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Document 62003CC0507

    Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl vom 14. September 2006.
    Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Irland.
    Öffentliche Aufträge - Erteilung eines öffentlichen Auftrags an die irische Post An Post ohne vorherige Bekanntmachung.
    Rechtssache C-507/03.

    Sammlung der Rechtsprechung 2007 I-09777

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:559

    SCHLUSSANTRÄGE DER FRAU GENERALANWALT

    CHristine Stix-Hackl

    vom 14. September 2006(1)

    Rechtssache C-507/03

    Kommission der Europäischen Gemeinschaften

    gegen

    Irland

    „Öffentliche Aufträge – Artikel 43 EG und 49 EG – Richtlinie 92/50/EWG – Nichtprioritäre Dienstleistungen – Vergabe eines Auftrags an die Irische Post (An Post) ohne Bekanntmachung (Ausschreibung) – Transparenz – Gleichheit – Vertragsverletzung“





    I –    Einleitende Bemerkungen

    1.     Dieses Vertragsverletzungsverfahren betrifft wie ein parallel dazu eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren(2) die Frage, welche Vorgaben sich dem Primärrecht im Hinblick auf die Transparenz von Vergabeverfahren entnehmen lassen. Im Besonderen geht es in diesem Verfahren um die Verpflichtungen, die sich aus den Grundfreiheiten und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen für so genannte nichtprioritäre Dienstleistungen ableiten lassen, d. h. für Dienstleistungen, für die die – inzwischen durch das so genannte Legislativpaket ersetzte – Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge(3) (im Folgenden: Richtlinie 92/50) ein Spezialregime, und zwar ein erleichtertes Regime, vorsieht.

    2.     Außerdem geht es um die Auslegung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes in den Rechtssachen Telaustria(4) und Coname(5).

    II – Rechtlicher Rahmen

    3.     Der 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/50 lautet:

    „Die volle Anwendung dieser Richtlinie muss für eine Übergangszeit auf die Vergabe von Aufträgen für solche Dienstleistungen beschränkt werden, bezüglich deren ihre Vorschriften dazu beitragen, das Potenzial für mehr grenzüberschreitende Geschäfte voll auszunutzen. Aufträge für andere Dienstleistungen müssen für eine gewisse Zeit beobachtet werden, bevor die volle Anwendung dieser Richtlinie beschlossen werden kann. Das notwendige Beobachtungsinstrument muss geschaffen werden. Es sollte gleichzeitig auch dazu genutzt werden, den interessierten Kreisen die einschlägigen Informationen zugänglich zu machen.“

    4.     Nach Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/50 sorgen die Auftraggeber dafür, dass keine Diskriminierung von Dienstleistungserbringern stattfindet.

    5.     Die Richtlinie 92/50 normiert in ihrem Abschnitt II eine so genannte „zweistufige Anwendung“. Gemäß Artikel 8 werden Aufträge, deren Gegenstand Dienstleistungen des Anhangs IA sind, nach den Vorschriften der Abschnitte III bis VI vergeben, d. h. nach den Artikeln 11 bis 37. Demgegenüber sind für Aufträge, die so genannte nichtprioritäre Dienstleistungen, d. h. Dienstleistungen des Anhangs IB, zum Gegenstand haben, nach Artikel 9 nur die Vorschriften der Artikel 14 und 16 zu beachten.

    6.     Anhang IB führt eine Reihe von Kategorien von Dienstleistungen auf. Nummer 27 betrifft „Sonstige Dienstleistungen“.

    7.     Artikel 14 enthält Bestimmungen über technische Spezifikationen, die in den allgemeinen Unterlagen oder in den Vertragsunterlagen für jeden einzelnen Auftrag enthalten sind.

    8.     Artikel 16 lautet auszugsweise:

    „(1) Die Auftraggeber, die einen Auftrag vergeben, schicken dem Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften eine Bekanntmachung über die Ergebnisse des Vergabeverfahrens.

    (3) Bei öffentlichen Dienstleistungsaufträgen des Anhangs IB geben die Auftraggeber in ihrer Bekanntmachung an, ob sie mit der Veröffentlichung einverstanden sind.

    (4) Die Kommission legt nach dem in Artikel 40 Absatz 3 vorgesehenen Verfahren die Regeln fest, nach denen auf der Grundlage der in Absatz 3 genannten Bekanntmachungen regelmäßige Berichte zu erstellen und zu veröffentlichen sind.

    …“

    III – Sachverhalt, Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

    9.     Am 4. Dezember 1992 hat der irische Minister für soziale Angelegenheiten ohne vorherige Ausschreibung mit An Post, der irischen Post, einen Vertrag abgeschlossen. Danach können die Begünstigten sozialer Leistungen die ihnen geschuldeten Beträge bei den Postbüros abheben.

    10.   Dieser ursprüngliche Vertrag hatte eine Laufzeit vom 1. Jänner 1992 bis zum 31. Dezember 1996. Im Mai 1997 wurde er bis zum 31. Dezember 1999 verlängert. Die zuständige irische Behörde ließ im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 16. Februar 1999 eine Vorabinformation betreffend die geplante Vergabe veröffentlichen. Dennoch wurde im Mai 1999 beschlossen, den Vertrag bis 31. Dezember 2002 zu verlängern. Diese Entscheidung wurde später suspendiert.

    11.   Aus Anlass einer Beschwerde hat die Kommission im Oktober 1999 einen Schriftwechsel mit den irischen Behörden begonnen.

    12.   Aufgrund des Einschreitens der Kommission hat Irland den Vertrag nicht offiziell verlängert. An Post erbringt hingegen weiterhin die Leistungen, allerdings auf Ad-hoc-Basis, damit die Zahlungen der Sozialleistungen nicht unterbrochen werden.

    13.   Im Rahmen des von der Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 226 EG hat Irland nach Auffassung der Kommission keine Lösung für die aufgeworfenen Probleme vorgeschlagen. Im Lichte der Antworten, die Irland auf das Mahnschreiben vom 26. Juni 2002 und die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 17. Dezember 2002 gegeben hat, erachtet die Kommission das Vorgehen Irlands hinsichtlich eines neuerlichen Vertragsschlusses als Verstoß gegen die Bestimmungen des EG-Vertrags und hat daher Klage beim Gerichtshof erhoben.

    14.   Darin beantragt die Kommission,

    1.         festzustellen, dass Irland gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, indem es An Post ohne vorherige Ausschreibung mit der Erbringung von Dienstleistungen beauftragt hat;

    2.         Irland die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

    15.   Irland beantragt,

    1.         die Klage der Kommission zurückzuweisen;

    2.         der Kommission die Kosten Irlands aufzuerlegen.

    IV – Vorbringen der Parteien und der Streithelfer

    A –    Die Kommission

    16.   Nach Auffassung der Kommission schließe die Tatsache, dass der hier in Rede stehende Vertrag in den Anwendungsbereich der Richtlinie 92/50 falle, nicht die Anwendung der von der Rechtsprechung des Gerichtshofes entwickelten Vorgaben aus, die sich aus den im Vertrag niedergelegten Grundfreiheiten und aus der Anwendung allgemeiner Grundsätze ableiten, die in diesen Grundfreiheiten ihren besonderen Ausdruck fänden.

    17.   Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die allgemeinen Grundsätze einzuhalten, werde in der Richtlinie selbst in Artikel 3 Absatz 2 bestätigt, der eine allgemeine Verpflichtung der Auftraggeber enthalte, jede Diskriminierung zwischen Dienstleistungserbringern zu vermeiden. Diese Verpflichtung treffe die irischen Behörden sowohl in Bezug auf Dienstleistungen nach Anhang IB als auch in Bezug auf Dienstleistungen nach Anhang IA.

    18.   Die Auslegung der Kommission sei die einzige, die mit der „Binnenmarktlogik des Vertrages“ vereinbar sei. Nach der klaren Rechtsprechung des Gerichtshofes erlegten die Bestimmungen des Vertrages über die Niederlassungsfreiheit und über die Dienstleistungsfreiheit den Mitgliedstaaten Verpflichtungen in Bezug auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinien auf. Dies gelte sowohl für Auftragstypen (wie etwa Dienstleistungskonzessionen), die nicht besonders geregelt seien, als auch für Auftragstypen, die zwar geregelt seien, aber deren Wert unterhalb der in den verschiedenen Richtlinien festgesetzten Schwellenwerte liege.

    19.   Daher liefe es der Binnenmarktlogik direkt zuwider, wenn es den Mitgliedstaaten freistünde, Aufträge, deren Wert über den finanziellen Schwellenwerten liege, allein aus dem Grund in keiner Weise auszuschreiben, dass die Dienstleistungen, auf die sie sich bezögen, unter Anhang IB der Richtlinie fielen, obwohl das Gemeinschaftsrecht in solchen Fällen eine angemessene Ausschreibung sogar dann verlange, wenn die Aufträge aufgrund ihrer Struktur oder ihres Wertes nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinien fielen.

    20.   Nationale Maßnahmen seien nur dann an den Bestimmungen einer Richtlinie und nicht auch an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen, insoweit die Richtlinie abschließend harmonisiert.

    21.   Zum Argument, wonach das von ihr verfolgte Ziel nur mittels Gesetzgebung erreichbar sei, bringt die Kommission vor, dass eine Richtlinie dem Primärrecht nicht derogieren könne. Verpflichtungen aus dem Primärrecht überlagerten eben solche nach den Richtlinien. Sekundärrecht habe den Zweck, das Primärrecht zu ergänzen und die Erreichung der dort verankerten Ziele zu erleichtern.

    22.   Schließlich betont die Kommission, dass das Primärrecht weit weniger strikte Vorgaben enthalte als die Richtlinie. Anders als von den Streithelfern verstanden, fordere die Kommission nicht in jedem Fall eine Ausschreibung. Die Kommission verlange von Irland auch nicht, die für prioritäre Dienstleistungen geltenden Regelungen auf nichtprioritäre Dienstleistungen anzuwenden.

    23.   Was den Aspekt der Rechtssicherheit betrifft, erinnert die Kommission daran, dass die Einhaltung der primärrechtlichen Schranken im Vergabewesen keine Besonderheit darstelle.

    B –    Irland

    24.   Irland bestreitet die Richtigkeit des Vorbringens der Kommission. Zum einen vertritt es die Auffassung, dass die von der Kommission zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht einschlägig sei und belegt das mit einer Kommentierung der einzelnen Rechtssachen sowie der dazu jeweils vorgetragenen Argumentation der Kommission. Zum anderen seien die Maßnahmen Irlands angesichts der Anwendbarkeit der Richtlinie 92/50 an dieser und nicht auch an den Grundfreiheiten zu messen.

    25.   Darüber hinaus verstoße das Vorgehen der Kommission gegen die Grundsätze der Transparenz, des Vertrauensschutzes sowie der Rechtssicherheit. Anstatt einen Vorschlag zur entsprechenden Änderung der Richtlinie vorzulegen, wozu sie nach deren Artikel 43 verpflichtet gewesen wäre, verfolge die Kommission „nebulose Konzepte“. Im Übrigen habe es die Kommission unterlassen, eine entsprechende Änderung in ihren Vorschlag aufzunehmen, der 2004 zur Annahme der Richtlinie 2004/18/EG geführt habe.

    26.   Die Kommission wolle den Gerichtshof dazu bringen, als Gesetzgeber an die Stelle des Rates zu treten. Sie ziele darauf ab, Irland Verpflichtungen aufzuerlegen, die die Richtlinie 92/50 ausdrücklich ausschließe. Damit verletzte sie auch das institutionelle Gleichgewicht. Wenn die Kommission die Verpflichtung zur Ausschreibung aus dem Grundsatz der Gleichheit ableite, stelle sich die Frage der Sinnhaftigkeit der Richtlinie.

    C –    Die Streithelfer

    27.   Das Königreich Dänemark, die Republik Finnland, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande sind dem Verfahren als Streithelfer auf Seiten Irlands beigetreten.

    28.   Nach Auffassung der dänischen, finnischen, französischen und niederländischenRegierung finden auf die streitgegenständlichen Dienstleistungen ausschließlich die Artikel 14 und 16 der Richtlinie Anwendung. Andere Vorschriften betreffend Bekanntmachungen gelten daher für nichtprioritäre Dienstleistungen nicht. Auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes lasse sich keine Pflicht ableiten, in allen Fällen auszuschreiben. Desgleichen sei an die Vorgaben des Grundsatzes der Rechtssicherheit zu erinnern, der durch die von der Kommission vertretene weite Auslegung verletzt wäre. In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass die Verletzung von Verfahrensvorschriften für öffentliche Auftraggeber die Verpflichtung zu Schadenersatzzahlungen nach sich ziehen könnte.

    29.   Eine Verpflichtung, ein bestimmtes Vergabeverfahren durchzuführen, lasse sich nach Ansicht der dänischen Regierung weder aus Artikel 3 der Richtlinie noch aus den Artikeln 12 EG, 43 EG und 49 EG ableiten. Nichtprioritäre Dienstleistungen detaillierten Verfahrensvorschriften zu unterwerfen verstieße zudem gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität.

    30.   Nationale Maßnahmen seien nur an Harmonisierungsvorschriften und nicht auch am Primärrecht zu messen. Im Übrigen hätte die Kommission nach ihrer Rechtsansicht folglich die Gültigkeit der Richtlinie in Frage stellen müssen.

    31.   Die Streithelfer weisen zum einen auf die Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der Richtlinie 92/50 hin. Zum anderen erinnern sie – teils unter Hinweis auf die Revisionspflicht nach der Richtlinie 92/50 – daran, dass selbst die Kommission in ihrem Vorschlag für die Änderung der Vergaberichtlinien, die u. a. zum Erlass der Richtlinie 2004/18/EG geführt hat, keine Änderung des Systems, wonach für nichtprioritäre Dienstleistungen weiterhin ein erleichtertes Regime gelte, aufgenommen habe.

    V –    Würdigung

    A –    Der Gegenstand dieses Vertragsverletzungsverfahrens

    32.   Hinsichtlich des Gegenstandes dieses Vertragsverletzungsverfahrens sind zwischen den Parteien mehrere Punkte unstrittig. Das betrifft zum einen den Umstand, dass die verfahrensgegenständliche Beschaffung in Klasse 913 der CPC (Central Product Classification) fällt. Sie gehört zu Kategorie 27 „Sonstige Dienstleistungen“ von Anhang IB der Richtlinie 92/50. Damit ist sie als so genannte nichtprioritäre Dienstleistung zu qualifizieren. Zudem steht fest, dass im Anlassfall der maßgebliche Schwellenwert gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 92/50 überschritten wurde.

    33.   Während also die Frage, ob die verfahrensgegenständliche Beschaffung in den Geltungsbereich der Richtlinie 92/50 fällt und ob sie diesbezüglich einem Spezialregime unterliegt, relativ leicht beantwortet werden kann, ist noch zu klären, welche anderen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zusätzlich als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung heranzuziehen sind. In einer Direktklage wie dem Vertragsverletzungsverfahren bestimmt sich der Prüfungsmaßstab nach dem Begehren des Klägers, hier also der Kommission.

    34.   Wie aus der Klageschrift hervorgeht, begehrt die Kommission die Feststellung eines zweifachen Verstoßes. Erstens rügt sie die Verletzung der Grundfreiheiten, insbesondere der Artikel 43 EG und 49 EG. Zweitens rügt sie die Verletzung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere der Transparenz und der Gleichheit (Nichtdiskriminierung).

    35.   Daneben kam im Verfahren vor dem Gerichtshof auch noch eine weitere Vorschrift zur Sprache, und zwar Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/50. Danach haben die Auftraggeber dafür zu sorgen, dass keine Diskriminierung von Dienstleistungserbringern stattfindet.

    36.   Die Kommission will aus dieser Bestimmung ein Gebot ableiten, das für alle Arten von Dienstleistungen gilt und damit auch für die verfahrensgegenständlichen, d. h. nichtprioritären Dienstleistungen.

    37.   Allerdings hat die Kommission es verabsäumt, die Verletzung von Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/50 in ihren Klageantrag aufzunehmen. Zwar nimmt die Kommission auf diese Richtlinienbestimmung auch in der Klageschrift Bezug(6), doch reicht das nicht hin, denn mit diesem Verweis möchte die Kommission nur belegen, dass selbst die Richtlinie ein Diskriminierungsverbot ausdrücklich normiert. Die Kommission dürfte das als Bestätigung dafür ansehen, dass die Mitgliedstaaten entsprechende allgemeine Rechtsgrundsätze zu beachten haben. Dazu kommt, dass die Kommission auch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme lediglich die Verletzung der Artikel 43 EG und 49 EG gerügt hat.

    38.   Auf den behaupteten Verstoß gegen die allgemeinen Rechtsgrundsätze geht die Kommission hingegen nicht nur im Zuge der rechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes ein, sondern auch in dem Abschnitt der Klageschrift, in der die Kommission abschließend die ihrer Auffassung nach verletzten Vorschriften zusammenfasst (Nummer 56). Das gilt auch für die Rüge eines Verstoßes gegen die Artikel 43 EG und 49 EG.

    39.   Auf die Frage, welche Rechtswirkungen Artikel 3 Absatz 2 der Richtlinie 92/50 hinsichtlich der so genannten nichtprioritären Dienstleistungen entfaltet, ist daher nicht näher einzugehen.

    B –    Ergänzende Ausfüllung der Richtlinien durch Primärrecht?

    40.   Das vorliegende Verfahren betrifft nicht die – zumindest grundsätzlich – geklärte Problematik, dass Primärrecht außerhalb der Vergaberichtlinien anzuwenden ist. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes(7) finden die primärrechtlichen Vorschriften Anwendung, wenn die Vergabe von keiner der Richtlinien erfasst ist. Hier geht es hingegen um die Frage, ob primärrechtliche Vorgaben auch für Sachverhalte gelten, die unter die Richtlinien fallen.

    41.   Auch dieses Rechtsproblem ist aber nicht völlig neu. So sei an die Rechtsprechung des Gerichtshofes erinnert, wonach primärrechtliche Vorgaben, insbesondere die Grundfreiheiten, auch auf solche Beschaffungen Anwendung finden, die von den Vergaberichtlinien erfasst werden.

    42.   So hat der Gerichtshof in einem ebenfalls Irland betreffenden Vertragsverletzungsverfahren entschieden, „dass Irland gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 30 EWG-Vertrag verstoßen hat, indem es zugelassen hat, dass in die Unterlagen der Ausschreibung eines öffentlichen Bauauftrags eine Klausel aufgenommen wurde“(8). Ähnliches hat der Gerichtshof in einem anderen Vertragsverletzungsverfahren entschieden: In der Rechtssache betreffend den Storebælt hat der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Artikel 30, 48 und 59 EWG-Vertrag festgestellt(9).

    43.   Dem ist aus jüngster Zeit ein Urteil in einem Vertragsverletzungsverfahren hinzuzufügen, in dem der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 49 EG festgestellt hat. Dabei ging es wie in der Rechtssache betreffend den Storebælt um den Inhalt von Verdingungsunterlagen, insbesondere um Unterkriterien von Zuschlagskriterien(10).

    44.   Den Grundsatz der ausfüllenden oder ergänzenden Auslegung der Richtlinien durch Primärrecht hat der Gerichtshof allerdings auch in anderen Konstellationen bestätigt.

    45.   Einen wertvollen Hinweis dazu liefert das Urteil in der Rechtssache Hospital Ingenieure. In diesem Verfahren hat der Gerichtshof entschieden, dass „die betreffende Entscheidung, auch wenn die Richtlinie 92/50 außer der Verpflichtung, die Gründe für den Widerruf der Ausschreibung mitzuteilen, keine Bestimmung enthält, die sich speziell auf die materiellen und formellen Voraussetzungen für diese Entscheidung bezieht, den fundamentalen Regeln des Gemeinschaftsrechts unterworfen [bleibt], insbesondere den Grundsätzen des EG-Vertrags im Bereich des Niederlassungsrechts und der Dienstleistungsfreiheit“(11).

    46.   In Randnummer 47 jenes Urteils bleibt der Gerichtshof allgemeiner, indem er formuliert: „Auch wenn die Richtlinie 92/50 nicht speziell die Modalitäten des Widerrufs der Ausschreibung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags regelt, …“

    47.   Den Grundsatz der ergänzenden Heranziehung von Primärrecht hat der Gerichtshof in einer weiteren Entscheidung(12) bestätigt. Dass er dafür die Form eines Beschlusses gewählt hat, zeigt, dass der Gerichtshof zumindest diese Rechtsfrage für geklärt erachtet.

    48.   In ähnlicher Weise hat der Gerichtshof in der Rechtssache Makedoniko Metro entschieden, dass „die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts … unterliegen, selbst wenn die Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens keine speziell anwendbaren Vorschriften enthalten“(13).

    49.   Das im vorliegenden Verfahren angesprochene Urteil in der Rechtssache Unitron(14) betrifft zwar auch die Transparenz, doch ging es in jenem Verfahren um das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und nicht um das Gleichbehandlungsgebot als allgemeinen Rechtsgrundsatz, also den Gleichheitssatz.

    50.   Es lässt sich also festhalten, dass der Grundsatz, wonach Primärrecht auch auf solche Vergaben Anwendung findet, die unter die Vergaberichtlinien fallen, vom Gerichtshof bestätigt worden ist. Zu untersuchen ist aber die Reichweite dieses Grundsatzes. So scheidet nach dem das Verhältnis zwischen Primärrecht und abgeleitetem Recht prägenden Grundsatz die Anwendung von Primärrecht aus, insoweit der Sachverhalt durch Vorschriften des abgeleiteten Rechts abschließend geregelt ist(15). Es bestehen also gemeinschaftsrechtliche Grenzen der ausfüllenden Anwendung von Primärrecht.

    51.   Während auch durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes inzwischen geklärt ist, dass der Inhalt der Zuschlagsfaktoren und die Modalitäten für den Widerruf in den Vergaberichtlinien nicht abschließend geregelt sind, bleibt zu untersuchen, wie die Regelung betreffend die Transparenzpflicht für nichtprioritäre Dienstleistungen zu beurteilen ist.

    C –    Abschließende Regelung der Transparenzpflicht für nichtprioritäre Dienstleistungen in der Richtlinie 92/50?

    52.   Das vorliegende Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass es um die Anwendbarkeit von Primärrecht im Zusammenhang mit einer Vergabe geht, die einem Spezialregime einer Vergaberichtlinie unterliegt.

    53.   Die Kategorie der nichtprioritären Dienstleistungen stellt im Übrigen nicht die einzige Kategorie von Vergaben dar, für die in den Vergaberichtlinien ein Spezialregime festgelegt ist. So sieht die Richtlinie 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (im Folgenden: Baukoordinierungsrichtlinie)(16) für Baukonzessionen ein erleichtertes Regime vor. Ähnlich wie Artikel 9 der Richtlinie 92/50 schreibt Artikel 3 Absatz 1 jener Richtlinie vor, welche Bestimmungen der Richtlinie anzuwenden sind. Im Unterschied zur Regelung der Richtlinie 92/50 betreffend die nichtprioritären Dienstleistungen unterwirft die Richtlinie 93/37 Baukonzessionen jedoch auch der Verpflichtung, eine Bekanntmachung mit bestimmtem Mindestinhalt veröffentlichen zu lassen (Artikel 11 der Richtlinie 93/37).

    54.   Zur Klarstellung sei angemerkt, dass es im vorliegenden Verfahren nicht darum geht, ob die Verpflichtungen, die die Richtlinie 92/50 für prioritäre Dienstleistungen normiert, auch für nichtprioritäre Dienstleistungen gelten, also ob diese Verpflichtungen direkt oder zumindest per analogiam anzuwenden sind.

    55.   Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass es nicht darauf ankommt, ob die ganze Richtlinie als abschließende Harmonisierungsmaßnahme zu qualifizieren ist, sondern ob der maßgebliche Aspekt dergestalt geregelt ist. Für das Gemeinschaftsrecht ist es sogar typisch, dass Richtlinien hinsichtlich bestimmter Sachverhalte eine abschließende Regelung enthalten und hinsichtlich anderer nicht(17). So hat der Gerichtshof zu einer der Vergaberichtlinien entschieden, dass sie kein einheitliches und erschöpfendes Gemeinschaftsrecht schafft und dass die Mitgliedstaaten alle einschlägigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu beachten haben(18).

    56.   Primärrechtliche Vorgaben sind insoweit auf die Vergabe nichtprioritärer Dienstleistungen anwendbar, als diesbezüglich keine abschließende Harmonisierung vorliegt. Dass die Richtlinie 92/50 hinsichtlich nichtprioritärer Dienstleistungen insgesamt keine abschließende Harmonisierung vornimmt, ist hingegen keine Voraussetzung. In diesem Verfahren ist nur zu prüfen, ob die Regelung der Transparenzpflicht in der Richtlinie 92/50 abschließend geregelt ist, wie Irland, Frankreich und die Niederlande meinen. Ist das nicht der Fall, wäre die oben dargestellte Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den Zuschlagskriterien und zum Widerruf übertragbar.

    57.   Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang das Urteil in der Rechtssache Contse zu erwähnen, in dem der Gerichtshof davon ausgegangen ist, dass Grundfreiheiten auf nichtprioritäre Dienstleistungen Anwendung finden. Dass für nichtprioritäre Dienstleistungen aufgrund des Verweises in Artikel 9 der Richtlinie 92/50 nicht einmal die ergänzungsbedürftigen Regelungen der Richtlinie 92/50 betreffend die Zuschlagskriterien gelten, sei hier nur am Rande vermerkt.

    58.   Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch nicht um die Ausgestaltung der Zuschlagskriterien oder um den Widerruf, sondern um einen ganz bestimmten Aspekt der Transparenz, und zwar die ex ante Bekanntmachung eines Auftrags. Ob die Richtlinie 92/50 den hier relevanten Aspekt der Transparenzpflicht abschließend harmonisiert, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmung, dem Zusammenhang, in dem sie steht und den Zielen der Regelung zu berücksichtigen, zu der sie gehört(19).

    59.   Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist für die Auslegung vom 21. Erwägungsgrund und von Artikel 9 der Richtlinie 92/50 auszugehen(20).

    60.   Im 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 92/50 heißt es, dass die volle Anwendung dieser Richtlinie für eine Übergangszeit auf die Vergabe von Aufträgen für solche Dienstleistungen beschränkt werden muss, bezüglich deren ihre Vorschriften dazu beitragen, das Potenzial für mehr grenzüberschreitende Geschäfte voll auszunutzen, während für diese Zeit für andere Dienstleistungsaufträge nur ein Beobachtungsinstrument geschaffen wurde.

    61.   Der Wortlaut der zentralen Vorschrift, nämlich von Artikel 9 der Richtlinie 92/50, macht deutlich, dass nichtprioritäre Dienstleistungen nach ausdrücklich genannten Bestimmungen vergeben werden. Es sind dies die Artikel 14 und 16. Während Artikel 14 „Gemeinsame technische Vorschriften“ festlegt, regelt Artikel 16 bestimmte Aspekte der Transparenz. Hinsichtlich der Transparenz für nichtprioritäre Dienstleistungen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber also nicht auf den gesamten Abschnitt V der Richtlinie, der die Bezeichnung „Gemeinsame Bekanntmachungsvorschriften“ trägt, verwiesen, sondern nur auf einen Teil des Abschnitts.

    62.   Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat sich also bewusst dafür entschieden, hinsichtlich der nichtprioritären Dienstleistungen nur bestimmte Transparenzpflichten festzulegen. So statuiert etwa Artikel 16 Absatz 1 die Verpflichtung, dem Amt für amtliche Veröffentlichungen die Ergebnisse eines Vergabeverfahrens zu schicken.

    63.   Für dieses Vertragsverletzungsverfahren von zentraler Bedeutung ist aber die Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers, nicht auch auf die wichtige Bestimmung von Artikel 11 zu verweisen. Diese Vorschrift normiert u. a. die Voraussetzungen, unter denen ein Auftraggeber ein Verhandlungsverfahren ohne Vergabebekanntmachung wählen darf. Das erlaubt eine so genannte freihändige Vergabe oder Direktvergabe, also eine Vergabe ohne Ausschreibung. Diese Bedingungen wurden also für nichtprioritäre Dienstleistungen nicht übernommen.

    64.   Gemäß Artikel 16 Absatz 2 gelten die Vorschriften der Artikel 17 bis 20 nur für prioritäre Dienstleistungen. Diese Bestimmungen regeln im Wesentlichen die für Bekanntmachungen zu verwendenden Muster und die zu beachtenden Fristen.

    65.   Daher trifft die Auffassung der Kommission zu, dass die Artikel 14 und 16 der Richtlinie gerade nicht den verfahrensgegenständlichen Aspekt regeln. Die Kommission zieht daraus aber den voreiligen Schluss, dass schon damit Primärrecht ins Spiel kommt. Zuerst wäre aber zu prüfen, ob aus dem Umstand, dass nur bestimmte Aspekte ausdrücklich geregelt sind, zu schließen ist, dass keine abschließende Harmonisierung vorliegt.

    66.   Das ist die Vorfrage zu der Frage, ob hinsichtlich der nichtprioritären Dienstleistungen zwar nicht die strengen Vorgaben der Richtlinie 92/50, aber zumindest weniger strenge Vorgaben des Primärrechts einzuhalten sind.

    67.   Diese Vorfrage ist dahin gehend zu beantworten, dass die Richtlinie 92/50 hinsichtlich der Transparenz betreffend die Vergabe nichtprioritärer Dienstleistungen keine abschließende Regelung enthält, sondern ergänzend Primärrecht heranzuziehen ist.

    68.   Die gegenteilige Auffassung würde sonst dazu führen, dass für Vergaben, die völlig außerhalb der Richtlinie 92/50 liegen, z. B. Dienstleistungskonzessionen, strengere Vorgaben, nämlich die der Judikatur Telaustria und Coname, gälten, als für nichtprioritäre Dienstleistungen. Eine alternative Lösung bestünde freilich darin, für Vergaben außerhalb den Standard, d. h. den Grad der Transparenz, abzusenken und für nichtprioritäre Dienstleistungen diesen niedrigeren Standard oder einen dem gegenüber leicht angehobenen Standard anzuwenden.

    D –    Konkreter Inhalt der Vorschrift, deren Verletzung behauptet wird

    69.   Um eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts feststellen zu können, hat der Gerichtshof zunächst den Inhalt der Vorschrift zu ermitteln, deren Verletzung behauptet wird. Ohne Präzisierung des Prüfungsmaßstabes ist eine Beurteilung des Verhaltens des betreffenden Mitgliedstaats nämlich nicht möglich.

    70.   In einer Direktklage wie dem vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren hat der Kläger, hier also die Kommission, näher zu erläutern, worin die Verpflichtung des beklagten Mitgliedstaats bestanden hat.

    71.   Im schriftlichen Verfahren hat sich die Kommission zwar nicht damit begnügt, auf das Bestehen der sich aus den Artikel 43 EG und 49 EG sowie bestimmten Grundsätzen ergebenden Verpflichtungen hinzuweisen, sondern hat zumindest vorgebracht, dass nach der zu diesen primärrechtlichen Vorgaben ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes ein angemessener Grad an Transparenz zu gewährleisten ist. Damit ließ es die Kommission im Wesentlichen aber auch schon bewenden.

    72.   Die Kommission zitiert in diesem Zusammenhang ein Urteil(21) betreffend zwei Vertragsverletzungsverfahren. Hiezu ist zu bemerken, dass es in jenen Verfahren eine klare Verpflichtung gab, nämlich eine nach der Richtlinie 93/37. In dieser war ausdrücklich die Verpflichtung zu einer Vergabebekanntmachung normiert, für die sogar in bestimmten Mustern deren Mindestinhalt vorgeschrieben war.

    73.   Im vorliegenden Verfahren fehlt es gerade an solchen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts. So sieht die hier anwendbare Richtlinie keine vorherige Bekanntmachung vor. Das gilt auch für die zu den Grundfreiheiten und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergangene Rechtsprechung, auf welche im Verfahren oftmals Bezug genommen wurde. Auch der jüngsten grundlegenden Entscheidung des Gerichtshofes zu dem hier einschlägigen Problem, dem Urteil in der Rechtssache Coname, lassen sich nur allgemein gehaltene Grundsätze, jedoch keine konkreten Verpflichtungen entnehmen.

    74.   Wenn das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren die Vereinbarkeit eines nationalen Vergabegesetzes betroffen hätte, könnte man hinsichtlich der Darlegungslast der klagenden Partei eine großzügigere Auffassung vertreten. In diesem Verfahren geht es jedoch um die Ahndung eines konkreten Verhaltens, d. h einer konkreten Beschaffung. Dementsprechend konkret sollten auch die Ausführungen der Kommission sein.

    75.   Das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren betrifft zwar de iure einen Einzelfall, doch hat es ein Rechtsproblem zum Gegenstand, das von genereller praktischer Bedeutung ist. Wie sollten die zahlreichen einzelnen Auftrag- und Konzessionsgeber in den Mitgliedstaaten ihre Vergabepraxis gestalten, wenn der Rechtsrahmen derart unbestimmt ist und nicht einmal die Kommission, die den Mitgliedstaaten im Vertragsverletzungsverfahren – und das gilt bereits für das administrative Vorverfahren – gegenübertritt, konkret ausführen kann oder will, welche Vorgaben im Einzelnen zu beachten sind. Der Umstand, dass bis vor wenigen Wochen mangels Auslegender Mitteilung in der Sache unklar ist, welche Haltung die Kommission genau einnimmt, darf nicht zum Schaden der betroffenen Mitgliedstaaten sein. Gerade dieser Umstand hätte die Kommission dazu veranlassen müssen, konkretere Angaben zum Inhalt der Verpflichtung zu machen, deren Verletzung sie behauptet.

    76.   So gesehen trifft auch in diesem Verfahren auf die Kommission folgende Feststellung von Generalanwalt Jacobs in einem anderen Vergabeverfahren zu: „Sie hat jedoch nicht erläutert, in welcher konkreten Weise diese Anforderungen erfüllt werden könnten.“(22)

    77.   Der Grundsatz, wonach ein angemessener Grad an Transparenz zu beachten ist, bedeutet also als Regel die Veröffentlichung einer (Vergabe)Bekanntmachung (so genannte Ausschreibung). Davon bestehen freilich eine Reihe von Ausnahmen und Rechtfertigungsgründen, auf die ich bereits in den Schlussanträgen in der Rechtssache Coname(23) und in meinen heutigen Schlussanträgen in dem parallel zu diesem Vertragsverletzungsverfahren anhängigen Verfahren in der Rechtssache C-532/03(24) ausführlich eingegangen bin. Im Folgenden ist also zu untersuchen, ob im vorliegenden Verfahren eine dieser Ausnahmen oder Rechtfertigungsgründe greift. Da der Gerichtshof das nicht von Amts wegen prüft, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die im Verfahren vorgebrachten einschlägigen Argumente.

    78.   Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der beklagte Mitgliedstaat nicht das Vorliegen eines im Vertrag ausdrücklich vorgesehenen oder eines von der Rechtsprechung anerkannten Rechtfertigungsgrundes nachweisen konnte. Gleiches gilt hinsichtlich der sinngemäßen Anwendbarkeit einer der in den Richtlinien normierten Ausnahmen(25).

    79.   Denn es ist nicht auszuschließen, dass es auch Fälle gibt, in denen ein Vergabeverfahren ohne vorherige Vergabebekanntmachung, d. h. ohne Ausschreibung, durchgeführt werden darf. Solche Umstände lagen freilich in concreto nicht vor oder sind zumindest nicht nachgewiesen worden.

    80.   Selbst der Umstand, dass der Grad der Transparenz von den konkreten Umständen der Vergabe, wie ihrem Gegenstand und ihrem Wert abhängt, führt im Anlassfall nicht dazu, dass von der Verpflichtung zu irgendeiner Veröffentlichung Abstand genommen werden konnte.

    81.   Des Weiteren ist auf das Vorbringen Irlands einzugehen, wonach das Vorgehen der Kommission gegen die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoße. Diesbezüglich ist auf einen Umstand hinzuweisen, der im Verfahren nicht zur Sprache gekommen ist. So setzte der beklagte Mitgliedstaat die von der Kommission kritisierte Maßnahme bereits im Mai 1999, während das Urteil in der Rechtssache Telaustria, in welchem der primärrechtliche Grundsatz der Transparenz herausgestellt wurde, jedoch erst im 2000 verkündet wurde.

    82.   Diesbezüglich ist allerdings daran zu erinnern, dass Auslegungsurteile, die in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 234 EG ergehen, grundsätzlich rückwirkenden Effekt haben. Davon ist weder im Urteil Telaustria noch im Urteil Coname eine Ausnahme gemacht worden. Im Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 226 EG, wie hier vorliegend, ist eine solche Möglichkeit nicht vorgesehen.

    83.   Rechtsfragen betreffend die Bewertung von Urteilen des Gerichtshofes, mit denen bislang nicht erwartete Verpflichtungen der Mitgliedstaaten festgestellt werden, könnten eventuell in einem zweiten Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 228 EG allerdings nur im Falle der Nichtbefolgung des Urteils im vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren geklärt werden. Das könnte dann als ein Umstand im Rahmen der Bemessung der finanziellen Sanktion Berücksichtigung finden.

    84.   Insgesamt hat die Prüfung des von der Kommission gerügten Vorganges also ergeben, dass keine Umstände vorlagen, die es erlaubt hätten, die streitigen Dienstleistungen durchzuführen, ohne irgendeine Veröffentlichung vorzunehmen.

    VI – Kosten

    85.   Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterlegene Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da Irland mit seinem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission den Antrag gestellt hat, Irland die Kosten der Kommission aufzuerlegen, sind Irland dementsprechend die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

    86.   Dem Verfahren als Streithelfer beigetreten sind das Königreich Dänemark, die Republik Finnland, die Französische Republik und das Königreich der Niederlande. Die Streithelfer tragen gemäß Artikel 69 § 4 Absatz 1 der Verfahrensordnung ihre eigenen Kosten selbst.

    VII – Ergebnis

    87.   Nach all dem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen,

    1.         festzustellen, dass Irland gegen seine Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, indem es An Post ohne vorherige Bekanntmachung mit der Erbringung von Dienstleistungen beauftragt hat, obwohl keine Umstände vorlagen, die es erlaubt hätten, gar keine Veröffentlichung vorzunehmen;

    2.         Irland die Kosten der Kommission aufzuerlegen;

    3.         dem Königreich Dänemark, der Republik Finnland, der Französische Republik und dem Königreich der Niederlande ihre eigenen Kosten aufzuerlegen.


    1 – Originalsprache: Deutsch.


    2 – Meine Schlussanträge ebenso vom heutigen Tag in der Rechtssache C‑532/03 (Kommission/Irland).


    3 – ABl. L 209, S. 1.


    4 – Urteil vom 7. Dezember 2000 in der Rechtssache C‑324/98 (Telaustria und Telefonadress, Slg. 2000, I‑10745).


    5 – Urteil vom 21. Juli 2005 in der Rechtssache C‑231/03 (Coname, Slg. 2005, I‑7287).


    6 – Nr. 43.


    7 – Urteil in der Rechtssache C‑231/03 (zitiert in Fußnote 5), Randnr. 16, und vom 20. Oktober 2005 in der Rechtssache C‑264/03 (Kommission/Frankreich, Slg. 2005, I‑8831, Randnr. 32).


    8 – Urteil vom 22. September 1988 in der Rechtssache 45/87 (Kommission/Irland, Slg. 1988, I‑4929, Randnr. 27).


    9 – Urteil vom 22. Juni 1993 in der Rechtssache C‑243/89 (Kommission/Dänemark, Slg. 1993, I‑3353).


    10 – Urteile vom 27. Oktober 2005 in der Rechtssache C‑158/03 (Kommission/Spanien, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, ABl. C 330, S. 1) und im parallelen Vorabentscheidungsverfahren in der Rechtssache C‑234/03 (Contse, Slg. 2005, I‑9315).


    11 – Urteil vom 18. Juni 2002 in der Rechtssache C‑92/00 (HI, Slg. 2002, I‑5553, Randnr. 42).


    12 – Beschluss vom 16. Oktober 2003 in der Rechtssache C‑244/02 (Kauppatalo Hansel Oy, Slg. 2003, I‑12139, Randnrn. 31 und 33).


    13 – Urteil vom 23. Jänner 2003 in der Rechtssache C‑57/01 (Makedoniko Metro und Michaniki, Slg. 2003, I‑1091, Randnr. 69) mit Hervorhebung von mir.


    14 – Urteil vom 18. November 1999 in der Rechtssache C‑275/98 (Unitron Scandinavia und 3‑S, Slg. 1999, I‑8291, Randnrn. 30 ff.).


    15 – Urteile vom 12. Oktober 1993 in der Rechtssache C‑37/92 (Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I‑4947, Randnr. 9), vom 13. Dezember 2001 in der Rechtssache C‑324/99 (DaimlerChrysler, Slg. 2001, I‑9897, Randnr. 32) und vom 11. Dezember 2003 in der Rechtssache C‑322/01 (Deutscher Apothekerverband, Slg. 2003, I‑14887, Randnr. 64).


    16 – ABl. L 199, S. 54.


    17 – Siehe etwa das Urteil vom 19. März 1998 in der Rechtssache C‑1/96 (Compassion in World Farming, Slg. 1998, I‑1251, Randnrn. 55 f.) und vom 14. Dezember 2004 in der Rechtssache C‑309/02 (Radlberger Getränkegesellschaft und S. Spitz, Slg. 2004, I‑11763, Randnrn. 53 ff.).


    18 – So zur Baukoordinierungsrichtlinie aus 1971: Urteil vom 9. Juli 1987 in den verbundenen Rechtssachen 27/86 bis 29/86 (SA Constructions et entreprises industrielles u. a., Slg. 1987, 3347, Randnr. 15).


    19 – Urteil in der Rechtssache C‑1/96 (zitiert in Fußnote 17), Randnrn. 49 ff., und vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C‑128/94 (Hönig, Slg. 1995, I‑3389, Randnr. 9).


    20 – Urteil vom 14. November 2002 in der Rechtssache C‑411/00 (Swoboda, Slg. 2002, I‑10567, Randnrn. 46 f.).


    21 – Urteil vom 27. Oktober 2005 in den verbundenen Rechtssachen C‑187/04 und C‑188/04 (Kommission/Italien, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, ABl. C 36, S. 11).


    22 – Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 21. April 2005 in der Rechtssache C‑174/03 (Impresa Portuale di Cagliari, Beschluss vom 23. März 2006, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Nr. 77).


    23 – Schlussanträge vom 12. April 2005 in der Rechtssache C‑231/03 (Coname, Urteil zitiert in Fußnote 5), Nrn. 58 ff.


    24 – Nrn. 86 ff.


    25 – Zum Beispiel Artikel 11 Absatz 3 der Richtlinie 92/50 sowie Artikel 31 der Richtlinie 2004/18/EG.

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