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Document 61997CC0119

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 26. Mai 1998.
Union française de l'express (Ufex), vormals Syndicat français de l'express international (SFEI), DHL International und Service CRIE gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften und May Courier.
Rechtsmittel - Wettbewerb - Abweisung einer Nichtigkeitsklage - Aufgabe der Kommission nach den Artikeln 85 und 86 EG-Vertrag - Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses.
Rechtssache C-119/97 P.

Sammlung der Rechtsprechung 1999 I-01341

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1998:255

61997C0119

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 26. Mai 1998. - Union française de l'express (Ufex), vormals Syndicat français de l'express international (SFEI), DHL International und Service CRIE gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften und May Courier. - Rechtsmittel - Wettbewerb - Abweisung einer Nichtigkeitsklage - Aufgabe der Kommission nach den Artikeln 85 und 86 EG-Vertrag - Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses. - Rechtssache C-119/97 P.

Sammlung der Rechtsprechung 1999 Seite I-01341


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Das vorliegende Rechtsmittel wurde von den Unternehmen Union française de l'expreß (UFEX, früher Syndicat français de l'expreß international, SFEI), DHL International und CRIE gegen das Urteil eingelegt, das das Gericht erster Instanz am 15. Januar 1997 in der Rechtssache T-77/95(1) erlassen hat.

2 Mit dem angefochtenen Urteil hatte das Gericht erster Instanz die Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung der Kommission vom 30. Dezember 1994 abgewiesen, mit der die am 21. Dezember 1990 von bestimmten Unternehmen eingelegte Beschwerde zurückgewiesen worden war; diese Beschwerde zielte auf die Einleitung einer Untersuchung des Verhaltens der französischen Post (im folgenden: La Poste) betreffend die von einer Tochtergesellschaft der Post durchgeführten Tätigkeiten auf dem Gebiet der internationalen Eilkurierdienste. Konkret gesprochen ging es um die Feststellung, ob dieses Verhalten im Widerspruch zu den den freien Wettbewerb regelnden Artikeln des EG-Vertrags stand.

Sachverhalt

3 Nach dem erstinstanzlichen Urteil liegt dem Rechtsstreit folgender Sachverhalt zugrunde:

Am 21. Dezember 1990 erhob das SFEI, dessen Mitglieder die drei anderen Klägerinnen sind, eine Beschwerde bei der Kommission, die auf die Feststellung gerichtet war, der französische Staat habe gegen die Artikel 92 ff. EWG-Vertrag (nunmehr EG-Vertrag; im folgenden: Vertrag) verstossen.

Am 18. März 1991 fand in Brüssel ein informelles Treffen zwischen Vertretern des Beschwerdeführers und der Kommission statt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde die Frage eines eventuellen Verstosses von La Poste in ihrer Eigenschaft als Unternehmen gegen Artikel 86 sowie des französischen Staates gegen Artikel 90 und die Artikel 3 Buchstabe g, 5 und 86 des Vertrages angeschnitten.

Der Meinungsaustausch lässt sich nach den Ausführungen der Kläger, denen die Kommission nicht widersprochen hat, wie folgt zusammenfassen.

Im Hinblick auf Artikel 86 beanstandeten die Kläger die logistische und unternehmerische Unterstützung, die La Poste einer ihrer Tochtergesellschaften, der auf dem Gebiet der internationalen Eilkurierdienste tätigen Société française de messageries internationales (seit 1992 GDEW France) (im folgenden: SFMI) gewähre.

Was die logistische Unterstützung betrifft, so wandten sich die Kläger dagegen, daß La Poste ihre Infrastrukturen für das Abholen, Sortieren, Befördern, Verteilen und Zustellen der Postsendungen an den Kunden zur Verfügung stelle; sie beanstandete ferner, daß ein normalerweise La Poste vorbehaltenes günstigeres Zollabfertigungsverfahren praktiziert und günstigere finanzielle Bedingungen angewandt würden. In bezug auf die unternehmerische Unterstützung wiesen die Kläger zum einen auf die Übertragung von Teilen des Geschäftsvermögens wie des tatsächlichen und potentiellen Kundenstamms und zum anderen auf Werbe- und Verkaufsförderungsmaßnahmen hin, die von La Poste zugunsten von SFMI durchgeführt würden.

Das mißbräuchliche Verhalten habe darin bestanden, daß La Poste ihre Infrastruktur zu ungewöhnlich günstigen Bedingungen von ihrer Tochtergesellschaft SFMI habe benutzen lassen, um ihre beherrschende Stellung auf dem Markt für Basispostleistungen auf den mit diesem verbundenen Markt der internationalen Eilkurierdienste auszudehnen. Dieser Mißbrauch habe zu Quersubventionen zugunsten der SFMI geführt.

Zu Artikel 90 einerseits und den Artikeln 3 Buchstabe g und 5 und 86 des Vertrages andererseits machten die Kläger geltend, die rechtswidrige Unterstützung, die La Poste ihrer Tochtergesellschaft gewähre, beruhe auf einer Reihe von Weisungen und Richtlinien des französischen Staates.

Mit Schreiben vom 10. März 1992 an den Anwalt des Beschwerdeführers wies die Kommission die auf Artikel 86 des Vertrages gestützte Beschwerde zurück.

Am 16. Mai 1992 erhoben das SFEI, die DHL International, die Service CRIE und die May Courier gegen diese Entscheidung eine Nichtigkeitsklage, die vom Gericht erster Instanz für unzulässig erklärt wurde (Beschluß vom 30. November 1992 in der Rechtssache T-36/92, SFEI u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2479). Auf Rechtsmittel hob der Gerichtshof diesen Beschluß auf und verwies die Sache an das Gericht erster Instanz zurück (Urteil vom 16. Juni 1994 in der Rechtssache C-39/93 P, SFEI u. a./Kommission, Slg. 1994, I-2681).

Mit Schreiben vom 4. August 1994 hob die Kommission die den Gegenstand des Verfahrens in der Rechtssache T-36/92 bildende Entscheidung auf. Das Gericht erster Instanz erklärte daher die Hauptsache für erledigt (Beschluß vom 3. Oktober 1994 in der Rechtssache T-36/92, SFEI u. a./Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).

Am 29. August 1994 forderte das SFEI die Kommission gemäß Artikel 175 des Vertrages auf, tätig zu werden.

Am 28. Oktober 1994 richtete die Kommission ein Schreiben gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, 2268) an das SFEI, in dem sie diesem mitteilte, daß sie die Beschwerde zurückzuweisen beabsichtige.

Mit Schreiben vom 28. November 1994 übermittelte das SFEI der Kommission seine Bemerkungen und forderte sie auf, ihm eine endgültige Entscheidung mitzuteilen.

Am 30. Dezember 1994 erließ die Kommission die den Gegenstand der vorliegenden Klage bildende Entscheidung (im folgenden: Entscheidung). Diese wurde dem SFEI am 4. Januar 1995 mitgeteilt.

Die angefochtene Entscheidung

4 Die vor dem Gericht erster Instanz angefochtene Entscheidung hat folgenden Wortlaut: (die Numerierung der Absätze wird nicht wiedergegeben):

"Die Kommission bezieht sich auf Ihre am 21. Dezember 1990 bei meinen Dienststellen eingegangene Beschwerde, der eine Abschrift einer am 20. Dezember 1990 beim französischen Conseil de la concurrence erhobenen Beschwerde beigefügt war. Beide Beschwerden betrafen die internationalen Eilkurierdienste der französischen Postverwaltung.

Mit Schreiben vom 28. Oktober 1994 teilte Ihnen die Kommission gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 mit, daß es die von ihr im Rahmen der Untersuchung der Sache ermittelten Umstände nicht rechtfertigten, Ihrer Beschwerde stattzugeben, soweit diese auf Artikel 86 des Vertrages gestützt werde, und forderte Sie auf, hierzu Stellung zu nehmen.

In Ihrer Stellungnahme vom 28. November 1994 hielten Sie an Ihrer Auffassung hinsichtlich des Vorliegens eines Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung durch die französische Post und die SFMI fest.

Die Kommission teilt Ihnen daher unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme mit dem vorliegenden Schreiben ihre endgültige Entscheidung über Ihre Beschwerde vom 21. Dezember 1990 betreffend die Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 86 mit.

Die Kommission ist aus den in ihrem Schreiben vom 28. Oktober 1994 dargestellten Gründen der Auffassung, daß im vorliegenden Fall keine ausreichenden Nachweise für eine Fortdauer der angeblichen Zuwiderhandlungen vorliegen, so daß Ihrem Antrag nicht stattgegeben werden kann. Insoweit ergibt sich aus Ihrer Stellungnahme vom 28. November 1994 kein neuer Gesichtspunkt, der es der Kommission ermöglichen würde, dieses auf den nachstehenden Gründen beruhende Ergebnis zu ändern.

Zum einen behandeln das Grünbuch über die Entwicklung des Binnenmarktes für Postdienste und die Leitlinien für die Entwicklung der gemeinschaftlichen Postdienste (KOM [93] 247 endg. vom 2. Juni 1993) u. a. die in der Beschwerde des SFEI im wesentlichen aufgeworfenen Fragen. Obwohl diese Dokumente nur Vorschläge für das künftige Recht enthalten, müssen sie speziell bei der Beurteilung der Frage berücksichtigt werden, ob die Kommission ihre beschränkten Mittel angemessen verwendet und ob ihre Dienststellen insbesondere eine rechtliche Regelung für den künftigen Markt für Postdienste ausarbeiten, statt von Amts wegen ihnen zur Kenntnis gebrachte angebliche Zuwiderhandlungen zu untersuchen.

Zum anderen veröffentlichte die Kommission aufgrund einer Untersuchung, die sie gemäß der Verordnung Nr. 4064/89 bei dem von TNT, der Post und vier weiteren Postverwaltungen gegründeten Gemeinschaftsunternehmen (GD Net) durchgeführt hatte, ihre Entscheidung vom 2. Dezember 1991 in der Sache Nr. IV/M.102. Sie beschloß mit dieser Entscheidung, keine Einwände gegen den angemeldeten Zusammenschluß zu erheben und diesen für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar zu erklären. Sie wies insbesondere darauf hin, daß für das Gemeinschaftsunternehmen $durch die beabsichtigte Transaktion keine beherrschende Stellung, die den Wettbewerb auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben erheblich beeinträchtigen könnte, geschaffen oder verstärkt wird`.

Einige Hauptpunkte der Entscheidung bezogen sich auf die Auswirkungen, die die Tätigkeit der ehemaligen SFMI für den Wettbewerb haben konnte: Der ausschließliche Zugang der SFMI zu den Anlagen der Post wurde in seinem Anwendungsbereich eingeschränkt und auf zwei Jahre nach der Vollendung des Zusammenschlusses befristet, so daß die SFMI jedenfalls nicht als Subunternehmer der Post tätig wurde. Der SFMI von der Post eingeräumte Zugangsrechte waren anderen Kurierdiensten, mit denen die Post einen Vertrag schloß, in gleicher Weise anzubieten.

Dieses Ergebnis entspricht in jeder Hinsicht den von Ihnen am 21. Dezember 1990 für die Zukunft vorgeschlagenen Lösungen. Sie verlangten, daß die SFMI, falls sie weiter die Leistungen der PTT in Anspruch nehmen wolle, für diese die gleichen Preise wie für die Leistungen eines privaten Unternehmens zahlen sollte; ferner forderten Sie, daß $jede Form von Unterstützung und Diskriminierung abgestellt wird` und daß $die SFMI ihre Preise an den tatsächlichen Wert der von der Post angebotenen Leistungen anpasst`.

Die von Ihnen angesprochenen Probleme für den gegenwärtigen und künftigen Wettbewerb auf dem Gebiet der internationalen Eilkurierdienste sind also offensichtlich durch die von der Kommission nunmehr getroffenen Maßnahmen in angemessener Weise geregelt worden.

Sollten Sie der Auffassung sein, daß die Post die ihr in der Sache IV/M.102 auferlegten Bedingungen insbesondere auf dem Gebiet der Beförderung und der Werbung nicht eingehalten hat, so ist es Ihre Sache, soweit möglich, hierfür Beweise beizubringen, und eventuell eine Beschwerde gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 zu erheben. Die Behauptungen, $die gegenwärtigen Tarife der SFMI (ohne etwaige Rabatte) sind weiterhin wesentlich niedriger als die Tarife der Mitglieder des SFMI` (Seite 3 Ihres Schreibens vom 28. November) oder $Chronopost verwendet die Lastwagen der PTT als Werbeträger` (Feststellungsprotokoll in der Anlage zu Ihrem Schreiben) müssten jedoch durch Tatsachen gestützt werden, die eine Untersuchung durch die Kommission rechtfertigen.

Die Maßnahmen der Kommission nach Artikel 86 des Vertrages sind auf die Erhaltung eines echten Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt gerichtet. Für den Gemeinsamen Markt für internationale Eilkurierdienste hätte die Kommission, in Anbetracht der wesentlichen oben dargestellten Entwicklung, eine Untersuchung der fraglichen Tätigkeiten nur rechtfertigen können, wenn neue Informationen über etwaige Verstösse gegen Artikel 86 geliefert worden wären.

Im übrigen hält sich die Kommission nicht für verpflichtet, möglicherweise früher begangene Verstösse gegen die Wettbewerbsregeln zu untersuchen, wenn eine solche Untersuchung nur bezweckt oder bewirkt, daß den individuellen Interessen der Parteien gedient wird. Nach Auffassung der Kommission besteht nach Artikel 86 des Vertrages kein Interesse an einer solchen Untersuchung.

Ich teile Ihnen mit, daß Ihre Beschwerde aus den angeführten Gründen zurückgewiesen wird."

Das angefochtene Urteil

5 Das Urteil des Gerichts erster Instanz verwarf alle fünf Gründe, auf die die Nichtigkeitsklage gestützt war, und wies die Klage in ihrer Gesamtheit ab.

6 Das Gericht führte im wesentlichen aus, daß die Entscheidung der Kommission die Zurückweisung der Beschwerde darauf stütze, daß in der deren Gegenstand bildenden Sache kein ausreichendes Gemeinschaftsinteresse bestanden habe (Randnr. 34). Nach Auffassung des Gerichts ist diese Beurteilung im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden, da die Kommission davon habe ausgehen können, daß die beanstandeten Praktiken aufgrund des gleichzeitigen Erlasses einer anderen Entscheidung (der bereits erwähnten Entscheidung GD Net) eingestellt worden seien; die Beschwerdeführer hätten keine gegenteiligen Hinweise vorgebracht.

7 Das Gericht ist weiterhin der Meinung, die angefochtene Entscheidung verstosse nicht gegen Artikel 190 des Vertrages, da sie die Überlegungen des genannten Organs klar und unzweideutig wiedergebe. Im übrigen sei die Entscheidung nicht in sich widersprüchlich.

8 Ebensowenig lässt das Gericht das Vorbringen gelten, die Kommission habe dadurch gegen den Grundsatz der ordnungsmässigen Verwaltung verstossen, daß sie ein Sachverständigengutachten vom 6. Dezember 1990 nicht berücksichtigt habe; dieses habe sich auf einen vor dem Erlaß der Entscheidung GD Net liegenden Zeitraum bezogen. Was die angebliche Verletzung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung betreffe, so ließen sich die von den Beschwerdeführern genannten Fälle nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichen.

9 Schließlich weist das Gericht die Behauptung zurück, die Kommission habe mit dem Erlaß der angefochtenen Entscheidung einen Ermessensmißbrauch begangen; die Beschwerdeführer hätten hierfür keinerlei Beweise beigebracht.

Zum ersten Rechtsmittelgrund

10 Mit dem ersten Rechtsmittelgrund wird die "Verfälschung der streitigen Entscheidung" geltend gemacht. Die Rüge gliedert sich in zwei Teile: Zum einen habe das Gericht die angefochtene Entscheidung verfälscht, indem es bestritten habe, daß diese sich auf zwei verschiedene Gründe stütze, zum anderen betrachte das Gericht das "Gemeinschaftsinteresse" als Grundgedanken der Entscheidung, obwohl diese den genannten Ausdruck nicht verwende.

11 Sicherlich ist der Wortlaut der angefochtenen Entscheidung nicht ganz eindeutig, da er den Ausdruck "Gemeinschaftsinteresse" nicht gebraucht, dessen juristische Bedeutung wohlbekannt und der bei dieser Art von Rechtsakten üblich ist. Das Gericht war sich dessen bewusst; in den Randnummern 31 und 32 seines Urteils führt es folgendes aus:

"[Es] wird nur im vorletzten Absatz der streitigen Entscheidung, der sich auf früher begangene Zuwiderhandlungen bezieht, auf das Gemeinschaftsinteresse - im übrigen implizit, da nur von Interesse die Rede ist - Bezug genommen ... Das Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses an der Fortführung der Untersuchung der Beschwerde bildet jedoch die Grundlage der gesamten Entscheidung. Der vorletzte Absatz ist nämlich mit dem Rest der Entscheidung untrennbar verbunden."

12 Liest man den Text der Entscheidung unbefangen, so lassen sich unterscheiden: eine erste Bezugnahme auf die von der Kommission de lege ferenda unterbreiteten Vorschläge betreffend den Postsektor; ein Kernargument betreffend den Einfluß der Entscheidung GD Net auf die beanstandeten Praktiken, die die Kommission für bereits beendet hält; die abschließende Feststellung, daß "nach Auffassung der Kommission ... nach Artikel 86 des Vertrages kein Interesse an einer ... Untersuchung [bestehe]", da es sich um früher begangene Verstösse handele und eine solche Untersuchung nur bezwecken oder bewirken würde, daß den individuellen Interessen der Beschwerdeführer gedient werde.

13 Es trifft zu, daß man von der Kommission eine eindeutigere und deutlichere Ausdrucksweise hätte erwarten können als eine solches Aneinanderreihung von Behauptungen, deren jeweiliger Einfluß auf die schließliche Zurückweisung unklar bleibt. Das besagt jedoch meines Erachtens nicht, daß das Gericht mit seiner Schlußfolgerung, die Entscheidung beruhe, insgesamt betrachtet, auf dem Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses, die Entscheidung "verfälscht" hätte.

14 In der Tat hat das Gericht, auch wenn die Entscheidung durch eine Aneinanderreihung von Behauptungen gekennzeichnet ist, die logische Gedankenfolge der Entscheidung richtig wiedergegeben. Die Kommission stellt, ob nun zu Recht oder zu Unrecht fest, die Angelegenheit sei nicht von solchem "Interesse", daß ihre Untersuchung gerechtfertigt wäre, da sie, die Kommission, selbst auf diesem Sektor tätig geworden sei und die beanstandeten Praktiken aufgehört hätten. Bei jenem Interesse kann es sich nur um das "Gemeinschaftsinteresse" handeln, dem die Kommission zu dienen hat und dessen Beurteilung vorbehaltlich gerichtlicher Überprüfung grundsätzlich ihr zusteht.

15 Nun ist der Ausdruck "Gemeinschaftsinteresse" in gewissem Masse mehrdeutig: Er kann eine einschränkende Bedeutung haben, wie sie in der Entscheidung des Gerichts erster Instanz in seinem Urteil vom 18. September 1992 in der Rechtssache Automec/Kommission(2) im einzelnen dargelegt wurde, eine Bedeutung, deren Merkmale wohlbekannt sind, aber das ist nicht die einzige Möglichkeit. Von einem fehlenden (Gemeinschafts-)Interesse lässt sich auch bei einem Sachverhalt wie dem hier vorliegenden sprechen, wenn die Kommission feststellt, sie sehe keinen ausreichenden Grund, um ihre Untersuchungsbefugnisse auszuüben.

16 Im übrigen haben die Kläger in ihrer beim Gericht eingereichten Klageschrift selbst anerkannt, daß der Grund für die in der Entscheidung ausgesprochene Zurückweisung der Beschwerde im Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses liege. Eine der mit der Nichtigkeitsklage (Punkt 5.6) erhobenen Rügen ging ja gerade dahin, die Kommission habe bei der Zurückweisung der Beschwerde wegen fehlenden Gemeinschaftsinteresses einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen(3). Es erscheint nicht gerade folgerichtig, daß die Kläger dem Gericht erster Instanz vorwerfen, es habe in der Entscheidung einen rechtlichen Gesichtspunkt (nämlich das Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses) "entdeckt", der nach ihren eigenen Ausführungen für diese Entscheidung ausschlaggebend war.

Zum zweiten Rechtsmittelgrund

17 Mit dem zweiten Rechtsmittelgrund wird dem Gericht ein "Rechtsirrtum" vorgeworfen: Das Urteil stelle fest, die Kommission sei berechtigt gewesen, ihre streitige Entscheidung mit der Bezugnahme auf eine andere Entscheidung zu begründen.

18 Nach Ansicht der Kläger muß jede gerichtliche oder administrative Entscheidung sich selbst genügen; ihr Urheber habe sie im Hinblick auf die besonderen Umstände des maßgeblichen Sachverhalts zu treffen und nicht aufgrund von Verweisungen auf andere Sachverhalt oder andere Rechtsstreitigkeiten, die bereits zu einem Urteil oder einer Entscheidung geführt hätten. Im vorliegenden Fall hätte sich die Kommission daher nicht auf die Entscheidung GD Net beziehen dürfen.

19 Die an diesem Punkt des Urteils geuebte Kritik ist meines Erachtens eindeutig unbegründet. Das Gericht erster Instanz hat keinen Rechtsfehler begangen, indem es zu dem Ergebnis gelangt ist, daß die Kommission wie geschehen auf die Entscheidung GD Net habe Bezug nehmen können und daß diese Bezugnahme einen Teil der Begründung der Zurückweisung der Beschwerde ausgemacht habe.

20 In der Tat ist nicht zu beanstanden, daß die Begründung eines Verwaltungsakts auf andere Akte Bezug nimmt, zumal wenn es sich um miteinander im Zusammenhang stehende oder untereinander verbundene Akte handelt. Ebensowenig lässt sich etwas dagegen einwenden, daß in solchen Fällen Existenz und Inhalt eines früheren Aktes herangezogen werden, um bei der rechtlichen Beurteilung eines späteren Aktes zu bestimmten Schlußfolgerungen zu gelangen.

21 Dies ist im vorliegenden Fall geschehen: Die Entscheidung nimmt Bezug auf eine frühere, den gleichen Sektor betreffende Entscheidung, die einen Zusammenschluß von Postunternehmen von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht hatte. Aus dem Bestehen dieser Entscheidung (GD Net) und der Erfuellung dieser Bedingungen zieht die Kommission bestimmte Schlüsse hinsichtlich der Frage, ob die Beschwerde Erfolg haben kann. Es lässt sich daher nicht behaupten, die Kommission habe unter dem Gesichtspunkt der Begründungspflicht einen rechtlichen Fehler begangen, den das Gericht erster Instanz hätte rügen müssen.

22 Eine andere Frage ist, ob die Entscheidung GD Net und die wechselhaften Umstände ihrer Umsetzung in die Praxis für die Zurückweisung der Beschwerde eine ausreichende Rechtfertigung bieten. Dies betrifft jedoch nicht mehr den Problemkreis der formalen Begründung, sondern die Sachprüfung, nämlich die Überprüfung der Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses, die der Entscheidung zugrunde liegt.

Zum dritten Rechtsmittelgrund

23 Mit dem dritten Rechtsmittelgrund wird eine "Verletzung von Artikel 190 EG-Vertrag" gerügt; die Rüge gliedert sich in zwei Teile: zum einen sei das Urteil in sich widersprüchlich, und zum anderen gehe es nicht auf die Ausführungen der Kläger zu einem grundlegenden Punkt ein.

24 Artikel 190 regelt lediglich die Begründungspflicht für bestimmte Maßnahmen der Gemeinschaft, die vom Europäischen Parlament und Rat oder von Rat und Kommission getroffen werden, erfasst jedoch nicht die Entscheidungen der Organe der Rechtspflege wie des Gerichts erster Instanz(4). Eine Berufung auf ihn im Rahmen eines Rechtsmittelgrundes ist daher nicht geeignet, zur Beanstandung von Fehlern zu führen, die, wie innere Widersprüchlichkeit oder Nichteingehen auf ein bestimmtes Klagevorbringen, einem Urteil angeblich innewohnen.

25 Die Stützung des Rechtsmittels auf Artikel 190 des Vertrages beruht möglicherweise auf einer nicht glücklichen Übernahme des vor dem Gericht erster Instanz im Rahmen der Nichtigkeitsklage entwickelten Argumentationsschemas. Hiermit werden die prozessualen Unterschiede zwischen Rechtsmittel- und erstinstanzlichem Verfahren übersehen. Vor dem Gericht konnten die Kläger in der Tat alle Verwaltungshandlungen mit der Behauptung angreifen, sie verletzten Artikel 190 des Vertrages. Was sie jedoch nicht tun können, wenn das Gericht erster Instanz in seinem Urteil dieses Vorbringen zurückweist, ist, dieses Urteil mit derselben speziellen Rüge anzugreifen, die sie zuvor gegen das Verwaltungshandeln vorgebracht hatten.

26 Es ist aber klar, daß die Widersprüchlichkeit der rechtlichen Gedankengänge eines Urteils ebenso wie deren absolute Unzulänglichkeit(5) Rechtsmängel sind, die gegebenenfalls zur Aufhebung eines erstinstanzlichen Urteils führen können, da sie nicht zu rechtfertigende rechtliche Irrtümer darstellen, die, wenn sie sich entscheidend auf den Richterspruch auswirken, dessen gesamten Inhalt fehlerhaft machen. Ich meine daher, daß der Gerichtshof den dritten Rechtsmittelgrund prüfen kann.

27 Was den ersten Teil der Rüge betrifft, so weist das Urteil keinen Widerspruch auf, wenn es einerseits feststellt, die angefochtene Entscheidung habe "die beanstandeten Praktiken nicht anhand von Artikel 86 ... gewürdigt", andererseits jedoch einräumt, die Kommission habe seit dem Erlaß der Entscheidung GD Net den beanstandeten Praktiken ein Ende gesetzt.

28 Ein Widerspruch besteht nicht, da das Gericht erster Instanz sich auf die Feststellung beschränkt, die Entscheidung habe die Beschwerde mangels eines ausreichenden Interesses zurückgewiesen, ohne daß diese Feststellung eine Beurteilung der beanstandeten Praktiken im Lichte von Artikel 86 des Vertrages implizierte. Mit der Bezugnahme auf die Entscheidung GD Net sollte die Prämisse aufgestellt werden, daß selbst dann, wenn die beanstandeten Praktiken in der Vergangenheit stattgefunden hätten, die Existenz dieser Entscheidung von deren Inkrafttreten an bedeuten würde, daß die Praktiken aufgehört hätten, mit der Folge, daß es an einem Gemeinschaftsinteresse an der Verfolgung des Verstosses fehle. Das besagt jedoch nicht, daß die Entscheidung GD Net die Praktiken rechtlich qualifiziert hätte.

29 Auch der zweite Teil des vorliegenden Rechtsmittelgrundes kann keinen Erfolg haben: Das Gericht ist sehr wohl auf das Vorbringen des Klägers betreffend die Unterschiede zwischen den jeweiligen Grundlagen der ersten Zurückweisung (Schreiben vom 10. März 1992) und der endgültigen Zurückweisung (angefochtene Entscheidung) eingegangen. Das fragliche Vorbringen wird unter Nennung des Schreibens vom 10. März in Randnummer 22 des Urteils erwähnt und namentlich in Randnummer 35 das Vorbringen zurückgewiesen.

Zum vierten Rechtsmittelgrund

30 Mit ihrem vierten Rechtsmittelgrund ("fehlende Rechtsgrundlage") rügen die Kläger, das Gericht habe nicht die erforderlichen Untersuchungen vorgenommen, die es ihm ermöglicht hätten, zu prüfen, ob die Kommission davon hätte ausgehen können, daß die von La Poste ihrer Tochtergesellschaft gewährten Subventionen wirtschaftlich nicht gerechtfertigt gewesen seien.

31 Die Stellungnahme der Kläger zu diesem Punkt (Nr. 56 der Klageschrift) erweist sich nicht gerade als ein Muster an Klarheit, auch nicht in sprachlicher Hinsicht. Ihrer Ansicht nach "hat das Gericht erster Instanz nicht die erforderlichen Untersuchungen vorgenommen, die ihm die Prüfung ermöglicht hätten, ob i) es feststellen könne, daß die Behauptung des Klägers, La Poste könne in Ermangelung einer Inanspruchnahme ihres Netzes durch Dritte weiterhin Quersubventionen gewähren, auf einem Irrtum beruhe, und ii) ob es somit berechtigt gewesen wäre, Artikel 86 des Vertrages oder den Begriff des Gemeinschaftsinteresses anzuwenden".

32 Bezueglich des Einwands der Kommission, der Ausdruck "fehlende Rechtsgrundlage" sei mehrdeutig, da er nicht den Inhalt der angeblich verletzten Rechtsnorm bezeichne, stellen die Kläger in ihrer Erwiderung(6) klar, daß der im französischen Verfahrensrecht übliche Terminus "Rechtsgrundlage" sich "auf die der Rechtfertigung des Urteilsspruchs dienenden Ausführungen, nicht auf die Rechtsvorschrift als solche" beziehe. Mit "fehlender Rechtsgrundlage" sei daher gemeint, daß das Urteil eine hinreichend genaue Beschreibung des Sachverhalts vermissen lasse, die dem Rechtsmittelgericht die Feststellung ermöglichen würde, daß das Recht auf diesen Sachverhalt korrekt angewandt worden sei.

33 Unter diesem Blickwinkel betrachtet ist die Rüge zurückzuweisen: Das Urteil stellt in durchaus klarer Weise in tatsächlicher Hinsicht fest, daß die Postverwaltungen kein wirtschaftliches Interesse daran gehabt hätten, die gemeinsame Tochtergesellschaft zu subventionieren. Das Fehlen eines solchen Interesses wird in den Erklärungen der Kommission erwähnt (Randnr. 62 des Urteils).

34 Diese tatsächliche Feststellung, zu der das Gericht erster Instanz nach der Auswertung der Beweise gelangt ist, kann in der Rechtsmittelinstanz nicht widerlegt werden, es sei denn, das Beweismaterial wäre völlig verzerrt worden, was hier nicht der Fall ist.

35 Der vierte Rechtsmittelgrund stützt sich, wie seinem Wortlaut zu entnehmen ist, anscheinend auf ein Vorbringen, das sich nicht auf eine angebliche fehlerhafte Schilderung bestimmter Tatsachen bezieht (die das Gericht erster Instanz, wie ich betont habe, klar dargelegt hat), sondern darauf, daß das Gericht keine ausreichenden Untersuchungen angestellt und es unterlassen habe, die erforderlichen Beweise zu erheben, um jene Tatsachen genau feststellen zu können.

36 Unter diesem Blickwinkel betrachtet, wendet sich dieser vorliegende Rechtsmittelgrund weniger gegen das Urteil selbst als gegen das vorausgegangene Verhalten des Gerichts erster Instanz, das während des Verfahrens keine ausreichenden Beweise erhoben habe, um eine der streitigen Tatsachen klarstellen zu können (nämlich das Bestehen oder Nichtbestehen von Quersubventionen).

37 Der Hinweis auf das Fehlen eines wirtschaftlichen Interesses von La Poste daran, daß die gemeinsame Tochtergesellschaft in den Genuß ihrer Subventionen gelange, erscheint in Randnummer 72 des Urteils als zusätzliches Argument, das zu dem vierten der fünf Argumente hinzutritt, mittels deren das Gericht erster Instanz zu dem Schluß kommt, die Kommission habe zu Recht annehmen können, daß die mit der Beschwerde beanstandeten Praktiken nach dem Erlaß der Entscheidung GD Net aufgehört hätten.

38 Das Zusammentreffen dieser beiden Faktoren sowie die Tatsache, daß die letztgenannte Feststellung des Gerichts im Rahmen des fünften Rechtsmittelgrundes als mit einem Rechtsmangel behaftet global gerügt wird, legen es nahe, diesen "Teil" des vierten Rechtsmittelgrundes zusammen mit dem fünften zu untersuchen.

Zum fünften Rechtsmittelgrund

39 Mit dem fünften Rechtsmittelgrund wird ein weiterer "Rechtsirrtum" geltend gemacht: Das Gericht habe schon angesichts der Akten nicht rechtsfehlerfrei annehmen können, daß die Kommission die Verstösse für beendet habe erklären dürfen.

40 Es liegt auf der Hand, daß die Kläger mit diesem Rechtsmittelgrund unmittelbar die Beurteilung des Sachverhalts durch das Gericht angreifen.

41 Wie bereits in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache John Deere Limited/Kommission(7) möchte ich zusammenfassend an die Rechtsprechung erinnern, die sich zur Frage der Beanstandung von in erstinstanzlichen Urteilen vorgenommenen Tatsachenbewertungen gebildet hat. Der Gerichtshof hat entschieden, daß ein Rechtsmittel nur auf Gründe gestützt werden kann, die die Verletzung von Rechtsnormen zum Gegenstand haben; jegliche Tatsachenwürdigung muß ausser Betracht bleiben. Dementsprechend hat der Gerichtshof festgestellt, daß die Beurteilung der ihm vorgelegten Beweise durch das Gericht keine Rechtsfrage sei, die der Überprüfung durch die Rechtsmittelinstanz unterliege, es sei denn, die Beweise seien verfälscht worden oder es ergebe sich aus den Prozessakten, daß die Feststellungen des Gerichts tatsächlich falsch seien. Der Gerichtshof ist nicht zuständig für die Prüfung der Beweise, die das Gericht zum Zweck der Tatsachenfeststellung herangezogen hat, sofern sie ordnungsgemäß erhoben und die allgemeinen Rechtsnormen und -grundsätze betreffend Beweislast und Beweiswürdigung beachtet wurden. Dagegen ist es Sache des Gerichtshofes, die rechtliche Qualifikation der Tatsachen durch das Gericht erster Instanz und die von diesem gezogenen rechtlichen Schlußfolgerungen zu überprüfen(8).

42 Mit dem vorliegenden Rechtsmittelgrund versuchen die Kläger gerade, eine der eng begrenzten Möglichkeiten für Beanstandung von Tatsachenbewertungen zu nutzen: Die sich aus den Prozessakten selbst ergebende tatsächliche Unrichtigkeit.

43 Dieser Vorwurf richtet sich in erster Linie gegen Randnummer 68 des Urteils, soweit dort ausgeführt wird: "Was ... die Gewißheit der Kommission hinsichtlich der Abstellung der Verhaltensweisen anbelangt, durfte die Kommission in Anbetracht der Bindung der Post an die angemeldeten Vereinbarungen und die Verpflichtungen annehmen, daß diese Regeln, sobald der Zusammenschluß durchgeführt sein würde - dies war nach den gegenüber dem Gericht gemachten Angaben am 18. März 1992 der Fall - eingehalten werden würden, soweit Anhaltspunkte für ihre Verletzung fehlten."

44 Nach Auffassung der Kläger wird diese Feststellung bereits durch den Wortlaut der Entscheidung GD Net widerlegt, deren verbindliche Wirkung nicht vor dem 18. März 1995 eingetreten sei: Die Kommission habe sich 1994 nicht auf noch nicht bindend gewordene Verpflichtungen berufen können, um zu behaupten, die beanstandeten Praktiken seien eingestellt worden.

45 Dieses Vorbringen geht jedoch weit über die blosse Feststellung von Irrtümern oder tatsächlichen Unrichtigkeiten hinaus, die sich aus einer in den Akten enthaltenen Unterlage ergeben sollen. In Wahrheit begibt es sich auf das Gebiet der - heiklen - rechtlichen Auslegungen von Bedeutung und Tragweite von Verwaltungshandlungen. Mit anderen Worten, die Kläger versuchen, den in der ersten Instanz ausgetragenen Streit über die Würdigung von Beweisen und die Feststellung der sich hieraus ergebenden Tatsachen wiederzubeleben.

46 Dies zeigt die - in der Klagebeantwortung begonnene und in Erwiderung und Gegenerwiderung fortgesetzte - Diskussion, die beide Parteien hinsichtlich der Tragweite der in der Entscheidung GD Net festgesetzten Verpflichtungen sowie von deren zeitlicher Wirkung entwickelt haben.

47 In zweiter Linie wenden sich die Kläger auch gegen die Feststellungen in Randnummer 71 des Urteils, wo ausgeführt wird: "Gegen dieses Ergebnis [daß die Kommission keinen Fehler begangen habe, indem sie davon ausgegangen sei, daß die Hinweise der Beschwerdeführer nicht ausreichten, um eine Untersuchung zu rechtfertigen] spricht auch nicht der von den Klägern in der mündlichen Verhandlung angeführte Umstand, daß die Kommission im Juli 1996 beschlossen habe, ein Verfahren gemäß Artikel 93 Absatz 2 des Vertrages über ein Beihilfevorhaben Frankreichs zugunsten von SFMI-Chronopost (ABl. 1996, C 206, S. 3) einzuleiten. Die Einleitung dieses Verfahrens ist nämlich kein Beweis dafür, daß die Kommission beim Erlaß der streitigen Entscheidung über Gesichtspunkte verfügte, die ausgereicht hätten, um eine Untersuchung gemäß Artikel 86 des Vertrages für den Zeitraum nach dem Erlaß der Entscheidung GD Net zu rechtfertigen."

48 Die Kläger machen geltend, diese neue Entscheidung aus dem Jahr 1996 beweise unzweifelhaft, daß die Kommission sogar hinsichtlich des Zeitraums nach der Entscheidung GD-Net nicht gewusst habe, ob die durch diese Entscheidung auferlegten Verpflichtungen beachtet worden seien oder nicht.

49 Wiederum werfen die Kläger ein Problem auf, das nicht die "tatsächliche Unrichtigkeit" betrifft, sondern die sich aus einer bestimmten Unterlage ergebende rechtliche Auslegung. Damit berauben sie diesen Rechtsmittelgrund seines Sinnes, indem sie ganz einfach fordern, der Gerichtshof möge seine Tatsachenbewertung an die Stelle derjenigen des Gerichts erster Instanz setzen.

50 Im übrigen widerspricht die von den Klägern vorgeschlagene Auslegung in Wirklichkeit nicht der Randnummer 71 des Urteils des Gerichts, denn in deren letztem Satz stellt das Gericht nicht in Abrede, daß die Kommission "nicht gewusst hat", ob die sich aus der Entscheidung GD Net ergebenden Verpflichtungen erfuellt worden waren: Es stellt lediglich fest, daß die Kommission nicht über Gesichtspunkte verfügt habe, die ausgereicht hätten, um eine Untersuchung für den Zeitraum nach dem Erlaß der Entscheidung GD Net durchzuführen, da die von den beschwerdeführenden Unternehmen zu diesem Zweck geltend gemachten Indizien unzureichend gewesen seien.

Zum sechsten Rechtsmittelgrund

51 Mit ihrem sechsten Rechtsmittelgrund werfen die Kläger dem Gericht erster Instanz eine "Verletzung der Rechtsnormen über die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses" vor.

52 Konkret beanstanden die Kläger Randnummer 46 des Urteils, wo es heisst: "Zwar hat das Gericht die Gesichtspunkte aufgeführt, die die Kommission bei der Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses insbesondere abzuwägen hat, doch ist die Kommission berechtigt, bei dieser Beurteilung andere erhebliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses beruht nämlich notwendig auf einer unter der Kontrolle des Gerichts durchgeführten Untersuchung der Umstände des konkreten Falles (Urteil Automec/Kommission, a. a. O., Randnr. 86)."

53 Nach Ansicht der Kläger liegt in diesen Feststellungen ein doppelter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht: Zum einen verletzten sie die für die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses geltenden rechtlichen Regeln, zum anderen verstießen sie gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.

54 Den Klägern zufolge wurden der Begriff des Gemeinschaftsinteresses und die für seine Anwendung geltenden Regeln, beides Ergebnisse richterlicher Rechtsschöpfung, durch das Urteil des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache Automec/Kommission bindend festgelegt und in späteren Urteilen bekräftigt. Das Gericht könne daher nicht ohne Verletzung der vorgenannten Rechtsnormen und -grundsätze von den drei für die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses geltenden Kriterien (Bedeutung des behaupteten Verstosses, wahrscheinliche Feststellbarkeit seines Bestehens, Umfang der hierfür erforderlichen Maßnahmen) abweichen, die es selbst festgelegt habe.

55 Meines Erachtens kann diese Rüge, so wie sie formuliert wurde, aus zwei Gründen keinen Erfolg haben.

56 Erstens, und hier handelt es sich um eine grundsätzliche Frage, lässt sich bestreiten, daß Kriterien für die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses, die das Gericht in einem bestimmten Fall aufgestellt hat, ohne weiteres als "Rechtsnormen" angesehen werden müssten, die das Gericht zwangsläufig einzuhalten hätte. Nicht einmal das Gericht erster Instanz ist durch seine Rechtsprechung absolut gebunden; es kann von ihr abweichen, sofern dies gerechtfertigt ist.

57 Zweitens gibt es keinen Grund dafür, diese im Urteil in der Rechtssache Automec/Kommission aufgestellten Kriterien für die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses als erschöpfend anzusehen: Zu Recht betont das Gericht, entscheidend seien die Würdigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls und die Gründe, mit denen die Kommission jeweils die Entscheidung rechtfertige, eine Beschwerde zurückzuweisen. Auf einem Sachgebiet wie dem hier vorliegenden, auf dem die Rechtslage von Fall zu Fall höchst unterschiedlich sein kann, können neue, unvorhergesehene Beurteilungskriterien auftauchen, über deren Rechtmässigkeit das Gericht zu befinden hat.

58 Dies trifft im vorliegenden Fall zu, in dem die Kommission die Zurückweisung der Beschwerde damit begründet, die beanstandeten Praktiken seien, zum grossen Teil infolge ihres Eingreifens, abgestellt worden, so daß die Einleitung einer Untersuchung nicht gerechtfertigt sei. Es handelt sich also um einen weiteren zu berücksichtigenden Gesichtspunkt, der sich von den drei im Urteil Automec/Kommission genannten unterscheidet. Das Gericht handelt sachgerecht, wenn es die Rechtmässigkeit dieses neuen Arguments der Kommission prüft, anstatt sich darauf zu beschränken, es mit der Begründung zurückzuweisen, es gehöre nicht zum Kreis der im Urteil Automec/Kommission bereits festgelegten Kriterien.

59 Den Klägern in diesem Punkt zu folgen, liefe praktisch darauf hinaus, eine bestimmte Rechtsprechung "festzuschreiben" und damit nicht nur ihre Fortentwicklung, sondern sogar ihre Ergänzung absolut zu verhindern. In der Tat ist das Gericht durch nichts daran gehindert, bei der Urteilsfindung über eine Entscheidung der Kommission ein weiteres Kriterium für die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses anzuerkennen, das die im Urteil Automec/Kommission aufgestellten Kriterien ergänzt und die Zurückweisung der gegen bestimmte wettbewerbsbeschränkende Praktiken erhobenen Beschwerden rechtfertigt.

Zum siebten Rechtsmittelgrund

60 Der siebte Rechtsmittelgrund ist in Wahrheit der wichtigste; aus den Erwägungen, die ich sogleich darlegen werde, bin ich der Meinung, daß ihm, anders als den vorausgegangenen Rügen, stattzugeben ist, was bedeutet, daß das erstinstanzliche Urteil aufzuheben ist.

61 Mit diesem Rechtsmittelgrund wird eine "Verletzung von Artikel 86 EG-Vertrag in Verbindung mit den Artikeln 3 Buchstabe g, 89 und 155 dieses Vertrages" gerügt. Beanstandet werden die Erwägungen des Gerichts erster Instanz in den Randnummern 57 bis 59 seines Urteils sowie die hieraus gezogenen Folgerungen, die zur Abweisung der Nichtigkeitsklage geführt haben.

62 Der Gedankengang des Gerichts lässt sich zu zwei allgemeinen Erwägungen und einer dritten zusammenfassen, mit der die beiden anderen auf den vorliegenden Fall angewandt werden.

63 Bevor das Gericht diese Erwägungen anstellte, hatte es in den Randnummern 54 bis 56 des Urteils drei nicht bestrittene Prämissen dargelegt:

a) Die Verpflichtungen der Kommission im Wettbewerbsrecht sind anhand des Artikels 89 Absatz 1 des Vertrages zu prüfen, der für diesen Bereich der konkrete Ausdruck des allgemeinen Überwachungsauftrags ist, der der Kommission in Artikel 155 des Vertrages erteilt wird.

b) Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages(9) verleiht demjenigen, der eine Beschwerde nach diesem Artikel einlegt, keinen Anspruch auf eine Entscheidung der Kommission im Sinne des Artikels 189 des Vertrages darüber, ob ein Verstoß gegen Artikel 85 oder Artikel 86 des Vertrages vorliegt. Die Kommission ist also berechtigt, der Prüfung der bei ihr erhobenen Beschwerden unterschiedliche Priorität einzuräumen, und es ist legitim, daß sie das in einer Sache bestehende Gemeinschaftsinteresse als Kriterium für die Priorität heranzieht.

c) Artikel 86 des Vertrages ist Ausdruck des allgemeinen, der Tätigkeit der Gemeinschaft in Artikel 3 Buchstabe g des Vertrages gesetzten Zieles, ein System zu errichten, das gewährleistet, daß der Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes nicht verfälscht wird.

64 Ausgehend von diesen Prämissen entwickelt das Urteil anhand von Beschwerden über in der Vergangenheit liegende Verstösse einen Gedankengang, dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall das Vorgehen der Kommission rechtfertigen soll.

65 Dieser in den Randnummern 57 und 58 des Urteils enthaltende Gedankengang lautet wie folgt:

"- Angesichts dieses allgemeinen Zieles und des Auftrags der Kommission ist diese zu der Entscheidung befugt, es sei nicht angebracht, einer Beschwerde, mit der später eingestellte Verhaltensweisen beanstandet werden, stattzugeben, sofern sie diese Entscheidung begründet. Dies gilt erst recht, wenn diese Abstellung, wie im vorliegenden Fall, das Ergebnis einer Handlung der Kommission ist. Es ist unwesentlich, auf welche Rechtsgrundlage eine Entscheidung gestützt wird, durch die die beanstandeten Praktiken abgestellt werden, da allein die Wirkung dieser Entscheidung zu berücksichtigen ist.

- In einem solchen Fall würde die Untersuchung der Sache und die Feststellung früherer Zuwiderhandlungen nicht mehr dem Interesse dienen, den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen zu schützen, und entspräche damit nicht mehr der der Kommission durch den Vertrag übertragenen Aufgabe. Das Ziel eines solchen Verfahrens bestuende im wesentlichen darin, es den Beschwerdeführern zu erleichtern, im Hinblick auf die Erlangung von Schadensersatz vor den nationalen Gerichten ein Fehlverhalten zu beweisen."

66 Die Anwendung dieses Gedankengangs auf den vorliegenden Fall endet mit einer die angefochtene Entscheidung bestätigenden Feststellung, die in Randnummer 59 des Urteils getroffen wird: "Nachdem die Kommission die beanstandeten Verhaltensweisen durch den Erlaß einer anderen Entscheidung abgestellt und damit ihre Aufgabe, die ordnungsgemässe Anwendung des Vertrages zu überwachen, erfuellt hatte, durfte sie daher im vorliegenden Fall davon ausgehen, daß eine Fortführung des Verfahrens mit dem alleinigen Zweck, ein früheres Verhalten anhand von Artikel 86 des Vertrages zu beurteilen, keine zweckmässige Verwendung ihrer beschränkten Mittel darstellen würde, zumal da sie zugleich damit beschäftigt war, Rechtsvorschriften für den fraglichen Tätigkeitsbereich auszuarbeiten. Diese Abwägung der Kommission war erst recht legitim, da bei einer endgültigen Entscheidung der Kommission, eine Beschwerde wegen einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 86 des Vertrages nicht zu prüfen, von den Klägern angerufene nationale Stellen für die Entscheidung über die beanstandete Zuwiderhandlung zuständig sind."

67 Ich halte die gegen diesen Teil des Urteils gerichtete Rüge für begründet; sie reicht aus, um dem Rechtsmittel stattzugeben.

68 In der Tat haben die Beschwerden, die gegen eine mit Artikel 86 des Vertrages unvereinbare mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung erhoben werden, fast unvermeidlich Tatsachen zum Gegenstand, die in der Vergangenheit liegen(10). Hat sich ein Unternehmen in einem bestimmten Sektor so verhalten, indem es seine beherrschende Stellung auf dem entsprechenden Markt mißbräuchlich ausgenutzt und somit den Wettbewerb in unzulässiger Weise verfälscht hat, so rechtfertigt nicht schon die Tatsache, daß die Praktiken zu einem bestimmten Zeitpunkt abgestellt wurden - falls nicht andere Faktoren hinzutreten, von denen alsbald die Rede sein wird -, die Annahme, daß die Kommission daran gehindert wäre, entsprechenden Beschwerden von Wettbewerbern nachzugehen.

69 Das Gericht erster Instanz begeht meines Erachtens einen Rechtsirrtum, wenn es ausführt, in solchen Fällen sei die Feststellung vergangener Verstösse nicht von Interesse für die Kommission, sondern lediglich von subjektivem Interesse für die Beschwerdeführer. Dieselbe unzutreffende Auffassung veranlasst es zu der Annahme, der "wesentliche Zweck" eines derartigen Vorgehens bestehe darin, den Beschwerdeführer den Nachweis eines rechtswidrigen Verhaltens zu erleichtern, damit sie vor den innerstaatlichen Gerichten Schadensersatz erstreiten könnten.

70 Der Wettbewerb, den die Kommission zu sichern hat, ist gewährleistet, wenn ein Unternehmen die Praktiken, durch die es seine beherrschende Stellung ausnutzen wollte, nur deshalb abgestellt hat, weil diese Praktiken erfolgreich waren. Die Praktiken sind zwar abgestellt, aber ihre Wirkungen bestehen fort.

71 Wollte man sich der in diesen Randnummern des Urteils vertretenen Auffassung anschließen, so würde dies (vor allem auf Märkten, die, wie die Eilpost, erst kürzlich für den Wettbewerb geöffnet wurden) paradoxerweise darauf hinauslaufen, daß diejenigen Unternehmen "belohnt" würden, denen es dank einem anfänglichen Mißbrauch ihrer beherrschenden Stellung gelungen ist, die allgemeine Situation auf dem betroffenen Markt auf Dauer zu verfälschen. In solchen Fällen bedeutet die Beendigung der ursprünglichen Praktiken nicht das Ende der Wettbewerbsverfälschung, sondern ergibt sich daraus, daß das rechtswidrig handelnde Unternehmen feststellt, daß diese Praktiken ihr Ziel erreicht haben und es ihrer nicht mehr bedarf.

72 Die Kommission darf einen solchen Zustand nicht dulden, sondern ist verpflichtet, den freien Wettbewerb auf dem betroffenen Sektor wiederherzustellen, sofern die sonstigen Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß ihr Eingriffen im "Gemeinschaftsinteresse" liegt. Zu diesem Zweck hat sie zunächst festzustellen, ob ein bestimmtes Unternehmen seine beherrschende Stellung mißbräuchlich ausgenutzt hat, was es erforderlich macht, die Untersuchung in Gang zu setzen, die die Beschwerdeführer erwirken wollen.

73 Im übrigen ist es legitim, wenn Unternehmen oder Gruppen von Unternehmen, die von der ihnen durch die Verordnung Nr. 17 eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch machen, sich von der Absicht leiten lassen, sowohl das verfälschte wettbewerbliche Gleichgewicht wiederherzustellen als auch ihre eigenen Vermögensinteressen zu schützen.

74 In der Tat üben Unternehmen, die wettbewerbsfeindliche Praktiken anzeigen, eine die Kommission zum Handeln anregende katalytische Funktion aus, in der sich zwei Interessenrichtungen begegnen: zum einen das Eigeninteresse, nicht durch rechtswidriges Verhalten der Konkurrenten einen Vermögensschaden zu erleiden, zum anderen das vom Gemeinschaftsrecht gewährleistete Allgemeininteresse an der Einhaltung der wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, das die Kommission zu schützen hat.

75 Ist dieses letztgenannte Interesse gegeben (weil es sich um einen Sektor von gemeinschaftsweiter Dimension und Bedeutung handelt, auf dem sich der angezeigte Verstoß verhältnismässig leicht feststellen lässt, ohne daß aussergewöhnliche Untersuchungsmaßnahmen erforderlich wären), so lässt sich nicht geltend machen, das Eingreifen der Kommission würde lediglich dazu dienen, Beweise im Hinblick auf eine vor den nationalen Gerichten zu erhebende Schadensersatzklage beizubringen.

76 Die Untätigkeit der Kommission kann auch nicht damit gerechtfertigt werden, daß die Einstellung der den Mißbrauch einer beherrschenden Stellung begründenden Praktiken auf einen einseitigen Entschluß des Unternehmens, das seine beherrschende Stellung mißbraucht hat, oder auf ein gleichzeitiges Tätigwerden der Kommission zurückzuführen ist, das zwar einen anderen Zweck verfolgte, jedoch mittelbar das gleiche Ergebnis bewirkt hat. Jedenfalls ist es für die Beurteilung der Rechtmässigkeit der Entscheidung ausschlaggebend, daß die Einstellung der angezeigten mißbräuchlichen Praktiken nicht den Wegfall ihrer wettbewerbsfeindlichen Auswirkungen bedeutet hat.

77 Ich erinnere noch einmal daran, daß der Gerichtshof im Rahmen des in Artikel 168a EG-Vertrag vorgesehenen Rechtsmittels lediglich Rechtsfragen prüfen kann und somit an den Tatsachen gebunden ist, die das Gericht erster Instanz als erwiesen angesehen hat(11). Er hat daher von der Feststellung auszugehen, daß die Praktiken von La Poste, die möglicherweise eine mißbräuchliche Ausnutzung ihrer beherrschenden Stellung auf dem Postsektor begründet haben, infolge der Entscheidung GD Net eingestellt worden sind(12). Die ihm bei der Überprüfung im Rechtsmittelverfahren gezogenen Grenzen gestatten ihm nichts anderes, auch wenn ich einräume, daß die Beweisgrundlage für jene Behauptung schwach ist, da diese sich auf die blosse unüberprüfte Vermutung stützt, bestimmte von der genannten Entscheidung GD Net auferlegte Verpflichtungen seien erfuellt worden.

78 Dennoch konnte seinerzeit weder die Kommission beim Erlaß der Entscheidung noch das Gericht erster Instanz bei deren Überprüfung verkennen, daß auch für den Fall, daß die von den klagenden Unternehmen angezeigten mißbräuchlichen Praktiken von La Poste eingestellt worden sein sollten, eine Untersuchung trotzdem weiterhin gerechtfertigt war, um ermitteln zu können, ob die Wirkungen der bereits eingestellten Praktiken nach wie vor den Wettbewerb auf dem französischen Markt für internationale Eilkurierdienste verfälschten.

79 In Wahrheit offenbart die von der Kommission in dieser Angelegenheit eingenommene Haltung eine angesichts der Bedeutung des betroffenen Marktes und dessen offensichtlicher gemeinschaftsbezogener Dimension eine schwer verständliche Passivität. Die gleichen Gründe, die 1991 für den Erlaß einer Entscheidung über den Zusammenschluß der Postunternehmen auf dem Sektor der Eilzustellung gegeben waren, bestanden nach dieser Entscheidung fort und mussten Anlaß geben, die weitere Entwicklung auf diesem Sektor, sogar von Amts wegen, zu überwachen.

80 Tatsächlich stellte die Kommission in ihrer Entscheidung Nr. 000978 über die Anwendung von Artikel 86 des Vertrages, die sie am 10. März 1992 an den SFEI richtete, um ihm mitzuteilen, daß seine Beschwerde zurückgewiesen worden war (eine Entscheidung, die die Kommission später selbst zurücknahm, nachdem der Gerichtshof das Urteil des Gerichts erster Instanz aufgehoben hatte, mit dem dieses die gegen die Entscheidung erhobene Nichtigkeitsklage als unzulässig abgewiesen hatte)(13), folgendes fest: "Unter diesen Umständen kann ich Ihnen versichern, daß wir die Entwicklung des genannten Marktes weiterhin genau überwachen werden."

81 Im Hinblick auf diese 1992, also nach der Entscheidung GD Net gemachten Ausführungen ist festzustellen, daß niemand in zufriedenstellender Weise erklärt hat, weshalb die Kommission nicht nur jegliche Überwachung des Marktes unterlassen, sondern auch die entsprechenden Aufforderungen der beschwerdeführenden Unternehmen zurückgewiesen hat: Nichts anderes forderten diese mit ihrem Ersuchen um Eröffnung einer Untersuchung nach Artikel 86 EG-Vertrag.

82 Die Kommission selbst hat nachträglich zugegeben, daß sie nichts unternommen hatte, um die Erfuellung der in ihrer Entscheidung GD Net festgelegten Verpflichtungen zu überprüfen, um den Wettbewerb auf dem Sektor des internationalen Eilkurierdienstes zu sichern: In ihrer Entscheidung C 3/96 (die das Gericht erster Instanz geprüft hat und auf die sich die Randnr. 71 des angefochtenen Urteils bezieht(14)) führt sie aus, sie verfüge nicht über Informationen betreffend die Erfuellung einiger dieser Verpflichtungen. In der gleichen Entscheidung räumt sie ein, es fehle ihr auch an Informationen über die Anwendung ihrer an La Poste gerichteten Empfehlung, in der sie die Notwendigkeit betont hatte, in der Buchführung der betroffenen Unternehmen das Fehlen einer Subventionierung der nicht den öffentlichen Versorgungsauftrag berührenden Tätigkeiten, d. h. der wettbewerblichen Tätigkeiten wie der Eilpost, erkennbar zu machen.

83 Zusammengefasst stellte sich der Sachverhalt dem Gericht erster Instanz wie folgt dar:

a) 1990 erhoben die betroffenen Unternehmen bei der Kommission eine Beschwerde, die einen kurz zuvor für den Wettbewerb freigegebenen, offensichtlich bedeutenden Sektor mit Gemeinschaftsbezug betraf, auf dem Anhaltspunkte für den Verdacht bestanden, daß La Poste zugunsten ihrer Tochtergesellschaften mittels der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf einem geschlossenen Markt ein wettbewerbsfeindliches Verhalten an den Tag gelegt hatte.

b) Die Kommission, die 1991 eine Entscheidung (GD Net) über den durch La Poste und andere Postverwaltungen durch Schaffung eines gemeinsamen Unternehmens bewirkten Zusammenschluß erlassen und diesem in der Entscheidung bestimmte Verpflichtungen auferlegt hatte, kümmert sich nicht um die Erfuellung dieser Verpflichtungen, ja nicht einmal um die Lage auf dem in Rede stehenden Markt, und dies trotz der hierzu erhobenen Beschwerde der konkurrierenden Unternehmen; sie lehne vier Jahre nach der Erhebung der Beschwerde die Eröffnung einer Untersuchung hierüber ab.

84 Angesichts dieses Sachverhalts ist die Einlassung, der gerügte Sachverhalt liege in der Vergangenheit und die Kommission sei insoweit schon tätig geworden, keine ausreichende Begründung für die Zurückweisung einer niemals zurückgezogenen Beschwerde, zu der in den vier Jahren nach ihrer Erhebung laufend Hinweise auf die anhaltenden Wirkungen des früheren Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung auf einem Markt mit den Merkmalen des hier in Rede stehenden Marktes hinzugekommen sind. Als das Gericht diesem Vorbringen der Kommission, das sich in der streitigen Entscheidung widerspiegelt, im wesentlichen gefolgt ist, hat es sich über den Umfang der Pflicht geirrt, die Artikel 89 des Vertrages der Kommission im Hinblick auf die Sicherung der Beachtung von Artikel 86 des Vertrages auferlegt.

Zum achten Rechtsmittelgrund

85 Mit ihrem achten Rechtsmittelgrund ("Verletzung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts") werfen die Kläger dem Gericht erster Instanz vor, es habe durch sein Urteil die Grundsätze der ordnungsgemässen Verwaltung, der Gleichheit und Nichtdiskriminierung, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verletzt.

86 Was den Grundsatz der ordnungsgemässen Verwaltung betrifft, so richtet sich die Rüge der Kläger gegen Randnummer 100 des Urteils, wonach die Kommission befugt gewesen sei, bei ihrer Entscheidung über die Beschwerde ein Sachverständigengutachten vom 6. Dezember 1990 mit der Begründung zurückzuweisen, sein Inhalt betreffe eine vor dem Erlaß der Entscheidung GD Net liegenden Zeitraum.

87 Nach Ansicht der Kommission ist dieser Teil des achten Rechtsmittelgrundes unzulässig, da er sich darauf beschränke, das Vorbringen in der Klageschrift zu wiederholen. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß die Kläger, wie sie in Abschnitt 115 ihrer Erwiderung ausdrücklich ausführen, nicht der Kommission vorwerfen, sie habe diesen Grundsatz verletzt, sondern dem Gericht erster Instanz vorhalten, es habe ihn unrichtig angewendet. In diesem Sinne lässt sich der vorliegende Rechtsmittelgrund nicht als unzulässig ansehen; wie ich jedoch sogleich darlegen werde, meine ich, daß er in jedem Fall zurückgewiesen werden muß.

88 Die Überlegungen, die das Gericht zu diesem Punkt angestellt hat, gehen nämlich davon aus, daß die Kommission im Einklang mit der Entscheidung GD Net in ihrer Gesamtheit gehandelt hat, wenn sie einen Sachverständigenbericht unbeachtet ließ, der sich auf einen vor dem Erlaß dieser Entscheidung - d. h. vor dem Zeitpunkt, zu dem die "Einstellung" der beanstandeten Praktiken (dies ist der entscheidende Punkt der streitigen Entscheidung) stattfand oder stattfinden sollte - liegenden Zeitraum bezog. Die mangelnde Erheblichkeit des Gutachtens folgt somit aus der inneren Logik der Entscheidung, der zufolge ein Gemeinschaftsinteresse von einem Zeitpunkt an nicht mehr gegeben war, der nach demjenigen der Erstattung des Gutachtens lag.

89 Diese Überlegungen des Gerichts werden nicht ernsthaft durch die Ausführungen in den Abschnitten 146 ff. der Rechtsmittelschrift entkräftet; das Vorbringen der Kläger reicht nicht aus, um einen Rechtsirrtum in diesem Teil des Urteils nachzuweisen.

90 Was die angebliche Verletzung des Gleichheitssatzes und des Diskriminierungsverbots betrifft, so machen die Kläger zum einen geltend, das Gericht "lege den Begriff der vergleichbaren Situation mißbräuchlich und übertrieben einschränkend aus", zum anderen lege es "die Rechtsnormen über die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses in einer Weise aus, die nicht mit den Regeln übereinstimmt, an die es sich stets gehalten hat".

91 Beide Vorwürfe sind unbegründet. Das Gericht beschränkt sich darauf, zu betonen (Randnr. 102 des Urteils), die Kläger hätten sich nicht auf das Vorliegen einer tatsächlichen Situation berufen, die mit der derjenigen, die Gegenstand ihrer Beschwerde gewesen sei, vergleichbar gewesen wäre, was unzweifelhaft zutrifft. Man kann sicherlich mehr oder weniger strenge Anforderungen an den Grad der Entsprechung stellen, die zwischen "vergleichbaren Situationen" bestehen muß, aber wenn der Kommission ein rechtswidriges Verhalten mit der Begründung vorgeworfen wird, sie habe eine Beschwerde gegen bestimmte Vorgänge zurückgewiesen, der sie bei anderer Gelegenheit stattgegeben habe, so ist vernünftigerweise zu fordern, daß die vergleichbare Situation der beanstandeten Situation tatsächlich ähnelt. Im vorliegenden Fall ist es den Klägern nicht gelungen, das Bestehen einer vergleichbaren Situation nachzuweisen, auf die sich ein hinreichend schwerwiegender Vorwurf der Diskriminierung stützen ließe.

92 Was die dem Gericht vorgeworfene ungleiche Auslegung der die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses regelnden Rechtsnormen angeht, so wiederhole ich, was ich bereits zum sechsten Rechtsmittelgrund ausgeführt habe.

93 Diese Verweisung erlaubt es mir, die Zurückweisung des dritten Teils des achten Rechtsmittelgrundes vorzuschlagen. Mit dieser Rüge machen die Kläger insoweit eine Verletzung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes geltend, als das Gericht erster Instanz von seiner eigenen Rechtsprechung (im Urteil Automec/Kommission) abgewichen sei und es der Kommission gestattet habe, das Gemeinschaftsinteresse anhand anderer Kriterien als der dort aufgestellten zu beurteilen.

94 Wie ich bei der Untersuchung des sechsten Rechtsmittelgrundes ausgeführt habe, ist die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses notwendigerweise an die tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls gebunden; die Kriterien des Urteils Automec/Kommission sind lediglich Gesichtspunkte oder Faktoren, die u. a. berücksichtigt werden können und müssen. Es kann daher weder von ungleicher Rechtsanwendung noch von einer Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit (oder gar des Vertrauensschutzes) gesprochen werden, wenn die Kommission in einem konkreten Fall in Anbetracht der dort gegebenen besonderen Umständen nicht auf jene Kriterien, sondern auf andere zurückgreift, die ihrer Auffassung nach dafür maßgebend sind, ob einer Beschwerde stattzugeben ist oder nicht. In jedem Fall gewährleistet die unbeschränkte Nachprüfung solcher Beurteilungen durch das Gericht erster Instanz, daß diese dem Recht genügen.

Zum neunten Rechtsmittelgrund

95 Mit dem neunten Rechtsmittelgrund werden die "Rechtsirrtümer bei der Anwendung des Begriffs $Ermessensmißbrauch`" gerügt, die das Gericht begangen habe. Die Rüge gliedert sich in zwei Teile: Das Gericht habe über den Ermessensmißbrauch entschieden, ohne alle Unterlagen zu prüfen, auf die sich die Kläger berufen hätten; es habe die Arten von Tatsachen, die als Indizien für einen Ermessensmißbrauch angesehen werden könnten, unrichtig definiert.

96 Das Schriftstück, auf das sich der erste Teil des Rechtsmittelgrundes bezieht, ist ein Schreiben des Kommissionsmitglieds Sir Leon Brittan an den Präsidenten der Kommission vom 1. Juni 1995, das anderen Mitgliedern der Kommission abschriftlich zugegangen ist. Den Klägern zufolge macht dieses Schreiben deutlich, daß die Kommission beschlossen habe, den beanstandeten Verstössen auf dem Postsektor nicht nachzugehen und statt dessen das Problem "politisch" zu lösen. In ihrer Erwiderung haben die Kläger das Gericht erster Instanz aufgefordert, die Vorlage dieses Schriftstücks sowie einer Reihe anderer als Beweismittel angeführter Unterlagen anzuordnen(15).

97 In Randnummer 117 des angefochtenen Urteils heisst es: "Zunächst stellen ... die Mutmassungen über den Gegenstand angeblicher Meinungsänderungen der Kommission und die Ausführungen, für die sich die Kläger auf ein angebliches Schreiben von L. Brittan an den Präsidenten der Kommission stützen, das nicht zu den Akten gegeben wurde und für dessen Existenz keine Beweise vorliegen, blosse Behauptungen dar, die durch keine Beweise gestützt werden und damit keine Anhaltspunkte für einen Ermessensmißbrauch sein können".(16)

98 Meines Erachtens hat das Gericht einen Rechtsirrtum (in diesem Fall einen die Interessen der Kläger verletzenden Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften über den Anspruch auf rechtliches Gehör) begangen, als es sich, ohne dies hinreichend zu erklären, weigerte, eine Unterlage als Beweismittel zu berücksichtigen, die grundsätzlich für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich erscheint und deren Aufnahme in die Akten von den Klägern beantragt worden war. Wenn das Gericht Zweifel an der Existenz des Schriftstücks hegte, war es ihm ein Leichtes, sie dadurch zu zerstreuen, daß es von der Kommission dessen Vorlage verlangte. Was es nicht tun durfte, war, die Existenz des Schriftstücks in Zweifel zu ziehen und zugleich (d. h. im selben Urteil) den Antrag der Kläger auf Anordnung der Vorlage abzulehnen. Mit anderen Worten, das Gericht konnte nicht ein Vorbringen als unbewiesen zurückweisen, wenn es selbst den entsprechenden Antrag auf Beweiserhebung abgelehnt hatte.

99 Das Gericht hat ferner einen Verfahrensverstoß begangen, indem es in seinem Urteil Stellung zu Verfahrensfragen betreffend die Anordnung oder die Ablehnung einer Beweiserhebung genommen hat, die es in einem früheren Stadium hätte beantworten müssen, weil der entsprechende Antrag im schriftlichen Verfahren gestellt worden war.

100 Nach Artikel 66 seiner Verfahrensordnung bezeichnet nämlich das Gericht durch - den Parteien zuzustellenden - Beschluß die Beweismittel, die es für angezeigt hält, und die zu beweisenden Tatsachen. Schon die blosse Logik erfordert es - erst recht, weil die Ablehnung einer Beweiserhebung den Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigen kann -, daß die Entscheidung über eine Beweiserhebung, die die Parteien im schriftlichen Verfahren beantragt hatten und die das Gericht ablehnt, durch Beschluß getroffen und den Parteien ebenfalls zugestellt wird. Hierdurch werden die Parteien in die Lage versetzt, in der mündlichen Verhandlung in besserer Kenntnis ihrer wirklichen Verteidigungsmöglichkeiten aufzutreten; ferner wird im Fall der Ablehnung der zuvor gestellten Beweisanträge ihr Anspruch auf eine Erweiterung des Beweisantritts gewährleistet (Artikel 66 § 2 der Verfahrensordnung).

101 Wird dagegen wie im vorliegenden Fall die Entscheidung, einen im schriftlichen Verfahren gestellten Beweisantrag zurückzuweisen, erst im Urteil selbst getroffen, so ist es den Antragstellern unmöglich, sei es, das Gericht in der mündlichen Verhandlung aufzufordern, seine Haltung zu überdenken, sei es, in diesem Stadium neue Beweise zu erbringen oder Beweisanträge zu stellen, um die Zurückweisung der früher gestellten Anträge auszugleichen.

102 Wie dem auch sei, es ist nicht dieser verfahrensrechtliche Verstoß, der mich zu dem Vorschlag veranlasst, diesem letzten Rechtsmittelgrund stattzugeben, sondern die Ablehnung der Beweiserhebung als solche. Aus leicht verständlichen Gründen wird der gegen ein Organ erhobene Vorwurf des Ermessensmißbrauchs gewöhnlich nicht auf überzeugende Beweise gestützt, sondern auf mehr oder weniger ernsthafte Indizien, deren Würdigung einer richterlichen Instanz anvertraut ist. Die Bürger können normalerweise nichts anderes tun, als auf diese Indizien hinzuweisen und die entsprechende Beibringung von Unterlagen oder Vernehmung von Zeugen zu beantragen, wenn sich diese Unterlagen oder diese Zeugen im Bereich der betroffenen Behörde befinden. In diesem Bereich ist daher, sofern die geltend gemachten Indizien eine gewisse Wahrscheinlichkeit aufweisen, eine ungerechtfertigte Zurückweisung derartiger Beweisanträge um so verwerflicher, als sie in den meisten Fällen dazu beiträgt, daß die Antragsteller wehrlos sind.

103 Im vorliegenden Fall konnte das Gericht möglicherweise die Vorlage des Schreibens des Kommissionsmitglieds Sir Leon Brittan aus sachlichen Gründen ablehnen, weil es der Auffassung gewesen sein mag, daß dessen Inhalt nach den Erklärungen der Kläger im Verhältnis zum übrigen Akteninhalt nichts Neues erbringen würde. Über eine solche Auffassung (wie sie die Kommission tatsächlich vorträgt) ließe sich diskutieren, sie würde aber eine Stellungnahme zur Erheblichkeit oder Unerheblichkeit des Schriftstücks zum Ausdruck bringen.

104 Dies war jedoch nicht der Grund, den das Gericht in der (oben wiedergegebenen) Randnummer 117 seines Urteils dafür angibt, daß es von der Kommission die Vorlage des Schriftstücks nicht verlangt hat: In Wahrheit liefert es überhaupt keine befriedigende Erklärung, da es sich darauf beschränkt, bereits die Existenz des Schriftstücks in Zweifel zu ziehen und festzustellen, daß es nicht zu den Akten gegeben wurde. Gerade um Existenz und Inhalt des Schriftstücks zu belegen, hatten die Kläger beantragt, das Gericht möge anordnen, daß es zu den Akten gegeben werde.

105 Zusammenfassend bin ich der Meinung, daß es keinen Grund dafür gab, den Beweisantrag der Kläger zurückzuweisen, sondern vielmehr gute Gründe, ihm stattzugeben, und daß das Gericht die Aufnahme des Schriftstücks in die Prozessakten hätte anordnen müssen, da es sich um eine von den Klägern für ausschlaggebend angesehene Unterlage handelte, die sie jedoch selbst nicht beibringen konnten, weil sie sich im Besitz eines Gemeinschaftsorgans befand.

106 Diese Schlußfolgerung macht die Prüfung des zweiten Teils des Rechtsmittelgrundes entbehrlich, da es wegen des Fehlens eines der möglicherweise für die Feststellung eines Ermessensmißbrauchs ausschlaggebenden Beweismittel nicht möglich ist, sich hierüber auf sicherer Grundlage ein Urteil zu bilden.

107 Meiner Ansicht nach müssen nach alledem zwei der von den Klägern geltend gemachten Rechtsmittelgründe Erfolg haben, so daß der Klage stattzugeben ist.

Zur Frage der Zurückverweisung der Rechtssache an das Gericht erster Instanz

108 Daß der siebte Rechtsmittelgrund aus materiell-rechtlichen Gründen durchgreift, bedeutet nicht nur, daß das erstinstanzliche Urteil aufzuheben ist, sondern gestattet es dem Gerichtshof auch, von der Befugnis Gebrauch zu machen, die ihm Artikel 54 der EG-Satzung für derartige Fälle verleiht, nämlich über den Rechtsstreit selbst endgültig zu entscheiden. Diese Entscheidung ginge schlicht dahin, die streitige Entscheidung als rechtswidrig für nichtig zu erklären.

109 Sollte der Gerichtshof lediglich den neunten Rechtsmittelgrund für stichhaltig erachten, so könnte er nicht endgültig über den Rechtsstreit entscheiden. Eine solche Entscheidung würde meines Erachtens bedeuten, daß der Gerichtshof über die Frage des der Kommission vorgeworfenen Ermessensmißbrauchs zu befinden hätte, was nicht möglich wäre, ohne daß die Unterlagen vorgelegt würden, deren Beibringung als Beweismittel beantragt worden war. Beweiserhebungen würden jedoch offensichtlich die dem Rechtsmittelverfahren gezogenen Grenzen überschreiten. In diesem Fall müsste daher die Rechtssache an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen werden.

110 Da die Klage begründet ist und der Gerichtshof über sie in seinem Urteil endgültig entscheiden kann, sind die Kosten gemäß Artikel 122 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes der Beklagten aufzuerlegen. Sollte der Gerichtshof das Rechtsmittel für begründet erklären, aber nicht endgültig über den Rechtsstreit entscheiden, so wäre nicht über die Kosten zu entscheiden.

Ergebnis

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor,

1. das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 15. Januar 1997 in der Rechtssache T-77/95 (SFEI u. a./Kommission) aufzuheben,

2. die den Gegenstand dieses Urteils bildende Entscheidung der Kommission für nichtig zu erklären und

3. der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

(1) - SFEI u. a./Kommission (Slg. 1997, II-1).

(2) - Rechtssache T-24/90 (Slg. 1992, II-2223).

(3) - In Abschnitt 91 der Nichtigkeitsklage ist zu lesen: "La décision de la Commission ... de rejeter la plainte semble se fonder sur le double raisonnement suivant: la prise en compte de l'intérêt communautaire justifierait de ne pas entamer une enquête au titre de l'article 86 ..." In Abschnitt 185 des gleichen Schriftstücks führen die Kläger aus: "En considérant qu'elle ne voit pas d'intérêt lui permettant d'entamer une telle enquête au titre de l'article 86 du traité (point 13 de la décision), la Commission fait usage de la faculté qui lui a été reconnü par la jurisprudence de rejeter une plainte pour défaut d'intérêt communautaire". Ähnlich lautet Abschnitt 188 der Klage: "Le SFEI soutient ... que la Commission a commis des erreurs manifestes d'appréciation quant à l'intérêt communautaire à poursuivre l'examen de l'affaire, en ce que la Commission fonde son évaluation de l'intérêt communautaire sur l'existence de propositions de lege ferenda ..."

(4) - Selbstverständlich müssen die Urteile des Gerichts erster Instanz, ebenso wie diejenigen eines jeden anderen Organs der Rechtspflege, begründet sein. Dies fordert Artikel 81 der Verfahrensordnung des Gerichts, nicht jedoch Artikel 190 des Vertrages. Die Funktion des Richters (die Iuris dictio) lässt sich nicht nur nicht von der Darlegung der seinen Spruch tragenden Überlegungen trennen, sondern findet hierin auch ihre Rechtfertigung. So war es nicht immer, denn in der Zeit des Absolutismus war eine Begründung der Urteile nicht nur unbekannt, sondern sogar verboten.

(5) - Die absolute Unzulänglichkeit des rechtlichen Gedankengangs (die das Urteil fehlerhaft machen würde) darf nicht mit dem Verzicht auf detaillierte Behandlung aller in einer Klage vorgebrachten Argumente verwechselt werden. Dies ist im Rahmen eines Urteils möglich, denn mitunter verwirft eine globale Antwort gleichzeitig mehrere Argumente der einen oder der anderen Partei.

(6) - Fußnote 11 der Erwiderung.

(7) - Schlussanträge vom 16. September 1997 in der Rechtssache C-7/95 P (Slg. 1997, I-8 f., Nr. 24).

(8) - Urteile vom 2. März 1994 in der Rechtssache C-53/92 P (Hilti/Kommission, Slg. 1994, I-667, Randnr. 42) und vom 6. April 1995 in den verbundenen Rechtssachen C-241/91 P und C-242/91 P (RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743, Randnr. 67); Beschluß vom 17. September 1996 in der Rechtssache C-19/95 P (San Marco/Kommission, Slg. 1996, I-4435, Randnrn. 39 und 40).

(9) - ABl. 1962, Nr. 13, S. 204.

(10) - Die Auffassung, die der Vertreter der Kommission in dieser Hinsicht in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, geht dahin, daß es sich im Unterschied zu den Verfahren wegen staatlicher Beihilfen (Artikel 92 des Vertrages), die in jedem Fall auf die Vergangenheit gerichtet seien, bei den nach Artikel 86 des Vertrages eingeleiteten Verfahren um "zukunftsgerichtete" Verfahren handele, da es bei ihnen darum gehe, zu erwirken, daß der begangene Verstoß abgestellt werde. Dieses Vorbringen ist überraschend, da es im Widerspruch zu anderen Auffassungen steht, die die Kommission selbst früher dem Gerichtshof vorgetragen hat. So hat die Kommission in der Rechtssache C-68/94 (Frankreich/Kommission), als es darum ging, die Unterschiede zwischen dem Verfahren nach Artikel 86 des Vertrages und dem Verfahren der Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (Verordnung [EWG] Nr. 4064/89 des Rates vom 31. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen [ABl. 1990, L 257, S. 14]) zu erklären, gerade umgekehrt argumentiert: Auf dem Gebiet der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung "sei auf die Vergangenheit abzustellen", während die Untersuchung bei der Anwendung der genannten Verordnung dagegen auf die Zukunft gerichtet sein müsse. Siehe in diesem Sinne die Randnummern 179 und 180 des Urteils des Gerichtshofes vom 31. März 1998 (Slg. 1998, I-1375) in der gleichen Rechtssache.

(11) - Selbstverständlich unbeschadet der Möglichkeit, diese Tatsachen in den Grenzen in Frage zu stellen, die ich in Nummer 41 der vorliegenden Schlussanträge aufgezeigt habe.

(12) - Tatsächlich ist die Haltung, die das Gericht erster Instanz zu dieser Tatfrage eingenommen hat, nicht so klar und entschieden, wie es scheinen mag: Manchen Stellen des Urteils könnte man entnehmen, daß die Beendigung der Praktiken bewiesen ist (Randnrn. 57, 58 und 59), während sich das Gericht an anderer Stelle auf die Feststellung beschränkt, daß die Kommission mangels gegenteiliger Anhaltspunkte von einer Beendigung ausgehen durfte (Randnr. 68).

(13) - Siehe Randnr. 9 des angefochtenen Urteils.

(14) - Siehe oben, Nr. 47.

(15) - Es trifft zu, daß der in der Erwiderung gestellte Antrag auf Erhebung eines Urkundenbeweises etwas allgemein formuliert war: Das Gericht erster Instanz wurde ersucht, die Vorlage derjenigen Unterlagen anzuordnen, die bezeugen würden, daß die Kommission sich bewusst geweigert habe, die Verstösse zu verfolgen, um einer allgemeinen politischen Lösung des Problems der Liberalisierung des Postsektors den Vorzug einzuräumen. Es trifft aber ebenso zu, daß dieser Antrag im Zusammenhang mit den übrigen Teilen der Erwiderung und der Klageschrift gesehen werden muß, die ausdrücklich und wiederholt auf das Schreiben des Kommissionsmitglieds Sir Leon Brittan Bezug nehmen.

(16) - Im Original ohne Hervorhebungen.

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