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Document 62003CJ0540
Judgment of the Court (Grand Chamber) of 27 June 2006.#European Parliament v Council of the European Union.#Immigration policy - Right to family reunification of minor children of third country nationals - Directive 2003/86/EC - Protection of fundamental rights - Right to respect for family life - Obligation to have regard to the interests of minor children.#Case C-540/03.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 27. Juni 2006.
Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union.
Einwanderungspolitik - Recht minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung - Richtlinie 2003/86/EG - Schutz der Grundrechte - Recht auf Achtung des Familienlebens - Verpflichtung zur Berücksichtigung des Wohls des minderjährigen Kindes.
Rechtssache C-540/03.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 27. Juni 2006.
Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union.
Einwanderungspolitik - Recht minderjähriger Kinder von Drittstaatsangehörigen auf Familienzusammenführung - Richtlinie 2003/86/EG - Schutz der Grundrechte - Recht auf Achtung des Familienlebens - Verpflichtung zur Berücksichtigung des Wohls des minderjährigen Kindes.
Rechtssache C-540/03.
Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-05769
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:429
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
In der Rechtssache C‑540/03
betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Artikel 230 EG, eingereicht am 22. Dezember 2003,
Europäisches Parlament , vertreten durch H. Duintjer Tebbens und A. Caiola als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Kläger,
gegen
Rat der Europäischen Union , vertreten durch O. Petersen und M. Simm als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Kommission der Europäischen Gemeinschaften , vertreten durch C. O’Reilly und C. Ladenburger als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelferin,
und
Bundesrepublik Deutschland , vertreten durch A. Tiemann sowie W.‑D. Plessing und M. Lumma als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas (Berichterstatter) und K. Schiemann sowie der Richter J.‑P. Puissochet, K. Lenaerts, P. Kūris, E. Juhász, E. Levits und A. Ó Caoimh,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2005,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2005
folgendes
Urteil
1. Mit seiner Klageschrift beantragt das Europäische Parlament die Nichtigerklärung des Artikels 4 Absätze 1 letzter Unterabsatz und 6 sowie des Artikels 8 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12, im Folgenden: Richtlinie).
2. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom 5. Mai 2004 sind die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und die Bundesrepublik Deutschland als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates der Europäischen Union zugelassen worden.
Die Richtlinie
3. Die auf den EG-Vertrag und insbesondere dessen Artikel 63 Nummer 3 Buchstabe a gestützte Richtlinie legt die Bedingungen fest für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.
4. Ihre zweite Begründungserwägung lautet:
„Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [ABl. 2000, C 364, S. 1, im Folgenden: Charta] anerkannt wurden.“
5. In der zwölften Begründungserwägung der Richtlinie heißt es:
„Mit der Möglichkeit, das Recht auf Familienzusammenführung bei Kindern über 12 Jahre, die ihren Hauptwohnsitz nicht bei dem Zusammenführenden haben, einzuschränken, soll der Integrationsfähigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren Rechnung getragen und gewährleistet werden, dass sie die erforderliche Allgemeinbildung und Sprachkenntnisse in der Schule erwerben.“
6. Nach ihrem Artikel 3 findet die Richtlinie Anwendung, wenn der Zusammenführende im Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels mit mindestens einjähriger Gültigkeit ist und begründete Aussicht darauf hat, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erlangen, und wenn seine Familienangehörigen Drittstaatsangehörige sind, wobei ihre Rechtsstellung unerheblich ist.
7. Artikel 3 Absatz 4 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie lässt günstigere Bestimmungen unberührt:
a) der bilateralen und multilateralen Übereinkünfte zwischen der Gemeinschaft oder zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Drittländern andererseits,
b) der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961, der geänderten Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1987 und des Europäischen Übereinkommens über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer vom 24. November 1977.“
8. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten insbesondere den minderjährigen Kindern, jeweils einschließlich der adoptierten, des Zusammenführenden und seines Ehegatten sowie, wenn der entsprechende Elternteil das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt, des Zusammenführenden oder seines Ehegatten gemäß der Richtlinie die Einreise und den Aufenthalt gestatten. Nach Artikel 4 Absatz 1 vorletzter Unterabsatz dürfen die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und nicht verheiratet sein. Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz sieht vor:
„Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat bei einem Kind über 12 Jahre, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt, prüfen, ob es ein zum Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie in den nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor er ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß dieser Richtlinie gestattet.“
9. Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können im Rahmen einer Ausnahmeregelung vorsehen, dass die Anträge betreffend die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder gemäß den im Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie vorhandenen nationalen Rechtsvorschriften vor Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt werden. Wird ein Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt, so genehmigen die Mitgliedstaaten, die diese Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt dieser Kinder aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung.“
10. Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten vor, bei der Prüfung des Antrags dafür Sorge zu tragen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.
11. Artikel 8 der Richtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten dürfen verlangen, dass sich der Zusammenführende während eines Zeitraums, der zwei Jahre nicht überschreiten darf, rechtmäßig auf ihrem Hoheitsgebiet aufgehalten hat, bevor seine Familienangehörigen ihm nachreisen.
Abweichend davon kann ein Mitgliedstaat, dessen bei Annahme der Richtlinie geltendes nationales Recht im Bereich der Familienzusammenführung die Aufnahmefähigkeit dieses Mitgliedstaats berücksichtigt, eine Wartefrist von höchstens drei Jahren, zwischen der Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung und der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Familienangehörige, vorsehen.“
12. Artikel 16 der Richtlinie listet eine Reihe von Umständen auf, unter denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen oder gegebenenfalls den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern können.
13. Artikel 17 der Richtlinie lautet:
„Im Fall der Ablehnung eines Antrags, de[s] Entzug[s] oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung des Zusammenführenden oder seiner Familienangehörigen berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland.“
14. Nach Artikel 18 der Richtlinie müssen im Fall der Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung sowie des Entzugs oder der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels entsprechend den von den betreffenden Mitgliedstaaten festgelegten Verfahren und Zuständigkeiten Rechtsbehelfe eingelegt werden können.
Zur Zulässigkeit der Klage
Zu der Einrede, die darauf gestützt wird, dass sich die Klage in Wirklichkeit nicht gegen eine Handlung der Organe richte
15. Die Bestimmungen, deren Nichtigerklärung beantragt wird, regeln Ausnahmen von den Verpflichtungen, die die Richtlinie den Mitgliedstaaten auferlegt; die Mitgliedstaaten sind danach befugt, nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die nach Ansicht des Parlaments die Grundrechte missachten. Doch meint dieses Organ, dass die Richtlinie, indem sie derartige nationale Rechtsvorschriften zulasse, selbst gegen die Grundrechte verstoße. Es verweist dazu auf das Urteil vom 6. November 2003 in der Rechtssache C‑101/01 (Lindqvist, Slg. 2003, I‑12971, Randnr. 84).
16. Der Rat betont dagegen, dass die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Handlungsspielraum belasse, der ihnen die Beibehaltung oder den Erlass nationaler Vorschriften erlaube, die mit der Wahrung der Grundrechte vereinbar seien. Das Parlament lege nicht dar, inwiefern möglicherweise gegen die Grundrechte verstoßende Bestimmungen, die von den Mitgliedstaaten erlassen und angewandt würden, eine Handlung der Organe im Sinne von Artikel 46 Buchstabe d EU darstellten, die in Bezug auf die Beachtung der Grundrechte der Kontrolle durch den Gerichtshof unterliege.
17. Jedenfalls fragt sich der Rat, wie der Gerichtshof eine rein abstrakte Rechtmäßigkeitskontrolle über gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen ausüben solle, die lediglich auf nationale Rechtsvorschriften verwiesen, deren Inhalt unbekannt sei und von denen man nicht wisse, wie sie angewandt werden würden. Dass die konkreten Umstände berücksichtigt werden müssten, ergebe sich aus dem Urteil vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C‑60/00 (Carpenter, Slg. 2002, I‑6279) und dem Urteil Lindqvist.
18. Die Kommission meint, dass die vom Gerichtshof ausgeübte Kontrolle der Beachtung der Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehöre und demnach nicht auf den Fall beschränkt sein dürfe, dass eine Richtlinienbestimmung die Mitgliedstaaten zum Erlass bestimmter, gegen Grundrechte verstoßender Maßnahmen verpflichte, sondern auch den Fall erfassen müsse, dass die Richtlinie derartige Maßnahmen ausdrücklich zulasse. Denn man dürfe von den Mitgliedstaaten nicht erwarten, dass sie selbst erkennten, dass eine bestimmte, nach einer Gemeinschaftsrichtlinie zulässige Maßnahme gegen Grundrechte verstoße. Die Kontrolle durch den Gerichtshof könne somit nicht deshalb entfallen, weil sich die streitigen Bestimmungen der Richtlinie darauf beschränkten, auf nationale Rechtsvorschriften zu verweisen.
19. Allerdings dürfe der Gerichtshof Bestimmungen wie die, die den Gegenstand der Klage bildeten, nur dann für nichtig erklären, wenn er sie nicht in grundrechtskonformer Weise auslegen könne. Wenn die streitige Bestimmung nach den üblichen Auslegungsregeln einen Beurteilungsspielraum lasse, so müsse der Gerichtshof vielmehr klarstellen, wie sie unter Beachtung der Grundrechte auszulegen sei.
20. Das Parlament entgegnet, dass eine apriorische Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof, wie sie die Kommission anrege, zur Folge hätte, dass eine präventive Abhilfe geschaffen würde, die in die Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers eingriffe.
Würdigung durch den Gerichtshof
21. Entsprechend dem Vorgehen der Generalanwältin in den Nummern 43 bis 45 ihrer Schlussanträge ist diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Zulässigkeit der Klage zu erörtern. Der Rat macht im Wesentlichen geltend, dass die Klage nicht gegen eine Handlung der Organe gerichtet sei, und führt dazu aus, dass nur die Anwendung nationaler Vorschriften, die entsprechend der Richtlinie beibehalten oder erlassen worden seien, gegebenenfalls gegen Grundrechte verstoßen könne.
22. Dazu ist zu sagen, dass der Umstand, dass die angefochtenen Bestimmungen der Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Beurteilungsspielraum einräumen und es ihnen erlauben, unter bestimmten Umständen nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die von den mit der Richtlinie vorgegebenen Grundsatzregelungen abweichen, nicht dazu führen kann, dass diese Bestimmungen der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit durch den Gerichtshof nach Artikel 230 EG entzogen werden.
23. Im Übrigen kann es sein, dass eine Bestimmung einer Gemeinschaftshandlung als solche die Grundrechte missachtet, wenn sie den Mitgliedstaaten vorschreibt oder ihnen ausdrücklich oder implizit gestattet, nationale Gesetze zu erlassen oder beizubehalten, die die Grundrechte missachten.
24. Aus diesen Umständen ergibt sich, dass die Einrede der Unzulässigkeit, die darauf gestützt wird, dass sich die Klage in Wirklichkeit nicht gegen eine Handlung der Organe richte, zurückzuweisen ist.
Zur Abtrennbarkeit der Bestimmungen, deren Nichtigerklärung beantragt wird
25. Die Bundesrepublik Deutschland unterstreicht einleitend die hohe Bedeutung, die Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie für sie habe; er enthalte einen der zentralen Punkte des Kompromisses, der den Erlass der Richtlinie, für die Einstimmigkeit erforderlich gewesen sei, ermöglicht habe. Eine teilweise Nichtigerklärung einer Handlung komme nur in Frage, wenn die Handlung aus mehreren, voneinander abtrennbaren Teilen bestehe und nur einer dieser Teile wegen eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht fehlerhaft sei. Im vorliegenden Fall sei eine Abtrennung der Familiennachzugsregel gemäß Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie von deren Rest nicht möglich. Ein etwaiges auf Teilnichtigkeit lautendes Urteil würde in die Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers eingreifen, so dass die Richtlinie nur insgesamt für nichtig erklärt werden könne.
26. Das Parlament wendet sich gegen die These, dass Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nur deshalb nicht von deren Rest getrennt werden könne, weil seine Fassung auf einen politischen Kompromiss zurückgehe, der den Erlass der Richtlinie ermöglicht habe. Es komme nur darauf an, ob die Abtrennung eines Teils der Richtlinie rechtlich möglich sei. Da die in der Klageschrift bezeichneten Bestimmungen Abweichungen von den mit der Richtlinie aufgestellten allgemeinen Regeln enthielten, stelle ihre Nichtigerklärung weder die Systematik noch die Wirksamkeit der Richtlinie insgesamt in Frage; deren Bedeutung für die Verwirklichung des Rechts auf Familienzusammenführung erkenne das Parlament an.
Würdigung durch den Gerichtshof
27. Nach ständiger Rechtsprechung ist die teilweise Nichtigerklärung eines Gemeinschaftsrechtsakts nur möglich, soweit sich die Teile, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom Rest des Rechtsakts trennen lassen (vgl. u. a. Urteile vom 10. Dezember 2002 in der Rechtssache C‑29/99, Kommission/Rat, Slg. 2002, I‑11221, Randnrn. 45 und 46, vom 21. Januar 2003 in der Rechtssache C‑378/00, Kommission/Parlament und Rat, Slg. 2003, I‑937, Randnr. 29, vom 30. September 2003 in der Rechtssache C‑239/01, Deutschland/Kommission, Slg. 2003, I‑10333, Randnr. 33, vom 24. Mai 2005 in der Rechtssache C‑244/03, Frankreich/Parlament und Rat, Slg. 2005, I‑4021, Randnr. 12, und vom 30. März 2006 in der Rechtssache C‑36/04, Spanien/Rat, Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 9).
28. Der Gerichtshof hat ebenfalls wiederholt entschieden, dass dieses Erfordernis der Abtrennbarkeit nicht erfüllt ist, wenn die teilweise Nichtigerklärung eines Rechtsakts zur Folge hätte, dass der Wesensgehalt dieses Aktes verändert würde (Urteil vom 31. März 1998 in den Rechtssachen C‑68/94 und C‑30/95, Frankreich u. a./Kommission, Slg. 1998, I‑1375, Randnr. 257, sowie Urteile Kommission/Rat, Randnr. 46, Deutschland/Kommission, Randnr. 34, Frankreich/Parlament und Rat, Randnr. 13, und Spanien/Rat, Randnr. 13).
29. In der vorliegenden Rechtssache ist es für die Prüfung der Abtrennbarkeit der Bestimmungen, deren Nichtigerklärung beantragt wird, erforderlich, den Rechtsstreit in der Sache, d. h. die Bedeutung dieser Bestimmungen, zu prüfen, um beurteilen zu können, ob ihre Nichtigerklärung den Geist und die Substanz der Richtlinie verändern würde.
Die Klage
Zu den Rechtsnormen, anhand deren die Rechtmäßigkeit der Richtlinie überprüft werden kann
30. Das Parlament trägt vor, die angefochtenen Bestimmungen missachteten die Grundrechte, insbesondere das Recht auf Familienleben und das Recht, nicht diskriminiert zu werden, so wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) gewährleistet seien und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergäben; die Union habe diese Rechte nach Artikel 6 Absatz 2 EU, auf den Artikel 46 Buchstabe d EU in Bezug auf Handlungen der Organe verweise, zu achten.
31. Das Parlament führt erstens das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Artikel 8 EMRK an, das nach der Auslegung des Gerichtshofes auch das Recht auf Familienzusammenführung umfasse (Urteile Carpenter, Randnr. 42, und vom 23. September 2003 in der Rechtssache C‑109/01, Akrich, Slg. 2003, I‑9607, Randnr. 59). Derselbe Grundsatz sei in Artikel 7 der Charta übernommen worden, die, indem sie ein Verzeichnis der bestehenden Grundrechte aufstelle, trotz ihrer fehlenden rechtlichen Bindungswirkung ein nützlicher Anhaltspunkt für die Auslegung der Bestimmungen der EMRK sei. Das Parlament verweist außerdem auf Artikel 24 der Charta über die Rechte des Kindes, nach dessen Absatz 2 „[b]ei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen … das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]“ und nach dessen Absatz 3 „[j]edes Kind … Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen [hat], es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen“.
32. Das Parlament beruft sich zweitens auf das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters der betreffenden Personen, das von Artikel 14 EMRK umfasst und in Artikel 21 Absatz 1 der Charta ausdrücklich aufgeführt sei.
33. Ferner nennt das Parlament verschiedene Bestimmungen internationaler Übereinkünfte, die im Rahmen der Vereinten Nationen unterzeichnet wurden: Artikel 24 des am 19. Dezember 1966 angenommenen und am 23. März 1976 in Kraft getretenen Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, das am 20. November 1989 angenommene und am 2. September 1990 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die am 18. Dezember 1990 angenommene und am 1. Juli 2003 in Kraft getretene internationale Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, sowie die am 20. November 1959 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen proklamierte Erklärung der Rechte des Kindes (Resolution 1386[XIV]). Das Parlament verweist außerdem auf die am 22. November 1994 angenommene Empfehlung Nr. R (94) 14 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten über kohärente und integrierte Familienpolitiken sowie die am 15. Dezember 1999 angenommene Empfehlung Nr. R (99) 23 desselben Komitees an die Mitgliedstaaten über die Familienzusammenführung für Flüchtlinge und andere Menschen, die des internationalen Schutzes bedürfen. Schließlich nimmt das Parlament auf die Verfassungen mehrerer Mitgliedstaaten der Europäischen Union Bezug.
34. Der Rat verweist darauf, dass die Gemeinschaft nicht Vertragspartei der verschiedenen vom Parlament angeführten völkerrechtlichen Instrumente sei. Jedenfalls verlangten diese Normen nur, dass die Interessen der Kinder gewahrt und berücksichtigt würden, begründeten aber kein absolutes Recht im Bereich Familienzusammenführung. Im Übrigen sei die Klage nicht anhand der Charta zu prüfen, da diese keine Gemeinschaftsrechtsquelle sei.
Würdigung durch den Gerichtshof
35. Die Grundrechte sind integraler Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Der Gerichtshof lässt sich dabei von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Hierbei kommt der EMRK besondere Bedeutung zu (vgl. u. a. Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C‑260/89, ERT, Slg. 1991, I‑2925, Randnr. 41, Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I‑1759, Randnr. 33, sowie Urteile vom 6. März 2001 in der Rechtssache C‑274/99 P, Connolly/Kommission, Slg. 2001, I‑1611, Randnr. 37, vom 22. Oktober 2002 in der Rechtssache C‑94/00, Roquette Frères, Slg. 2002, I‑9011, Randnr. 25, vom 12. Juni 2003 in der Rechtssache C‑112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I‑5659, Randnr. 71, und vom 14. Oktober 2003 in der Rechtssache C‑36/02, Omega, Slg. 2003, I‑9609, Randnr. 33).
36. Im Übrigen bestimmt Artikel 6 Absatz 2 EU: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der [EMRK] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“
37. Der Gerichtshof hat bereits darauf hingewiesen, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte zu den völkerrechtlichen Instrumenten zum Schutz der Menschenrechte gehört, denen er bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung trägt (vgl. u. a. Urteile vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Randnr. 31, vom 18. Oktober 1990 in den Rechtssachen C‑297/88 und C‑197/89, Dzodzi, Slg. 1990, I‑3763, Randnr. 68, und vom 17. Februar 1998 in der Rechtssache C‑249/96, Grant, Slg. 1998, I‑621, Randnr. 44). Das gilt auch für das genannte Übereinkommen über die Rechte des Kindes, das wie dieser Pakt jeden der Mitgliedstaaten bindet.
38. Was die Charta anbelangt, so wurde sie am 7. Dezember 2000 in Nizza vom Parlament, vom Rat und von der Kommission feierlich proklamiert. Auch wenn es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handelt, wollte der Gemeinschaftsgesetzgeber doch ihre Bedeutung anerkennen, indem er in der zweiten Begründungserwägung der Richtlinie ausgeführt hat, dass diese nicht nur die in Artikel 8 EMRK, sondern auch die in der Charta anerkannten Grundsätze beachtet. Im Übrigen wird mit der Charta, wie sich aus ihrer Präambel ergibt, in erster Linie das Ziel verfolgt, „die Rechte [zu bekräftigen], die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der [EMRK], aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs … und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben“.
39. Was die weiteren vom Parlament angeführten völkerrechtlichen Instrumente betrifft, so ist, abgesehen von der Europäischen Sozialcharta, die in Randnummer 107 dieses Urteils behandelt wird, jedenfalls nicht ersichtlich, dass sie Bestimmungen enthielten, die die Rechte des Kindes umfassender schützten als die in den bereits genannten Instrumenten enthaltenen.
Zu Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie
40. Das Parlament trägt vor, dass die Begründung des Artikels 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie in deren zwölfter Begründungserwägung nicht überzeuge und dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die Begriffe „Integrationskriterium“ und „Integrationsziel“ verwechselt habe. Da die Zusammenführung mit seiner Familie eines der wichtigsten Mittel zur gelungenen Integration eines minderjährigen Kindes sei, sei es fehl am Platz, einen Integrationstest zu verlangen, bevor das Kind, das Mitglied der Familie des Zusammenführenden sei, zu diesem stoße. Dadurch werde die Familienzusammenführung undurchführbar und dieses Recht negiert.
41. Außerdem seien die Mitgliedstaaten, da der Begriff der Integration in der Richtlinie nicht definiert werde, befugt, das Recht auf Familienzusammenführung merklich einzuschränken.
42. Dieses Recht werde durch Artikel 8 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geschützt, und ein in nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenes Integrationskriterium sei keinem der in Artikel 8 Absatz 2 EMRK genannten legitimen Ziele zuzuordnen, mit denen ein Eingriff gerechtfertigt werden könne: die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftlichen Wohl des Landes, die Aufrechterhaltung der Ordnung, die Verhütung von Straftaten, der Schutz der Gesundheit oder der Moral oder der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Jedenfalls müsse jeder Eingriff begründet und verhältnismäßig sein. Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie schreibe jedoch keine Interessenabwägung vor.
43. Im Übrigen sei die Richtlinie widersprüchlich, da sie in Bezug auf den Ehegatten des Zusammenführenden keine auf das Integrationskriterium gestützte Einschränkung vorsehe.
44. Außerdem begründe die Richtlinie eine ausschließlich auf das Alter des Kindes gestützte Diskriminierung, die objektiv nicht gerechtfertigt sei und gegen Artikel 14 EMRK verstoße. So würden mit dem Ziel, die Eltern zu veranlassen, ihre Kinder nachzuholen, bevor sie das zwölfte Lebensjahr erreicht hätten, nicht die wirtschaftlichen und sozialen Zwänge berücksichtigt, die eine Familie über einen mehr oder weniger langen Zeitraum davon abhielten, ein Kind aufzunehmen. Im Übrigen lasse sich das Integrationsziel mit weniger radikalen Mitteln verwirklichen, etwa Maßnahmen zur Integration des Minderjährigen nach seiner Zulassung im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats.
45. Schließlich sei die Stillhalteklausel weniger strikt als die üblichen Stillhalteklauseln, da die entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften erst zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie bestehen müssten. Der den Mitgliedstaaten belassene Spielraum laufe dem Ziel der Richtlinie zuwider, gemeinsame Kriterien für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung vorzusehen.
46. Der Rat macht mit Unterstützung der deutschen Regierung und der Kommission geltend, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens als solches einem Recht auf Familienzusammenführung nicht gleichkomme. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte reiche es aus, dass ein Familienleben beispielsweise im Herkunftsstaat möglich sei.
47. Auch habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung Verweigerungen von Familienzusammenführungen im Rahmen einer Einwanderungspolitik jeweils aus mindestens einem der in Artikel 8 Absatz 2 EMRK aufgeführten Ziele für gerechtfertigt gehalten. Eine solche Verweigerung könne auf das Ziel des Artikels 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie gestützt werden, nämlich die erfolgreiche Integration minderjähriger Einwanderer durch die Schaffung eines Anreizes für getrennte Einwandererfamilien, ihre minderjährigen Kinder in den Aufnahmemitgliedstaat nachkommen zu lassen, bevor sie das zwölfte Lebensjahr erreicht hätten.
48. Die Wahl des Alters von 12 Jahren sei nicht willkürlich, sondern dadurch veranlasst, dass sich Kinder, bevor sie dieses Alter erreichten, in einer Phase ihrer Entwicklung befänden, die für ihre Fähigkeit, sich in einer Gesellschaft zu integrieren, wichtig sei. Dies sei der Gedanke, der durch die zwölfte Begründungserwägung der Richtlinie ausgedrückt werde. Dazu führt der Rat aus, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Rechtssachen, die den Nachzug von Minderjährigen unter 12 Jahren betroffen hätten, einen Verstoß gegen Artikel 8 EMRK verneint habe.
49. Es sei gerechtfertigt, das Integrationskriterium auf Kinder über 12 Jahre, nicht aber auf den Ehegatten des Zusammenführenden anzuwenden, da die Kinder in der Regel einen größeren Teil ihres Lebens im Aufnahmemitgliedstaat verbrächten als ihre Eltern.
50. Der Rat betont, dass die Richtlinie dem Ergebnis der Abwägung der im jeweiligen Einzelfall in Rede stehenden individuellen und kollektiven Interessen nicht vorgreife, und verweist darauf, dass die Artikel 17 und 5 Absatz 5 der Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichteten, die durch die EMRK und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes geschützten Interessen zu berücksichtigen.
51. Auch stelle die Stillhalteklausel in Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie die Rechtmäßigkeit dieser Bestimmung nicht in Frage. Mit der Bezugnahme auf den „Zeitpunkt der Umsetzung“ der Richtlinie habe der Gemeinschaftsgesetzgeber eine legitime politische Wahl getroffen, die dadurch veranlasst gewesen sei, dass der Mitgliedstaat, der diese Ausnahmeregelung in Anspruch habe nehmen wollen, den Gesetzgebungsprozess zum Erlass der fraglichen nationalen Vorschriften noch nicht abgeschlossen habe. Es sei besser gewesen, auf das schließlich gewählte Kriterium zurückzugreifen, als die Richtlinie erst nach Abschluss dieses Prozesses zu erlassen.
Würdigung durch den Gerichtshof
52. Einleitend ist darauf zu verweisen, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 EMRK zu den Grundrechten gehört, die nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden (Urteile Carpenter, Randnr. 41, und Akrich, Randnrn. 58 und 59). Dieses Recht, mit seinen nahen Verwandten zu leben, bringt für die Mitgliedstaaten Verpflichtungen mit sich, bei denen es sich um negative Verpflichtungen handeln kann, wenn einer von ihnen eine Person nicht ausweisen darf, oder um positive, wenn er verpflichtet ist, eine Person in sein Hoheitsgebiet einreisen und sich dort aufhalten zu lassen.
53. So hat der Gerichtshof entschieden, dass, auch wenn die EMRK es nicht als ein Grundrecht eines Ausländers gewährleistet, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten, es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Artikel 8 Absatz 1 dieser Konvention geschützt ist, darstellen kann, wenn einer Person die Einreise in ein Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, oder der Aufenthalt dort verweigert wird (Urteile Carpenter, Randnr. 42, und Akrich, Randnr. 59).
54. Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil Sen/Niederlande vom 21. Dezember 2001, § 31, entschieden hat, kann im Übrigen „Artikel 8 [EMRK] positive Verpflichtungen erzeugen, die untrennbar mit einer tatsächlichen ‚Achtung‘ des Familienlebens verbunden sind. Die auf diese Verpflichtungen anwendbaren Grundsätze sind mit denen vergleichbar, die für die negativen Verpflichtungen gelten. In beiden Fällen ist der angemessene Ausgleich zu berücksichtigen, der zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt herbeizuführen ist, und in beiden Fällen steht dem Staat ein gewisser Ermessensspielraum zu (Urteile Gül[/Schweiz vom 19. Februar 1996, Recueil des arrêts et décisions 1996‑I, S. 174 ], § 38, und Ahmut[/Niederlande vom 28. November 1996, Recueil des arrêts et décisions 1996‑VI, S. 2030], § 63)“.
55. In § 36 des Urteils Sen/Niederlande hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die in seinen Urteilen Gül/Schweiz, § 38, und Ahmut/Niederlande, § 67, aufgestellten Grundsätze wie folgt zusammengefasst:
„a) Der Umfang der Verpflichtung eines Staates, in seinem Hoheitsgebiet Verwandte von Einwanderern aufzunehmen, hängt von der Situation der Betroffenen und vom Allgemeininteresse ab.
b) Nach einem gefestigten Grundsatz des Völkerrechts sind die Staaten vorbehaltlich der sich für sie aus Verträgen ergebenden Verpflichtungen berechtigt, die Einreise von Personen, die nicht ihre Staatsangehörigen sind, in ihr Staatsgebiet zu kontrollieren.
c) Im Bereich Einwanderung ist Artikel 8 nicht dahin auszulegen, dass er für einen Staat die allgemeine Verpflichtung mit sich brächte, die Entscheidung verheirateter Paare für ihren gemeinsamen Wohnort zu respektieren und die Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten.“
56. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausgeführt, dass er bei seiner Analyse das Alter der betreffenden Kinder, ihre Situation in ihrem Herkunftsland und den Grad ihrer Abhängigkeit von Verwandten berücksichtigt (Urteil Sen/Niederlande, § 37; vgl. auch Urteil Rodrigues da Silva/Niederlande vom 31. Januar 2006, § 39).
57. Im Übereinkommen über die Rechte des Kindes wird der Grundsatz der Achtung des Familienlebens ebenfalls anerkannt. Das Übereinkommen gründet auf der in seiner sechsten Begründungserwägung ausgedrückten Erkenntnis, dass das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie aufwachsen soll. Artikel 9 Absatz 1 dieses Übereinkommens sieht vor, dass die Vertragsstaaten sicherstellen, dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, und nach Artikel 10 Absatz 1 folgt aus dieser Verpflichtung, dass von einem Kind oder seinen Eltern zwecks Familienzusammenführung gestellte Anträge auf Einreise in einen Vertragsstaat oder Ausreise aus einem Vertragsstaat von den Vertragsstaaten wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet werden.
58. Auch die Charta erkennt in ihrem Artikel 7 das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens an. Diese Bestimmung ist in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Artikel 24 Absatz 2 der Charta und unter Beachtung des in Artikel 24 Absatz 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass das Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu beiden Eltern unterhält.
59. Diese verschiedenen Texte unterstreichen die Bedeutung des Familienlebens für das Kind und empfehlen den Staaten die Berücksichtigung des Kindeswohls, sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe.
60. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie geht über diese Bestimmungen hinaus und gibt den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da er den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessensspielraum ausüben könnten.
61. Was Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie anbelangt, so bewirkt dieser unter genau definierten Umständen, nämlich dann, wenn ein Kind über 12 Jahre unabhängig vom Rest der Familie ankommt, dass die Mitgliedstaaten ihren Ermessensspielraum zum Teil behalten, indem ihnen zugestanden wird, zu prüfen, ob das Kind ein zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie im geltenden nationalen Recht vorgesehenes Integrationskriterium erfüllt, bevor sie ihm die Einreise und den Aufenthalt gemäß der Richtlinie gestatten.
62. Mit dieser Regelung steht Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht im Gegensatz zum Recht auf Achtung des Familienlebens. Denn den Mitgliedstaaten wird damit im Rahmen einer Richtlinie, die diesen Staaten präzise positive Verpflichtungen auferlegt, ein begrenzter Ermessensspielraum belassen, der nicht anders ist als der, der ihnen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zu diesem Recht zugestanden wird, um in jedem Einzelfall die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.
63. Im Übrigen müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie bei dieser Interessenabwägung dafür Sorge tragen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.
64. Außerdem ist Artikel 17 der Richtlinie zu beachten, der den Mitgliedstaaten aufgibt, in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen der betreffenden Person und die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen. Wie sich aus Randnummer 56 des vorliegenden Urteils ergibt, entsprechen diese Kriterien denjenigen, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für die Überprüfung heranzieht, ob ein Staat, der einen Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt hat, die betroffenen Interessen ordnungsgemäß gegeneinander abgewogen hat.
65. Schließlich handelt es sich auch beim Alter eines Kindes sowie dem Umstand, dass es unabhängig von seiner Familie ankommt, um Faktoren, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte herangezogen werden; dieser berücksichtigt die Bindungen des Kindes zu Mitgliedern seiner Familie in seinem Herkunftsstaat wie auch zum kulturellen und sprachlichen Umfeld dieses Landes (vgl. u. a. Urteile Ahmut/Niederlande, § 69, und Gül/Schweiz, § 42).
66. Was das Integrationskriterium betrifft, so verstößt es als solches nicht gegen das in Artikel 8 EMRK ausgedrückte Recht auf Achtung des Familienlebens. Dieses Recht ist – wie aufgezeigt – nicht so auszulegen, dass ein Mitgliedstaat danach notwendigerweise verpflichtet wäre, die Familienzusammenführung in seinem Hoheitsgebiet zu gestatten, und Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie belässt dem Mitgliedstaat nur seinen Ermessensspielraum, wobei er diesen auf die Prüfung eines von den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Kriteriums beschränkt, die der Mitgliedstaat unter Wahrung insbesondere der in den Artikeln 5 Absatz 5 und 17 der Richtlinie niedergelegten Grundsätze vorzunehmen hat. Jedenfalls kann das Erfordernis der Integration unter mehrere der in Artikel 8 Absatz 2 EMRK genannten rechtmäßigen Ziele fallen.
67. Entgegen dem Vorbringen des Parlaments hat der Gemeinschaftsgesetzgeber das in Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie vorgesehene Integrationskriterium nicht mit dem Ziel der Integration von Minderjährigen verwechselt, das nach Ansicht des Parlaments durch Maßnahmen etwa zur Förderung ihrer Integration nach ihrer Aufnahme erreicht werden könnte. Es handelt sich nämlich um zwei verschiedene Elemente. Wie sich aus der zwölften Begründungserwägung der Richtlinie ergibt, soll mit der Möglichkeit, das Recht auf Familienzusammenführung bei Kindern über 12 Jahre, die ihren Hauptwohnsitz nicht bei dem Zusammenführenden haben, einzuschränken, der Integrationsfähigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren Rechnung getragen und gewährleistet werden, dass sie die erforderliche Allgemeinbildung und die erforderlichen Sprachkenntnisse in der Schule erwerben.
68. Der Gemeinschaftsgesetzgeber war somit der Ansicht, dass das Integrationsziel bei einem Alter von mehr als 12 Jahren nicht mehr so leicht erreicht werden könne, und hat infolgedessen vorgesehen, dass der Mitgliedstaat ein Mindestmaß an Integrationsfähigkeit berücksichtigen kann, wenn er über die Gestattung der Einreise und des Aufenthalts gemäß der Richtlinie entscheidet.
69. Das Integrationskriterium im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie kann demnach bei der Prüfung eines Antrags auf Familienzusammenführung berücksichtigt werden, und der Gemeinschaftsgesetzgeber hat sich nicht widersprochen, indem er es den Mitgliedstaaten unter den besonderen, in dieser Bestimmung vorgesehenen Umständen gestattet hat, einen Antrag anhand dieses Kriteriums im Kontext einer Richtlinie zu prüfen, die, wie sich aus ihrer vierten Begründungserwägung ergibt, zum allgemeinen Ziel hat, die Integration Drittstaatsangehöriger in den Mitgliedstaaten zu erleichtern, indem mit der Familienzusammenführung ein Familienleben ermöglicht wird.
70. Dass der Begriff der Integration nicht definiert wird, kann nicht als eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten gedeutet werden, diesen Begriff in einer Weise zu verwenden, die gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und insbesondere gegen die Grundrechte verstößt. Die Mitgliedstaaten, die von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen wollen, können nämlich keinen unbestimmten Integrationsbegriff heranziehen, sondern müssen das zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie in ihren Rechtsvorschriften vorgesehene Integrationskriterium anwenden, wenn sie die besondere Situation eines Kindes über 12 Jahre prüfen, das unabhängig vom Rest seiner Familie ankommt.
71. Folglich kann Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit ermächtigt, Umsetzungsbestimmungen zu erlassen, die im Widerspruch zum Recht auf Achtung des Familienlebens stehen.
72. Das Parlament hat nicht dargelegt, inwiefern die Stillhalteklausel nach Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie gegen eine höherrangige Rechtsnorm verstoßen soll. Da der Gemeinschaftsgesetzgeber, indem er die Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen ermächtigte, ein Integrationskriterium zu berücksichtigen, nicht in das Recht auf Achtung des Familienlebens eingegriffen hat, stand es ihm frei, diese Ermächtigung zu begrenzen. Es spielt daher keine Rolle, dass die nationalen Rechtsvorschriften zur näheren Bestimmung des heranziehbaren Integrationskriteriums erst zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie und nicht zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens oder ihres Erlasses bestehen mussten.
73. Auch ist nicht ersichtlich, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber dem Wohl der Kinder nicht genügend Aufmerksamkeit entgegengebracht hätte. Denn der Inhalt des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie belegt, dass das Kindeswohl ein entscheidendes Anliegen beim Erlass dieser Bestimmung war, und es ist nicht ersichtlich, dass ihr letzter Unterabsatz dem nicht hinreichend Rechnung trüge oder die Mitgliedstaaten, die sich für die Berücksichtigung eines Integrationskriteriums entscheiden, ermächtigte, dieses Anliegen außer Acht zu lassen. Wie in Randnummer 63 des vorliegenden Urteils dargelegt wurde, gibt Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie den Mitgliedstaaten vielmehr auf, das Wohl minderjähriger Kinder gebührend zu berücksichtigen.
74. In diesem Zusammenhang stellt die Wahl des Alters von 12 Jahren kein Kriterium dar, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde, da dieses Kriterium auf eine Phase im Leben des minderjährigen Kindes abstellt, in der es bereits über einen verhältnismäßig langen Zeitraum ohne seine Familienmitglieder in einem Drittstaat gelebt hat, so dass eine Integration in ein anderes Umfeld zu mehr Schwierigkeiten führen kann.
75. Auch kann es nicht als ungerechtfertigte Diskriminierung gegenüber dem minderjährigen Kind angesehen werden, dass der Ehegatte und das Kind über 12 Jahre nicht in gleicher Weise behandelt werden. Denn eine Heirat hat gerade die Bildung einer dauerhaften Lebensgemeinschaft zwischen den Ehegatten zum Ziel, während ein über 12 Jahre altes Kind nicht unbedingt lange mit seinen Eltern zusammenleben wird. Somit war es gerechtfertigt, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber diese unterschiedlichen Situationen berücksichtigt hat, und er hat sich nicht widersprochen, indem er sie unterschiedlich geregelt hat.
76. Aus alledem folgt, dass Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigt.
Zu Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie
77. Aus Gründen, die denen zu Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie vorgetragenen ähneln, macht das Parlament geltend, dass Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass Anträge auf Familienzusammenführung in Bezug auf minderjährige Kinder gestellt werden müssen, bevor diese das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben, ebenfalls gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens und das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoße. Im Übrigen stehe es den Mitgliedstaaten frei, bis zum Zeitpunkt der Umsetzung der Richtlinie neue restriktive Ausnahmebestimmungen zu erlassen. Schließlich lasse die für die Mitgliedstaaten, die von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machten, geltende Verpflichtung, die von minderjährigen Kindern über 15 Jahre gestellten Anträge auf Einreise und Aufenthalt im Hinblick auf nicht definierte „andere Gründe“ als die Familienzusammenführung zu prüfen, dem Ermessen der nationalen Behörden viel Raum und schaffe damit Rechtsunsicherheit.
78. Wie zu Artikel 4 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Richtlinie führt das Parlament an, dass das Integrationsziel mit weniger radikalen Mitteln als einer objektiv nicht gerechtfertigten und demnach willkürlichen Diskriminierung wegen des Alters verwirklicht werden könne.
79. Der Rat trägt vor, dass Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie Raum für eine Anwendung auf nationaler Ebene gebe, die mit den Grundrechten im Einklang stehe und im Hinblick auf das verfolgte Ziel verhältnismäßig sei. Ziel sei es, einen Anreiz für eingewanderte Familien zu schaffen, ihre minderjährigen Kinder bereits im jüngsten Alter nachkommen zu lassen, um deren Integration zu erleichtern. Es handele sich um ein legitimes Ziel, das Bestandteil der Einwanderungspolitik sei und vom Anwendungsbereich des Artikels 8 Absatz 2 EMRK erfasst werde.
80. Die weite Formel der „anderen Gründe“ sei nicht als Quelle von Rechtsunsicherheit zu beanstanden, da damit eine positive Entscheidung über die meisten Anträge gefördert werden solle.
81. Das Alter von 15 Jahren sei gewählt worden, um den größten Teil der Fälle zu erfassen, zugleich aber noch einen Schulbesuch des Minderjährigen im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen. Es handele sich somit nicht um eine willkürliche Diskriminierung. Der Rat macht geltend, dass eine derartige Wahl in seinen Beurteilungsspielraum als Gesetzgeber falle.
82. Die Kommission ist der Ansicht, dass Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie nicht gegen Artikel 8 EMRK verstoße, da die Rechte, die den Betroffenen aus dieser Konvention erwüchsen, vollständig gewahrt blieben. Die genannte Bestimmung verpflichte nämlich die Mitgliedstaaten, jede andere mögliche rechtliche Grundlage eines Antrags auf Aufnahme des betroffenen Kindes in ihrem Hoheitsgebiet zu prüfen und diese Aufnahme zu gestatten, wenn die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Darunter müsse auch ein Anspruch fallen, der direkt auf Artikel 8 EMRK gestützt werde, so dass eine Einzelfallprüfung der Aufnahmeanträge ermöglicht werde, die von Kindern gestellt würden, die 15 Jahre alt oder älter seien.
83. Die auf 15 Jahre festgelegte Altersgrenze sei nicht unangemessen und erkläre sich durch den Zusammenhang zwischen Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie und der dreijährigen Wartefrist nach ihrem Artikel 8. Es gehe nämlich darum, Aufenthaltstitel nicht an Personen zu vergeben, die zwischenzeitlich volljährig geworden seien.
Würdigung durch den Gerichtshof
84. Im Rahmen der vorliegenden Klage bezieht sich die Kontrolle durch den Gerichtshof auf die Frage, ob die angefochtene Bestimmung als solche die Grundrechte und insbesondere das Recht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls und das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters beachtet. Insbesondere ist zu prüfen, ob Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zur Missachtung dieser grundlegenden Prinzipien ermächtigt, indem er es ihnen in Abweichung von den anderen Bestimmungen des Artikels 4 der Richtlinie gestattet, ein Erfordernis hinsichtlich des Alters des minderjährigen Kindes aufzustellen, dessen Einreise und Aufenthalt im nationalen Hoheitsgebiet im Rahmen einer Familienzusammenführung beantragt werden.
85. Es ist nicht ersichtlich, dass die angefochtene Bestimmung gegen das in Artikel 8 EMRK niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verstößt. Denn Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten die Befugnis ein, die Anwendung der in der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen für die Familienzusammenführung auf Anträge zu beschränken, die gestellt wurden, bevor Kinder das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben. Doch kann diese Bestimmung nicht so ausgelegt werden, als würde sie es den Mitgliedstaaten verbieten, einen Antrag in Bezug auf ein über 15 Jahre altes Kind zu prüfen, oder sie dazu ermächtigen, von der Prüfung abzusehen.
86. Unerheblich ist insoweit, dass der letzte Satz der angefochtenen Bestimmung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten, die die Ausnahmeregelung anwenden, die Einreise und den Aufenthalt von Kindern, für die der Antrag nach Vollendung des fünfzehnten Lebensjahres gestellt wird, „aus anderen Gründen als der Familienzusammenführung“ gestatten. Der Ausdruck „Familienzusammenführung“ ist nämlich im Kontext der Richtlinie so auszulegen, dass damit die Familienzusammenführung in den Fällen gemeint ist, in denen sie von der Richtlinie vorgeschrieben wird. Er lässt sich nicht dahin auslegen, dass es einem Mitgliedstaat, der die Ausnahmeregelung anwendet, danach verboten wäre, die Einreise und den Aufenthalt eines Kindes zu genehmigen, um ihm das Zusammenleben mit seinen Eltern zu ermöglichen.
87. Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie muss im Übrigen im Licht der Grundsätze gelesen werden, die in Artikel 5 Absatz 5 der Richtlinie, der den Mitgliedstaaten die gebührende Berücksichtigung des Kindeswohls vorschreibt, und Artikel 17 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten eine Reihe von Faktoren zu berücksichtigen haben, darunter die familiären Bindungen der betreffenden Person, aufgestellt werden.
88. Folglich bewirkt Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie zwar, dass ein Mitgliedstaat vorsehen kann, dass die von minderjährigen Kindern über 15 Jahre gestellten Anträge nicht den allgemeinen Bedingungen nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie unterliegen, doch bleibt der Mitgliedstaat verpflichtet, den Antrag im Hinblick auf das Kindeswohl und im Bemühen um eine Förderung des Familienlebens zu prüfen.
89. Aus dem in Randnummer 74 dieses Urteils dargelegten Grund ist erst recht nicht ersichtlich, dass die Zugrundelegung des Alters von 15 Jahren ein Kriterium darstellt, mit dem gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstoßen würde. Ebenso ist aus dem in Randnummer 72 dieses Urteils dargelegten Grund nicht ersichtlich, dass die Stillhalteklausel, so wie sie abgefasst ist, gegen irgendeine höherrangige Rechtsnorm verstoßen würde.
90. Aus alledem folgt, dass Artikel 4 Absatz 6 der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens, die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls oder das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters verstößt, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigen würde.
Zu Artikel 8 der Richtlinie
91. Das Parlament betont die erhebliche Beschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung durch die in Artikel 8 der Richtlinie vorgesehenen Zeiträume von zwei und drei Jahren. Dieser Artikel, der für die Anträge keine Einzelfallprüfung vorschreibe, ermächtige die Mitgliedstaaten zur Beibehaltung von Maßnahmen, die im Hinblick auf den erforderlichen Ausgleich zwischen den betroffenen Interessen unverhältnismäßig seien.
92. Das Parlament führt ferner aus, die nach Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie zulässige Ausnahmeregelung berge die Gefahr, dass vergleichbare Fälle unterschiedlich behandelt würden, je nachdem, ob in dem betreffenden Mitgliedstaat Rechtsvorschriften bestünden, die seine Aufnahmefähigkeit berücksichtigten. Schließlich entspreche ein auf die Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats gestütztes Kriterium einer Quotenregelung, die mit den Anforderungen aus Artikel 8 EMRK nicht vereinbar sei. Dazu führt das Parlament aus, dass das von der Republik Österreich angewandte restriktive System jährlicher Quoten vom österreichischen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden sei (Erkenntnis vom 8. Oktober 2003, G 119,120/03‑13).
93. Der Rat betont, dass Artikel 8 der Richtlinie selbst keine Wartefrist vorschreibe und dass eine Wartefrist keiner Ablehnung der Familienzusammenführung gleichkomme. Im Übrigen sei die Wartefrist ein klassisches Element der Einwanderungspolitik, das in den meisten Mitgliedstaaten bestehe, ohne von den zuständigen Gerichten für rechtswidrig befunden worden zu sein. Mit der Wartefrist werde ein legitimes Ziel der Einwanderungspolitik verfolgt, nämlich die wirksame Integration der Familienmitglieder in die aufnehmende Gesellschaft, indem sichergestellt werde, dass es erst dann zur Familienzusammenführung komme, wenn der Zusammenführende im Aufnahmestaat eine solide wirtschaftliche und familiäre Basis gefunden habe, um dort eine Familie ansiedeln zu können.
94. Die in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedliche Behandlung sei nur die Folge des Prozesses der schrittweisen Angleichung der Rechtsvorschriften; entgegen dem Vorbringen des Parlaments würden die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten mit Artikel 8 der Richtlinie angesichts des strikten Charakters der dort enthaltenen Stillhalteklausel erheblich aneinander angeglichen.
95. Die Bezugnahme in Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie auf die Aufnahmefähigkeit eines Mitgliedstaats entspreche keiner Quotenregelung. Dieses Kriterium diene nur dazu, die Mitgliedstaaten auszumachen, die die Wartefrist auf drei Jahre verlängern könnten. Überdies seien die Erwägungen des Parlaments zur Art und Weise der Anwendung dieser Bestimmung in den Mitgliedstaaten spekulativ.
96. Nach Ansicht der Kommission ist die mit Artikel 8 der Richtlinie eingeführte Wartefrist eine verwaltungsverfahrensrechtliche Regelung, die nicht dazu führe, das Recht auf Zusammenführung auszuschließen. Diese Regelung verfolge ein legitimes Ziel auf verhältnismäßige Weise. Die Kommission führt dazu aus, dass die Dauer des Zeitraums, in dem der Zusammenführende im Aufnahmeland gelebt habe, ein wichtiger Faktor sei, der ebenso wie die Aufnahmefähigkeit des Landes in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte bei der Interessenabwägung berücksichtigt werde. Auf jeden Fall müssten die nationalen Rechtsvorschriften, wie es der Verfassungsgerichtshof anerkannt habe, die Möglichkeit zulassen, vor Ablauf der Wartefrist einen direkt auf Artikel 8 EMRK gestützten Antrag auf Zusammenführung zu stellen.
Würdigung durch den Gerichtshof
97. Ebenso wie die anderen im Rahmen der vorliegenden Klage angefochtenen Bestimmungen ermächtigt Artikel 8 der Richtlinie die Mitgliedstaaten, von deren Vorschriften über die Familienzusammenführung abzuweichen. Nach dem ersten Absatz dieses Artikels 8 können die Mitgliedstaaten einen rechtmäßigen Aufenthalt von höchstens zwei Jahren verlangen, bevor der Zusammenführende seine Familie nachholen kann. Nach Absatz 2 dieses Artikels können die Mitgliedstaaten, deren Recht ihre Aufnahmefähigkeit berücksichtigt, eine Wartefrist von höchstens drei Jahren zwischen dem Antrag auf Zusammenführung und der Ausstellung eines Aufenthaltstitels an Familienangehörige vorsehen.
98. Diese Bestimmung führt daher nicht zum Ausschluss jeder Familienzusammenführung, sondern belässt den Mitgliedstaaten einen beschränkten Ermessensspielraum, indem sie es ihnen ermöglicht, sich zu vergewissern, dass die Familienzusammenführung unter guten Voraussetzungen stattfindet, nachdem der Zusammenführende so lange im Aufnahmestaat gelebt hat, dass eine stabile Ansiedlung und ein gewisses Integrationsniveau angenommen werden können. Dass ein Mitgliedstaat diese Faktoren berücksichtigt und dass die Familienzusammenführung um zwei oder gegebenenfalls drei Jahre verzögert werden kann, verstößt daher nicht gegen das insbesondere in Artikel 8 EMRK niedergelegte Recht auf Achtung des Familienlebens in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
99. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass die Dauer des Aufenthalts in dem Mitgliedstaat, wie sich aus Artikel 17 der Richtlinie ergibt, nur einer der Faktoren ist, die der Mitgliedstaat bei der Prüfung eines Antrags zu berücksichtigen hat, und dass eine Wartefrist nicht auferlegt werden kann, ohne dass in spezifischen Fällen alle einschlägigen Faktoren berücksichtigt werden.
100. Ebenso verhält es sich mit dem Kriterium der Aufnahmefähigkeit des Mitgliedstaats, das einer der Faktoren sein kann, die bei der Prüfung eines Antrags berücksichtigt werden, sich aber nicht dahin auslegen lässt, dass damit ein wie auch immer geartetes Quotensystem oder eine ohne Rücksicht auf die besonderen Umstände der spezifischen Fälle vorgeschriebene dreijährige Wartefrist zugelassen würde. Denn die in Artikel 17 der Richtlinie vorgesehene Analyse aller Faktoren lässt es nicht zu, nur auf diesen Faktor abzustellen, und gebietet es, dass eine tatsächliche Prüfung der Aufnahmefähigkeit zum Zeitpunkt des Antrags vorgenommen wird.
101. Bei dieser Analyse müssen die Mitgliedstaaten, wie in Randnummer 63 dieses Urteils ausgeführt, außerdem dafür sorgen, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.
102. Die Koexistenz verschiedener Situationen, je nachdem, ob sich die einzelnen Mitgliedstaaten dafür entscheiden, von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, eine Wartefrist von zwei oder drei Jahren vorzusehen, soweit ihr bei Annahme der Richtlinie geltendes Recht ihre Aufnahmefähigkeit berücksichtigt, ist nur Ausdruck der Schwierigkeit, eine Angleichung der Rechtsvorschriften in einem Bereich vorzunehmen, der bisher in die Zuständigkeit allein der Mitgliedstaaten fiel. Wie das Parlament selbst anerkennt, ist die Richtlinie insgesamt für die harmonisierte Verwirklichung des Rechts auf Familienzusammenführung wichtig. Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber die von den Grundrechten vorgegebenen Grenzen überschritten hätte, indem er es den Mitgliedstaaten, in denen besondere Rechtsvorschriften bestanden oder die solche besonderen Rechtsvorschriften zu erlassen wünschten, erlaubt hat, bestimmte Aspekte des Rechts auf Zusammenführung abzuwandeln.
103. Folglich verstößt Artikel 8 der Richtlinie nicht gegen das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens oder die Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls, und zwar weder als solcher noch insofern, als er die Mitgliedstaaten ausdrücklich oder implizit zu einem derartigen Vorgehen ermächtigt.
104. Letztlich ist festzustellen, dass, soweit die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen Ermessensspielraum belässt, dieser weit genug ist, um ihnen die Anwendung der Vorschriften der Richtlinie in einer mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes im Einklang stehenden Weise zu ermöglichen (in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 1989 in der Rechtssache 5/88, Wachauf, Slg. 1989, 2609, Randnr. 22).
105. Dazu ist darauf zu verweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung auch die Mitgliedstaaten die Erfordernisse des Schutzes der in der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannten allgemeinen Grundsätze, zu denen auch die Grundrechte zählen, bei der Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen zu beachten haben; sie müssen diese Regelungen deshalb, soweit irgend möglich, so anwenden, dass diese Erfordernisse nicht verkannt werden (vgl. Urteile vom 24. März 1994 in der Rechtssache C‑2/92, Bostock, Slg. 1994, I‑955, Randnr. 16, und vom 18. Mai 2000 in der Rechtssache C‑107/97, Rombi und Arkopharma, Slg. 2000, I‑3367, Randnr. 65, in diesem Sinne auch Urteil ERT, Randnr. 43).
106. Die Durchführung der Richtlinie unterliegt der Kontrolle durch die nationalen Gerichte, da nach Artikel 18 der Richtlinie „[d]ie Mitgliedstaaten … dafür [sorgen], dass der Zusammenführende und/oder seine Familienangehörigen im Fall der Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung, der Nichtverlängerung oder des Entzugs des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung Rechtsbehelfe einlegen können“. Wenn diese Gerichte auf Schwierigkeiten hinsichtlich der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie stoßen, so haben sie dem Gerichtshof unter den Voraussetzungen der Artikel 68 EG und 234 EG ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.
107. Was die Mitgliedstaaten betrifft, die durch die entsprechenden Instrumente gebunden sind, ist im Übrigen darauf zu verweisen, dass die Richtlinie in ihrem Artikel 3 Absatz 4 bestimmt, dass sie die günstigeren Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961, der geänderten Europäischen Sozialcharta vom 3. Mai 1987 und des Europäischen Übereinkommens über die Rechtsstellung der Wanderarbeitnehmer vom 24. November 1977 sowie der bilateralen und multilateralen Übereinkünfte zwischen der Gemeinschaft oder zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Drittländern andererseits unberührt lässt.
108. Da die Klage nicht begründet ist, ist nicht zu prüfen, ob sich die angefochtenen Bestimmungen vom Rest der Richtlinie abtrennen lassen.
109. Folglich ist die Klage abzuweisen.
Kosten
110. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da der Rat die Verurteilung des Parlaments beantragt hat und dieses mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 Absatz 1 tragen die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, jeweils ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Das Europäische Parlament trägt die Kosten.
3. Die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften tragen ihre eigenen Kosten.