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Document 62002CC0041

Schlussanträge des Generalanwalts Poiares Maduro vom 14. September 2004.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich der Niederlande.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Artikel 30 und 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) - Lebensmittel, denen Vitamine oder Mineralstoffe hinzugefügt wurden - Nationale Rechtsvorschriften, die ihr Inverkehrbringen vom Vorliegen eines Ernährungsbedürfnisses abhängig machen - Maßnahmen gleicher Wirkung - Rechtfertigung - Öffentliche Gesundheit - Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-41/02.

Sammlung der Rechtsprechung 2004 I-11375

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2004:520

Conclusions

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
M. POIARES MADURO
vom 14. September 2004(1)



Rechtssache C-41/02



Kommission der Europäischen Gemeinschaften
gegen
Königreich der Niederlande



„Maßnahmen gleicher Wirkung – Gesundheitsschutz – Mit Zusatzstoffen angereicherte Lebensmittel – Inverkehrbringen nur bei einem Ernährungsbedürfnis“






1.        Diese Rechtssache bietet erneut Gelegenheit, den Konflikt zwischen dem Grundsatz des freien Warenverkehrs und dem Erfordernis des Schutzes der Gesundheit zu lösen, die beide von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützt werden. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat eine Vertragsverletzungsklage gegen das Königreich der Niederlande erhoben, mit der sie eine Verletzung der Artikel 30 und 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) (2) durch das niederländische Gesetz über die Zulassung des Inverkehrbringens bestimmter Nahrungsmittelzusätze und dessen Anwendung durch die Verwaltungsbehörden und Gerichte beanstandet. Das Königreich der Niederlande stellt eine Vertragsverletzung in Abrede und rechtfertigt seine Regelung und seine Praxis mit der Notwendigkeit des Gesundheitsschutzes.

I – Sachverhalt und Vorverfahren

2.        Die Kommission hat mit der vorliegenden Klage drei ursprünglich selbständige Verfahren zusammengeführt. Das Vorverfahren wurde aufgrund von Beschwerden zweier privater Wirtschaftsteilnehmer sowie aus Anlass der Übermittlung eines Gesetzestextes durch das Königreich der Niederlande im Rahmen der Richtlinie 83/189/EWG des Rates vom 28. März 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften (3) in der Fassung der Richtlinie 94/10/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. März 1994 (4) eingeleitet.

3.        Kellogg’s teilte der Kommission mit, dass die niederländischen Behörden ihr die Zulassung des Inverkehrbringens von Frühstücks‑Zerealien mit Vitamin D und Folsäure verweigert hätten. Die Kommission übersandte dem Königreich der Niederlande am 26. Juni 1996 ein Aufforderungsschreiben, worin die gegenüber Kellogg’s ausgesprochene Weigerung wegen des Fehlens eines Beweises beanstandet wurde, dass das Inverkehrbringen von Zerealien gesundheitsgefährdend hätte sein können, und weil das Erfordernis des Nachweises eines Ernährungsbedürfnisses der Bevölkerung nicht dem Gemeinschaftsrecht entspreche. Da die Antwort des Königreichs der Niederlande vom 6. Mai 1997 die Kommission nicht überzeugte, übermittelte diese dem Mitgliedstaat am 23. September 1997 eine mit Gründen versehene Stellungnahme.

4.        Zugleich beschwerte sich Inkosport Nederland bei der Kommission wegen der Ablehnung der niederländischen Behörden bezüglich des Inverkehrbringens von Energieriegeln. In diesem Rahmen übermittelte die Kommission dem Königreich der Niederlande am 26. Juni 1996 ein Aufforderungsschreiben. Da dessen Antwort nicht zufrieden stellend ausfiel, setzte die Kommission das Verfahren durch Übersendung einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 23. September 1997 fort.

5.        Ferner hat das Königreich der Niederlande der Kommission den Warenwetbesluit Toevoeging micro-voedingsstoffen aan levensmiddelen (Durchführungsverordnung zum Lebensmittelgesetz bezüglich des Zusatzes von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln vom 24. Mai 1996) (5) übermittelt. Diese Verordnung sieht eine Ausnahmeregelung vom Verbot des Inverkehrbringens von Mikronährstoffen vor, falls zum einen die Unschädlichkeit des Zusatzes von Mikronährstoffen bewiesen wird und dieser zum anderen einem wirklichen Ernährungsbedürfnis entspricht. Die Verordnung ist Teil der niederländischen Gesetzgebung über die Herstellung und das Inverkehrbringen von Lebensmitteln.

6.        Jeder Zusatz von Vitaminen, von Fluor- oder Jodverbindungen sowie von Aminosäuren oder -salzen in Lebensmitteln war zuvor untersagt (6) . Dieses Verbot wurde durch die Verordnung vom 24. Mai 1996 abgemildert, die den Zusatz von im Anhang der Verordnung in einer Liste aufgeführten Vitaminen zu angereicherten Lebensmitteln gestattete (7) ; diese werden definiert als „Lebensmittel mit Zusatz eines oder mehrerer Mikronährstoffe, deren Hauptziel aber nicht die Lieferung von Mikronährstoffen ist“ (8) . Mikronährstoffe werden ihrerseits definiert als „Nährstoffe, die für das Funktionieren des menschlichen Organismus unentbehrlich sind, vom Organismus nicht selbst bereitgestellt werden können und in kleinen Mengen konsumiert werden müssen“ (9) . Für bestimmte Mikronährstoffe gilt indessen eine Sonderregelung: „Vitamin A in der Form von Retinoiden, Vitamin D, Folsäure, Selen, Kupfer und Zink werden einem angereicherten Lebensmittel nur zugesetzt, um daraus ein Ersatzprodukt oder ein rekonstituiertes Lebensmittel zu machen“ (10) . Nach der niederländischen Regelung ist ein Ersatzprodukt ein „angereichertes Lebensmittel, das ein bestehendes Lebensmittel ersetzen soll und sich diesem in Aussehen, Konsistenz, Geschmack, Farbe, Geruch und Bestimmung so weit wie möglich annähert und dem ein oder mehrere Mikronährstoffe in Mengen zugesetzt wurden, die diejenigen nicht überschreiten, in denen diese Stoffe in dem zu ersetzenden Lebensmittel von Natur aus vorhanden sind“ (11) . Ein rekonstituiertes Lebensmittel ist ein angereichertes Lebensmittel, dem ein oder mehrere Mikronährstoffe zugesetzt wurden, um deren Verlust bei oder nach der Herstellung auszugleichen (12) .

7.        Die Kommission, die diese Regelung für unvereinbar mit dem freien Warenverkehr hielt, forderte mit Schreiben vom 22. Dezember 1997 die niederländischen Behörden unter Fristsetzung auf, ihr zu diesem Punkt Erläuterungen zu übermitteln. In einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 31. August 1998 sowie einer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 21. Dezember 1998 wurden die Beanstandungen der Kommission konkretisiert. In ihren Antworten bekräftigten die niederländischen Behörden ihren abweichenden Standpunkt.

8.        Unter diesen Umständen hat die Kommission die vorliegende Vertragsverletzungsklage erhoben, die sich auf die Unvereinbarkeit der niederländischen Regelung des Inverkehrbringens angereicherter Lebensmittel mit dem freien Warenverkehr als einziger Beanstandung stützt und sich zum einen gegen die Praxis der niederländischen Behörden und zum anderen gegen die Regelung selbst richtet.

9.        In der Sitzung vom 14. Juli 2004 haben die Parteien die Schlussfolgerungen vortragen können, die sie für ihre Rechtssache aus der jüngsten Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere aus dem Urteil vom 23. September 2003 in der Rechtssache C-192/01 (Kommission/Dänemark) (13) , ziehen.

II – Problemstellung

10.      Die vorliegende Vertragsverletzungsklage gegen das Königreich der Niederlande weist zahlreiche gemeinsame Züge mit der Klage auf, die die Kommission gegen das Königreich Dänemark erhoben und die zu dessen Verurteilung durch das Urteil Kommission/Dänemark geführt hat. Indessen wird das niederländische Recht nur auf sechs Nährstoffe angewandt (14) , während die dänische Gesetzgebung systematischen Charakter hatte. Außerdem unterscheidet sich die Hauptfrage, die sich in dieser Rechtssache stellt, von derjenigen, die der Gerichtshof im dänischen Fall zu beantworten hatte, weil das Königreich der Niederlande keine so enge Definition des Ernährungsbedürfnisses kennt wie die in Dänemark geltende (15) und im Gegenteil versucht, diesen Begriff mit dem des Gesundheitsrisikos in Zusammenhang zu bringen. Das Königreich der Niederlande rechtfertigt nämlich die Sonderregelung für bestimmte Nährstoffe damit, dass der Unterschied zwischen der empfohlenen Menge und der Einnahmemenge mit möglicherweise schädlichen Wirkungen sehr gering seit (16) . Jeder Zusatz dieser Art von Nährstoffen zu Lebensmitteln könne somit Risiken für die Gesundheit mit sich bringen.

11.      Vor einer eingehenden Prüfung der niederländischen Regelung soll dargelegt werden, welche Prüfungskriterien von der Rechtsprechung in diesem Bereich herausgearbeitet worden sind. Die Parteien räumen einvernehmlich ein, dass die Zulassung des Inverkehrbringens eines Produkts in einem Mitgliedstaat, das in anderen Mitgliedstaaten zugelassen ist, eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung des freien Warenverkehrs im Sinne von Artikel 30 EG‑Vertrag darstellt.

12.      Da das Inverkehrbringen von mit Mikronährstoffen angereicherten Lebensmitteln auf Gemeinschaftsebene noch nicht harmonisiert ist (17) , haben die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit einer Regelung. Nährstoffe (18) werden in Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie 89/398 definiert als „Stoffe mit einem besonderen Ernährungszweck, wie z. B. Vitamine, Mineralsalze, Aminosäuren und andere den für eine besondere Ernährung bestimmten Lebensmitteln hinzuzufügende Stoffe“. Die niederländischen Rechtsvorschriften gelten unterschiedslos für alle Lebensmittel ohne Rücksicht auf ihren Ursprung. Das in den Niederlanden geltende System der Erlaubnis für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln, die Nährstoffe enthalten, könnte daher unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Gesundheit gerechtfertigt sein, die unter den in Artikel 36 EG‑Vertrag geschützten Interessen den ersten Rang einnimmt (19) .

13.      Nach der Rechtsprechung hat die Prüfung, anhand deren festgestellt werden soll, ob ein Zulassungssystem unter die in Artikel 36 EG‑Vertrag geregelte Ausnahme fallen kann, in zwei Stufen abzulaufen, deren erste die Gültigkeitsvoraussetzungen eines Zulassungsverfahrens und die zweite das Kriterium untersucht, das zur Rechtfertigung eines Handelsverbots festgelegt worden ist.

A – Die Gültigkeitsvoraussetzungen eines Zulassungsverfahrens

14.      Da eine gemeinschaftliche Harmonisierung für den Bereich der Nährstoffe fehlt, sind die Mitgliedstaaten im Grundsatz weiterhin berechtigt, das von ihnen festzulegende Niveau des Gesundheitsschutzes selbst zu bestimmen. Die Einführung eines Verfahrens, das den Vertrieb von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Lebensmitteln von einer Zulassung abhängig macht, gehört in diesen Rahmen (20) .

15.      Der Rückgriff auf ein Zulassungssystem ist jedoch mit den Erfordernissen des freien Warenverkehrs nur vereinbar, wenn er durch den Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt ist und gemessen am verfolgten Ziel verhältnismäßig ist (21) .

16.      Deshalb ist die Beibehaltung eines solchen Verfahrens vom Nachweis seiner Notwendigkeit abhängig (22) . Die herangezogene Art des Zulassungsverfahrens wird ebenfalls kontrolliert, um zu vermeiden, dass das Inverkehrbringen von Lebensmitteln mit Vitaminzusatz durch automatische Einstufung als Arzneimittel erschwert wird (23) . Der Anwendungsbereich des Zulassungsverfahrens ist so weit wie möglich einzuschränken. Erlaubt ein den Handel weniger einschränkendes System, das Ziel des Gesundheitsschutzes ebenfalls zu erreichen, ist ihm der Vorzug zu geben (24) .

17.      Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung (25) die Rechtmäßigkeit von Zulassungsverfahren für Nährstoffe anerkannt. Diese Stoffe oder jedenfalls einige von ihnen sind nämlich schädlich für die Gesundheit. Im Übrigen ist die einschlägige Gemeinschaftsregelung wie folgt ausgestaltet: Eine Rahmenrichtlinie über die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen, sieht den Erlass von Maßnahmen durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Ständigen Lebensmittelausschusses vor, in denen die Zusatzstoffe und deren zulässige Verwendung festgelegt werden (26) . Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die der Rahmenrichtlinie entsprechenden Zusätze zuzulassen (27) . Sie bleiben berechtigt, Vorschriften für die Zusatzstoffe festzulegen, für die keine Durchführungsrichtlinien gelten, und insbesondere eine Gefährlichkeitsschwelle zu definieren. In diesem Rahmen erscheint es legitim, dass die Mitgliedstaaten den Zusatz von Nährstoffen, die potenziell gefährlich für die Gesundheit sind, wenn sie im Übermaß verbraucht werden, einem Zulassungsverfahren unterwerfen können. Man darf insoweit darauf hinweisen, dass der Gerichtshof bei der Bejahung der Zulässigkeit von Zulassungsverfahren für Pestizide oder Desinfektionsmittel ähnlich argumentiert (28) .

18.      Ist die Notwendigkeit belegt, ein Zulassungsverfahren zum Schutz der Gesundheit einzurichten, so ist weiter zu prüfen, ob dieses Verfahren dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.

19.      Im Rahmen dieser Untersuchung der Verhältnismäßigkeit sind für die Rechtfertigung eines Zulassungsverfahrens vier Verfahrensvoraussetzungen erarbeitet worden. Der Gerichtshof achtet darauf, dass das nationale Verfahren nicht zu einer Verdoppelung mit einem Verfahren in einem anderen Mitgliedstaat führt (29) . Die anwendbaren Vorschriften müssen klar formuliert sein, damit die Wirtschaftsteilnehmer leicht Zugang zu diesem Verfahren finden (30) . Ein Verfahren kann außerdem nicht dem Grundsatz des freien Warenverkehrs entsprechen, wenn Dauer und die vom ihm verursachten Kosten so übermäßig sind, dass die Wirtschaftsteilnehmer dadurch abgeschreckt würden, darauf zurückzugreifen (31) . Schließlich muss gegen jede Verweigerung der Zulassung eine gerichtliche Klage möglich sein (32) . Diese Kriterien sind übrigens nicht auf den Schutz der Gesundheit beschränkt (33) .

B – Das Kriterium für die Zulassung des Inverkehrbringens von Lebensmitteln, die einer vorherigen Kontrolle unterliegen

20.      Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begnügt sich nicht damit, für die von den Mitgliedstaaten geschaffenen Zulassungssysteme die vorgenannten formellen Verfahrenserfordernisse aufzustellen, sondern fordert weiter die Feststellung, dass diese für die Entscheidung über Zulassung oder Versagung des Inverkehrbringens eines Lebensmittels auf ein geeignetes Kriterium zurückgreifen. Tatsächlich konzentriert sich die Prüfung der Vereinbarkeit der am Ende des nationalen Verfahrens getroffenen Entscheidungen mit den Erfordernissen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Untersuchung der Vermarktungsverbote, die das restriktivste Hemmnis für den Handel darstellen (34) .

21.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein Vermarktungsverbot aufgrund eines Zulassungsverfahrens nur rechtmäßig, wenn es auf das Vorliegen einer wirklichen Gefahr für die Gesundheit gestützt ist. Eine solche Gefahr muss „auf der Grundlage der letzten wissenschaftlichen Informationen, die bei Erlass eines solchen Verbots zur Verfügung stehen“ (35) , nachgewiesen sein.

22.      Die Gefahr für die Gesundheit muss durch „eine eingehende Prüfung des Risikos“ (36) „im Licht der Ernährungsgewohnheiten und unter Berücksichtigung der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung“ (37) belegt sein. Ein Vermarktungsverbot lässt sich nur auf die Ergebnisse einer solchen Risikountersuchung stützen (38) .

23.      Das Erfordernis einer Risikoprüfung für den Nachweis der Gefährdung der Gesundheit durch den betreffenden Stoff geht auf eine frühe Rechtsprechung des Gerichtshofes zurück. In den Urteilen Muller (39) und Bellon (40) hat sich z. B. der Gerichtshof bereits auf die „Ergebnisse der internationalen Forschung“ berufen.

24.      Das Risiko in Verbindung mit einem Produkt wird aufgrund zweier Faktoren ermittelt: „[D]ie Beurteilung des Wahrscheinlichkeitsgrads der schädlichen Auswirkungen des Zusatzes bestimmter Nährstoffe zu Lebensmitteln auf die menschliche Gesundheit sowie die Schwere dieser potenziellen Auswirkungen“ (41) . Der Nachweis eines tödlichen Risikos kann, auch wenn seine Wahrscheinlichkeit gering ist, den Erlass von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit rechtfertigen. Ebenso kann ein geringes Risiko, das sich fast sicher verwirklichen wird, zum Eingreifen des Gesetzgebers führen.

25.      In verschiedenen Mitgliedstaaten können aufgrund der „Ernährungsgewohnheiten“ unterschiedliche Risiken bestehen (42) . Diese unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten können dazu führen, dass der Gesamtverbrauch eines bestimmten Nährstoffs unterschiedlich ausfällt. Deshalb kann das Verbot des Inverkehrbringens eines Zusatzstoffes in einem Mitgliedstaat gerechtfertigt sein, während er in einem anderen zugelassen wird.

26.      Es steht indessen nunmehr fest, dass das Ernährungsbedürfnis bei der Prüfung durch den Staat, ob er das Inverkehrbringen eines Nährstoffs zulässt oder nicht, als Kriterium keine eigenständige Bedeutung haben kann (43) . Somit kann, wenn eine Gefahr für die Gesundheit nicht besteht, das Argument, es fehle ein Ernährungsbedürfnis der Bevölkerung, ein Vermarktungsverbot nicht rechtfertigen. Demgegenüber wird der Staat, wenn Ernährungsbedürfnis und das Fehlen eines Risikos für die Gesundheit zusammentreffen, verpflichtet sein, das Inverkehrbringen des betreffenden Nährstoffs zuzulassen (44) .

27.      Sobald die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse ein wirkliches und sicheres Risiko für die Gesundheit infolge des Verbrauchs des betreffenden Produkts erkennen lassen, entspricht das Vermarktungsverbot für das Produkt dem Gemeinschaftsrecht, da dem Schutz der Gesundheit in einem solchen Fall der Vorrang vor dem Grundsatz des freien Warenverkehrs gebührt.

28.      Demgegenüber ist bei Ungewissheit in Bezug auf das Vorliegen eines Risikos oder seinen Umfang die Schwelle eines Risikos für die Gesundheit, die ein Mitgliedstaat festzulegen hat, um das Verbot des Inverkehrbringens zu rechtfertigen, nicht eindeutig festgelegt (45) . Nur eine negative Voraussetzung ist in der Rechtsprechung festgehalten worden: Um wissenschaftliche Ungewissheit zu belegen, reichen hypothetische Erwägungen nicht aus (46) . Das läuft auf die Aussage hinaus, dass der Nachweis wissenschaftlicher Unsicherheit nur aufgrund einer Risikobewertung erfolgen kann.

29.      Das Königreich der Niederlande führt den Vorsorgegrundsatz an, um das Verbot gegenüber Erzeugern zu rechtfertigen, wenn sie Lebensmitteln einen der sechs Nährstoffe, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, zusetzen wollen, dieser Nährstoff aber kein Ernährungsbedürfnis der Bevölkerung befriedigt. Allerdings ermöglicht das Weiterbestehen wissenschaftlicher Unsicherheit bezüglich des Risikos den Rückgriff auf den Vorsorgegrundsatz. Dieser Grundsatz bedeutet im Rahmen des Ausgleichs zwischen dem freien Warenverkehr und dem Schutz der Gesundheit, dass bei Unsicherheiten hinsichtlich des Vorliegens oder des Umfangs von Risiken eine Maßnahme zum Schutz der Gesundheit getroffen werden kann, ohne dass abgewartet werden müsste, dass Bestehen und Schwere dieser Risiken vollständig dargelegt werden (47) . Der Schutz der Gesundheit kann dann ein Vermarktungsverbot rechtfertigen, das zu überprüfen ist, sobald die Unsicherheit infolge des Fortschritts der Wissenschaft entfallen ist (48) . Somit kann das Vorsorgeprinzip den Erlass von Maßnahmen, die den Warenverkehr beschränken, nur rechtfertigen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die öffentliche Gesundheit fortbesteht, falls das Risiko eintritt (49) .

30.      Der Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip führt zu unterschiedlichen Folgen, je nachdem, ob er seitens der Gemeinschaftsorgane oder durch die Mitgliedstaaten erfolgt. Falls nämlich ein Staat sich auf das Vorsorgeprinzip beruft, führt seine Entscheidung zu einer Fraktionierung des Marktes. Außerdem kann, selbst wenn die getroffene Maßnahme nicht auf protektionistischen Motiven beruht, der Standpunkt der anderen Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt werden, anders als in dem Fall, dass ein Gemeinschaftsorgan eine vorsorgliche Entscheidung trifft (50) . So erklärt sich meines Erachtens die Rechtsprechung des Gerichtshofes, der sich bemüht hat, den Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip eng zu gestalten, sobald sich die Mitgliedstaaten darauf berufen.

31.      Die kritischen Stimmen, die sich gegen das Vorsorgeprinzip erhoben haben, bedauern die fehlende Festlegung einer Risikoschwelle und die zu starke Betonung des Verfahrens bis zur Entscheidungsfindung (51) . Sie fürchten ebenfalls, dass ein solches Prinzip die Illusion nähre, dass es möglich sei, ein „Risiko null“ zu erreichen. Man könnte dem Vorsorgeprinzip ebenso vorwerfen, die durch eine Schutzmaßnahme verursachten Kosten nicht zu berücksichtigen, sondern nur die erwarteten Vorteile für die Gesundheit.

32.      Es trifft zu, dass die Heranziehung des Vorsorgeprinzips nicht allein auf eine wissenschaftliche Untersuchung gestützt werden kann. Die politische Dimension der Festlegung eines annehmbaren Risikos würde verleugnet, wenn die richterliche Prüfung sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Bewertung des früheren Risikos stützte. Muss sich in diesem Rahmen die Kontrolle des Gemeinschaftsrichters darauf beschränken, den Ablauf der einzelnen Abschnitte des Entscheidungsprozesses zu überprüfen, oder soll er die Qualität der durchgeführten wissenschaftlichen Bewertung beurteilen oder gar den Beurteilungsspielraum kontrollieren, der dem Politiker gegenüber der Wissenschaft zusteht? Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Verordnung Nr. 178/2002 eine Unterscheidung zwischen der Bewertung und der Verwaltung von Risiken trifft, wobei die erste der Wissenschaft gebührt, die zweite in den Bereich der Politik gehört. In gleicher Weise verfügen die nationalen Behörden bei der Entscheidung, die auf einer wissenschaftlichen Beurteilung der Risiken aufbaut, über einen Handlungsspielraum. In der Rechtsprechung ist im Übrigen anerkannt, dass eine Entscheidung der Risikoverwaltung auf Gemeinschaftsebene sich von den Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Beurteilung entfernen darf (52) .

33.      Man könnte insoweit drei Arten der Argumentation in Verbindung mit dem Vorsorgeprinzip unterscheiden, die nicht den gleichen Grad politischer Beurteilung aufweisen. Zunächst kann sich die Unsicherheit aus widersprüchlichen wissenschaftlichen Ergebnissen herleiten (53) . In einem zweiten Fall würde die Erzielung wissenschaftlicher Sicherheit die Sammlung von Daten erforderlich machen, die noch nicht verfügbar sind, weil z. B. die Neuigkeit des Produkts es unmöglich macht, alle seine Auswirkungen auf die Gesundheit zu kennen. So bleibt schließlich der Fall, dass die Unmöglichkeit der Erzielung wissenschaftlicher Sicherheit materielle Ursachen hat, da die Kosten wissenschaftlicher Forschung oder einer Regelungsmaßnahme abschreckend sind. Vom ersten bis zum dritten der Fälle, die für eine Anwendung des Vorsorgeprinzips ins Auge gefasst wurden, nimmt die Einflusssphäre politischer Erwägungen zu. Diese Erwägungen müssen klar sein und von der wissenschaftlichen Beurteilung getrennt werden. Zugleich ist aus den Gründen, die zuvor in Zusammenhang mit der Gefahr der Fraktionierung des Marktes sowie der fehlenden Berücksichtigung der Interessen aller durch die Maßnahme potenziell betroffenen Staaten genannt wurden, der Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten beim Rückgriff auf dieses Prinzip umso beschränkter, je mehr sie sich von der wissenschaftlichen Analyse entfernen und sich auf ein politisches Urteil stützen. Somit ist nicht gesichert, dass die Mitgliedstaaten im zweiten oder dritten Fall zum Handeln berechtigt wären.

34.      Um eine angemessene Kontrolle der auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips getroffenen Entscheidungen zu ermöglichen, müssen für diese Entscheidungen zwei Voraussetzungen gelten. Erstens muss nach der Rechtsprechung der Entscheidungsprozess die Durchführung einer wissenschaftlichen Bewertung vor Erlass einer nationalen Maßnahme zum Schutz der Gesundheit erfordern, wobei besondere Aufmerksamkeit der Qualität der durchgeführten wissenschaftlichen Forschung gelten muss (54) . Zweitens muss die Begründung der Entscheidungen die getroffenen politischen Weichenstellungen klar erkennen lassen und sie von den wissenschaftlichen Ergebnissen unterscheiden, auf die sie gestützt sind, damit jeder Bürger sie erkennen kann (55) . Bei der Kontrolle nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz muss der Gerichtshof prüfen, ob die Mitgliedstaaten diese beiden Voraussetzungen eingehalten haben.

III – Beurteilung

35.      Das niederländische Recht verbietet grundsätzlich, wie vorstehend ausgeführt, den Zusatz von Vitamin A in der Form von Retinoid, Vitamin D, Folsäure, Selen, Kupfer und Zink zu Lebensmitteln mit Ausnahme von rekonstituierten oder Ersatzlebensmitteln (56) . Der Minister für Wohlfahrt, Gesundheit und Kultur ist jedoch befugt, eine Ausnahme zu bewilligen, die als Zulassung zum Inverkehrbringen gilt. Gegen die Entscheidung des Ministers kann Beschwerde eingelegt werden. Nach Abschluss dieses Verwaltungsverfahrens kann der Betroffene Klage beim College van Beroep voor het bedrijfsleven erheben (57) .

36.      Die Beanstandung der Kommission richtet sich hauptsächlich gegen die niederländische Praxis, die Bewilligung einer Ausnahme durch die zuständigen Behörden für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln abzulehnen, die eines der sechs genannten Nährstoffe enthalten. Ich werde also zunächst die Begründetheit dieser Rüge prüfen. Nach Abschluss dieser Prüfung wird es möglich sein, bezüglich der Vereinbarkeit der niederländischen Regelung, die diese sechs Nährstoffe einem besonderen Zulassungsverfahren unterwirft, mit dem Grundsatz des freien Warenverkehrs zu einer Schlussfolgerung zu gelangen.

A – Untersuchung der Praxis der niederländischen Behörden

37.      Die vorliegende Vertragsverletzungsklage richtet sich im Wesentlichen gegen die Praxis der niederländischen Behörden, die beständig (58) die Zulassung zum Inverkehrbringen von Lebensmitteln ablehnen, die die sechs Nährstoffe, denen dieses Verfahren gilt, enthalten. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission erklärt, dass diese eine Rüge in drei Teile gegliedert werden könne. Zum einen werde dem Königreich der Niederlande vorgeworfen, die Zulassungsanträge kumulativ zwei Voraussetzungen zu unterwerfen: Unschädlichkeit für die Gesundheit und Befriedigung eines Ernährungsbedürfnisses. Zweitens stützten die zuständigen niederländischen Behörden ihre Entscheidungen nicht auf eine eingehende Untersuchung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle. Schließlich sei auch die Verteilung der Beweislast kritikwürdig, weil diese ausschließlich auf dem Erzeuger des Lebensmittels laste, der eine Vermarktungszulassung beantrage, obwohl an sich der Mitgliedstaat, der die Zulassung verweigere, die Gefährlichkeit des betreffenden Stoffes zu beweisen habe.

38.      Zunächst sei darauf hingewiesen, dass die niederländische Praxis auf die Fachbehörden (den Gesundheitsminister und den Beschwerdeausschuss bei diesem Ministerium) sowie auf die Gerichte (das College van Beroep voor het bedrijfsleven) zurückgeht, die im Kern mehrfach festgestellt haben (59) , dass bestimmte Nährstoffe, da sie keinem Ernährungsbedürfnis der niederländischen Bevölkerung entsprächen, notwendig ein Risiko für die Gesundheit darstellten, da der Unterschied zwischen der empfohlenen Menge und dem Einnahmeniveau mit möglicherweise schädlichen Auswirkungen nur sehr gering sei.

39.      Die Parteien vertreten in der Frage, ob das Kriterium des Ernährungsbedürfnisses der niederländischen Bevölkerung gegenüber dem der Unschädlichkeit selbständig sei, unterschiedliche Standpunkte. Während die Kommission der Auffassung ist, dass sich sowohl aus den Motiven der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln als auch aus der Behördenpraxis ergebe, dass es sich um selbständige und kumulative Kriterien handele, ist das Königreich der Niederlande der Meinung, dass das Ernährungsbedürfnis nur ein Element der allgemeinen Beurteilung der Unschädlichkeit sei.

40.      Hauptargument des Königreichs der Niederlande ist, dass die Gefährlichkeit der betreffenden Nährstoffe auf dem geringen Unterschied zwischen der wünschenswerten Menge und der gefährlichen Einnahmemenge dieser sechs Nährstoffe beruhe. Das Königreich der Niederlande führt in seinen Erklärungen vor dem Gerichtshof aus, dass seine Einschätzung des Risikos „auf der Grundlage der empfohlenen Tagesmenge, der toxikologischen Schwelle und der üblichen (durchschnittlichen) Lebensmittelmenge“ erfolge (60) . Die Verbindung zwischen dem Ernährungsbedürfnis der Bevölkerung und dem Risiko für die Gesundheit erklärt sich seiner Auffassung nach auch durch die Notwendigkeit, die kumulierte Einnahme der Nährstoffe durch den Verbraucher zu berücksichtigen.

41.      Zunächst sei darauf hingewiesen, dass diese Feststellung, selbst wenn man sie für die betreffenden Nährstoffe als zutreffend unterstellt, nicht individuell für jede Substanz belegt ist, wie wir bei der Prüfung des zweiten Teils der Rüge sehen werden.

42.      Zweitens ist die Verbindung zwischen dem Ernährungsbedürfnis, das mit Hilfe einer Untersuchung der Ernährungsgewohnheiten der niederländischen Bevölkerung ermittelt wurde, und der Gefährlichkeit der betreffenden Nährstoffe an sich schon problematisch. Auch wenn der Rückgriff auf ein Ernährungsbedürfnis, das durch Bezugnahme auf einen empfohlenen Tagesverbrauch an Vitaminen oder anderen Nährstoffen ermittelt wird, den Vorzug der Klarheit hat und den Wirtschaftsteilnehmern den Vorteil der Rechtssicherheit bietet (61) , kann er nicht als allgemeines und voraussetzungsloses Kriterium für die Beurteilung der Gefährlichkeit von Nährstoffen dienen. Ihre jeweilige Gefährlichkeit fällt wegen der ihnen eigenen Merkmale unterschiedlich aus (62) . Im vorliegenden Fall ist der geringe Unterschied, der zwischen der empfohlenen Menge und der Menge, bei deren Überschreitung Risiken für die Gesundheit entstehen können, besteht, sicherlich nicht für jeden Nährstoff der gleiche, jedenfalls führt seine Überschreitung nicht zu Risiken für die Gesundheit, die für jeden der betreffenden Nährstoffe gleich wären, ob es sich nun um ihre Natur oder ihre Intensität handelt (63) .

43.      Folglich ist der Rückgriff auf die empfohlene Tagesmenge als Schwelle, jenseits deren ein Nährstoff potenziell gefährlich für die Gesundheit wird, selbst bei einer beschränkten Zahl von Nährstoffen kein maßgeblicher Indikator, weil er nicht unmittelbar mit den spezifischen Risiken jedes einzelnen Nährstoffs zusammenhängt. Mithin ist davon auszugehen, dass in diesem Punkt ein Verstoß vorliegt.

44.      Damit komme ich zum zweiten Teil der Rüge der Kommission, der sich auf das Erfordernis einer wissenschaftlichen Analyse von Fall zu Fall bezieht. Der Rechtsprechung des Gerichtshofes lässt sich in der Tat entnehmen, dass jede Beschränkung des freien Warenverkehrs im Hinblick auf den Schutz der Gesundheit auf eine in jedem Einzelfall durchgeführte genaue wissenschaftliche Untersuchung gestützt werden muss (64) . Das Königreich der Niederlande legt die Rechtsprechung in gleichem Sinne aus, macht aber geltend, dass es diese Voraussetzung erfüllt habe und berechtigt sei, dem Vorsorgeprinzip zu folgen. Den Akten lässt sich entnehmen, dass das Königreich der Niederlande auf Risiken für die Gesundheit infolge der Einnahme von Folsäure und von Vitamin D verweist.

45.      Was die Folsäure betrifft, bezieht sich das Königreich der Niederlande auf einen Bericht des Wissenschaftlichen Ausschusses für Ernährung der Europäischen Union vom 28. November 2000 (65) . Außerdem wird von ihm ein vom Gesundheitsminister am 23. Juli 1998 in Auftrag gegebenes Gutachten des Niederländischen Gesundheitsrats erwähnt (66) , dem zufolge die Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure zahlreiche Risiken mit sich bringen kann. Diese sind allerdings weder hinsichtlich ihrer Natur noch ihrer Intensität genau beschrieben (67) . Der Gesundheitsrat spricht sich aufgrund dieses Gutachtens dafür aus, dass als Vorsorgemaßnahme bis zum Beweis der Unschädlichkeit dieses Nährstoffs die Einnahme von Folsäure durch die Bevölkerung zu begrenzen ist.

46.      Bezüglich des Vitamins D bemerkt das Königreich der Niederlande lediglich, dass eine zu hohe Einnahme Schäden für die Gesundheit hervorrufen könne, ohne diese Behauptung durch eine wissenschaftliche Studie abzusichern. Es nennt insbesondere das Risiko „einer zu großen Kalziumabsorption und allgemeinerer Vergiftungserscheinungen“ (68) .

47.      Hierzu ist festzustellen, ohne dass der Gerichtshof die Qualität der durchgeführten wissenschaftlichen Bewertungen zu prüfen hätte, dass diese nicht auf einer klaren Bewertung der Risiken für die Gesundheit beruhen, die man bei übersteigerter Einnahme der betreffenden Nährstoffe eingehen würde. Die zitierten Studien geben weder die Wahrscheinlichkeit, dass diese Risiken sich verwirklichen, noch die Schwelle an, ab der sie sich möglicherweise verwirklichen (69) . Da keine wissenschaftliche Unsicherheit bezüglich der durch die betreffenden Nährstoffe ausgelösten Risiken vorliegt, ist das Königreich der Niederlande folglich nicht berechtigt, sich zur Rechtfertigung seiner Politik auf das Vorsorgeprinzip zu berufen.

48.      Bezüglich der Bewertung der Gesundheitsrisiken der sechs Nährstoffe, die Gegenstand dieses Verfahrens sind, beruft sich das Königreich der Niederlande noch auf eine 1992 durchgeführte Verbraucheruntersuchung (70) . Diese Untersuchung betrifft den Gesamtverbrauch der niederländischen Bevölkerung an Vitaminen und Nährstoffen und nicht nur der sechs, für die die niederländischen Vorschriften eine Sonderregelung vorsehen.

49.      Auch wenn die vom Königreich der Niederlande durchgeführte Untersuchung nützlich sein könnte, um die Bewertung des spezifischen Risikos jedes der sechs betroffenen Nährstoffe für die Gesundheit zu ergänzen, kann sie sie doch nicht ersetzen. Sie könnte lediglich eine für jeden Nährstoff durchgeführte Untersuchung verfeinern, indem die besonderen Ernährungsgewohnheiten der niederländischen Bevölkerung ermittelt werden.

50.      Da die vom Königreich der Niederlande angeführten wissenschaftlichen Angaben, die Risiken aufgrund der Einnahme der sechs in diesem Verfahren betroffenen Nährstoffe belegen sollen, nicht in einer wissenschaftlichen Bewertung bestehen, die die Tragweite und die Schwere solcher Risiken für die Gesundheit ermittelt, ist das Königreich der Niederlande nicht berechtigt, sich auf das Vorsorgeprinzip zu berufen. Mithin ist festzustellen, dass die dem Königreich der Niederlande vorgeworfene Vertragsverletzung in ihrem zweiten Teil erwiesen ist.

51.      Mit dem dritten Teil ihrer Rüge macht die Kommission geltend, dass die niederländische Praxis gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, weil sie die Beweislast für die Unschädlichkeit eines Nährstoffs ausschließlich dem Antragsteller und nicht dem Mitgliedstaat auferlege.

52.      Das Königreich der Niederlande tritt diesem Standpunkt unter Hinweis auf die Natur des Zulassungsverfahrens entgegen, in dessen Verlauf der Antragsteller naturgemäß gehalten sei, Angaben zu den Produkten zu machen, die er vertreiben wolle, ohne dass dies eine Umkehr der Beweislast darstelle.

53.      Da es Sache des Königreichs der Niederlande ist, ein Vermarktungsverbot mit Gründen zu rechtfertigen, die mit der Gefährlichkeit zusammenhängen, die anhand der vorherigen spezifischen Analyse der Risiken wissenschaftlich nachgewiesen wurde, lässt sich insoweit nicht von einer Umkehr der Beweislast sprechen. Das Königreich der Niederlande kann nämlich ein Verbot nur aussprechen, wenn es den Nachweis erbringt, dass der betreffende Stoff ein Risiko für die Gesundheit darstellt (71) . Die Vertragsverletzung dürfte daher in diesem Punkt nicht erwiesen sein.

54.      Folglich ist die niederländische Praxis aus den vorstehend angeführten Gründen als Verstoß gegen die Artikel 30 und 36 EG‑Vertrag anzusehen, da sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet, weil sie zum einen die Gefährlichkeit ausschließlich mit Blick auf das Ernährungsbedürfnis feststellt und sich zum anderen nicht auf eine vorherige, für jeden Nährstoff gesonderte Analyse der Risiken stützt.

B – Untersuchung der niederländischen Regelung

55.      Es sei erneut daran erinnert, dass sich die Vertragsverletzungsklage der Kommission auf die besondere Regelung beschränkt, die für sechs Nährstoffe gilt: Vitamin A in der Form von Retinoiden, Vitamin D, Selen, Folsäure, Kupfer und Zink (72) .

56.      Die Vertragsverletzung, die die Kommission dem Königreich der Niederlande vorwirft, bezieht sich nicht nur auf die Praxis der niederländischen Behörden, d. h. auf deren Anwendung des geltenden Rechts, sondern auch auf die Regelung selbst. Es scheint auf den ersten Blick schwierig, eine rechtliche Regelung von ihrer Anwendung durch die mit dieser Anwendung betrauten Behörden zu trennen. Außerdem formuliert die Kommission ihre Rüge nicht sehr klar. Es hat allerdings den Anschein, als beanstande sie im Kern an der niederländischen Regelung, dass sie eine Vermutung der Gefährlichkeit für die sechs hier betroffenen Nährstoffe aufstelle. Es soll nicht nur wegen der Praxis der niederländischen Behörden unmöglich sein, eine Erlaubnis für das Inverkehrbringen für ein Lebensmittel mit Zusatz eines der sechs Nährstoffe zu erhalten, sondern auch, weil die geltende Regelung keinen Raum für eine andere Auslegung lasse.

57.      Die Kommission, die sogar den Grundsatz eines Zulassungsverfahrens für die sechs Nährstoffe bekämpft, ist der Auffassung, dass eine Etikettierung der Lebensmittel mit gegebenenfalls dem Hinweis auf den Zusatz dieser Nährstoffe ausreichend wäre, um die öffentliche Gesundheit zu schützen und den Verbraucher zu informieren.

58.      Das Königreich der Niederlande ist demgegenüber der Meinung, dass eine Etikettierung der Produkte nicht das Risiko vermeiden helfe, dass die Bevölkerung oder bestimmte Bevölkerungsgruppen bei der Einnahme bestimmter Nährstoffe die annehmbare Sicherheitsgrenze überschritten, denn selbst ein sehr gut informierter Verbraucher sei nicht in der Lage, die Gesamtmenge der Nährstoffe einzuschätzen, die er täglich zu sich nehme.

59.      Insoweit hat es für mich den Anschein, dass – vorbehaltlich der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der niederländischen Regelung – die Unterwerfung der Anreicherung von Lebensmitteln mit Nährstoffen unter ein Zulassungsverfahren nach ständiger Rechtsprechung zulässig ist, obwohl sie eine Beschränkung des freien Warenverkehrs darstellt (73) . Das Vorbringen des Königreichs der Niederlande, der Verbraucher könne nicht wissen, wie viel Nährstoffe insgesamt er zu sich nehme, ist überzeugend. Außerdem soll die Etikettierung in erster Linie den Verbraucher informieren und nicht seine Gesundheit schützen.

60.      Es ergibt sich indessen aus den Akten, dass die betreffende niederländische Regelung zum einen nicht die vorherige Erstellung einer besonderen Risikoanalyse zur Begründung der Verweigerung eines Inverkehrbringens verlangt und zum anderen für den Nachweis der Gefährlichkeit eines Nährstoffs dem Kriterium des Ernährungsbedürfnisses ein überwiegendes Gewicht beimisst.

61.      Ich schlage daher als Ergebnis vor, dass das Königreich der Niederlande dadurch, dass es eine Regelung wie die in Rede stehende eingeführt und beibehalten hat, die sechs Nährstoffe einem besonderen Zulassungsverfahren unterwirft, gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 30 und 36 EG‑Vertrag verstoßen hat, soweit seine Regelung für die Gefährlichkeit der Nährstoffe auf das Kriterium des Ernährungsbedürfnisses der niederländischen Bevölkerung abstellt und keine vorherige Beurteilung des spezifischen Risikos jedes einzelnen Nährstoffs vorsieht.

IV – Ergebnis

62.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass

1.
das Königreich der Niederlande dadurch, dass es eine Ausnahmeregelung anwendet, wonach in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Lebensmittel, die mit Vitamin A (in Form von Retinoiden), Vitamin D, Folsäure, Selen, Kupfer oder Zink angereichert wurden und die keine Ersatzprodukte oder rekonstituierten Produkte sind, nach dem Warenwetbesluit Bereiding en behandeling van levensmiddelen (Durchführungsverordnung zum Lebensmittelgesetz bezüglich der Herstellung und Behandlung von Lebensmitteln) vom 10. Dezember 1992 und dem Warenwetbesluit Toevoeging micro‑voedingsstoffen aan levensmiddelen (Durchführungsverodnung zum Lebensmittelgesetz bezüglich des Zusatzes von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln) vom 24. Mai 1996 nicht in den Niederlanden auf den Markt gebracht werden dürfen, gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 30 und 36 EG‑Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) verstoßen hat, soweit in seiner Praxis für die Gefährlichkeit der Nährstoffe auf das Kriterium des Ernährungsbedürfnisses der Bevölkerung abgestellt und keine vorherige Beurteilung des spezifischen Risikos jedes einzelnen Nährstoffs vorgenommen wird;

2.
das Königreich der Niederlande dadurch, dass es Rechtsvorschriften über Lebensmittelzusatzstoffe (Verordnung über die Herstellung und Behandlung von Lebensmitteln vom 10. Dezember 1992 und Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln vom 24. Mai 1996) erlassen hat, wonach in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellte und in den Verkehr gebrachte Lebensmittel, die mit Vitamin A (in Form von Retinoiden), Vitamin D, Folsäure, Selen, Kupfer oder Zink angereichert wurden und die keine Ersatzprodukte oder rekonstituierten Produkte im Sinne der genannten Verordnungen sind, nicht in den Niederlanden auf den Markt gebracht werden dürfen, gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 30 und 36 EG‑Vertrag verstoßen hat, soweit seine Regelung für die Gefährlichkeit der Nährstoffe auf das Kriterium des Ernährungsbedürfnisses der Bevölkerung abstellt und keine vorherige Beurteilung des spezifischen Risikos jedes einzelnen Nährstoffs vorsieht.


1
Originalsprache: Portugiesisch.


2
Da der betreffende Rechtssachverhalt vor dem 1. Mai 1999 liegt, sind maßgeblich die Vorschriften vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam.


3
ABl. L 109, S. 8.


4
ABl. L 100, S. 30.


5
Stbl. 1996, S. 311 (im Folgenden: Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln).


6
Artikel 10 des Warenbesluit Bereiding en behandeling van levensmiddelen (Durchführungsverordnung zum Lebensmittelgesetz bezüglich der Herstellung und Behandlung von Lebensmitteln) vom 10. Dezember 1992 (Stbl. 1992, S. 678).


7
Artikel 10 der Verordnung vom 24. Mai 1996 ändert Artikel 10 der Durchführungsverordnung zum Lebensmittelgesetz bezüglich der Herstellung und Behandlung von Lebensmitteln ab (nachstehend: Verordnung über die Herstellung und Behandlung von Lebensmitteln).


8
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


9
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


10
Artikel 5 der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


11
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


12
Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe d der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


13
Noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht.


14
Gemäß Artikel 5 der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln sind dies: Vitamin A in der Form von Retinoiden, Vitamin D, Folsäure, Selen, Kupfer und Zink.


15
Nach der dänischen Verwaltungspraxis war der Zusatz von Stoffen nur in ganz bestimmten Fällen zulässig: bei einem entsprechenden Ernährungs- oder technologischen Bedürfnis, einem Ersatzprodukt oder einem für eine besondere Ernährung bestimmten Produkt (Urteil Kommission/Dänemark, Randnr. 11).


16
Motive zur Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln, zitiert in Nr. 37 der Klageschrift.


17
Eine teilweise Harmonisierung ist für Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind, durch die Richtlinie 89/398/EWG des Rates vom 3. Mai 1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Lebensmittel, die für eine besondere Ernährung bestimmt sind (ABl. L 186, S. 27), zuletzt geändert durch die Richtlinie 1999/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. Juni 1999 (ABl. L 172, S. 38) sowie für Lebensmittelzusätze durch die Richtlinie 2002/46/EG des Europäschen Parlaments und des Rates vom 10. Juni 2002 (ABl. L 183, S. 51) erfolgt. Die Richtlinie 89/107/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen (ABl. 1989, L 40, S. 27) in der Fassung der Richtlinie 94/34/EG des Europäschen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1994 (ABl. L 237, S. 1) (nachstehend: Richtlinie 89/107) gilt gemäß ihrem Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe d nicht für Stoffe, die Lebensmitteln zu Ernährungszwecken zugesetzt werden (wie etwa Minerale, Spurenelemente oder Vitamine).


18
Ich verwende in der Folge den Ausdruck „Nährstoff“ im gleichen Sinne wie den Ausdruck Mikronährstoff.


19
Urteile vom 20. Mai 1976 in der Rechtssache 104/75 (De Peijper, Slg. 1976, 613, Randnr. 15) und vom 10. November 1994 in der Rechtssache C-320/93 (Ortscheit, Slg. 1994, I-5143, Randnr. 16): „[D]ie Gesundheit und das Leben von Menschen [nehmen] unter den in Artikel 36 EWG-Vertrag geschützten Gütern und Interessen den ersten Rang ein ...“.


20
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 42 und die dort zitierten Urteile).


21
Vgl. z. B. Urteil vom 14. Juli 1983 in der Rechtssache 174/82 (Sandoz, Slg. 1983, 2445, Randnr. 18) und zuletzt Urteil vom 15. Juli 2004 in der Rechtssache C‑443/02 (Schreiber, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


22
Urteile vom 19. Juni 2003 in der Rechtssache C-443/02 (Kommission/Italien, Slg. 2003, I-6445, Randnr. 31) und vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C-270/02 (Kommission/Italien, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 22 bis 24).


23
In diesem Rahmen ist der von der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich eingeführte allgemeine systematische Ansatz, der ausschließlich auf die empfohlene tägliche Ration und nicht auf die Gefährlichkeit jedes Vitamins, jeder Vitamingruppe und jedes Mineralsalzes abstellt, für unvereinbar mit den Artikeln 30 und 36 EG‑Vertrag erklärt worden: Urteile vom 29. April 2004 in der Rechtssache C-387/99 (Kommission/Deutschland, Randnrn. 78 und 79) und in der Rechtssache C-150/00 (Kommission/Österreich, Randnr. 96), beide noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht.


24
Vgl. insbesondere Urteil vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C-24/00 (Kommission/Frankreich, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 75).


25
Vgl. z. B. Urteile vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 53/80 (Eyssen, Slg. 1981, 409), Sandoz, vom 10. Dezember 1985 in der Rechtssache 247/84 (Motte, Slg. 1985, 3887) und vom 6. Mai 1986 in der Rechtssache 304/84 (Muller u. a., Slg. 1986, 1511), denen zufolge das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die das Inverkehrbringen von Lebensmitteln mit Vitaminzusatz ohne vorherige Zulassung durch die Verwaltung verbietet.


26
Artikel 11 der Richtlinie 89/107.


27
Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 89/107: „Die Mitgliedstaaten dürfen das Inverkehrbringen von Lebensmittelzusatzstoffen ... nicht verbieten, einschränken oder verhindern, wenn diese dieser Richtlinie ... entsprechen“.


28
So hat der Gerichtshof im Urteil vom 19. September 1984 in der Rechtssache 94/83 (Heijn, Slg. 1984, 3263) festgestellt: „Schädlingsbekämpfungsmittel stellen erhebliche Gefahren für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt dar. Auf Gemeinschaftsebene ist dies insbesondere in der fünften Begründungserwägung zur bereits zitierten Richtlinie 76/895 des Rates anerkannt worden, wonach ‚Schädlingsbekämpfungsmittel ... nicht nur günstige Auswirkungen auf die Pflanzenerzeugung [haben], da es sich in der Regel um giftige Stoffe oder um Zubereitungen mit gefährlicher Wirkung handelt‘“. Vgl. zuletzt Urteil Schreiber, in dem eine nationale Maßnahme, die für das Inverkehrbringen von Holzsimsen aus Rotzeder mit natürlichen Mottenbekämpfungseigenschaften eine Zulassung forderte, als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar angesehen worden ist. Zu Desinfektionsmitteln vgl. Urteil vom 17. Dezember 1981 in der Rechtssache 272/80 (Frans-Nederlands Maatschappij voor Biologische Producten, Slg. 1981, 3277).


29
Urteile vom 27. Juni 1996 in der Rechtssache C-293/94 (Brandsma, Slg. 1996, I‑3159, Randnr. 12) und vom 17. September 1998 in der Rechtssache C-400/96 (Harpegnies, Slg. 1998, I-5121, Randnr. 35).


30
Urteile Kommission/Dänemark (Randnr. 53) und Kommission/Frankreich (Randnrn. 36 und 37).


31
Vgl. z. B. Urteil vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C-95/01 (Greenham und Abel, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 50).


32
Vgl. z. B. Urteil vom 5. Februar 2004 (Kommission/Frankreich, Randnr. 26).


33
Das Urteil Canal Satélite, das im Bereich der Normen und technischen Vorschriften ergangen ist, wendet den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf ein Zulassungsverfahren in vergleichbarer Weise an (Urteil vom 22. Januar 2002 in der Rechtssache C-390/99, Canal Satélite Digital, Slg. 2002, I-607, Randnr. 43).


34
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 48).


35
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 48).


36
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 47); vgl. auch Urteil vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache C-17/93 (Van der Veldt, Slg. 1994, I-3537, Randnr. 17): Die behauptete Gefahr ist „nicht anhand allgemeiner Überlegungen, sondern auf der Grundlage von relevanten wissenschaftlichen Untersuchungen zu beurteilen“.


37
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 46).


38
Die Bedeutung der Risikoprüfung für die von den Mitgliedstaaten geforderte Festlegung einer Ernährungspolitik ist auch auf Gemeinschaftsebene in Artikel 6 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1) verankert: „[D]as Lebensmittelrecht [stützt sich] auf Risikoanalysen.“


39
Zitiert in Fußnote 25 (Randnr. 24).


40
Urteil vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-42/90 (Bellon, Slg. 1990, I‑4863, Randnr. 17).


41
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 48); vgl. auch Artikel 3 Absatz 9 der Verordnung Nr. 178/2002, der das Risiko definiert als „eine Funktion der Wahrscheinlichkeit einer die Gesundheit beeinträchtigenden Wirkung und der Schwere dieser Wirkung als Folge der Realisierung einer Gefahr“. Bei den Voraussetzungen für eine Abweichung von den Grundsätzen des Binnenmarkts bei Vornahme einer Harmonisierung (in diesem Fall auf der Grundlage des Artikels 95 Absatz 5 EG oder aufgrund der Vorbehaltsklauseln in der anwendbaren Richtlinie oder Verordnung) oder bei deren Fehlen (aufgrund von Artikel 30 EG) zeichnet sich eine Parallele ab. Vgl. hierzu K. Mortelmans, „The relationship between the treaty rules and community measures for the establishment and functioning of the internal market – towards a concordance rule“, 39 CMLRev 2002, S. 1303.


42
Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 54):  „[D]as Kriterium des Ernährungsbedürfnisses der Bevölkerung eines Mitgliedstaats [kann] eine Rolle bei der von diesem vorgenommenen eingehenden Prüfung des Risikos spielen ..., das für die öffentliche Gesundheit mit dem Zusatz von Nährstoffen zu Lebensmitteln verbunden sein kann“. Generalanwalt Gulmann gibt in Nr. 26 seiner Schlussanträge vom 8. April 1992 in der Rechtssache C-95/89 (Kommission/Italien, Urteil vom 16. Juli 1992, Slg. 1992, I‑4545) diesem Ausdruck die Bedeutung, dass „zu prüfen ist, ob bestimmte Ernährungsgewohnheiten für das betreffende Erzeugnis im Einfuhrmitgliedstaat zu besonderen Gesundheitsproblemen führen können“. Vgl. auch C. Joerges, „Scientific Expertise in Social Regulation and the European Court of Justice: Legal Frameworks for Denationalized Governance Structures“, in: Integrating Scientific Expertise intoRegulatory Decision-Making, 1997, herausgegeben von C. Joerges, K. H. Ladeur und E. Vos, S. 295 (S. 320).


43
Vgl. Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 54): „[D]as Fehlen eines solchen Bedürfnisses allein [kann jedoch] nicht ein völliges Verbot des Inverkehrbringens von in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und/oder in den Verkehr gebrachten Erzeugnissen auf der Grundlage des Artikels 30 EG rechtfertigen“ sowie Urteil Greenham und Abel (Randnr. 46). Diese Urteile haben die frühere Rechtsprechung geklärt, die bisweilen dem Ernährungsbedürfnis eine unabhängige Rolle zuzugestehen und davon auszugehen schien, dass die Schädlichkeit eines Zusatzstoffes nicht das einzige Kriterium sei, das bei der Entscheidung über seine Zulassung zu berücksichtigen sei (vgl. insbesondere Urteile Motte und Muller u. a., zitiert in Fußnote 25, Randnrn. 21 bzw. 25). In ihrem Vorbringen beziehen sich die Parteien in erster Linie auf Randnr. 20 des Urteils Sandoz (zitiert in Fußnote 25).


44
Urteile vom 4. Juni 1992 in den Rechtssachen C-13/91 und C-113/91 (Debus, Slg. 1992, I-3617, Randnr. 17) und vom 12. März 1987 in der Rechtssache 178/84 (Kommission/Deutschland, „Reinheitsgebot für Bier“, Slg. 1987, 1227, Randnr. 44).


45
Vgl. die Ausführungen zur wissenschaftlichen Unsicherheit bei den Nisin-Risiken in Randnr. 13 des Urteils Eyssen (zitiert in Fußnote 25).


46
Vgl. Urteil vom 9. September 2003 in der Rechtssache C-236/01 (Monsanto Agricoltura Italia u. a., noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 106) sowie Urteil des EFTA‑Gerichtshofes vom 5. April 2001 (EFTA Surveillance Authority/Norway, Reports of EFTA Court 2000-2001, S. 73, Randnrn. 36 bis 38).


47
Vgl. Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 52): „Wenn es sich als unmöglich erweist, das Bestehen oder den Umfang des behaupteten Risikos mit Sicherheit festzustellen, weil die Ergebnisse der durchgeführten Studien unzureichend, unschlüssig oder ungenau sind, die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Schadens für die öffentliche Gesundheit jedoch fortbesteht, falls das Risiko eintritt, rechtfertigt das Vorsorgeprinzip den Erlass beschränkender Maßnahmen“. Vgl. auch Urteile Greenham und Abel (Randnr. 48) und Kommission/Frankreich (Randnr. 56). Diese Formulierung findet sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Erlass von Schutzmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten wieder, vgl. z. B. Urteile Monsanto Agricoltura Italia u. a. (Randnr. 111) sowie vom 5. Mai 1998 in der Rechtssache C-157/96 (National Farmer’s Union u. a., Slg. 1998, I-2211, Randnr. 63) und in der Rechtssache C‑180/96 (Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg. 1998, I-2265, Randnr. 99).


48
Die Pflicht der Mitgliedstaaten, ihr Recht aufgrund des Fortschritts der Wissenschaft zu überprüfen, ist in den Urteilen Heijn (zitiert in Fußnote 28, Randnr. 18) und vom 19. Juni 2003 (Kommission/Italien, Randnr. 32) bestätigt worden. Eine solche Überprüfung ist übrigens in Artikel 7 der Verordnung Nr. 178/2002 vorgesehen.


49
Vgl. Urteil Kommission/Dänemark (Randnr. 52). Bei der Würdigung der Rechtmäßigkeit des Rückgriffs auf das Vorsorgeprinzip im Rahmen des Artikels 95 Absatz 5 EG hatte der Gerichtshof gefordert, dass „die Risikobewertung, über die die nationalen Behörden verfügen, spezifische Indizien erkennen lässt, die, ohne die wissenschaftliche Unsicherheit zu beseitigen, auf der Grundlage der verlässlichsten verfügbaren wissenschaftlichen Daten und der neuesten Ergebnisse der internationalen Forschung vernünftigerweise den Schluss zulassen, dass die Durchführung dieser Maßnahmen geboten ist, um zu verhindern, dass neuartige Lebensmittel, die mit potenziellen Risiken für die menschliche Gesundheit behaftet sind, auf dem Markt angeboten werden“ (Urteil Monsanto Agricoltura Italia u. a., zitiert in Fußnote 46, Randnr. 113).


50
Vgl. hierzu den in Fußnote 42 zitierten Artikel von C. Joerges: „Member states are requested to design their legislation in a way that enables integration of scientific findings and they are bound to give credit to scientific analyses undertaken beyond their territories“ (S. 307) sowie im gleichen Artikel: „societies granting freedoms or imposing regulatory burdens must consider the adverse extraterritorial effects of their policies“ (S. 322).


51
E. Fisher, „Precaution, Precaution Everywhere: Developing a ‚Common Understanding‘ of the Precautionary Principle on the European Community“, 9 Maastricht Journal of Comparative Law, 2002, S. 7; G. Majone, „What Price Safety? The Precautionary Principle and its Policy Implications“, JCMS 2002, Band 40, S. 89.


52
Erforderlich ist allein die Berücksichtigung der wissenschaftlichen Beurteilung. Vgl. hierzu Urteil vom 20. März 2003 in der Rechtssache C-3/00 (Dänemark/Kommission, Slg. 2003, I-2643, Randnr. 114).


53
Generalanwalt Van Gerven geht auf diese Frage in Nr. 5 seiner Schlussanträge in der Rechtssache C-290/90 (Urteil vom 20. Mai 1992, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-3317) ein: „Will die Kommission die von dem Mitgliedstaat angeführten Tatsachen bestreiten, so muss sie dies anhand ebenso glaubhafter Tatsachen tun“. Da zwischen Forschungseinrichtungen keine Hierarchie besteht, ist schwer zu entscheiden, weshalb man bei Abweichungen eher der einen Schlussfolgerung als der anderen folgen sollte.


54
Eine Untersuchung dieses Verfahrenserfordernisses bei J. L. Cruz Vilaça in: The Precautionary Principle in EC Law, European Public Law, Juni 2004, S. 369. Der Gerichtshof könnte darüber zu entscheiden haben, welche Art von Untersuchung er als maßgeblich ansieht. Insoweit lässt sich die respektvolle Haltung der amerikanischen Gerichte gegenüber Untersuchungen der Regulierungsbehörden (vgl. z. B. die Urteile des US Supreme Court: Industrial Union Dept. v. American Petrol. Inst., 448 U.S. 607 (1980), und Whitman, Administrator of Environmental Protection Agency v. American Trucking, erlassen am 27. Februar 2001) vergleichen mit der gründlicheren Würdigung des Berufungsgremiums in kürzlich durchgeführten Verfahren im Rahmen des Übereinkommens (WTO) über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (Bericht des Berufungsgremiums der WTO in den Verfahren Gemeinschaftsmaßnahmen betreffend Fleisch und Fleischprodukte [Hormone], WT/DS26/AB/R, Japan – Maßnahmen betreffend Agrarprodukte, WT/DS76/8/AB/R, Gemeinschaftsmaßnahmen betreffend Asbest und asbesthaltige Produkte, WT/DS135/AB/R).


55
Die Wissenschaft sollte anders ausgedrückt nicht als „Alibi“ für politisch motivierte Entscheidungen dienen. Vgl. hierzu M. Shapiro, „The Frontiers of Science Doctrine: American Experience with the Judicial Control of Science-Based Decision-Making“, in Integrating Scientific Expertise into Regulatory Decision‑Making (zitiert in Fußnote 42, S. 325).


56
Artikel 5 der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


57
Artikel 23 des Lebensmittelgesetzes.


58
In der Sitzung hat die Vertreterin des Königreichs der Niederlande angegeben, dass im Jahr 2000 eine Zulassung des Inverkehrbringens erteilt worden sei. Sie hat eingeräumt, dass bis zu diesem Zeitpunkt, der dem Ablauf der in der letzten mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist nachfolgt, keine Zulassung erteilt worden sei.


59
Die Kommission führt in ihrer Klageschrift mehrere Verfahren an, die zu einer Verweigerung der Zulassung durch die niederländischen Behörden geführt haben: Die Zerealien von Kellogg’s und die Energieriegel von Inkosport Nederland sind zwei Beispiele.


60
Gegenerwiderung, Nr. 7.


61
Schlussanträge des Generalanwalts Geelhoed vom 16. Mai 2002 in den Rechtssachen Kommission/Deutschland und Kommission/Österreich (Nr. 56, Urteile vom 29. April 2004).


62
Vgl. entsprechend Urteile vom 29. April 2004 (Kommission/Deutschland, Randnr. 60, und Kommission/Österreich, Randnr. 95).


63
Diese Unterschiede ergeben sich aus Angaben des Königreichs der Niederlande zu den Risiken, die sich bei übertriebener Einnahme von Vitamin D oder Vitamin A einstellen. Man kann auch auf die Berichte des Wissenschaftlichen Ausschusses für Lebensmittel (31. Serie), Gutachten vom 11. Dezember 1992 über Nährstoffe und Kalorienverbrauch in der Europäischen Gemeinschaft verweisen. Diesem Gutachten ist zu entnehmen, dass die Gefahrenschwelle für die Gesundheit bei Zink ungefähr dem dreifachen BVB (Bezugsverbrauch einer Bevölkerung), bei Vitamin D dem fünffachen BVB, bei Vitamin A, Kupfer und Selen dem zehnfachen BVB und bei Foliat fast dem fünfundzwanzigfachen BVB entspricht.


64
Neben dem Urteil Kommission/Dänemark lassen sich anführen die Urteile zu den französischen Rechtsvorschriften vom 5. Februar 2004 (Kommission/Frankreich und Greenham und Abel) sowie zu den italienischen Rechtsvorschriften vom 19. Juni 2003 (Kommission/Italien) und vom 5. Februar 2004 (Kommission/Italien).


65
Klagebeantwortung, Nr.  9.


66
Klagebeantwortung, Nr. 11.


67
Die vom Königreich der Niederlande angeführten Punkte betreffen vor allem zwei Risikogruppen: Schwangere und alte Menschen.


68
Klagebeantwortung, Nr. 45.


69
Urteil vom 5. Februar 2004 (Kommission/Frankreich, Randnr. 61).


70
Nach den Erklärungen des Königreichs der Niederlande in der Sitzung wird eine solche Untersuchung alle fünf Jahre durchgeführt, was eine etwaige Aktualisierung des geltenden Rechts ermöglichen solle.


71
Vgl. z. B. Urteil Bellon (zitiert in Fußnote 40, Randnr. 16).


72
Artikel 5 der Verordnung über den Zusatz von Mikronährstoffen zu Lebensmitteln.


73
Vgl. insbesondere Urteile Sandoz (zitiert in Fußnote 21, Randnr. 17), Muller u. a. (zitiert in Fußnote 25, Randnr. 23), vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C‑95/89 (Kommission/Italien, Slg. 1992, I-4545, Randnrn. 8 bis 10), vom 23. September 2003 (Kommission/Dänemark, Randnr. 44) und vom 29. April 2004 (Kommission/Deutschland, Randnr. 70).

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