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Document 61996CC0201

Schlussanträge des Generalanwalts Elmer vom 20. März 1997.
Laboratoires de thérapeutique moderne (LTM) gegen Fonds d'intervention et de régularisation du marché du sucre (FIRS).
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Paris - Frankreich.
Erstattung bei der Verwendung von Zucker für die Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse - Multivitaminerzeugnisse und Erzeugnisse, die Aminosäuren enthalten - Tarifierung.
Rechtssache C-201/96.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 I-06147

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1997:179

61996C0201

Schlussanträge des Generalanwalts Elmer vom 20. März 1997. - Laboratoires de thérapeutique moderne (LTM) gegen Fonds d'intervention et de régularisation du marché du sucre (FIRS). - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Paris - Frankreich. - Erstattung bei der Verwendung von Zucker für die Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse - Multivitaminerzeugnisse und Erzeugnisse, die Aminosäuren enthalten - Tarifierung. - Rechtssache C-201/96.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-06147


Schlußanträge des Generalanwalts


Einleitung

1 Sind "Alvityl 50 dragées" und "Strongenol 20 ampoules" Lebensmittelzubereitungen im Sinne des Kapitels 21 des Gemeinsamen Zolltarifs(1), oder sind sie "pharmazeutische Erzeugnisse" im Sinne des Kapitels 30 des Gemeinsamen Zolltarifs?

Dies ist die Frage, zu der der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache Stellung nehmen soll.

Das anwendbare Gemeinschaftsrecht

2 Kapitel 21 des Zolltarifs umfasst "verschiedene Lebensmittelzubereitungen".

Anmerkung 1 Buchstabe f zu Kapitel 21 lautet wie folgt:

"1. Zu Kapitel 21 gehören nicht:

...

f) Hefen, als Arzneiwaren aufgemacht, und andere Waren der Position 3003 oder 3004".

Position 2106 umfasst "Lebensmittelzubereitungen, anderweit weder genannt noch inbegriffen".

3 Kapitel 30 des Zolltarifs umfasst "pharmazeutische Erzeugnisse".

Anmerkung 1 Buchstabe a zu Kapitel 30 lautet wie folgt:

"1. Zu Kapitel 30 gehören nicht:

a) Nahrungsmittel oder Getränke (wie diätetische, diabetische oder angereicherte Lebensmittel, Ergänzungslebensmittel, tonische Getränke und Mineralwasser) (Abschnitt IV)".

Position 3004 umfasst: "Arzneiwaren ..., die aus gemischten oder ungemischten Erzeugnissen zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken bestehen, dosiert oder in Aufmachungen für den Einzelverkauf".

In den Erläuterungen des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens zu Position 3004 heisst es:

"Die Bestimmungen in der Überschrift zu dieser Position gelten weder für Lebensmittel noch für Getränke (z. B. diätetische Lebensmittel, angereicherte Lebensmittel, Lebensmittel für Diabetiker, tonische Getränke und natürliche oder künstliche Mineralwässer), die nach ihrer Beschaffenheit einzureihen sind. Dies gilt vor allem für Lebensmittelzubereitungen, die nur Nährstoffe enthalten. Die wichtigsten Nährstoffe, die in Lebensmitteln vorkommen, sind Eiweißstoffe, Kohlenhydrate und Fette. Vitamine und Mineralsalze spielen in der Ernährung ebenfalls eine Rolle.

...

Hierher gehören ferner nicht $Ergänzungslebensmittel`, die Vitamine und Mineralsalze enthalten und zur Erhaltung der Gesundheit oder des Wohlbefindens dienen, sofern sie keine Angaben über die Verhütung oder Behandlung einer Krankheit enthalten. Diese Erzeugnisse, die gewöhnlich in fluessiger Form vorliegen, aber auch Pulver- oder Tablettenform aufweisen können, gehören im allgemeinen zu Pos. 2106 oder zu Kapitel 22."

4 Die Verordnung (EWG) Nr. 210/85 der Kommission vom 25. Januar 1985 zur Einreihung von Waren in die Tarifstelle 21.07 G I d) 1 des Gemeinsamen Zolltarifs(2) enthält folgende für die vorliegende Rechtssache erhebliche Bestimmungen:

"Die Erzeugnisse weisen vielmehr die Beschaffenheitsmerkmale von $Ergänzungslebensmitteln` auf, die Vitamine und Mineralsalze enthalten und zur Erhaltung der Gesundheit dienen. Sie sind deshalb als Lebensmittelzubereitungen anzusehen" (Fünfte Begründungserwägung).

"Artikel 1

Erzeugnisse, aufgemacht für den Einzelverkauf:

a) Tabletten mit folgender Zusammensetzung (je Tablette):

- Vitamin A 2 000 IE

- Vitamin C 60 mg

- Vitamin D 200 IE

- Vitamin E 12 IE

- Vitamin B1 1,1 mg

- Vitamin B2 1,2 mg

- Vitamin B6 2 mg

- Nicotinsäureamid 13 mg

- Calciumpantothenat 4,3 mg

- Vitamin B12 3 mcg

- Folsäure 50 mcg(3)

- Biotin 100 mcg

- Eisen 10 mg

- Zink 7,5 mg

- Mangan 2 mg

- Kupfer 1 mg

- Molybdän 150 mcg

- Jod 75 mcg

- Selen 50 mcg

- Chrom 50 mcg

- Saccharose (einschließlich Invertzucker als Saccharose berechnet) 33 GHT

- Wasser etwa 7 GHT

...

gehören im Gemeinsamen Zolltarif zur Tarifstelle 2106 90 99 ..."

5 Die Verordnung (EWG) Nr. 1010/86 des Rates vom 25. März 1986 zur Festlegung der Grundregeln für die Produktionserstattung bei der Verwendung von bestimmten Erzeugnissen des Zuckersektors in der chemischen Industrie(4) in der durch Artikel 9 der Verordnung (EWG) Nr. 714/88(5) der Kommission geänderten Fassung enthält Bestimmungen für die Gewährung von Beihilfen für Betriebe, die Zucker bei der Herstellung bestimmter chemischer Erzeugnisse, u. a. solcher, die von Kapitel 30, "Pharmazeutische Erzeugnisse", erfasst werden, verwenden.

Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefrage

6 Die SA Laboratoires de thérapeutique moderne (im folgenden: LTM) erhielt in der Zeit von Oktober 1989 bis Februar 1991 410 347,56 FF an Produktionserstattungen nach der Verordnung Nr. 1010/86, nachdem sie Alvityl 50 Dragées und Strongenol 20 Ampullen als pharmazeutische Erzeugnisse angemeldet hatte.

7 Der Fonds d'intervention et de régularisation du marché du sucre, der die Beihilferegelung in Frankreich verwaltet, erkannte jedoch nicht an, daß es sich um pharmazeutische Erzeugnisse im Sinne des Kapitels 30 des Gemeinsamen Zolltarifs handele, sondern reihte die Erzeugnisse statt dessen in Kapitel 21 des Gemeinsamen Zolltarifs ("Verschiedene Lebensmittelzubereitungen") ein und verlangte die Rückzahlung der ausgezahlten Erstattungen sowie die Entrichtung eines Bußgeldes. Die LTM rief wegen dieser Forderung das Tribunal administratif Paris an.

8 Ein Alvityl 50 Dragée bestand zu dem für die vorliegende Rechtssache maßgebenden Zeitpunkt aus:

- Vitamin A 6 250 IE

- Vitamin B1 2,5 mg

- Vitamin B2 2,5 mg

- Vitamin B5 2,5 mg

- Vitamin B6 0,75 mg

- Vitamin B8 0,025 mg

- Vitamin B9 0,0625 mg

- Vitamin B12 0,0015 mg

- Vitamin C 37,5 mg

- Vitamin D3 500 IE

- Vitamin E 5 IE

- Vitamin PP 12,5 mg

- Zucker 550 mg

- Kakao 92,5 mg

- Bindemittel, Aromastoffe, Überzug

Der Gehalt an Vitamin A und Vitamin D3 wurde später herabgesetzt und beträgt jetzt 1 500 IE und 150 IE.

Alvityl war folgender Hinweis beigegeben: "Dieses Arzneimittel wird vorzugsweise zur Verhütung oder Behebung eines Vitaminmangels im Zusammenhang mit unzureichender oder unausgewogener Ernährung verabreicht."

Die LTM hat im Verfahren auf eine Erklärung von Dr. Annie Rousseau, Forschungs- und Entwicklungsabteilung der LTM, vom 17. August 1990 hingewiesen. Diese Erklärung kommt zu folgendem Ergebnis:

"Alvityl ist bei bestimmten Mangelzuständen angezeigt:

- strenge Diät oder unausgewogene Kost (Diät mit niedrigem Kaloriengehalt, streng vegetarische Diät usw.)

- chronischer Alkoholismus - lang anhaltende Verdauungsbeschwerden (Malabsorption) - bei schwangeren oder stillenden Frauen - bei Wettkampfsportlern - bei älteren Menschen

Alvityl wird bei Personen, die keine Mangelzustände aufweisen, zur symptomatischen Behandlung allgemeiner Schwäche angewandt.

NB: Dieses Mittel eignet sich nicht zur Behandlung einer speziellen Avitaminose."

9 Eine Ampulle Strongenol 20 zu 10 ml bestand zu dem für die vorliegende Rechtssache maßgebenden Zeitpunkt aus:

- Eisen 75 mg

- Aminosäuren 800 mg

- Natrium 2 mg

- Kupfer 0,2 mg

- Jod 10 mg

- Zucker 3,3 g

- Glycerin 2 g

- Orangenextrakt 4 ml

- Zitronensäure pH 4,4

Der Zusatz von Jod wurde später eingestellt.

Strongenol war folgender Anwendungshinweis beigegeben:

"Schwäche oder Nachlassen der körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit, Rekonvaleszenz, Überanstrengung, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Altersbeschwerden."

10 Das Tribunal administratif Paris hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen mit folgendem Hinweis vorgelegt:

"Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die Erzeugnisse $Alvityl 50 dragées` und $Strongenol 20 ampoules` unter Berücksichtigung ihrer Zusammensetzung, Aufmachung und Wirkung unter die Verordnung Nr. 1010/86 des Rates vom 25. März 1986 fallen ..."

Verfahren vor dem Gerichtshof

11 Die LTM führt aus, daß Alvityl und Strongenol Arzneimittel seien, da die französischen Behörden die Genehmigung für ihr Inverkehrbringen erteilt hätten. Alvityl und Strongenol präsentierten sich sowohl nach ihrer Form als auch nach ihrer Aufmachung als Arzneimittel. Beide Erzeugnisse enthielten Wirkstoffe und dienten einem therapeutischen Zweck; auf jeden Fall hätten sie erhebliche Auswirkungen auf den Organismus. Es handele sich um Arzneimittel mit vorbeugenden und heilenden Eigenschaften, die zur Wiederherstellung oder Verbesserung der Körperfunktionen oder zur Einwirkung auf diese eingenommen würden und die nur in Apotheken erworben werden könnten. Alvityl enthalte 50 % bis 150 % der empfohlenen täglichen Zufuhr der meisten Vitamine, diene der Vorbeugung oder Behandlung von Multivitaminmangel und werde grösstenteils von Patienten nach ärztlicher Verschreibung gekauft. Strongenol enthalte Mineralsalze, darunter Jod, und diene der Behandlung von Schwächezuständen aller Art. Wegen seines Jodgehalts dürfe Strongenol nur nach ärztlicher Verschreibung eingenommen werden.

12 Die französische Regierung nimmt zugunsten der LTM Stellung und macht geltend, Alvityl 50 sei ein Vitaminerzeugnis, das zur Vorbeugung oder Behandlung von Vitaminmangel empfohlen werde. Mangel an Vitamin A könne ernsthafte Gesundheitsprobleme verursachen. Vitamin A sei andererseits in zu grossen Dosen giftig, und in Frankreich sei daher 1992 die Rezeptpflicht für Erzeugnisse eingeführt worden, die Vitamin A in Konzentrationen von mehr als 5 000 IE enthielten. Mangel an den Vitaminen B1, B6, B9 und B12 sowie an Vitamin E könne auch zu ernsthaften Gesundheitsproblemen führen. Der Vitamingehalt sei so hoch, daß Alvityl zu therapeutischen oder prophylaktischen Zwecken verwendet werden könne. Alvityl wirke auf bestimmte Funktionen des Organismus ein. Alvityl sei daher als Arzneimittel zu betrachten.

Strongenol 20 werde gegen Jodmangel verordnet. Sein Jodgehalt verstärke die therapeutischen und prophylaktischen Eigenschaften des Erzeugnisses. Sowohl Mangel an als auch Überdosierung von Jod könnten ernsthafte Gesundheitsprobleme hervorrufen. Wegen seines Jodgehalts sei Strongenol 20 als Arzneimittel zu betrachten.

13 Die Kommission erklärt, daß kombinierte Vitaminpillen wie Alvityl wegen der Notwendigkeit der ausreichenden täglichen Zufuhr von Vitaminen für den Organismus eher als notwendiger Bestandteil der Ernährung denn als Arzneimittel anzusehen seien. Dies bestätige die Gebrauchsanweisung für Alvityl. Die regelmässige Einnahme von Erzeugnissen wie Alvityl sei tatsächlich in der Bevölkerung sehr verbreitet, die diese einnehme, um sich gesund zu erhalten.

Strongenol könne auch nicht als Arzneimittel angesehen werden. Sehr geringe Mengen Metalle (Eisen und Kupfer), Jod und Natrium dienten wie Vitamine und Aminosäuren der Erhaltung der Gesundheit und seien daher nicht für die Verhütung oder Behandlung von Krankheiten gedacht. Dies bestätige die Gebrauchsanweisung für Strongenol.

Allgemeine Bemerkungen

14 Ich möchte hervorheben, daß die Verordnung Nr. 1010/86 die Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Produktionserstattung bei der Verwendung von Zucker für die Herstellung der Erzeugnisse darstellt, die im Anhang der Verordnung genannt sind. Im Anhang ist "Kapitel 30 - Pharmazeutische Erzeugnisse" des Zolltarifs aufgeführt, jedoch nicht "Kapitel 21 - Verschiedene Lebensmittelzubereitungen". Gehören die Erzeugnisse rechtlich zu Kapitel 21, so werden sie nicht von der Verordnung erfasst. Nur wenn die Erzeugnisse zu Kapitel 30 gehören, werden sie von der Verordnung erfasst, und nur in diesem Fall gibt es eine Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Produktionserstattung. Dem vorlegenden Gericht stellt sich somit das Problem, inwieweit die Erzeugnisse zu Kapitel 30 des Gemeinsamen Zolltarifs gehören, und die Vorlagefrage ist daher als Ersuchen um Auslegung dieses Kapitels zu verstehen.

15 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren grundsätzlich in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Tarifpositionen des Gemeinsamen Zolltarifs und der Vorschriften zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind. Es ist weiter ständige Rechtsprechung, daß bei der Auslegung des Gemeinsamen Zolltarifs sowohl die Vorschriften zu den Kapiteln des Gemeinsamen Zolltarifs als auch die Erläuterungen zur Nomenklatur des Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens wichtige Hilfsmittel sind, um eine einheitliche Anwendung des Zolltarifs zu gewährleisten, und deshalb als wertvolle Erkenntnismittel für die Auslegung des Tarifs angesehen werden können (Urteile vom 1. Juni 1995, Thyssen Haniel Logistic(6), und vom 14. Dezember 1995, Colin und Dupré(7)).

16 Im Zusammenhang mit dem Zolltarif kann nicht ausschlaggebend sein, wie ein bestimmtes Erzeugnis nach den Rechtsvorschriften der Gemeinschaft oder der einzelnen Mitgliedstaaten über Arzneimittel eingestuft wird. Dies geht auch aus den allgemeinen Erwägungen in der Einleitung der Erläuterungen zu Kapitel 30 der Kombinierten Nomenklatur hervor, wo es heisst: "Die Bezeichnung eines Erzeugnisses als Medikament in ... Rechtsakten der Gemeinschaften ..., in nationalen Gesetzen der Mitgliedstaaten oder in einer Pharmakopöe, ist nicht entscheidend für die Einreihung in dieses Kapitel."

Der Arzneimittelbegriff im Zolltarif unterscheidet sich somit vom Arzneimittelbegriff, der in der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 29. Januar 1965 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneispezialitäten(8) verankert ist. Diese Richtlinie soll sowohl die Hindernisse für den innergemeinschaftlichen Handel mit Arzneispezialitäten - zumindest teilweise - beseitigen als auch das grundlegende Ziel des Gesundheitsschutzes verwirklichen(9). Die Richtlinie bezieht daher zur Förderung des Handelsverkehrs und gleichzeitig zum Schutz der Gesundheit eine relative breite Auswahl von Erzeugnissen in das in der Arzneimittelgesetzgebung geregelte Kontrollsystem ein. In bezug auf das Ziel des Verbraucherschutzes hat der Gerichtshof daher die erste Definition des Arzneimittelbegriffs in der Richtlinie, die den Ausgangspunkt bei der Bezeichnung der Ware darstellt, weit ausgelegt(10).

Daß Alvityl und Strongenol mit Genehmigung der französischen Behörden in den Verkehr gebracht und daher im französischen Recht als Arzneimittel betrachtet werden, führt jedoch nicht ohne weiteres dazu, daß diese Erzeugnisse auch im Zolltarif als Arzneimittel tarifiert werden müssen.

17 Zur Bedeutung der Konzentration bestimmter Stoffe für die Frage, ob Vitaminpräparate unter den Begriff Arzneimittel fallen, hat der Gerichtshof im Urteil Van Bennekom Ausführungen gemacht. Er hat folgende Feststellungen getroffen:

"Es ergibt sich jedoch aus den Akten und aus der Gesamtheit der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen, daß es beim derzeitigen Stand der Wissenschaft unmöglich ist, anzugeben, ob das Kriterium der Konzentration für sich allein immer ausreichender Anhaltspunkt dafür sein kann, daß ein Vitaminpräparat ein Arzneimittel darstellt; um so weniger ist die Angabe möglich, von welchem Konzentrationsgrad an ein derartiges Vitaminpräparat unter die gemeinschaftliche Definition des Arzneimittels fallen würde"(11) (Randnr. 28).

18 Maßgebendes Kriterium für die Einreihung eines bestimmten Erzeugnisses als Arzneimittel im Gemeinsamen Zolltarif dürfte sein, ob für dieses Erzeugnis eine spezifische therapeutische oder prophylaktische Anwendung besteht. Dies wird im Text zu Position 3004 des Gemeinsamen Zolltarifs und in den Erläuterungen dazu hervorgehoben. Der Gerichtshof hat in Übereinstimmung damit in seinem Urteil vom 14. Januar 1993, Bioforce(12), festgestellt, daß "Weißdorn-Tropfen" der Position 3004 zuzuordnen sind, da dieses Erzeugnis genau umschriebene therapeutische und vor allem prophylaktische Eigenschaften aufweist und seine Wirkung auf ganz bestimmte Funktionen des menschlichen Organismus konzentriert ist, nämlich auf die Herzfunktion, die Kreislauffunktion und die neurovegetative Funktion.

Besondere Erwägungen zu Alvityl

19 Ein Auslegungsbeitrag im Hinblick auf die Frage nach der Tarifierung von Alvityl findet sich in der Verordnung Nr. 210/85, nach der Multivitamin- und Mineraltabletten mit näher bezeichnetem Inhalt als Lebensmittelzubereitungen zu tarifieren sind. In der fünften Begründungserwägung heisst es, daß die Erzeugnisse die Beschaffenheitsmerkmale von Ergänzungslebensmitteln aufweisen, die Vitamine und Mineralsalze enthalten und zur Erhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens dienen, weshalb sie als Lebensmittel zu betrachten sind. Der Vitamin- und Mineralsalzgehalt, der in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt ist, entspricht in weitem Umfang den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses(13).

20 Der Inhalt von Alvityl entspricht in bezug auf bestimmte Vitamine den Angaben in der Verordnung Nr. 210/85 und in den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Ausschusses. Dies spricht dafür, daß davon ausgegangen werden muß, daß Alvityl ebenso wie die in der Verordnung Nr. 210/85 genannten Tabletten als Lebensmittel zu betrachten ist.

21 In bezug auf bestimmte andere Vitamine hat Alvityl einen niedrigeren Gehalt, als in der Verordnung angegeben und vom Wissenschaftlichen Ausschuß empfohlen wird. Der Umstand, daß es einige Stoffe gibt, die in Alvityl in geringerem Umfang zu finden sind als in den in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführten Tabletten, kann nicht dazu führen, daß Alvityl als Arzneimittel anzusehen ist, sondern spricht nur um so mehr dafür, als Ausgangspunkt festzuhalten, daß Alvityl als Lebensmittel betrachtet werden muß.

22 Sodann stellt sich die Frage, ob der Umstand, daß der Gehalt an bestimmten anderen Vitaminen in Alvityl in gewissem Umfang höher ist, als in der Verordnung Nr. 210/85 und den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Ausschusses angegeben, zu einer anderen Beurteilung als dem erwähnten Ausgangspunkt führen kann. In der folgenden Übersicht sind die Vitamine und Mineralsalze angegeben, die sich in Alvityl in höherer Konzentration, als sie in der Verordnung Nr. 210/85 angegeben ist, finden.

Alvityl Verordnung Wissenschaftlicher Nr. 210/85 Ausschuß Vitamin A (IE) 6 250 2 000 2 000-2 330

Vitamine B1 (mg) 2,5 1,1 0,9-1,1

Vitamine B2 (mg) 2,5 1,2 1,3-1,6

Vitamine B9 (mg) 0,0625 0,05 0,2

Vitamine D (IE) 500 200 400

23 Wie aus der Tabelle hervorgeht, enthält Alvityl ungefähr dreimal so viel Vitamin A wie die Tabletten, die in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt und vom Wissenschaftlichen Ausschuß empfohlen werden. Ferner ist der Gehalt an Vitamin D höher als bei den Tabletten, die in der Verordnung Nr. 210/85 beschrieben werden. Der höhere Gehalt dieser Vitamine ist bemerkenswert, da sowohl Vitamin A als auch Vitamin D in zu grossen Mengen eingenommen werden können und sie bei Überdosierung bestimmte schädliche Wirkungen haben können(14). Dies scheint jedoch nicht für die Vitamine B1, B2 und B9 zu gelten, die auch in grossen Mengen in Alvityl und in den Tabletten enthalten sind, die in der Verordnung Nr. 210/85 beschrieben sind.

24 Meines Erachtens kann man nicht von dem angegebenen Ausgangspunkt abweichen, wonach Alvityl den in der Verordnung Nr. 210/85 beschriebenen Lebensmitteln gleichzustellen ist, und Alvityl nur deshalb als Arzneimittel ansehen, weil es einen höheren Gehalt an den Vitaminen A, B1, B2 und D aufweist als die Tabletten, die in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt sind(15). Was besonders den höheren Gehalt an Vitamin A angeht, so ist hervorzuheben, daß eine Reihe gewöhnlicher Nahrungsmittel (Lebensmittel) ebenfalls einen hohen Gehalt von Vitamin A oder Provitamin A, das der menschliche Organismus selbst zu Vitamin A verarbeiten kann, aufweist. Zum Vergleich mit dem Gehalt an Vitamin A in Alvityl (6 250 IE) lässt sich insbesondere anführen, daß 100 g Kalbsleber 16 670 IE Vitamin A und 100 g Möhren bis zu 5 550 IE Vitamin A (in Form des Provitamins Beta-Carotin) enthalten(16).

25 Ein Vergleich zwischen dem Inhalt von Alvityl und dem der Tabletten, die in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt sind, spricht daher für sich allein schon dafür, Alvityl in gleicher Weise wie die Tabletten, die in dieser Verordnung beschrieben sind, als Nahrungsmittel anzusehen.

26 Wie sich aus der angeführten Erklärung von Dr. Rousseau ergibt, wird Alvityl auch bei bestimmten Mangelzuständen u. a. im Zusammenhang mit unausgewogener Kost oder zur systematischen Behandlung einer allgemeinen Schwäche bei Personen, die keine Mangelzustände aufweisen, angewandt. Hingegen eignet sich Alvityl nicht zur Behandlung einer speziellen Avitaminose.

27 Alvityl ist daher nicht für die Anwendung zur Verhütung oder Behandlung eines Mangels an bestimmten Vitaminen gedacht. Es scheint sich also nicht für die Einnahme zum Zweck der Erreichung einer hohen Dosis eines bestimmten Vitamins zu eignen, da seine Einnahme gleichzeitig die Einnahme der übrigen Vitamine, die in dem Erzeugnis enthalten sind und von denen einige überdosiert werden können, mit sich bringt. Als Beispiel hierfür lässt sich anführen, daß zur Behandlung von Nachtblindheit als Folge von Vitamin-A-Mangel z. B. 30 000 IE oder 50 000 IE Vitamin A pro Tag über eine gewisse Zeit verabreicht werden. Verabreicht man statt dessen 6 oder 8 Alvityl pro Tag im gleichen Zeitraum, so erfolgt allerdings eine Überdosierung des Vitamins D.

Alvityl ist somit nicht für eine spezifische prophylaktische oder therapeutische Anwendung gedacht, wie dies aufgrund des angeführten Urteils Bioforce verlangt wird, und eignet sich auch nicht dafür.

28 Alvityl kann daher nicht in Kapitel 30 des Gemeinsamen Zolltarifs, pharmazeutische Erzeugnisse, eingereiht werden, sondern ist als Lebensmittelzubereitung im Sinne von Kapitel 21 zu betrachten.

Besondere Ausführungen zu Strongenol

29 Strongenol enthält keine Vitamine und nur wenige der vielen Mineralien, die der Organismus braucht. Die in den in der Verordnung Nr. 210/85 als Lebensmittelzubereitungen aufgeführten Tabletten enthaltenen Vitamine und die meisten darin enthaltenen Mineralien finden sich daher in Strongenol, das zudem nur einen geringen Gehalt an Kupfer aufweist, überhaupt nicht. Der Ausgangspunkt muß daher auch bei Strongenol darin bestehen, daß dieses Erzeugnis kein Arzneimittel ist.

30 Strongenol enthält ausser den angegebenen Stoffen noch Natrium, Eisen und Jod. Natrium findet sich nicht in den Tabletten, die in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt sind. Wie bei bestimmten Vitaminen in Alvityl weist Strongenol ferner bei Eisen und Jod einen höheren Gehalt auf als die Lebensmittel, die in der Verordnung Nr. 210/85 aufgeführt sind, und als vom Wissenschaftlichen Ausschuß empfohlen wird, nämlich:

Strongenol Verordnung Wissenschaftlicher Nr. 210/85 Ausschuß Eisen (mg) 75 10 9-20

Jod (mg) 10 0,075 0,13

31 Meines Erachtens kann jedoch Strongenol nicht nur deshalb als Arzneimittel angesehen werden, weil es Natrium enthält und einen höheren Gehalt an Eisen und Jod als die Tabletten hat, die in der Verordnung Nr. 210/85 und in den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Ausschusses als Lebensmittelzubereitungen aufgeführt sind(17).

32 Strongenol ist nach dem beigegebenen Hinweis indiziert bei Schwäche oder Nachlassen der körperlichen und seelischen Leistungsfähigkeit, Rekonvaleszenz, Überanstrengung, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Altersbeschwerden. Eine Reihe ganz verschiedener und sehr allgemein beschriebener Zustände war angegeben, die nicht als solche Krankheiten oder Leiden darstellen, sondern lediglich Schwächezustände eher diffusen Charakters. Strongenol war auch nicht mit Angaben über die Verhütung oder Behandlung von Krankheiten oder Leiden versehen, wie dies in den Erläuterungen zu Position 3004 des Gemeinsamen Zolltarifs verlangt wird, und das Produkt hatte ausserdem keine spezifische therapeutische oder prophylaktische Wirkung, wie dies nach dem Bioforce-Urteil verlangt wird.

33 Vor diesem Hintergrund kann Strongenol nicht in Position 3004 oder in eine andere Position des Kapitels 30 eingereiht werden.

Entscheidungsvorschlag

34 Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Der Gemeinsame Zolltarif ist so auszulegen, daß der Begriff "Pharmazeutische Erzeugnisse" in Kapitel 30 Erzeugnisse mit einer Zusammensetzung wie diejenigen, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, nicht erfasst.

(1) - Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23. Juli 1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif (ABl. L 256, S. 1).

(2) - ABl. L 24, S. 1, in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2723/90 der Kommission vom 24. September 1990 geänderten Fassung, mit der in bestimmten Verordnungen zur Einreihung von Waren die auf der Basis der am 31. Dezember 1987 geltenden Tarifnummern des Schemas des Gemeinsamen Zolltarifs durch die Codes der Kombinierten Nomenklatur ersetzt werden (ABl. L 261, S. 24).

(3) - 1 mcg entspricht 1/1 000 mg, 50 mcg entsprechen somit 0,05 mg.

(4) - ABl. L 94, S. 9.

(5) - ABl. L 152, S. 23.

(6) - Rechtssache C-459/93 (Slg. 1995, I-1381).

(7) - Verbundene Rechtssachen C-106/94 und C-139/94 (Slg. 1995, I-4759).

(8) - ABl. 1965, Nr. 22, S. 369.

(9) - Urteil in der Rechtssache 227/82 (Van Bennekom, Slg. 1983, 3883).

(10) - Vgl. in Fußnote 9 erwähntes Urteil Van Bennekom, Randnr. 17, Urteil in der Rechtssache C-112/89 (Upjohn, Slg. 1991, I-1703, Randnr. 16) und Urteil in der Rechtssache C-219/91 (Ter Voort, Slg. 1992, I-5485, Randnr. 16).

(11) - In der Rechtssache ging es um den Begriff Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 65/65/EWG des Rates.

(12) - Rechtssache C-177/91 (Slg. 1993, I-45, insbes. Randnr. 13).

(13) - Berichte des Wissenschaftlichen Lebensmittelausschusses (Einunddreissigste Folge). Nährstoff- und Energiezufuhr in der Europäischen Gemeinschaft (Stellungnahme vom 11. Dezember 1992). Die angegebenen Werte gelten für Erwachsene, und zwar sowohl für Männer als auch für Frauen. Der Wissenschaftliche Ausschuß nennt diese Werte "Bevölkerungsreferenzzufuhr". Dieser Begriff bedeutet die Zufuhr, die für praktisch alle gesunden Menschen einer Gruppe genügt.

(14) - Der Gehalt an Vitamin A und Vitamin D bei Alvityl wird im übrigen gemäß Angaben, die nach dem für die vorliegende Rechtssache maßgeblichen Zeitpunkt gemacht wurden, auf 1 500 IE und 150 IE verringert, um die Gefahr einer Hypervitaminose (Überdosierung) zu beseitigen.

(15) - Vgl. oben in Fußnote 9 erwähntes Urteil Van Bennekom.

(16) - Quelle: Tableau des calories, Anne Noël, éd. SÄP, Ingersheim 1988.

(17) - In einem Zeitpunkt nach dem für das vorliegende Verfahren maßgebenden Zeitraum hat die LTM im übrigen Jod ganz aus dem Produkt entfernt.

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