Conclusions
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ANTONIO TIZZANO
vom 18. Mai 2004(1)
In der Rechtssache C-200/02
Man Lavette Chen
Kunqian Catherine Zhu
gegen
Secretary of State for the Home Department
(Vorabentscheidungsersuchen der Immigration Appellate Authority Hatton Cross [Vereinigtes Königreich])
„Artikel 18 EG – Richtlinien 73/148/EWG und 90/364/EWG – Minderjähriger Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats – Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat – Recht der Mutter mit der Staatsangehörigkeit eines Drittlandes, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“
I – Einleitung
1.
Die Immigration Appellate Authority (Rechtsbehelfsinstanz in Einwanderungsangelegenheiten) Hatton Cross (Vereinigtes Königreich)
möchte wissen, ob das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat unter den besonderen und außergewöhnlichen Umständen des vorliegenden
Falles verbietet, einem Mädchen im Kleinkindalter, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzt und seit
der Geburt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates gelebt hat, und seiner Mutter, die die Staatsangehörigkeit eines Drittstaates
besitzt, keine ständige Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
II – Einschlägiges Gemeinschaftsrecht
2.
Artikel 17 EG führt bekanntlich eine Unionsbürgerschaft ein, die neben die nationale Staatsbürgerschaft tritt und insbesondere
nach Artikel 18 EG zusätzlich zu den anderen im Vertrag vorgesehenen Rechten und Pflichten das Recht verleiht, „sich im Hoheitsgebiet
der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und
Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.
3.
Unter den auf dem Gebiet der Freizügigkeit und des Aufenthalts einschlägigen sekundären Rechtsvorschriften ist hier in erster
Linie die Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige
der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs
(2)
zu nennen.
4.
Artikel 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„(1)
Die Mitgliedstaaten heben nach Maßgabe dieser Richtlinie die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen auf:
…
- b)
- für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, die sich als Empfänger einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begeben
wollen;
…
- d)
- ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit für Verwandte in aufsteigender und absteigender Linie dieser Staatsangehörigen
und ihrer Ehegatten, denen diese Unterhalt gewähren.“
5.
Nach Artikel 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 entspricht „[f]ür Leistungserbringer und Leistungsempfänger … das Aufenthaltsrecht der
Dauer der Leistung“.
6.
Die Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht
(3)
regelt das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht der Personen, die nicht wirtschaftlich tätig sind. Artikel 1 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten gewähren den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen
des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, sowie deren Familienangehörigen nach der Definition von Absatz 2 unter der Bedingung
das Aufenthaltsrecht, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat
alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen, durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres
Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen.
…
(2) Bei dem Aufenthaltsberechtigten dürfen folgende Personen ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit in einem anderen Mitgliedstaat
Wohnung nehmen:
- a)
- sein Ehegatte sowie die Verwandten in absteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird;
- b)
- seine Verwandten und die Verwandten seines Ehegatten in aufsteigender Linie, denen er Unterhalt gewährt.“
III – Sachverhalt und Verfahren
7.
Die Vorlagefragen stellen sich im Rahmen einer Klage, die Kunqian Catherine Zhu, eine am 16. September 2000 in Belfast (Vereinigtes
Königreich) geborene irische Staatsangehörige (im Folgenden: Catherine), und ihre Mutter, Man Chen, die die chinesische Staatsangehörigkeit
besitzt (im Folgenden: Mutter oder Frau Chen), bei der Immigration Appellate Authority gegen die Weigerung des Secretary of
State for the Home Department (im Folgenden: Secretary of State) erhoben haben, ihnen eine ständige Aufenthaltserlaubnis für
das Vereinigte Königreich zu erteilen.
8.
Frau Chen arbeitet gemeinsam mit ihrem Ehemann, der ebenfalls die chinesische Staatsangehörigkeit besitzt, für eine Gesellschaft,
die ihren Sitz in der Volksrepublik China hat. Es handelt sich um ein Unternehmen von beträchtlicher Größe, das chemische
Stoffe herstellt und in verschiedene Teile der Welt ausführt, insbesondere in das Vereinigte Königreich und andere Mitgliedstaaten
der Europäischen Union.
9.
Herr Chen ist einer der Direktoren dieser Gesellschaft, an der er eine Mehrheitsbeteiligung hält. In seiner Funktion als Direktor
reist er häufig geschäftlich in das Vereinigte Königreich und andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
10.
Vor Catherines Geburt hatte das Ehepaar bereits einen Sohn, Huixiang Zhu, der 1998 in der Volksrepublik China geboren wurde.
Die Eheleute Chen hatten sich für ein zweites Kind entschieden, stießen aber auf Hindernisse aufgrund der Politik der Geburtenbeschränkung,
d. h. der „Ein-Kind-Politik“, mit der die Volksrepublik China die im Inland wohnenden Paare davon abhalten will, ein zweites
Kind zu bekommen.
11.
Im Laufe des Jahres 2000 beschloss Frau Chen, im Ausland zu entbinden, um zu verhindern, dass die bevorstehende Geburt des
zweiten Kindes zu den mit dieser Bevölkerungspolitik verbundenen nachteiligen Folgen führte, und begab sich zu diesem Zweck
in das Vereinigte Königreich.
12.
Catherine kam am 16. September 2000 in Belfast, Nordirland, zur Welt.
13.
Der Geburtsort wurde nicht zufällig gewählt. Bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen erwirbt nämlich jeder, der auf der irischen
Insel – auch außerhalb der politischen Grenzen Irlands (Éire) – geboren wird, die irische Staatsangehörigkeit. Ausweislich
der Akten hatten sich die Eheleute Chen gerade aufgrund dieser Besonderheit des irischen Rechts, auf die sie von eigens zu
Rate gezogenen Anwälten hingewiesen worden waren, dafür entschieden, das Kind in Belfast zur Welt zu bringen. Sie beabsichtigten
nämlich, die Gemeinschaftsangehörigkeit des Kindes zu verwenden, um ihm und der Mutter die Möglichkeit zu sichern, sich im
Vereinigten Königreich niederzulassen.
14.
Die Situation des Kindes erfüllte alle genannten Voraussetzungen des irischen Rechts; Catherine erwarb daher mit der Geburt
die irische Staatsangehörigkeit und mit dieser die Unionsbürgerschaft. Dagegen erwarb sie
nicht die Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs, weil sie insoweit die Erfordernisse nach den einschlägigen Rechtsvorschriften
dieses Staates nicht erfüllte.
15.
Sodann beantragte Frau Chen, nachdem sie mit dem Kind nach Cardiff in Wales übergesiedelt war, bei den britischen Behörden
für sich und die Tochter Catherine eine Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt im Vereinigten Königreich.
16.
Die Anträge wurden mit Entscheidung des Secretary of State vom 15. Juni 2000 abgelehnt. Dagegen erhoben Catherine und die
Mutter Klage bei der Immigration Appellate Authority.
17.
Die Immigration Appellate Authority stellte fest, dass die angefochtene Entscheidung mit dem anwendbaren nationalen Recht
grundsätzlich in Einklang stehe. Aufgrund einer Reihe von Umständen fragte sie sich jedoch, ob diese Entscheidung auch mit
dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei.
18.
Insoweit wies sie im Wesentlichen darauf hin, dass das Kind Catherine als Unionsbürger unmittelbar nach den Vorschriften der
Gemeinschaftsrechtsordnung ein Aufenthaltsrecht haben könnte; die Mutter könnte ihrerseits ein vom Recht ihrer Tochter abgeleitetes
Recht besitzen, da sie die Hauptverantwortliche für deren Personensorge und Erziehung sei.
19.
Was insbesondere das Kind betreffe, so müsse man sich fragen, ob sich das Recht zum Verbleib im Vereinigten Königreich nicht
in erster Linie aus seiner Eigenschaft als Empfänger von Dienstleistungen im Sinne der Richtlinie 73/148 ergebe. Catherine
sei nämlich im Vereinigten Königreich Empfängerin von Dienstleistungen im Bereich der Kinderbetreuung und der medizinischen
Dienstleistungen, die von Privaten entgeltlich erbracht würden.
20.
Außerdem stellten Mutter und Tochter, die stets unter ein und demselben Dach gelebt hätten, eine familiäre Einheit dar, die
aufgrund der von der Mutter zur Verfügung gestellten Mittel wirtschaftlich unabhängig sei. Sie hätten im Vereinigten Königreich
keine öffentlichen Gelder in Anspruch genommen, und bei vernünftiger Betrachtung sei damit auch künftig nicht zu rechnen.
Beide seien krankenversichert. Es sei daher nicht auszuschließen, dass sie ein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 90/364
hätten.
21.
Schließlich sei Catherine nur mit Erlaubnis der Regierung der Volksrepublik China, deren Staatsangehörigkeit sie nicht besitze,
berechtigt, in dieses Land für höchstens 30 Tage pro Aufenthalt einzureisen. Dem Kind oder seiner Mutter das Recht auf Aufenthalt
im Vereinigten Königreich zu versagen, könnte daher einen rechtswidrigen Eingriff in ihr Familienleben darstellen, weil die
Möglichkeit, weiterhin ein gemeinsames Leben zu führen, dadurch sehr stark beeinträchtigt würde.
22.
Aus diesen Gründen hat die Immigration Appellate Authority dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- 1.
- Verleiht Artikel 1 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates oder Artikel 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates unter den Umständen
des vorliegenden Falles
-
- a)
- der Klägerin zu 1, die minderjährig und Unionsbürgerin ist, das Recht, in den Aufnahmemitgliedstaat einzureisen und sich dort
aufzuhalten?
-
- b)
- Wenn dies der Fall ist, verleiht dies dann der Klägerin zu 2, die Staatsangehörige eines Drittstaats und die Mutter und Hauptverantwortliche
für die Personensorge der Klägerin zu 1 ist, das Recht auf gemeinsamen Aufenthalt mit der Klägerin zu 1
-
- i)
- als Familienangehörige, der Unterhalt gewährt wird, oder
-
- ii)
- weil sie mit der Klägerin zu 1 in ihrem Herkunftsland zusammenlebte, oder
-
- iii)
- aus einem anderen besonderen Grund?
- 2.
- Wenn die Klägerin zu 1 für die Zwecke der Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte nach der Richtlinie 73/148/EWG des Rates
oder Artikel 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates keine „Staatsangehörige eines Mitgliedstaats“ ist, was sind dann die Kriterien,
nach denen zu entscheiden ist, ob ein Kind, das Unionsbürger ist, für die Zwecke der Ausübung gemeinschaftlicher Rechte Staatsangehöriger
eines Mitgliedstaats ist?
- 3.
- Stellt es unter den Umständen des vorliegenden Falles eine Dienstleistung im Sinne der Richtlinie 73/148/EWG des Rates dar,
dass die Klägerin zu 1 Kinderbetreuung erhält?
- 4.
- Ist es unter den Umständen des vorliegenden Falles der Klägerin zu 1 verwehrt, sich nach Artikel 1 der Richtlinie 90/364/EWG
des Rates im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten, weil ihre Existenzmittel ausschließlich von dem einem Drittstaat angehörenden
Elternteil herrühren, der sie begleitet?
- 5.
- Gibt unter den besonderen Umständen dieses Falles Artikel 18 Absatz 1 EG der Klägerin zu 1 das Recht, in den Aufnahmemitgliedstaat
einzureisen und sich dort aufzuhalten, auch wenn sie im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach einer anderen Bestimmung
des EU-Rechts hat?
- 6.
- Wenn dies bejaht wird, hat dann die Klägerin zu 2 das Recht, sich für diese Zeit
(4)
mit der Klägerin zu 1 im Aufnahmemitgliedstaat aufzuhalten?
- 7.
- Wie wirkt sich in diesem Zusammenhang der von den Klägerinnen geltend gemachte Grundsatz, dass das Gemeinschaftsrecht die
Menschenrechte achtet, aus, insbesondere soweit sich die Klägerinnen auf Artikel 8 EMRK, wonach jeder Anspruch auf Achtung
seines Privat- und Familienlebens und seiner Wohnung hat, in Verbindung mit Artikel 14 EMRK stützen, wenn die Klägerin zu
1 nicht mit der Klägerin zu 2, ihrem Vater und ihrem Bruder in China leben kann?
23.
Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, Irland, das Vereinigte Königreich und die Kommission
Erklärungen eingereicht.
IV – Würdigung
A –
Vorbemerkung
24.
Wie ich bereits angedeutet habe und wie die Sachverhaltsdarstellung bestätigt, haben wir es mit einem ganz außergewöhnlichen
Fall mit so singulären Merkmalen zu tun, dass die Erörterung zwischen den Verfahrensbeteiligten in gewisser Weise davon geprägt
ist. Die Verfahrensbeteiligten schienen nämlich manchmal eher darauf bedacht zu sein, ebenso besondere Lösungen zu finden,
als zu prüfen, ob nicht auch die sehr exzentrischen Aspekte des Falles von den gewöhnlichen Vorschriften und Grundsätzen der
Rechtsordnung erfasst sein könnten, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofes ausgestaltet sind. Wie wir im Folgenden
sehen werden, ist aber gerade dies der Weg, der meiner Meinung nach zu beschreiten ist, um zu einer Antwort auf die Fragen
zu gelangen, die sich aufgrund der Geschehnisse um das Kind Catherine stellen.
25.
Zu diesem Zweck sind zunächst die verschiedenen Fragen des vorlegenden Gerichts zusammenzufassen, damit die dem Gerichtshof
vorgelegten wesentlichen Fragen deutlicher hervortreten und ordnungsgemäß behandelt werden können. Dies lässt sich meines
Erachtens dadurch bewerkstelligen, dass aus den Fragen zwei Fragenkomplexe herausgeschält werden, die wie folgt dargestellt
werden können:
a)
Ist das Kind Catherine als Dienstleistungsempfängerin im Sinne der Richtlinie 73/148 oder als nicht erwerbstätige, aber über
ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt verfügende und krankenversicherte Gemeinschaftsangehörige im Sinne der Richtlinie
90/364 oder schließlich unmittelbar aus Artikel 18 EG berechtigt, sich dauerhaft im Vereinigten Königreich aufzuhalten?
b)
Hat die Mutter als „Familienangehörige, der [das Kind Catherine] Unterhalt gewährt“, im Sinne dieser Richtlinien oder als
Hauptverantwortliche für die Erziehung und Personensorge von Catherine oder aber in Anbetracht des in Artikel 8 EMRK verankerten
Rechts auf Achtung des Familienlebens ein Aufenthaltsrecht?
26.
Ich werde daher im Folgenden die Fragen des vorlegenden Gerichts nach diesem Ansatz prüfen, wobei ich, soweit sich dies als
erforderlich oder zweckmäßig erweist, jeweils die Argumente berücksichtigen werde, die von den Beteiligten, die im Verfahren
Erklärungen eingereicht haben, geltend gemacht worden sind.
B –
Zur internen Natur der Streitigkeit
27.
Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, habe ich mich mit einer von der Regierung des Vereinigten Königreichs erhobenen Unzulässigkeitseinrede
zu befassen.
28.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat vorab geltend gemacht, dass der Gerichtshof nicht für die Entscheidung über
die Fragen des vorlegenden Gerichts zuständig sei, weil die Streitigkeit eine rein inlandsbezogene Situation betreffe. Das
einzige Element mit Auslandsbezug, d. h. die Staatsangehörigkeit des Kindes, sei das künstlich geschaffene Ergebnis eines
Manövers der Eheleute Chen, das sich als Rechtsmissbrauch darstelle.
29.
Den letztgenannten Gesichtspunkt lasse ich zunächst beiseite, da ich der Meinung bin, dass seine Analyse klarer wird, wenn
die Vorlagefragen in der Sache geprüft sind (siehe unten, Nrn. 108 ff.).
30.
Mit der Einrede der rein internen Natur des Sachverhalts macht die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, dass die
Klägerinnen die ihnen durch den Vertrag gewährte Freizügigkeit nie ausgeübt hätten, weil sie das Vereinigte Königreich nie
verlassen hätten, um sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Es gebe daher keinen ausreichenden Auslandsbezug für
eine Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf die fraglichen Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
31.
Meiner Meinung nach kann dieser Einwand aber nicht durchgreifen.
32.
Nach ständiger Gemeinschaftsrechtsprechung ist der Besitz der Staatsangehörigkeit eines anderen als desjenigen Mitgliedstaats,
in dem eine Person wohnt, ein ausreichendes Kriterium für die Anwendung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts, auch wenn
derjenige, der sich auf diese Vorschriften beruft, nie die Grenzen des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, überschritten hat
(5)
.
33.
Insbesondere hat der Gerichtshof kürzlich im Urteil Garcia Avello zunächst darauf hingewiesen, dass „[d]ie in Artikel 17 EG
vorgesehene Unionsbürgerschaft … nicht [bezweckt], den sachlichen Anwendungsbereich des Vertrages auf interne Sachverhalte
auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufweisen“
(6)
, und sodann klargestellt, dass „[e]in solcher Bezug zum Gemeinschaftsrecht … aber bei Personen[besteht], die … Angehörige
eines Mitgliedstaats sind und sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten“
(7)
, und zwar unabhängig davon, ob sie die im Vertrag vorgesehene Freizügigkeit ausgeübt haben oder, wie in diesem Fall, von
Geburt an im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gelebt haben.
34.
Die irische Staatsangehörigkeit von Catherine reicht daher aus, um auszuschließen, dass der Rechtsstreit, den sie zusammen
mit der Mutter gegen den Secretary of State führt, ein rein interner Streit ist, der nur die Rechtsordnung des Vereinigten
Königreichs betrifft.
35.
Zu einem anderen Ergebnis könnte man nur gelangen, wenn man davon ausginge, dass Catherine die irische Staatsangehörigkeit
nicht tatsächlich besitzt oder dass jedenfalls diese Staatsangehörigkeit der Regierung des Vereinigten Königreichs nicht entgegengehalten werden kann.
36.
Ich muss jedoch feststellen, dass in keiner Phase des Verfahrens, weder vor dem vorlegenden Gericht noch vor dem Gerichtshof,
jemals in Zweifel gezogen worden ist, dass Catherine tatsächlich die irische Staatsangehörigkeit besitzt, wie im Übrigen die
Regierung des Vereinigten Königreichs auch nicht die Rechtmäßigkeit der Verleihung dieser Staatsangehörigkeit durch den irischen
Staat aus völker- oder gemeinschaftsrechtlicher Sicht bestritten hat.
37.
Daher braucht zu der Frage, ob es eine allgemeine Völkerrechtsnorm gibt, wonach kein Staat zur Anerkennung der dem Einzelnen
von einem anderen Staat verliehenen Staatsangehörigkeit verpflichtet wäre, wenn zwischen dem Einzelnen und dem nationalen
Staat keine wirkliche und tatsächliche Verbindung besteht, nicht Stellung genommen zu werden
(8)
.
38.
Was die Gemeinschaftsrechtsordnung angeht, so beschränke ich mich auf den Hinweis, dass der Gerichtshof in den Urteilen Micheletti
(9)
und Kaur
(10)
ausgeführt hat, dass „[d]ie Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit … nach
dem internationalen Recht der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten [unterliegt]“
(11)
und es daher „nicht Sache der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats [ist], die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit
eines anderen Mitgliedstaats dadurch zu beschränken, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit
im Hinblick auf die Ausübung der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt wird“
(12)
.
39.
Meiner Meinung nach kann daher die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der bei der Immigration Authority anhängige Rechtsstreit
mit Rücksicht auf die irische Staatsangehörigkeit des Kindes Catherine grundsätzlich in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags
fällt und dass die von der Regierung des Vereinigten Königreichs erhobene Unzulässigkeitseinrede daher zurückzuweisen ist.
C –
Zum Aufenthaltsrecht des Kindes Catherine
40.
Bei der nun folgenden materiellen Prüfung der oben (Nr. 25 Buchstabe a) genannten Fragen muss man sich vor allem fragen, welche
Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte einem Kind wie Catherine, das die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union
besitzt und seit der Geburt in einem anderen Mitgliedstaat gelebt hat, in der Gemeinschaftsrechtsordnung zustehen.
–
Zur Frage, ob ein Minderjähriger Inhaber der Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte sein kann
41.
Die irische Regierung wendet insoweit offenbar grundsätzlich ein, dass sich Catherine nicht auf die im Vertrag vorgesehenen
Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte berufen könne.
42.
Wenn ich die Argumentation der Regierung richtig verstanden habe, soll Catherine aufgrund ihres Alters nicht imstande sein,
das Recht, einen Wohnort zu wählen und sich dort niederzulassen, eigenständig auszuüben
(13)
. Daher könne sie nicht Adressatin der den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats durch die Richtlinie 90/364 zuerkannten
Rechte sein
(14)
.
43.
Diese Argumentation kann nicht geteilt werden. Meines Erachtens liegt ihr eine Verwechslung der Fähigkeit einer Person, Träger
von Rechten und Pflichten zu sein (Rechtsfähigkeit)
(15)
, mit ihrer Fähigkeit zugrunde, Handlungen vorzunehmen, die Rechtswirkungen entfalten (Handlungsfähigkeit)
(16)
.
44.
Dass der Minderjährige ein Recht nicht eigenständig ausüben kann, bedeutet nämlich nicht, dass er nicht die Fähigkeit besitzt,
Adressat der Rechtsnorm zu sein, auf der dieses Recht beruht.
45.
Die Argumentation muss vielmehr umgekehrt lauten. Da nach einem den Rechtsordnungen (nicht nur) der Mitgliedstaaten gemeinsamen
allgemeinen Grundsatz die Rechtsfähigkeit mit der Geburt erworben wird, ist auch der Minderjährige ein Rechtssubjekt und als
solches daher Träger der von der Rechtsordnung verliehenen Rechte.
46.
Dass der Minderjährige nicht imstande ist, die Rechte eigenständig auszuüben, beeinträchtigt nicht seine Eigenschaft als Träger
dieser Rechte. Vielmehr können, gerade weil er diese Eigenschaft hat, andere – von der Rechtsordnung bestimmte – Rechtssubjekte
(Eltern, Vormünder usw.) seine Rechte geltend machen, und zwar nicht, weil sie die Träger dieser Rechte wären, sondern weil
sie im Namen und für Rechnung des Minderjährigen, des einzigen und wahren Trägers dieser Rechte, handeln.
47.
Jedenfalls kann sich die von der irischen Regierung vertretene Auffassung im vorliegenden Fall nicht nur auf keine Vorschrift
stützen, sondern sie lässt sich auch nicht mit dem Wesen der in Rede stehenden Rechte und Freiheiten rechtfertigen. Sie erscheint
nämlich unvereinbar mit den Zielen, die mit den einschlägigen Vorschriften des Vertrages, d. h. den Artikeln 49 ff. EG in
Bezug auf den freien Dienstleistungsverkehr und Artikel 18 EG in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Unionsbürger, verfolgt
werden.
48.
Was die Artikel 49 ff. EG angeht, so besteht eines der Ziele der mit ihnen eingeführten Freiheit bekanntlich gerade darin,
die Freizügigkeit derjenigen Personen zu erleichtern, die sich an einen anderen Ort begeben müssen, um Dienstleistungen zu
erhalten
(17)
.
49.
Es ist darauf hinzuweisen, dass ein Minderjähriger auch im Kleinkindalter sehr wohl Empfänger zahlreicher Dienstleistungen
sein kann, und zwar auch von Dienstleistungen von wesentlicher Bedeutung (z. B. ärztliche Behandlungen).
50.
Daher ist der Minderjährige als Dienstleistungsempfänger Träger der Rechte, die ihm durch die Artikel 49 ff. EG verliehen
werden.
51.
Was sodann die Vorschriften über das Aufenthaltsrecht betrifft, so weise ich darauf hin, dass Artikel 18 EG, wie er durch
Artikel 1 der Richtlinie 90/364 ergänzt wird,
jedem Gemeinschaftsangehörigen – der bestimmte Bedingungen erfüllt – das Recht garantieren soll, sich in einem beliebigen Mitgliedstaat niederzulassen,
und zwar auch dann, wenn er dort keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben will oder kann.
52.
Auch unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen (Nrn. 43 ff.) gibt es somit keinen Grund, dem Minderjährigen ein
Recht abzusprechen, das allgemein allen Gemeinschaftsangehörigen durch eine grundlegende Vorschrift des Gemeinschaftsrechts,
und das ist eben Artikel 18 EG, verliehen wird. Sind die in der Richtlinie aufgestellten Bedingungen erfüllt, so kann also
auch der Minderjährige das Recht geltend machen, sich als nicht wirtschaftlich tätige Person in einem anderen als dem Mitgliedstaat,
dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, frei aufzuhalten.
53.
Dies wird übrigens in der Rechtsprechung des Gerichtshofes eindeutig bestätigt, in der kein Zweifel daran geäußert wird, dass
auch Minderjährige Träger von Aufenthaltsrechten sein können. In der Rechtssache Echternach und Moritz
(18)
z. B. hat der Gerichtshof ausdrücklich ausgeführt, dass sich ein minderjähriges Kind eines Arbeitnehmers, der das Aufnahmeland
inzwischen verlassen hat, „weiterhin … auf die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts berufen [kann]“, die es ihm erlauben,
in diesem Land zu bleiben, um sein bereits aufgenommenes Studium zu beenden
(19)
.
54.
Dieses Ergebnis kann auch nicht je nach dem Alter des Minderjährigen unterschiedlich sein, weil sich grundsätzlich die Lage
nicht ändert.
55.
Ich schließe daraus, dass auch ein Minderjähriger im Kleinkindalter wie das Kind Catherine Träger der Freizügigkeits- und
Aufenthaltsrechte innerhalb der Gemeinschaft sein kann.
–
Zur Frage, ob im konkreten Fall ein Aufenthaltsrecht des Kindes Catherine besteht
56.
Nach der allgemeinen Betrachtung geht es nun um die Feststellung, ob Catherine im vorliegenden Fall i) als Dienstleistungsempfängerin
im Sinne der Richtlinie 73/148 oder ii) auf der Grundlage von Artikel 18 EG und der Richtlinie 90/364 ein Aufenthaltsrecht
geltend machen kann.
57.
i) Ich beginne mit der Feststellung, dass sich das Recht Catherines, sich im Vereinigten Königreich dauerhaft aufzuhalten,
nicht auf ihre Eigenschaft als Empfängerin von Dienstleistungen im Bereich der Kinderbetreuung und medizinischer Dienstleistungen
(siehe oben, Nr. 19) stützen kann.
58.
Bezüglich der erstgenannten Dienstleistungen ergibt sich nämlich – abgesehen von dem Problem der Bestimmung ihres Empfängers,
der in Wirklichkeit die Mutter sein dürfte – aus den Akten, dass sie nicht vorübergehend, sondern ständig und fortdauernd
erbracht werden.
59.
Wie aber die Kommission zutreffend ausgeführt hat, ist in der Gemeinschaftsrechtsprechung seit langem geklärt, dass die Dienstleistungsfreiheit
nicht in Bezug auf „eine auf Dauer oder jedenfalls ohne absehbare zeitliche Beschränkung ausgeübte Tätigkeit“
(20)
geltend gemacht werden kann, weil in diesem Fall die Vertragsbestimmungen über die Niederlassung relevant wären. Dies gilt
in erster Linie für den Dienstleistenden, aber offenkundig erst recht für den Dienstleistungsempfänger, der sich auf diese
Freiheit nur berufen kann, soweit er nicht beabsichtigt, sich im Aufnahmeland endgültig niederzulassen
(21)
.
60.
Ein beständiges Aufenthaltsrecht Catherines kann sich aber auch nicht auf etwaige medizinische Dienstleistungen stützen. Diese
werden nämlich naturgemäß für eine begrenzte Dauer erbracht. Das Kind Catherine kann daher zwar tatsächlich Empfängerin solcher
Dienstleistungen sein (was sich aus den Akten übrigens nicht eindeutig ergibt), doch kann sie nach der ausdrücklichen Bestimmung
des Artikels 4 Absatz 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie 73/148 das Recht, im Vereinigten Königreich zu bleiben, nur für die Zeiträume
beanspruchen, die für diese Heilbehandlungen erforderlich sind.
61.
Sie könnte somit ein
vorübergehendes Aufenthaltsrecht nach Maßgabe „
der Dauer der Leistung“ geltend machen, aber nach dieser Richtlinie keine ständige Aufenthaltserlaubnis erhalten.
62.
ii) Zu beurteilen bleibt sodann, ob Catherine ein Recht auf Aufenthalt im Vereinigten Königreich nach Artikel 18 EG und der
Richtlinie 90/364 geltend machen kann.
63.
Artikel 18 EG, ich erinnere daran, verleiht jedem Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich
der im Vertrag und in den Vorschriften des sekundären Rechts vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und
aufzuhalten.
64.
Für den vorliegenden Fall ergeben sich diese Beschränkungen und Bedingungen aus der Richtlinie 90/364.
65.
Insbesondere gewährt Artikel 1 „den Angehörigen der Mitgliedstaaten, denen das Aufenthaltsrecht nicht aufgrund anderer Bestimmungen
des Gemeinschaftsrechts zuerkannt ist, … das Aufenthaltsrecht“ unter der „Bedingung, dass sie für sich und ihre Familienangehörigen
über eine Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, sowie über ausreichende Existenzmittel verfügen,
durch die sichergestellt ist, dass sie während ihres Aufenthalts nicht die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch
nehmen müssen“.
66.
Wie sich aus dem Beschluss des vorlegenden Gerichts ergibt, ist das Kind Catherine angemessen krankenversichert und verfügt
außerdem über ihre Familienangehörigen über so ausreichende Existenzmittel, dass nicht die Gefahr besteht, „während ihres
Aufenthalts … die Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen [zu] müssen“.
67.
Demnach könnte man beide Erfordernisse der Richtlinie für erfüllt halten.
68.
Dies ist jedoch nicht die Auffassung der am Verfahren beteiligten Regierungen, die meinen, dass die kleine Catherine nicht
wirtschaftlich unabhängig sei, weil die finanziellen Mittel, über die sie verfüge, in Wirklichkeit durch die Mutter garantiert
würden.
69.
Das mit der Richtlinie 90/364 eingeführte Aufenthaltsrecht sei im Wesentlichen auf diejenigen beschränkt, die
selbst Bezieher – „
in [their] own right“, wie die irische Regierung vorträgt – von Einkünften oder Einnahmen seien, die die Verfügbarkeit ausreichender Existenzmittel
garantierten.
70.
Ich muss jedoch feststellen, dass, wie die Kommission zu Recht ausführt, eine solche Beschränkung des Aufenthaltsrechts im
Wortlaut der Richtlinie keine Bestätigung findet, die nämlich nur verlangt, dass die Personen, die dieses Recht geltend machen,
„über ausreichende Existenzmittel
verfügen“
(22)
.
71.
Meiner Meinung nach wäre eine solche Beschränkung auch nicht mit den Zielen der Richtlinie vereinbar.
72.
Diese Richtlinie wurde bekanntlich erlassen, um die Tragweite des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts auszudehnen und auf
alle Gemeinschaftsangehörige zu erstrecken, wobei die genannten Grenzen verhindern sollen, dass „die öffentlichen Finanzen
des Aufnahmemitgliedstaats … über Gebühr belaste[t] [werden]“ (vgl. vierte Begründungserwägung).
73.
Mit der Einfügung von Artikel 8a EG-Vertrag (jetzt Artikel 18 EG) durch den Vertrag von Maastricht wurden die Freizügigkeit
und die Aufenthaltsfreiheit dann zum Grundrecht der Gemeinschaftsangehörigen erklärt, wenn auch vorbehaltlich der (u. a.)
in der Richtlinie 90/364 vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.
74.
In diesem neuen Kontext wird die Richtlinie folglich zu einem Rechtsakt, der die Ausübung eines Grundrechts
beschränkt. Die darin aufgestellten Bedingungen sind daher wie alle Ausnahmen und Beschränkungen der im Vertrag verankerten Freiheiten
eng auszulegen. Es ist daher ausgeschlossen, dem Wortlaut der Richtlinie so weit Gewalt anzutun, dass darin eine nicht ausdrücklich
vorgesehene Bedingung, wie sie von den am Verfahren beteiligten Regierungen befürwortet wird, eingefügt werden kann.
75.
Dies ist aber noch nicht alles. Wie der Gerichtshof im Urteil Baumbast und R ausgeführt hat, kann „die Wahrnehmung des Aufenthaltsrechts
der Unionsbürger von der Wahrung der berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten abhängig gemacht werden“
(23)
; „[a]llerdings sind diese Beschränkungen und Bedingungen unter Einhaltung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grenzen
und im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
anzuwenden. Das bedeutet, dass unter diesem Gesichtspunkt erlassene nationale Maßnahmen zur Erreichung des angestrebten Zwecks
geeignet und erforderlich sein müssen.“
(24)
76.
Mir scheint, dass eine Auslegung der Richtlinie in der vom Vereinigten Königreich und von Irland vorgeschlagenen Weise zu
einer für die Verfolgung der Ziele der Richtlinie
nicht erforderlichen Behinderung führen würde.
77.
Was nämlich gesichert werden muss, ist, dass die Unionsbürger, die die Freizügigkeit wahrnehmen, die Finanzen des Aufnahmestaats
nicht belasten. Dafür ist folglich zwar erforderlich, dass sie über ausreichende finanzielle Mittel „verfügen“, nicht aber
die zusätzliche – übrigens schwer zu konkretisierende – Bedingung, dass diese Mittel unmittelbar ihnen gehören.
78.
Ich bin daher der Auffassung, dass der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht antworten sollte, dass eine minderjährige Gemeinschaftsangehörige
im Kleinkindalter, für die eine Krankenversicherung zur Abdeckung aller Risiken im Aufnahmemitgliedstaat besteht und die zwar
nicht unmittelbar Empfängerin von Einkünften oder Einnahmen ist, jedoch durch die Eltern über ausreichende Existenzmittel
verfügt, durch die ausgeschlossen ist, dass sie die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten kann, die Bedingungen des
Artikels 1 der Richtlinie 90/364 erfüllt und damit das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet eines anderen als des Mitgliedstaats,
dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, auf unbestimmte Zeit aufzuhalten.
D –
Zum Aufenthaltsrecht der Mutter
79.
Damit komme ich nun zu der Frage in Bezug auf das Aufenthaltsrecht der Mutter von Catherine.
80.
Ich halte es zunächst für selbstverständlich, dass sich Frau Chen als Staatsangehörige eines Drittlandes nicht auf das Aufenthaltsrecht
berufen kann, das in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Richtlinie 73/148 (siehe oben, Nr. 4) und Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie
90/364 (siehe oben, Nr. 6) den
Gemeinschaftsangehörigen verliehen wird.
–
Zur Frage, ob ein Recht als Familienangehöriger, „dem Unterhalt gewährt wird“, besteht
81.
Sodann ist ebenfalls auszuschließen, dass Frau Chen das Aufenthaltsrecht geltend machen kann, das in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe
d der Richtlinie 73/148 und Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe b der Richtlinie 90/364 zugunsten der Verwandten eines aufenthaltsberechtigten
Gemeinschaftsangehörigen in aufsteigender Linie, „denen er Unterhalt gewährt“, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit
vorgesehen ist.
82.
Die Gemeinschaftsrechtsprechung hat nämlich klargestellt, dass ein Familienangehöriger, „dem Unterhalt gewährt wird“, derjenige
ist, der
zur Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse abhängig ist von der Unterstützung, die ihm ein anderer Familienangehöriger leistet
(25)
.
83.
Dies ist vorliegend offenkundig nicht der Fall, da Frau Chen wirtschaftlich unabhängig ist und im Gegenteil gerade sie es
ist, die für die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Tochter sorgt.
84.
Entgegen den Ausführungen des vorlegenden Gerichts kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Begriff des Familienangehörigen,
dem Unterhalt gewährt wird, auch diejenigen einschließt, die vom aufenthaltsberechtigten Gemeinschaftsangehörigen „emotional
abhängig“ sind oder deren Recht, in einem Mitgliedstaat zu bleiben, vom Recht des Gemeinschaftsangehörigen „abhängt“.
85.
Auch abgesehen von der vorgenannten Rechtsprechung des Gerichtshofes ist zu bemerken, dass nur die englische Sprachfassung
einen neutralen Begriff wie „dependent“ verwendet, während, worauf die Kommission zutreffend hinweist, in allen anderen Sprachfassungen
der verwendete Begriff eindeutig auf eine
materielle Abhängigkeit verweist.
86.
Im vorliegenden Fall kann Frau Chen somit nicht als „Familienangehörige, der [Catherine] Unterhalt gewährt“, im Sinne der
Richtlinie eingestuft werden, trotz der unzweifelhaften gefühlsmäßigen („emotionalen“) Bindung, die zu ihrer Tochter besteht,
und trotz des Umstands, dass ein etwaiges Bleiberecht an das Bleiberecht der Tochter gebunden wäre.
87.
Meines Erachtens verleiht daher weder die Richtlinie 73/148 noch die Richtlinie 90/364 Frau Chen unmittelbar ein ständiges
Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich.
–
Zur Frage, ob ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht besteht
88.
Damit bleibt zu prüfen, ob die Mutter von Catherine ein vom Aufenthaltsrecht der Tochter abgeleitetes Aufenthaltsrecht geltend
machen kann.
89.
Ich sage sogleich, dass diese Frage meiner Ansicht nach zu bejahen ist.
90.
Das entgegengesetzte Ergebnis liefe nämlich in meinen Augen offensichtlich den Interessen des minderjährigen Kindes und dem
Gebot, die Einheit des Familienlebens zu achten, zuwider. Vor allem würde aber dieses Ergebnis dem Aufenthaltsrecht, das dem
Kind Catherine durch den Vertrag verliehen wird, jede praktische Wirkung nehmen, weil das Kind, da es nicht allein im Vereinigten
Königreich bleiben kann, offensichtlich nicht mehr in den Genuss dieses Rechts kommen könnte.
91.
Von genau diesen Erwägungen lässt sich anscheinend auch die Gemeinschaftsrechtsprechung leiten. Im Urteil Baumbast und R hat
der Gerichtshof nämlich anerkannt, dass „in einem Fall, in dem Kinder ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat haben“,
das Gemeinschaftsrecht „dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder … wahrnimmt,
ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern erlaubt, um ihnen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern“
(26)
. Es ist offensichtlich, dass dieses Ergebnis, wenn es in einem Fall, in dem die Kinder im Schulalter waren, gegolten hat,
erst recht im Fall eines Mädchens im Kleinkindalter wie Catherine gelten muss.
92.
Die Ratio dieser Rechtsprechung besteht offenkundig vor allem in dem Erfordernis,
das Interesse des Minderjährigen zu schützen, wobei zu bedenken ist, dass die dem Elternteil (oder Vormund) verliehene Befugnis, den Niederlassungsort des
Minderjährigen in dessen Namen und für dessen Rechnung zu wählen, gerade zu diesem Zweck ausgeübt werden muss.
93.
Würde das Aufenthaltsrecht in Großbritannien verweigert, könnte die Mutter das Niederlassungsrecht im Hoheitsgebiet dieses
Staates im Namen und für Rechnung von Catherine nur in einem dem Interesse der Tochter offensichtlich zuwiderlaufenden Sinne
ausüben, weil die Mutter das Kind in diesem Fall zwangsläufig verlassen müsste.
94.
Aus demselben Grund würde diese Weigerung somit auch im Widerspruch zu dem Grundsatz stehen, dass die Einheit des Familienlebens
zu achten ist, der in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert ist
(27)
und dem der Gerichtshof grundlegende Bedeutung beimisst
(28)
.
95.
Um diesen Folgen zu entgehen, könnte Frau Chen somit nur darauf verzichten, das Recht der Tochter, sich in Großbritannien
niederzulassen, auszuüben. Dies bedeutet aber, dass entgegen der soeben genannten Rechtsprechung das Recht auf Freizügigkeit
und Aufenthalt, das die irische Staatsangehörige Catherine aus Artikel 18 EG und der Richtlinie 90/364 herleitet, nicht nur
nicht „begünstigt“ würde, sondern geradezu jede praktische Wirksamkeit verlieren würde.
96.
Schon aus diesem Grund bin ich daher der Ansicht, dass die Mutter von Catherine ein vom Aufenthaltsrecht ihres Kindes abgeleitetes
Aufenthaltsrecht geltend machen kann.
–
Zum Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit
97.
Davon abgesehen glaube ich aber, dass die Verleihung des Aufenthaltsrechts an Frau Chen eine entscheidende Stütze in Artikel
12 EG findet, der im Anwendungsbereich des Vertrages jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet.
98.
Ich halte im vorliegenden Fall alle Anwendungsvoraussetzungen dieser Vorschrift für erfüllt.
99.
Zunächst fällt die Streitigkeit, um die es geht, zweifellos in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags, da sie das Recht einer
Gemeinschaftsangehörigen betrifft, sich gemäß Artikel 18 EG und der Richtlinie 90/364 im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
aufzuhalten; dies gilt auch für das Aufenthaltsrecht der Mutter, das, wie soeben gesehen, mit dem der Tochter untrennbar verbunden
ist.
100.
Sodann weise ich darauf hin, dass das Diskriminierungsverbot nach ständiger Rechtsprechung besagt, „dass vergleichbare Sachverhalte
nicht unterschiedlich behandelt und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden dürfen“
(29)
.
101.
Wie sich im Laufe des Verfahrens und insbesondere in der mündlichen Verhandlung ergeben hat, wäre, wenn Catherine die Staatsangehörigkeit
des Vereinigten Königreichs besäße
(30)
, die Mutter – auch als Staatsangehörige eines Drittstaats – berechtigt, mit der Tochter im Vereinigten Königreich zu bleiben.
102.
Dies bedeutet, dass bei sonst gleichen tatsächlichen Umständen, die abstrakt von Bedeutung sind, und somit in einer „entsprechenden
Situation“ die Staatsangehörigkeit der Tochter ausschlaggebend dafür wäre, dass dem Antrag der Mutter auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis
stattgegeben wird.
103.
Es gibt aber keinen sachlichen Grund, der eine unterschiedliche Behandlung im vorliegenden Fall rechtfertigen würde.
104.
Wenn nämlich eine Staatsangehörige eines Drittlandes als Mutter eines englischen Kindes allein aufgrund dieser Tatsache berechtigt
ist, im Vereinigten Königreich zu bleiben, so geschieht dies offenkundig unter Berücksichtigung der grundlegenden Rolle der
Mutter in der Gefühlswelt und bei der Erziehung des Kindes sowie allgemeiner betrachtet aus Gründen des Schutzes der Familie
und ihrer Einheit.
105.
Diese Erwägungen gelten aber gleichermaßen für einen Fall wie den vorliegenden, in dem das Kind sein Aufenthaltsrecht zwar
nicht unmittelbar aus der Staatsangehörigkeit des Vereinigten Königreichs herleiten kann, jedoch aufgrund seiner Gemeinschaftsangehörigkeit
ein ständiges Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich hat. Es liegt nämlich klar auf der Hand, dass die nicht zu ersetzende
Rolle einer Mutter in der Gefühlswelt und bei der Erziehung eines Minderjährigen im Kleinkindalter in keiner Weise von der
Staatsangehörigkeit des Kindes abhängt.
106.
Daher ist bei Fehlen sachlicher Gründe, die eine unterschiedliche Behandlung des Aufenthaltsantrags der Mutter aufgrund der
Staatsangehörigkeit des Kindes rechtfertigen können, davon auszugehen, dass die fraglichen Maßnahmen des Vereinigten Königreichs
eine gegen Artikel 12 EG verstoßende Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellen.
–
Abschließende Erwägungen
107.
Ich schlage daher abschließend dem Gerichtshof vor, dem vorlegenden Gericht zu antworten, dass die Maßnahme, mit der die Behörden
eines Mitgliedstaats den Antrag der Mutter einer in diesem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigten minderjährigen Gemeinschaftsangehörigen
auf Erteilung einer ständigen Aufenthaltserlaubnis ablehnen, nicht nur dem Recht der Minderjährigen aus Artikel 18 EG und
Artikel 1 der Richtlinie 90/364 die praktische Wirksamkeit nimmt, sondern auch eine nach Artikel 12 EG verbotene Diskriminierung
aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt.
E –
Zum Rechtsmissbrauch
108.
Wie ich bereits bemerkt habe (siehe oben, Nrn. 28 ff.), hat die Regierung des Vereinigten Königreichs außerdem eingewandt,
dass die Eheleute Chen ihre Tochter mit der offenkundigen Absicht im Hoheitsgebiet Nordirlands hätten zur Welt kommen lassen,
ihr den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit und damit das Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft
zu sichern. Die irische Staatsangehörigkeit Catherines habe daher „künstlichen“ Charakter, da sie das Resultat eines genauen
Planes sei, den die Eltern ausgeführt hätten, um ein Aufenthaltsrecht in der Gemeinschaft zu erwerben.
109.
Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergebe sich jedoch, dass ein Mitgliedstaat berechtigt sei, Maßnahmen zu ergreifen,
die verhindern sollten, dass sich die Betreffenden missbräuchlich oder betrügerisch auf das Gemeinschaftsrecht beriefen, um
sich aufgrund der durch den EG-Vertrag geschaffenen Möglichkeiten der Anwendung des nationalen Rechts zu entziehen
(31)
.
110.
Im vorliegenden Fall bestünde somit ein Rechtsmissbrauch, der den Ausgang der Rechtssache beeinflussen könnte.
111.
Ich kann diese Schlussfolgerung jedoch nicht teilen, auch wenn man von den Zweifeln absieht, die generell aufkommen, wenn
ein Begriff, dessen Existenz schon in den nationalen Rechtsordnungen umstritten und dessen Definition noch ungewisser ist,
auf die Gemeinschaftsebene übertragen wird.
112.
Auch wenn man sich auf die Argumentation des Vereinigten Königreichs einlässt, habe ich den Eindruck, dass das System der
Beziehungen zwischen der Gemeinschaftsrechtsordnung und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, wie es nun seit Jahrzehnten
in der Rechtsprechung des Gerichtshofes entworfen worden ist, es zwangsläufig mit sich bringt, dass ein Missbrauch eines durch
den Vertrag verliehenen Rechts nur in außergewöhnlichen Fällen vorliegen kann, da der Umstand, dass die Anwendung einer nationalen
Rechtsnorm aufgrund der Geltendmachung eines von der Gemeinschaftsrechtsordnung gewährten Rechts ausgeschlossen ist, die normale
Folge des Grundsatzes vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts darstellt.
113.
Auch der Umstand, dass sich der Betreffende bewusst in eine tatsächliche Lage bringt, die zu seinen Gunsten ein aus der Gemeinschaftsrechtsordnung
hergeleitetes Recht begründet, um so die Anwendung einer bestimmten, für ihn nachteiligen nationalen Regelung zu verhindern,
kann
für sich allein nicht ausreichen, um die Unanwendbarkeit der einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften festzustellen
(32)
.
114.
Von einem Rechtsmissbrauch kann vielmehr nur dann die Rede sein, wenn sich außerdem aus einer „Gesamtwürdigung der objektiven
Umstände“ ergibt, dass „trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen
das Ziel der Regelung
nicht erreicht wurde“
(33)
. Daher ist zu prüfen, ob der Betreffende bei der Geltendmachung der Gemeinschaftsnorm, die das fragliche Recht verleiht,
deren Geist und Tragweite verfälscht.
115.
Bezugsparameter ist somit im Wesentlichen der, ob eine Verfälschung des Zweckes und der Ziele der
Gemeinschaftsnorm vorliegt, die das fragliche Recht verleiht.
116.
Im vorliegenden Fall liegen diese Voraussetzungen meines Erachtens nicht vor. Aus meiner Sicht kann nämlich nicht angenommen
werden, dass das Verhalten der Eheleute Chen zu einer „Vereitelung nationalen Rechts durch Gemeinschaftsangehörige, die das
Gemeinschaftsrecht
missbrauchen“
(34)
, führt.
117.
Zwar entgeht Frau Chen dadurch, dass sie die Vertragsbestimmungen in Anspruch nimmt, die dem Kind Catherine und – als Reflex
– ihr selbst als deren Mutter ein Aufenthaltsrecht verleihen, letztlich den englischen Vorschriften, die das Aufenthaltsrecht
der Staatsangehörigen von Drittländern beschränken.
118.
Ich meine jedoch, dass darin keine Verfälschung der Ziele der angeführten Gemeinschaftsvorschriften liegt.
119.
Welche Zielsetzung die Vorschriften über das Aufenthaltsrecht, insbesondere Artikel 18 EG, wie er von der Richtlinie 90/364
durchgeführt und durch Artikel 45 der Charta der Grundrechte bekräftigt wird, haben, ist nur zu offenkundig. Es geht nämlich
darum, jede Beschränkung der Freizügigkeit und des Aufenthalts der Gemeinschaftsangehörigen unter der einzigen Bedingung auszuschließen,
dass diese Personen nicht die Finanzen des Aufnahmestaats belasten.
120.
Wenn also ein künftiger Elternteil wie im vorliegenden Fall beschließt, dass das Wohl seiner minderjährigen Tochter es verlangt,
dass sie die Gemeinschaftsangehörigkeit erwirbt, um sodann in den Genuss der dazugehörenden Rechte, insbesondere des Niederlassungsrechts
nach Artikel 18 EG, gelangen zu können, liegt kein „Missbrauch“ darin, dass er unter Beachtung der Gesetze alles unternimmt,
damit das Kind im Zeitpunkt der Geburt die Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats erfüllt.
121.
Ebenso wenig kann es als „missbräuchlich“ angesehen werden, dass sich dieser Elternteil darum bemüht, dass das Kind sein rechtmäßig
erworbenes Aufenthaltsrecht ausüben kann, und demzufolge beantragt, sich mit ihm im selben Aufnahmestaat aufhalten zu dürfen.
122.
Es handelt sich hier nämlich nicht um eine Person, die „das Gemeinschaftsrecht
missbraucht“
(35)
, indem sie die Tragweite und die Zielsetzung der Vorschriften der Gemeinschaftsrechtsordnung verfälscht, sondern um eine
Person, die sich in Kenntnis des Inhalts der im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Freiheiten diese mit rechtmäßigen Mitteln
zunutze macht,
um gerade das Ziel zu erreichen, das die Gemeinschaftsvorschrift gewährleisten will: das Aufenthaltsrecht des Kindes.
123.
Auch die Nichtanwendung der Vorschriften des Vereinigten Königreichs über den Aufenthalt der Staatsangehörigen von Drittländern
gegenüber der Mutter kann nicht als Resultat eines Rechtsmissbrauchs angesehen werden. Wie wir gesehen haben, stellt sie nämlich
ein Ergebnis dar, das mit dem Ziel der fraglichen Gemeinschaftsnorm völlig in Einklang steht und sogar eine notwendige Bedingung
für die Verfolgung dieses Zieles ist, da es einer Gemeinschaftsangehörigen das Recht sichern soll, sich im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats frei aufzuhalten.
124.
In Wirklichkeit liegt das Problem, wenn man von einem solchen sprechen kann, in dem Kriterium, nach dem das irische Recht
die Staatsangehörigkeit verleiht, dem Ius soli
(36)
, das geeignet ist, Fallgestaltungen wie die vorliegend in Rede stehende herbeizuführen.
125.
Denn um solche Fallgestaltungen zu verhindern, hätte man dieses Kriterium abschwächen können, indem es um die Voraussetzung
ergänzt wird, dass ein Elternteil auf der irischen Insel dauerhaft ansässig ist
(37)
. Eine solche zusätzliche Voraussetzung gibt es in den irischen Rechtsvorschriften aber nicht, oder sie galt jedenfalls nicht
für das Kind Catherine.
126.
Unter diesen Umständen, ich wiederhole es, kann Catherine oder ihrer Mutter sicher nicht vorgeworfen werden, dass sie rechtmäßig
von den Möglichkeiten und den ihnen vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechten Gebrauch gemacht haben.
127.
Im Übrigen könnte, wenn der vom Vereinigten Königreich vertreten Auffassung gefolgt würde, in praktisch allen Fällen des
beabsichtigten Erwerbs der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats ein Missbrauch vermutet werden. Dies könnte paradoxerweise dazu führen,
dass der Genuss der aus der Unionsbürgerschaft folgenden Rechte davon abhängig gemacht würde, dass die Staatsangehörigkeit
unabsichtlich erworben wurde.
128.
Dies würde aber darauf hinauslaufen, „die Wirkungen der Verleihung der Staatsangehörigkeit eines … Mitgliedstaats dadurch
zu beschränken, dass eine zusätzliche Voraussetzung für die Anerkennung dieser Staatsangehörigkeit im Hinblick auf die Ausübung
der im Vertrag vorgesehenen Grundfreiheiten verlangt wird“, was, wie der Gerichtshof bereits geklärt hat, in der Gemeinschaftsrechtsordnung
nicht erlaubt ist
(38)
.
129.
Aus meiner Sicht kann die Antwort auf die dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht unterbreiteten Fragen daher nicht durch
den Umstand beeinflusst werden, dass die Eheleute Chen veranlasst haben, dass die Tochter im Hoheitsgebiet Nordirlands zur
Welt kommt, um ihr den Erwerb der irischen Staatsangehörigkeit und mit dieser das Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich
und den anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu sichern.
F –
Zum Recht auf Achtung des Familienlebens
130.
Da ich zu dem Ergebnis gelangt bin, dass das Gemeinschaftsrecht Catherine das Recht verleiht, sich im Vereinigten Königreich
niederzulassen, und der Mutter das Recht, bei der Tochter zu bleiben, halte ich es nicht für erforderlich, die Frage der Vereinbarkeit
der nationalen Maßnahmen mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu behandeln. Die hier vorgeschlagene
Auslegung des Vertrages steht nämlich, wie wir gesehen haben, voll und ganz im Einklang mit den in Artikel 8 EMRK zum Ausdruck
kommenden Werten, insbesondere dem Erfordernis, die Einheit des Familienlebens zu achten (siehe oben, Nr. 94).
Entscheidungsvorschlag
131.
Ich schlage daher dem Gerichtshof vor, auf die Fragen der Immigration Appellate Authority Hatton Cross wie folgt zu antworten:
- 1.
- Eine minderjährige Gemeinschaftsangehörige im Kleinkindalter, für die eine Krankenversicherung zur Abdeckung aller Risiken
im Aufnahmemitgliedstaat besteht und die zwar nicht unmittelbar Empfängerin von Einkünften oder Einnahmen ist, jedoch durch
die Eltern über ausreichende Existenzmittel verfügt, durch die ausgeschlossen ist, dass sie die Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats
belasten kann, erfüllt die Bedingungen des Artikels 1 der Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht
und hat damit das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines anderen als des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt,
auf unbestimmte Zeit aufzuhalten.
- 2.
- Die Maßnahme, mit der die Behörden eines Mitgliedstaats den Antrag der Mutter einer in diesem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigten
minderjährigen Gemeinschaftsangehörigen auf Erteilung einer ständigen Aufenthaltserlaubnis ablehnen, nimmt nicht nur dem Recht
der Tochter aus Artikel 18 EG und Artikel 1 der Richtlinie 90/364 die praktische Wirksamkeit, sondern stellt auch eine nach
Artikel 12 EG verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar.
- 1 –
- Originalsprache: Italienisch.
- 2 –
- ABl. L 172, S. 14.
- 3 –
- ABl. L 180, S. 26.
- 4 –
- So im Vorlagebeschluss.
- 5 –
- Vgl. z. B. Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 235/87 (Matteucci, Slg. 1988, 5589), in dem es um das Recht einer
in Belgien geborenen italienischen Staatsangehörigen, die dort lebte und arbeitete, ging, bei der Vergabe eines Stipendiums
für die berufliche Fortbildung nicht diskriminiert zu werden. Dem ging das bekannte Urteil vom 28. Oktober 1975 in der Rechtssache
36/75 (Rutili, Slg. 1975, 1219) voraus, in dem der Gerichtshof Artikel 48 EG-Vertrag (jetzt Artikel 39 EG) für ohne weiteres
auf Vorschriften anwendbar gehalten hat, die die Bewegungsfreiheit eines italienischen Arbeiters, der in Frankreich geboren
war, wo er auch lebte und arbeitete und in der Gewerkschaft tätig war, im französischen Hoheitsgebiet beschränkten.
- 6 –
- Urteil vom 2. Oktober 2003 in der Rechtssache C-148/02 (Garcia Avello, Slg. 2003, I-0000, Randnr. 26).
- 7 –
- Ebenda, Randnr. 27.
- 8 –
- Für die Bejahung einer solchen Norm in Bezug auf das Institut des diplomatischen Schutzes verweise ich auf das bekannte Urteil
des Internationalen Gerichtshofes im Fall Nottebohm (Urteil vom 6. April 1955, Liechtenstein/Guatemala, zweite Phase, C.I.J.
Recueil 1955, S. 4, 20 ff.).
- 9 –
- Urteil vom 7. Juli 1992 in der Rechtssache C-369/90 (Micheletti, Slg. 1992, I-4239).
- 10 –
- Urteil vom 20. Februar 2001 in der Rechtssache C-192/99 (Kaur, Slg. 2001, I-1237).
- 11 –
- Urteile Micheletti (Randnr. 10) und Knaur (Randnr. 19). Diese Feststellung steht vollständig im Einklang mit der Rechtsprechung
des Internationalen Gerichtshofes, wonach „[i]l appartient … à tout État souverain de régler par sa propre législation l’acquisition
de sa nationalité“ (Urteil Nottebohm, S. 20).
- 12 –
- Urteil Micheletti (Randnr. 10); zuletzt Urteil Garcia Avello (Randnr. 28).
- 13 –
- Das Kind sei „unable to assert a choice of residence in her own right“.
- 14 –
- „While a minor, and unable to exercise a choice of residence, Catherine cannot be a ‚national‘ for the purposes of Art. 1(1).“
- 15 –
- „Capacité de jouissance“; „capacità giuridica“; in der englischen Rechtsterminologie „‚general‘ legal personality“ (vgl. A. Heldrich,
A. F. Steiner, “Legal Personality”, in: International Encyclopedia of Comparative Law, vol. IV, Persons and Family, Tübingen, Dordrecht usw., 1995, Chapter 2, Persons, S. 4).
- 16 –
- „Capacità di agire“; „capacité d’exercice“; in der englischen Rechtsterminologie „capacity“ oder „active legal capacity“ (vgl.
A. Heldrich, A. F. Steiner, “Capacity”, in: International Encyclopedia of Comparative Law, vol. IV, S. 9).
- 17 –
- Nach ständiger Gemeinschaftsrechtsprechung kann sich auch der Dienstleistungsempfänger auf die im Vertrag vorgesehene Dienstleistungsfreiheit
berufen, vgl. u. a. Urteile vom 31. Januar 1984 in den verbundenen Rechtssachen 286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone, Slg.
1984, 377, Randnr. 16) und vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87 (Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 15).
- 18 –
- Urteil vom 15. März 1989 in den verbundenen Rechtssachen 389/87 und 390/87 (Echternach und Moritz, Slg. 1989, 723).
- 19 –
- Urteil Echternach und Moritz (Randnr. 21). In diesem Fall handelte es sich um die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom
15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), deren Artikel 12 bestimmt:
„Die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist
oder beschäftigt gewesen ist, können, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen
wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen.“
- 20 –
- Urteil vom 15. Oktober 1988 in der Rechtssache 196/87 (Steymann, Slg. 1988, 6159, Randnr. 16).
- 21 –
- Urteile Steymann (Randnr. 17) und vom 17. Juni 1997 in der Rechtssache C-70/95 (Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, Randnr.
38).
- 22 –
- „Disposent … de ressources suffisantes“ in der französischen Fassung, „have sufficient resources“ in der englischen Fassung, „dispongano … di risorse sufficienti“ in der italienischen Fassung und „dispongan … de recursos suficientes“ in der spanischen Fassung (Hervorhebung von mir).
- 23 –
- Urteil vom 17. September 2002 in der Rechtssache C-413/99 (Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091, Randnr. 90).
- 24 –
- Randnr. 91. In diesem Sinne auch Urteil vom 2. August 1993 in den verbundenen Rechtssachen C-259/91, C-331/91 und C-332/91
(Allué u. a., Slg. 1993, I-4309, Randnr. 15).
- 25 –
- Urteil vom 18. Juni 1987 in der Rechtssache 316/85 (Lebon, Slg. 1987, 2811, Randnr. 22).
- 26 –
- Urteil Baumbast und R (Randnr. 75, Hervorhebung von mir). In diesem Fall handelte es sich um ein Elternteil, der die Staatsangehörigkeit
der Vereinigten Staaten besaß.
- 27 –
- Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vgl. Urteile vom 18. Februar 1991, Moustaquim/Belgien,
vom 19. Februar 1996, Gül/Schweiz, vom 28. November 1996, Ahmut/Niederlande, vom 11. Juli 2000, Ciliz/Niederlande, und vom
21. Dezember 2000, Sen/Niederlande, allesamt veröffentlicht auf der Homepage http://hudoc.echr.coe.int in der elektronischen Sammlung der Rechtsprechung des EGMR.
- 28 –
- Vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-60/00 (Carpenter, Slg. 2002, I-6279, Randnrn. 41 bis 45).
- 29 –
- Zuletzt Urteil Garcia Avello (Randnr. 31).
- 30 –
- Ein derartiger Fall ist durchaus realistisch: Dazu hätte nämlich ausgereicht, dass der andere Elternteil die Staatsangehörigkeit
des Vereinigten Königreichs besitzt oder dass er, auch wenn er ausländischer Staatsangehöriger ist, berechtigt gewesen wäre,
sich dauerhaft im Vereinigten Königreich niederzulassen (Section 1 des British Nationality Act 1981, vgl. Schriftliche Erklärungen
des Vereinigten Königreichs an den Gerichtshof, Nr. 8).
- 31 –
- Vgl. statt aller Urteil vom 9. März 1999 in der Rechtssache C-212/97 (Centros, Slg. 1999, I-1459, Randnr. 24) und die dort
zitierte umfangreiche Rechtsprechung.
- 32 –
- Urteil Centros (Randnr. 27) sowie eingehend Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola in dieser Rechtssache (Slg. 1999,
I-1461 ff.).
- 33 –
- Urteil vom 14. Dezember 2000 in der Rechtssache C-110/99 (Emsland-Stärke, Slg. 2000, I-11569, Randnr. 52). In diesem Sinne
auch Urteile Centros (Randnr. 25) und vom 21. November 2002 in der Rechtssache C-436/00 (X und Y, Slg. 2002, I-10829, Randnr.
42).
- 34 –
- So der Begriff des Missbrauchs des Gemeinschaftsrechts im Urteil vom 27. September 2001 in der Rechtssache C-63/99 (Gloszczuk,
Slg. 2001, I-6369, Randnr. 75, Hervorhebung von mir).
- 35 –
- Vgl. Urteil Gloszczuk (Randnr. 75).
- 36 –
- Dagegen ist es für die vorliegende Rechtssache ohne Bedeutung, dass der „Boden“, auf den sich das Ius soli bezieht, d. h.
die Stadt Belfast, aufgrund der bekannten historischen Geschehnisse auf der Insel Irland, nicht der Hoheitsgewalt Irlands
(Éire), sondern des Vereinigten Königreichs unterliegt. Die Frage, um die es geht, hätte sich nämlich in gleicher Weise gestellt,
wenn das Kind im Hoheitsgebiet Irlands (Éire) geboren worden wäre und sich mit der Mutter nach Belfast oder Cardiff begeben
hätte.
- 37 –
- Wie dies, nebenbei bemerkt, in Artikel 1 und Anhang 2 des am 10. April 1998 in Belfast geschlossenen „Agreement between the
government of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the government of Ireland” vorgesehen ist. Artikel
1(vi) sieht nämlich vor, dass die beiden Regierungen „recognise the birthright of all the people of Northern Ireland to identify themselves and be accepted as Irish or British, or both, as they may so choose, and accordingly confirm that
their right to hold both British and Irish citizenship is accepted by both Governments and would not be affected by any future
change in the status of Northern Ireland”. Gemäß Anhang 2 umfasst der Begriff „the people of Northern Ireland” im Sinne von
Artikel 1 „all persons born in Northern Ireland and having, at the time of their birth, at least one parent who is a British citizen, an Irish citizen or is otherwise entitled to reside in Northern Ireland without any restriction on their period of residence” (Hervorhebungen von mir).
- 38 –
- Urteile Micheletti (Randnr. 10) und Kaur (Randnr. 19).