach Einzahlung ihrer noch nicht geleisteten Einlagen aus der Beklagten auszuscheiden. Nachdem sie die von ENI an der Beklagten gehaltenen Anteile übernommen hatte, beschloss die Klägerin, das durch das Gesetz Nr. 140/99 eingeräumte Austrittsrecht auszuüben. Sie zahlte daher die noch nicht geleisteten Einlagen und forderte die Beklagte auf, diesen Austritt zur Kenntnis zu nehmen und ihre Aktien nach Artikel 2437 des italienischen Zivilgesetzbuchs zurückzunehmen.

4.     Dieser lautet:

„Gesellschafter, die mit Beschlüssen zur Änderung des Zweckes oder der Art der Gesellschaft oder zur Verlegung des Sitzes der Gesellschaft ins Ausland nicht einverstanden sind, können aus der Gesellschaft ausscheiden; ihre Aktien werden, falls sie börsennotiert sind, zum Durchschnittspreis während der vorangegangenen sechs Monate, andernfalls anteilig zum Gesellschaftsvermögen nach der Bilanz des letzten Rechnungsjahres zurückgenommen.“

5.     In der außerordentlichen Versammlung vom 12. Februar 2001 nahm die Beklagte den Austritt zur Kenntnis und beschloss, die Aktien der Klägerin zu annullieren. Sie verweigerte jedoch die Rücknahme, weil diese die Verfolgung ihrer im Allgemeininteresse liegenden Aufgabe, wie sie im Gesetz festgelegt sei, beeinträchtigen würde. Mit einer am 8. Juni 2001 beim Tribunale Cagliari erhobenen Klage beantragte die Klägerin die Rückzahlung eines dem Wert ihrer Aktien entsprechenden Betrages.

6.     So stellte sich der Rahmen des Rechtsstreits dar, als am 12. Dezember 2002 das Gesetz Nr. 273 erlassen wurde (Supplemento ordinario zum GURI Nr. 293 vom 14. Dezember 2002, im Folgenden: Gesetz Nr. 273/02). Sein Artikel 33 lautet:

„Um die erforderliche finanzielle Handlungsfähigkeit von Sotacarbo nach dem Geschäftsplan gemäß Artikel 7 Absatz 5 des Gesetzes Nr. 140 vom 11. Mai 1999 sicherzustellen, sind deren Gesellschafter verpflichtet, die noch nicht geleisteten Einlagen innerhalb von 60 Tagen ab Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes einzuzahlen, und berechtigt, nach Verzicht auf alle Rechte am Gesellschaftsvermögen und nach Einzahlung der noch geschuldeten Einlagen auszuscheiden. Die der Sotacarbo SpA schon übermittelten Austrittserklärungen nach Artikel 7 Absatz 4 des Gesetzes Nr. 140 vom 11. Mai 1999 können innerhalb von 30 Tagen ab Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzes widerrufen werden. Mit Ablauf dieser Frist gilt der Austritt als unter vorbehaltloser Annahme der oben genannten Bedingungen durch den ausscheidenden Gesellschafter erfolgt.“

7.     Vor dem vorlegenden Gericht hat die Klägerin die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit bestimmten Vorschriften des EG-Vertrags bezweifelt. Da das vorlegende Gericht diese Zweifel für begründet hielt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen nach Artikel 234 EG vorgelegt:

1.      Enthält Artikel 33 des Gesetzes Nr. 273/02 eine mit Artikel 87 EG unvereinbare staatliche Beihilfe zugunsten der Sotacarbo SpA, die zudem rechtswidrig durchgeführt wurde, da sie nicht nach Artikel 88 Absatz 3 EG notifiziert wurde?

2.      Verstößt die genannte Bestimmung gegen die Artikel 43 EG, 44 EG, 48 EG und 49 EG ff. über die Niederlassungs‑ und Dienstleistungsfreiheit?

8.     Artikel 87 Absatz 1 EG sieht vor: „Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“ Nach Artikel 88 Absatz 3 EG wird „die Kommission … von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 87 mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat.“

II – Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

A –    Zum Ersuchen im Allgemeinen

9.     Die Beklagte wirft dem vorlegenden Gericht vor, die Einzelheiten des Rechtsstreits nicht hinreichend klar und unparteiisch wiedergegeben zu haben, da es keine genauen Angaben zu den tatsächlichen und rechtlichen Umständen, in die der Rechtsstreit eingebettet sei, gemacht und sich das Vorbringen der Klägerin zu Eigen gemacht habe. Sie hält das Ersuchen daher für unzulässig.

10.   Es trifft zu, dass „die Notwendigkeit, zu einer dem nationalen Gericht nützlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gelangen, es erforderlich macht, dass dieses Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellte Frage einfügt, festlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Frage beruht“(2). Wenn es dem Gerichtshof hingegen ausreichende Angaben macht, die es diesem ermöglichen, eine sachdienliche Antwort zu geben, ist nicht zu beanstanden, dass es in der Vorlageentscheidung seine eigene Würdigung des Parteivortrags darlegt. Das entspricht vielmehr voll und ganz der in Artikel 234 EG vorgesehenen justiziellen Zusammenarbeit, die eine aktive Mitwirkung der nationalen Gerichte erfordert(3).

11.   Im vorliegenden Fall stellt der Vorlagebeschluss die Ursache und die Art des Rechtsstreits sowie das einschlägige nationale Recht zwar knapp, aber klar dar. Zwar hat sich bei der Abfassung der Vorlagefragen ein Fehler bei der Nummerierung der beanstandeten nationalen Rechtsvorschriften eingeschlichen(4), dieser allein kann jedoch nicht zur Unzulässigkeit des Ersuchens führen.

12.   Das Vorbringen der Beklagten zur Form des Vorlagebeschlusses ist daher zurückzuweisen. Weitere, gewichtigere Argumente betreffen den Inhalt der Vorlagefragen.

B –    Zur ersten Frage

13.   Mit seiner ersten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, sich zur Vereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit den Artikeln 87 EG und 88 EG zu äußern.

14.   Diese Frage muss umformuliert werden. Der Gerichtshof kann im Verfahren nach Artikel 234 EG nicht nationales Recht auslegen oder über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht entscheiden(5). Außerdem ist für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt ausschließlich die Kommission zuständig, die dabei der Kontrolle des Gerichtshofes unterliegt. Folglich kann ein nationales Gericht den Gerichtshof nicht im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens über die Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt befragen(6).

15.   Hingegen kann oder muss es dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Artikels 87 EG zur Vorabentscheidung vorlegen, wenn es Zweifel an der Einstufung der betreffenden nationalen Maßnahme als staatliche Beihilfe hat(7). Wenn diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe ist, hat es nämlich zu überprüfen, ob das Verfahren der vorherigen Kontrolle nach Artikel 88 Absatz 3 EG durchgeführt worden ist. Ist dies nicht der Fall, muss das nationale Gericht zugunsten der Einzelnen entsprechend seinem nationalen Recht aus einer Verletzung dieser Bestimmung sämtliche Folgerungen sowohl bezüglich der Gültigkeit der Rechtsakte zur Durchführung der Beihilfemaßnahmen als auch bezüglich der Rückforderung der unter Verletzung dieser Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen ziehen(8).

16.   Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Gerichtshof auf die erste Frage in der Formulierung durch das vorlegende Gericht nicht antworten kann, er diese vielmehr dahin verstehen muss, ob eine Regelung wie die in Artikel 33 des Gesetzes Nr. 273/02, mit der den Gesellschaftern einer vom Staat kontrollierten Gesellschaft die Befugnis zum Austritt eingeräumt wird, sofern sie auf alle Rechte am Vermögen dieser Gesellschaft verzichten, als staatliche Beihilfe im Sinne des Artikels 87 EG einzustufen ist und der Kommission nach Artikel 88 Absatz 3 EG hätte notifiziert werden müssen.

C –    Zur zweiten Vorlagefrage

17.   Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof, sich zur Vereinbarkeit der fraglichen Vorschrift mit den Artikeln 43 EG, 44 EG, 48 EG und 49 EG über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Gemeinschaft zu äußern.

18.   Wie bereits erwähnt, kann sich der Gerichtshof nicht zur Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit dem Gemeinschaftsrecht äußern; darüber hinaus geht die Bedeutung einer Auslegung der in dieser Frage angeführten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht klar aus dem Vorlagebeschluss hervor.

19.   Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Gemeinschaftsbestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt(9).

20.   Dieses Erfordernis ist im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Das vorlegende Gericht macht keine sachdienlichen Angaben zu dem Zusammenhang, den es in seiner Frage zwischen den Artikeln 43 EG, 44 EG, 48 EG und 49 EG und den auf den Rechtsstreit anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften herstellt. Es äußert lediglich Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Vorschriften „mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung in einer Marktwirtschaft“.

21.   Unter diesen Umständen ist die zweite Frage des vorlegenden Gerichts für unzulässig zu erklären. Die mit dem Gesetz Nr. 273/02 eingeführte Regelung ist daher nur an den Bestimmungen des EG-Vertrags über die staatlichen Beihilfen zu messen.

III – Zur Einstufung als staatliche Beihilfe

22.   Eine nationale Maßnahme ist als staatliche Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags einzustufen, wenn sie vier kumulative Voraussetzungen erfüllt(10). Bevor auf diese Voraussetzungen eingegangen wird, ist jedoch zu prüfen, ob die Regeln über die staatlichen Beihilfen im vorliegenden Fall überhaupt anwendbar sind.

A –    Zur Einstufung der in Rede stehenden Gesellschaft als Unternehmen

23.   Nach ständiger Rechtsprechung sind die Wettbewerbsregeln des EG-Vertrags, zu denen die Regeln über die staatlichen Beihilfen gehören, nur anwendbar, wenn die betroffene Einheit ein Unternehmen ist. Im vorliegenden Fall wird diese Eigenschaft bestritten. Die Beklagte und die italienische Regierung, die vor dem Gerichtshof als Streithelferin auftritt, tragen vor, dass eine Gesellschaft wie die Beklagte, die gesetzlich festgelegte Tätigkeiten im Allgemeininteresse ausübe, nicht als Unternehmen einzustufen sei, wenn diese Tätigkeiten nicht auf Gewinnerzielung gerichtet seien und vollständig durch den Staat finanziert würden.

24.   Dieses Vorbringen überzeugt nicht. Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass auch eine Anstalt des öffentlichen Rechts ohne Erwerbszweck grundsätzlich als Unternehmen im Sinne des Artikels 87 EG einzustufen ist(11). Zudem haben die in der mündlichen Verhandlung anwesenden Parteien nicht mehr bestritten, dass die Beklagte Gewinn anstrebt. Außerdem steht fest, dass die Rechtsform und die Art der Finanzierung der betreffenden Einheit hierfür irrelevant sind(12). Dass dieser Einheit bestimmte, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben gesetzlich übertragen worden sind, kann ebenfalls nicht entscheidend sein(13), da diese Aufgaben nicht unter den Grundsatz der Solidarität fallen, wie ihn der Gerichtshof definiert hat(14).

25.   Ein Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln ist dadurch gekennzeichnet, dass es eine „wirtschaftliche Tätigkeit“ ausübt. Darunter versteht der Gerichtshof jede „Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“(15). Im vorliegenden Fall soll die Beklagte u. a. neue Technologien für den Einsatz von Kohle entwickeln und Verwaltungen, öffentlichen Einrichtungen und an der Entwicklung dieser Technologien interessierten Unternehmen fachliche Unterstützung bieten. Vorbehaltlich ergänzender Auskünfte und Nachprüfungen, die in die alleinige Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fallen, erscheint mir die Annahme berechtigt, dass diese Tätigkeiten, die in der Beteiligung an der Entwicklung neuer Industrieprodukte und im Angebot von Gütern auf einem bestimmten Markt bestehen, wirtschaftlicher Natur sind.

26.   Die Regeln über staatliche Beihilfen können daher als in der vorliegenden Rechtssache anwendbar gelten, so dass zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen einer Beihilfe erfüllt sind.

B –    Bestehen eines wirtschaftlichen Vorteils

27.   Bei der Prüfung, ob die Anwendung der fraglichen Regelung eine staatliche Beihilfe darstellt, ist als Erstes zu untersuchen, ob sie dem Begünstigten einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Dass das Gesetz Nr. 273/02 zu einem Vorteil für ein Unternehmen führt, steht außer Frage. In dieser Rechtssache geht es vielmehr darum, worin dieser Vorteil besteht und wer der Begünstigte ist. Die Klägerin trägt vor, dass sich der Vorteil, um den es in dieser Rechtssache gehe, aus der Maßnahme ergebe, mit der die Beklagte von ihrer Verpflichtung befreit werde, die Aktien ihrer Gesellschafter bei deren Ausscheiden zurückzunehmen. Die anderen Beteiligten machen hingegen geltend, der Vorteil liege in Wirklichkeit in der der Klägerin durch das italienische Gesetz ausnahmsweise eingeräumten Austrittsmöglichkeit.

28.   Die Schwierigkeit beruht meines Erachtens auf der Mehrdeutigkeit des nationalen rechtlichen Rahmens, wie sie sich aus den Akten ergibt.

29.   Nach ständiger Rechtsprechung kommt den konkreten Umständen des Einzelfalls bei der Beurteilung, ob ein Vorteil eine staatliche Beihilfe darstellt, besondere Bedeutung zu(16). Im vorliegenden Fall bleibt eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Frage, ob der Austritt, um den es in dieser Rechtssache geht, von den allgemeinen Rechtsvorschriften über das Ausscheiden aus Handelsgesellschaften, wie sie sich aus Artikel 2437 des Zivilgesetzbuchs ergeben, erfasst wird. Hierzu vertreten die Beteiligten unterschiedliche Ansichten, das Vorabentscheidungsersuchen enthält keine entscheidenden Hinweise, und die mündliche Verhandlung hat keine Klärung ermöglicht. Von dieser Feststellung hängt jedoch weitgehend die Antwort ab, die der Gerichtshof auf die Frage des vorlegenden Gerichts geben muss. Damit die Vorabentscheidung sachdienlich bleibt, erscheint es mir daher erforderlich, zwei Fälle zu unterscheiden.

30.   Sollte sich herausstellen, dass das Ausscheiden der Klägerin auf einer Befugnis beruht, die nach allgemeinem Recht nicht besteht, ist meines Erachtens zu erklären, dass die streitige Bestimmung des Gesetzes Nr. 273/02 keine staatliche Beihilfe darstellt.

31.   Es entspricht zwar ständiger Rechtsprechung, dass „der Begriff der Beihilfe nicht nur positive Leistungen umfasst, sondern auch Maßnahmen, die in verschiedener Weise die Belastungen vermindern, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen hat, und die somit zwar keine Subventionen im strengen Wortsinne darstellen, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstehen“(17). Dementsprechend scheint eine Bestimmung, die es gestattet, eine Gesellschaft von der Rückzahlung des Betrages der Aktien zu befreien, die ihre Gesellschafter entsprechend ihrer bei dieser Gesellschaft geleisteten Einlage halten, dem Begünstigten einen wirtschaftlichen Vorteil zu gewähren, da eine solche Befreiung bei Anwendung der normalen Austrittsvorschriften ausgeschlossen wäre.

32.   Das greift jedoch zu kurz und lässt bestimmte Aspekte des Problems außer Acht. Verglichen werden nur die Lage, die sich aus der Anwendung des Gesetzes Nr. 273/02 ergibt (Verzicht auf das Recht auf Erstattung des Wertes der Aktien bei Ausübung des Austrittsrechts), und die Lage, die sich aus der Anwendung des Artikels 2437 des Zivilgesetzbuchs ergibt (grundsätzliches Recht auf Erstattung des Wertes der Aktien bei Austritt). Das Gesetz Nr. 273/02 ist im vorliegenden Fall jedoch untrennbar mit dem Gesetz Nr. 140/99 verbunden. Diese beiden Bestimmungen bilden eine einheitliche Regelung. Diese Regelung ist bei der vorzunehmenden Einstufung zu berücksichtigen. Nach dem Gesetz Nr. 140/99 wird den Gesellschaftern der Beklagten ausnahmsweise die Befugnis zum Ausscheiden gewährt. In diesem Fall verfügen diese Gesellschafter nach dem allgemeinen Recht nicht über ein Austrittsrecht. Die Beklagte hätte demnach normalerweise keinen Vermögensverlust zu befürchten. Daher ist nicht davon auszugehen, dass ein Gesetz wie das Gesetz Nr. 273/02, mit dem das Recht auf Erstattung des Wertes der Aktien bei einem ausnahmsweise gestatteten Ausscheiden der Gesellschafter dieser Gesellschaft eingeschränkt wird, eine Belastung vermindert, die diese Gesellschaft normalerweise hätte tragen müssen. Dieses Gesetz soll lediglich sicherstellen, dass die Vermögenslage der Beklagten durch den bestimmten Aktionären gewährten Vorteil nicht beeinträchtigt wird. Es beschränkt sich in Wirklichkeit darauf, den der Klägerin in Form einer ausnahmsweise bestehenden Austrittsbefugnis eingeräumten Vorteil zu neutralisieren. Es bewirkt daher keineswegs einen wirtschaftlichen Vorteil zugunsten der Beklagten im Sinne der Regeln des EG-Vertrags.

33.   Die Beurteilung wäre hingegen eine ganz andere, wenn das Ausscheiden der Klägerin nach allgemeinem Recht zulässig ist. In diesem zweiten Fall ist das Gesetz Nr. 140/99 als Bestätigung der Austrittsbefugnis bestimmter Gesellschafter nach allgemeinem Recht zu verstehen. Das Gesetz Nr. 273/02 nimmt daher lediglich die Beklagte von der in den entsprechenden allgemeinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Erstattungsregelung aus. Eine solche Freistellung verschafft der begünstigten Gesellschaft offenkundig einen wirtschaftlichen Vorteil. Soweit dieser Vorteil nicht die Gegenleistung für eine ausnahmsweise eingeräumte Austrittsbefugnis darstellt, ist zu prüfen, ob die anderen Voraussetzungen einer Beihilfe erfüllt sind.

34.   Nach Aktenlage erscheint der erste Fall wahrscheinlicher. Das Zivilgesetzbuch enthält eine abschließende Aufzählung von Austrittsfällen(18), und das Ausscheiden der Klägerin scheint von keiner dieser Fallkonstellationen erfasst zu sein. In ihrer Klage beim vorlegenden Gericht scheint sich die Klägerin auf die Anwendung der in Artikel 2437 des Zivilgesetzbuchs genannten Austrittsmodalitäten, d. h. die Erstattung des Wertes ihrer Aktien, außerhalb des Anwendungsbereichs des in dieser Bestimmung vorgesehenen Austrittsrechts zu berufen. Sollte das vorlegende Gericht diese Auslegung bestätigen, wäre daraus zu schließen, dass die fragliche Maßnahme ihrem Adressaten keinen Vorteil verschafft hat und daher nicht als staatliche Beihilfe einzustufen ist.

35.   Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofes, sich zur Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts im vorliegenden Fall zu äußern. Hierfür ist allein das nationale Gericht zuständig. Gelangt dieses zum Ergebnis, dass der Austritt nach Artikel 2437 des Zivilgesetzbuchs erfolgt ist, muss er feststellen, dass der Beklagten durch das Gesetz Nr. 273/02 ein Vorteil gewährt worden ist, und prüfen, ob die übrigen Voraussetzungen für eine Einstufung als Beihilfe gegeben sind.

C –    Die übrigen Beihilfevoraussetzungen

36.   Unter der Annahme, dass die Voraussetzung des wirtschaftlichen Vorteils erfüllt ist, macht die italienische Regierung geltend, dass jedenfalls die dritte und die vierte Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht erfüllt seien. Soweit es der Gerichtshof für sachdienlich hält, sich hierzu zu äußern, ist darauf hinzuweisen, dass Vorteile, die, wie der durch die fraglichen Rechtsvorschriften gewährte, ein Unternehmen von den Kosten befreien sollen, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeiten zu tragen gehabt hätte, grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen verfälschen(19). Da nicht nachgewiesen ist, dass die Tätigkeiten der begünstigten Gesellschaft im Gemeinsamen Markt einzigartig sind, kann von einer Wettbewerbsverzerrung ausgegangen werden. Aus demselben Grund kann die Wirkung einer solchen Maßnahme auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht bezweifelt werden.

37.   Für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass der Vorteil besteht, ist vor allem die erste Voraussetzung für die Einstufung als staatliche Beihilfe zu prüfen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass Vergünstigungen, um „als Beihilfen im Sinne des Artikels 87 Absatz 1 EG eingestuft werden [zu] können, … zum einen unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Mitteln gewährt werden und zum anderen dem Staat zuzurechnen sein“ müssen(20).

38.   Die Voraussetzung der Zurechenbarkeit ist im vorliegenden Fall ohne weiteres erfüllt. Der in Rede stehende Vorteil ergibt sich aus einer gesetzgeberischen Maßnahme. Dass diese nur einen hypothetischen Vorteil gewährt, der davon abhängt, dass von der Befugnis zum Ausscheiden Gebrauch gemacht wird, ist unerheblich. Unabhängig davon, ob dieses Recht ausgeübt wird oder nicht, ergibt sich daraus, dass die Rechte der Gesellschafter als Gläubiger beschnitten werden und entsprechend die Pflichten der Gesellschaft gegenüber ihren Gesellschaftern eingeschränkt werden. Die Gesellschaft verfügt demnach über nicht zurückzuzahlendes Kapital, das jeglichen Schuldcharakter verloren hat und vom dem sie nicht mehr befürchten muss, es im Falle eines Austritts zu verlieren. Daraus folgt, dass diese gesetzgeberische Maßnahme, unabhängig von den Entscheidungen der betreffenden Gesellschafter, unmittelbar zu einem Vorteil der Beklagten führt.

39.   Es bleibt grundsätzlich zu prüfen, ob dieser Vorteil die Folge einer Übertragung staatlicher Mittel ist.

40.   Hierzu trägt die italienische Regierung vor, dass die betreffende Regelung keine „zusätzliche Belastung“ für den Staatshaushalt erzeuge. Denn mit dieser Regelung solle lediglich der Rahmen für die Beziehungen zwischen einer öffentlichen Gesellschaft und deren privaten Gesellschaftern zugunsten der Gesellschaft geändert werden. Der dieser Gesellschaft gewährte Vorteil werde daher aus privaten Mitteln finanziert. Da das Kapital der Beklagten vollständig aus staatlichen Mitteln geflossen sei, führe diese Befreiung von der Erstattungspflicht nicht zu einer neuen Belastung für diese Gesellschaft. Der Vorteil werde nicht durch einen finanziellen Beitrag des Staates gestützt, der von dem bei der Errichtung der Gesellschaft geleisteten unabhängig sei.

41.   Wendet man die Lösung des Gerichtshofes an, die er in seinem Urteil Sloman Neptun vertreten hat, ist in der Tat davon auszugehen, dass der in Rede stehende Vorteil der gewählten gesetzlichen Regelung „immanent“(21) ist. Demnach wäre die erste Voraussetzung für eine staatliche Beihilfe nicht erfüllt.

42.   Diese Lösung halte ich jedoch für unbefriedigend.

43.   Sicher kann nicht jede nationale Maßnahme, die Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil verschafft und die Wettbewerbsbedingungen im Gemeinsamen Markt beeinträchtigt, als staatliche Beihilfe eingestuft werden. Das Verbot des Artikels 87 Absatz 1 EG erfasst nicht Vorteile, die sich lediglich aus gesetzlichen Unterschieden zwischen den Mitgliedstaaten ergeben. Daraus folgt, dass die Fälle, in denen die Gewährung eines Vorteils den gemeinschaftlichen Beihilfevorschriften unterfallen soll, genau eingegrenzt werden müssen.

44.   In seiner Rechtsprechung scheint der Gerichtshof zwischen Verzerrungen, die auf dem Erlass von Maßnahmen zur Regulierung wirtschaftlicher Betätigung beruhen, und solchen, die auf eine Übertragung öffentlicher Mittel zugunsten bestimmter Unternehmen zurückgehen(22), unterscheiden zu wollen. Nur diese Letzteren können die Wettbewerbsbedingungen beeinträchtigen. Die Ersteren sind hinzunehmen, da sie die Voraussetzungen für die Ausübung der Tätigkeit von Unternehmen sowie für die Herstellung von Waren und die Erbringung von Dienstleistungen festlegen sollen.

45.   Diese Unterscheidung liegt auf der Hand. Der Gerichtshof möchte damit vermeiden, den Zugriff der Gemeinschaftsregeln auf Wettbewerbsverzerrungen auszudehnen, die lediglich auf unterschiedlichen gesetzgeberischen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten beruhen. Dem liegt das Bemühen zugrunde, die den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeiten nicht in Frage zu stellen. Es steht nämlich zu befürchten, dass bei einer zu weiten Erstreckung der Beihilferegelung alle wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten der Kontrolle durch die Gemeinschaftsbehörden unterworfen würden, ohne dass danach unterschieden würde, ob es sich um einen unmittelbaren Eingriff in den Markt oder eine allgemeine Maßnahme zur Regulierung wirtschaftlicher Betätigung handelt. Es würde außerdem zu einer erheblichen Belastung der Kontrollinstanzen der Gemeinschaft – Kommission und Gerichtshof – in diesem Bereich kommen.

46.   Die gemeinschaftlichen Beihilfevorschriften sind jedoch offensichtlich nicht dazu da, die Auswirkung aller gesetzgeberischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten auf den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt zu kontrollieren. Es sollen nur die Wettbewerbsverzerrungen festgestellt werden, die sich daraus ergeben, dass ein Mitgliedstaat unter Abweichung von seinen allgemeinen politischen Leitlinien bestimmten Unternehmen einen besonderen Vorteil zukommen lassen will.

47.   Die vom Gerichtshof vorgenommenen Einschränkungen sind daher voll und ganz berechtigt. Das Kriterium der Übertragung von staatlichen Mitteln, das der Gerichtshof üblicherweise verwendet, erlaubt es meines Erachtens jedoch nicht, sie korrekt anzuwenden und zu rechtfertigen. Hierfür sollte besser auf das Kriterium der Selektivität, das sich ebenfalls aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt, zurückgegriffen werden, und zwar aus drei wesentlichen Gründen.

48.   Erstens passt das Kriterium der Übertragung nicht immer. Eine Regulierungsmaßnahme kann nämlich u. U. zu einer mittelbaren Belastung für den Staatshaushalt führen, die größer ist als die bei einer Übertragung öffentlicher Mittel(23).

49.   Zweitens können die vom Gerichtshof vorgenommenen Einschränkungen besser mit dem Selektivitätskriterium gerechtfertigt werden. Es liegt auf der Hand, dass die Unterschiede in der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten bestimmten Unternehmen auf dem Gemeinsamen Markt komparative wirtschaftliche Vorteile verschaffen können. Ein Unternehmen, dessen Gewinne mit 20 % besteuert werden, genießt gegenüber Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, in dem ein Steuersatz von 30 % gilt, einen wirtschaftlichen Vorteil. Jedoch ist hier kein Raum für die Anwendung der Beihilfevorschriften. In diesem Fall ergeben sich die Wettbewerbsvorteile nämlich lediglich aus den rechtlichen und wirtschaftlichen Unterschieden, wie sie der normalen Ausübung der Gesetzgebungshoheit der Mitgliedstaaten entsprechen. Wird demselben Unternehmen jedoch eine Steuerermäßigung von 5 % gewährt, während die Unternehmen der anderen Mitgliedstaaten einem einheitlichen Steuersatz von 20 % unterliegen, wäre auf eine Beihilfe zu schließen, obwohl der komparative Vorteil zugunsten dieses Unternehmens geringer ausfiele als im erstgenannten Fall. Der Grund dafür liegt darin, dass in diesem letztgenannten Fall ein Mitgliedstaat ein Unternehmen oder eine Kategorie von Unternehmen unter Abweichung von seinen allgemeinen gesetzgeberischen Entscheidungen bevorzugt behandelt. Nur den Verzerrungen, die sich aus solchen Bevorzugungen ergeben, sollte nachgegangen werden.

50.   Drittens steht aufgrund der wachsenden Verflechtung staatlicher und privater wirtschaftlicher Betätigung zu befürchten, dass die Mitgliedstaaten versucht sind, ihre Regulierungsmöglichkeiten dafür zu nutzen, private Unternehmen dazu zu bewegen oder zu verpflichten, die Belastungen bestimmter Unternehmen zu verringern. Ist, da solche Maßnahmen keine direkte Übertragung von öffentlichen Mitteln vorsehen, davon auszugehen, dass sie keine staatlichen Beihilfen sind? Wäre dies der Fall, würden staatliche Maßnahmen, die alle Wirkungen einer staatlichen Beihilfe haben, zu einem erheblichen Teil der Kontrolle der Gemeinschaftsbehörden entzogen. Dies widerspräche offensichtlich den Zielen des EG-Vertrags und den Grundsätzen der Rechtsprechung des Gerichtshofes. Deshalb schlage ich vor, auf das Kriterium der Selektivität abzustellen.

51.   Wie Generalanwalt Darmon dem Gerichtshof in der Rechtssache Sloman Neptun dargelegt hat, ermöglicht es allein das Selektivitätskriterium, die allgemeinen Maßnahmen zur Regulierung wirtschaftlicher Betätigung, die durch die Vertragsbestimmungen über die staatlichen Beihilfen nicht erfasst werden sollen, von den zu kontrollierenden wirtschafts- und finanzpolitischen Eingriffsmaßnahmen zu unterscheiden(24). Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits ausgeführt, dass „staatliche Beihilfen nicht nur solche sind, die aus staatlichen Mitteln finanziert werden“(25).

52.   Sodann ist der Begriff der Selektivität sorgfältig zu bestimmen. Nach der Rechtsprechung ist nicht jede Maßnahme, die einer Kategorie von Unternehmen einen besonderen Vorteil gewährt, zwangsläufig als „selektiv“ anzusehen. Vielmehr ist zu unterscheiden. Maßnahmen, die bestimmten Situationen eine spezifische Behandlung und damit den sich in diesen Situationen befindlichen Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil gewähren, sind im Rahmen der allgemeinen Regelung zu prüfen, in die sie sich einfügen. Kann der Mitgliedstaat zeigen, dass die Maßnahmen durch das Wesen oder die allgemeinen Zwecke der rechtlichen Regelung, zu der sie gehören, gerechtfertigt sind, sind sie nicht als selektiv im Sinne des EG-Vertrags anzusehen, sofern diese Regelung einen legitimen Zweck verfolgt(26). Nur wenn die spezifische Behandlung nicht durch eine allgemeine Regelung gerechtfertigt werden kann oder nicht auf einer kohärenten Anwendung der Regelung beruht, in die sie einzuordnen ist, kann sie als selektiv bezeichnet werden. In diesem Fall ist nämlich die Annahme berechtigt, dass die Maßnahme keinen anderen Zweck als die Bevorzugung einer bestimmten Kategorie von Unternehmen verfolgt. Eine Maßnahme ist also nicht schon deshalb eine staatliche Beihilfe, weil sie rechtlich eine Ausnahmeregelung darstellt(27). In diesem Bereich genügt eine formale Prüfung nicht; vielmehr ist eine inhaltliche Prüfung vorzunehmen. Selektiv ist jede Maßnahme, die dazu beiträgt, bestimmte Unternehmen wirtschaftlich besser zu stellen als Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, ohne dass die sich daraus für die Allgemeinheit ergebenden Kosten eindeutig durch ein System der gleichmäßig verteilten Lasten gerechtfertigt sind(28).

53.   Folgt man diesem Lösungsansatz, so wird deutlich, dass eine Maßnahme, die die Beklagte von der Zahlung von Erstattungen an die Gesellschafter, die ihr Austrittsrecht ausüben, befreit, während bei normaler Anwendung der einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs eine solche Erstattung vorgesehen ist, einen nicht gerechtfertigten selektiven Vorteil für diese Gesellschaft darstellt. Eine solche Maßnahme erfüllt alle Voraussetzungen einer staatlichen Beihilfe. Ich erinnere jedoch daran, dass dies nur gilt, wenn zuvor festgestellt worden ist, dass ein solches Ausscheiden unter den Bedingungen des allgemeinen Rechts möglich war.

IV – Zusammenfassung

54.   Aus der Erörterung ergibt sich, dass, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, zwei Fälle zu unterscheiden sind.

55.   Sollte sich erweisen, dass das in dieser Rechtssache in Rede stehende Ausscheiden auf einer ausnahmsweisen, in Abweichung von den in den einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs vorgesehenen Austrittsvoraussetzungen bestehenden Befugnis beruht, so stellte eine Regelung wie die mit dem Gesetz Nr. 273/02 eingeführte, mit der den Gesellschaftern einer vom Staat kontrollierten Gesellschaft die Befugnis zum Austritt eingeräumt wird, sofern sie auf alle Rechte am Gesellschaftsvermögen verzichten, keine staatliche Beihilfe zugunsten dieser Gesellschaft dar.

56.   Beruht dieser Austritt hingegen nicht auf einer ausnahmsweise gewährten Befugnis, sondern ist er nach allgemeinem Recht ohnehin zulässig, so stellte eine solche Regelung eine staatliche Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags dar und hätte somit der Kommission zuvor notifiziert werden müssen.

57.   Es ist Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob das Ausscheiden im Ausgangsverfahren gemäß den im allgemeinen Recht für das Ausscheiden aus Handelsgesellschaften vorgesehenen Voraussetzungen ausgeübt worden ist.

V –    Ergebnis

58.   Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, auf das ihm vom Tribunale Cagliari vorgelegte Ersuchen wie folgt zu antworten:

Die Artikel 87 Absatz 1 EG und 88 Absatz 3 EG sind dahin auszulegen, dass eine Regelung wie die mit dem Gesetz Nr. 273/02 vom 12. Dezember 2002 eingeführte, mit der den Gesellschaftern einer vom Staat kontrollierten Gesellschaft die Befugnis zum Austritt eingeräumt wird, sofern sie auf alle Rechte am Vermögen der Gesellschaft verzichten, keine staatliche Beihilfe im Sinne dieser Bestimmungen darstellt und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften nicht zuvor zu notifizieren war, sofern sich nicht erweist, dass dieser Austritt nach dem allgemeinen Recht über den Austritt zulässig war. In letzterem Fall stellt eine solche Regelung eine staatliche Beihilfe dar, die der Kommission zuvor hätte notifiziert werden müssen.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – Siehe u. a. Urteil vom 26. Januar 1993 in den Rechtssachen C-320/90 bis C-322/90 (Telemarsicabruzzo, Slg. 1993, I-393, Randnr. 6).


3 – Die kürzlich aktualisierten Hinweise des Gerichtshofes zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte sehen in diesem Sinne vor, dass „das vorlegende Gericht, wenn es meint, dass es dazu in der Lage ist, knapp darlegen [kann], wie die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen seines Erachtens beantwortet werden sollten“ (ABl. 2005, C 143, S. 1).


4 – Im Vorabentscheidungsersuchen wird fälschlicherweise auf ein Gesetz Nr. 240/02 verwiesen, gemeint ist aber das Gesetz Nr. 273/02.


5 – Siehe u. a. Urteil vom 21. Januar 1993 in der Rechtssache C-188/91 (Deutsche Shell, Slg. 1993, I-363, Randnr. 27).


6 – Siehe u. a. Beschluss vom 24. Juli 2003 in der Rechtssache C-297/01 (Sicilcassa u. a., Slg. 2003, I-7849, Randnr. 47).


7 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-39/94 (SFEI u. a., Slg. 1996, I-3547, Randnrn. 49 bis 51).


8 – Siehe u. a. Urteile vom 8. November 2001 in der Rechtssache C-143/99 (Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke, Slg. 2001, I-8365, Randnr. 27) und vom 13. Januar 2005 in der Rechtssache C-174/02 (Streekgewest, Slg. 2005, I‑85, Randnr. 17) sowie Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache C-368/04 (Transalpine Ölleitung in Österreich, beim Gerichtshof anhängig, Nrn. 67 f.).


9 – Urteil vom 9. September 2004 in der Rechtssache C‑72/03 (Carbonati Apuani, Slg. 2003, I-8027, Randnr. 11).


10 – Siehe u. a. Urteil vom 24. Juli 2003 in der Rechtssache C-280/00 (Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg, Slg. 2003, I-7747, Randnr. 75).


11 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. März 1977 in der Rechtssache 78/76 (Steinike & Weinlig, Slg. 1977, 595, Randnrn. 16 bis 18) und vom 16. November 1995 in der Rechtssache C-244/94 (Fédération française des sociétés d’assurance u. a., Slg. 1995, I-4013, Randnr. 21).


12 – Urteil vom 23. April 1991 in der Rechtssache C-41/90 (Höfner und Elster, Slg. 1991, I-1979, Randnr. 21).


13 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C-475/99 (Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Randnr. 21).


14 – Vgl. hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache C-205/03 P (FENIN/Kommission, beim Gerichtshof anhängig).


15 – Urteil vom 12. September 2000 in den Rechtssachen C-180/98 bis C-184/98 (Pavlov u. a., Slg. 2000, I-6451, Randnr. 75).


16 – Urteil vom 1. Dezember 1998 in der Rechtssache C-200/97 (Ecotrade, Slg. 1998, I‑7907, Randnr. 37).


17 – Siehe u. a. Urteil vom 3. März 2005 in der Rechtssache C-172/03 (Heiser, Slg. 2005, I-1627, Randnr. 36).


18 – Vgl. Campobasso, G. F., Diritto commerciale, Bd. 2, Turin, 5. Aufl. 2002, S. 485. Inzwischen erfolgte eine Reform des Austrittsrechts, die die Liste der berechtigten Austrittsgründe verlängert hat, ohne jedoch an deren abschließendem Charakter etwas zu ändern (vgl. hierzu das Sonderheft der Rivista delle società, marzo-giugno 2005).


19 – Vgl. Urteil vom 19. September 2000 in der Rechtssache C-156/98 (Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-6857, Randnr. 30).


20 – Urteil vom 16. Mai 2002 in der Rechtssache C-482/99 (Frankreich/Kommission, Slg. 2002, I-4397, Randnr. 24).


21 – Vgl. Urteil vom 17. März 1993 in den Rechtssachen C-72/91 und C-73/91 (Slg. 1993, I-887, Randnr. 21).


22 – Vgl. in diesem Sinne Urteile Sloman Neptun (Randnr. 21), Ecotrade (Randnr. 36) und vom 13. März 2001 in der Rechtssache C-379/98 (PreussenElektra, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 62).


23 – So z. B. bei Rechtsvorschriften, die in einer bestimmten Branche Kündigungen erleichtern, oder bei einer Regelung, die ein Unternehmen berechtigt, in einem Gebiet Bauten zu errichten, in dem umfangreiche Infrastrukturausbaumaßnahmen erforderlich sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei der Einstufung als staatliche Beihilfe nicht danach unterscheidet, ob die Vorteile aus staatlichen Mitteln direkt oder indirekt gewährt werden (siehe u. a. Urteil PreussenElektra, Randnr. 58).


24 – Nr. 47 der Schlussanträge in der Rechtssache Sloman Neptun. Im Übrigen wird dieses Kriterium in der Rechtsprechung bereits verwendet. In der Rechtssache Ecotrade ist entscheidend, dass die in Rede stehende Regelung geeignet ist, die Unternehmen, auf die sie anwendbar ist, in eine günstigere Lage zu versetzen als andere (Randnrn. 41 und 42). Vgl. bereits in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 1974 in der Rechtssache 173/73 (Italien/Kommission, Slg. 1974, 709, Randnr. 33).


25 – Urteil vom 30. Januar 1985 in der Rechtssache 290/83 (Kommission/Frankreich, Slg. 1985, 439, Randnr. 14).


26 – Urteile Italien/Kommission (Randnr. 33), Ecotrade (Randnr. 36) und Adria-Wien (Randnr. 42).


27 – Vgl. hierzu die Schlussanträge des Generalanwalts Darmon in der Rechtssache Sloman Neptun (Nr. 53) sowie des Generalanwalts Mischo in der Rechtssache Adria-Wien (Nr. 43).


28 – Diese Art von Maßnahmen ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Gewinne auf eine Gruppe von Unternehmen konzentrieren, während sich die Kosten auf die Allgemeinheit verteilen und dadurch für die anderen Unternehmen schwer feststellbar sind. Bei einer derartigen Maßnahme ist die Gefahr besonders groß, dass ihr Erlass bestimmten Einzelinteressen dient und nicht vom Allgemeininteresse bestimmt ist.

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