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Document 61995CC0178

    Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 19. September 1996.
    Wiljo NV gegen Belgische Staat.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Rechtbank van koophandel Antwerpen - Belgien.
    Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt - Sonderbeitrag - Ausnahme für 'Spezialschiffe' - Entscheidung der Kommission, mit der ein Befreiungsantrag abgelehnt wird - Entscheidung, die nicht auf der Grundlage von Artikel 173 des Vertrages angefochten wurde - Berufung auf die Ungültigkeit der Entscheidung vor dem nationalen Gericht.
    Rechtssache C-178/95.

    Sammlung der Rechtsprechung 1997 I-00585

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1996:340

    61995C0178

    Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 19/09/1996. - Wiljo NV gegen Belgische Staat. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Rechtbank van koophandel Antwerpen - Belgien. - Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt - Sonderbeitrag - Ausnahme für 'Spezialschiffe' - Entscheidung der Kommission, mit der ein Befreiungsantrag abgelehnt wird - Entscheidung, die nicht auf der Grundlage von Artikel 173 des Vertrages angefochten wurde - Berufung auf die Ungültigkeit der Entscheidung vor dem nationalen Gericht. - Rechtssache C-178/95.

    Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-00585


    Schlußanträge des Generalanwalts


    1 In dieser Rechtssache hat die Rechtbank van Koophandel (Gericht für Handelssachen) Antwerpen den Gerichtshof ersucht, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt (im folgenden: Verordnung)(1) zu entscheiden.

    Die einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts

    2 Die Verordnung wurde als Reaktion auf den strukturellen Kapazitätsüberhang bei den Flotten erlassen, die das Netz der untereinander verbundenen Binnenwasserstrassen von Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden befahren. Sie führte eine Abwrackaktion für Schiffe ein, die auf Gemeinschaftsebene koordiniert, aber von den Transportunternehmen selbst finanziert wird.

    3 Artikel 1 der Verordnung bestimmt:

    "(1) Binnenschiffe, die zwischen zwei oder mehreren Punkten Güterbeförderungen auf Binnenwasserstrassen der Mitgliedstaaten durchführen, unterliegen Maßnahmen zur Strukturbereinigung der Binnenschiffahrt nach Maßgabe dieser Verordnung.

    (2) Die Maßnahmen nach Absatz 1 erstrecken sich auf

    - den Abbau der strukturellen Kapazitätsüberhänge durch auf Gemeinschaftsebene koordinierte Abwrackaktionen,

    - Begleitmaßnahmen, die darauf abzielen, die Vergrösserung bestehender oder die Entstehung neuer Kapazitätsüberhänge zu verhindern."

    4 Nach Artikel 2 Absatz 2 gilt die Verordnung nicht für:

    "a) Schiffe, die ausschließlich inländische Binnenwasserstrassen befahren, welche mit den übrigen Binnenwasserstrassen der Gemeinschaft nicht verbunden sind;

    b) Schiffe, die wegen ihrer Abmessungen die von ihnen befahrenen inländischen Binnenwasserstrasse nicht verlassen können und keinen Zugang zu den übrigen Wasserstrassen der Gemeinschaft haben, sofern kein Wettbewerb zwischen diesen Schiffen und den unter diese Verordnung fallenden Schiffen entstehen kann;

    c) - Schubboote, deren Triebkraft 300 Kilowatt nicht übersteigt,

    - Fluß-See-Schiffe und Trägerschiffsleichter, die ausschließlich internationale oder inländische Beförderungen auf Fahrstrecken mit einer Seestrecke ausführen,

    - Fähren,

    - Schiffe der öffentlichen Verwaltung, soweit sie nicht zu gewerblichen Zwecken eingesetzt sind."

    5 Nach Artikel 3 der Verordnung haben die betroffenen Mitgliedstaaten einen Abwrackfonds zu errichten, der von den zuständigen nationalen Behörden zu verwalten ist. Der Fonds muß für Trockenladungsschiffe und Schubboote einerseits und Tankschiffe andererseits getrennte Konten führen.

    6 Gemäß Artikel 4 hat der Eigentümer eines unter die Verordnung fallenden Schiffes einen Jahresbeitrag an den betreffenden Fonds zu entrichten. Gemäß Artikel 6 ist die Höhe der Beitragssätze von der Kommission festzusetzen, die gewährleisten muß, daß die Fonds ausreichende Mittel erhalten, um einen wirkungsvollen Beitrag zum Abbau der strukturellen Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage in der Binnenschiffahrt leisten zu können. Artikel 5 bestimmt, daß jeder Eigentümer beim Abwracken eines Schiffes aus dem Fonds, bei dem das Schiff gemeldet ist, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Mittel eine Abwrackprämie erhält.

    7 Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung führte die sogenannte Regel "alt für neu" ein, die gewährleisten soll, daß die Inbetriebnahme neuer Schiffe die Aktion nicht gefährdet. In diesem Absatz heisst es:

    "a) Fünf Jahre lang nach Inkrafttreten dieser Verordnung dürfen unter diese Verordnung fallende Schiffe, die entweder Neubauten sind oder aus einem Drittland eingeführt wurden oder die inländische Wasserstrassen gemäß Artikel 2 Absatz 2 Buchstaben a) und b) verlassen, nur dann auf den Wasserstrassen nach Artikel 3 in Betrieb genommen werden,

    - wenn der Eigentümer des in Betrieb zu nehmenden Schiffs ohne Abwrackprämie eine Schiffsraumtonnage abwrackt, die der Tonnage dieses Schiffs entspricht, oder

    - wenn er zwar kein Schiff abwrackt, aber an den Fonds, bei dem sein neues Schiff gemeldet ist oder den er nach Artikel 4 gewählt hat, einen Sonderbeitrag in Höhe der Abwrackprämie entrichtet, die für eine Tonnage, die der Tonnage des neuen Schiffs entspricht, festgelegt wurde, oder

    - wenn er eine geringere Tonnage als die Tonnage des neuen Schiffs, das er in Betrieb nehmen will, abwrackt und an den betreffenden Fonds einen Sonderbeitrag in Höhe der Abwrackprämie zahlt, die zu diesem Zeitpunkt dem Unterschied zwischen der Tonnage des neuen Schiffs und der abgewrackten Schiffsraumtonnage entspricht.

    ..."

    8 Artikel 8 Absatz 3 legt bestimmte Ausnahmen von der Regel "alt für neu" fest. Insbesondere bestimmt Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c:

    "Die Kommission kann nach Konsultation der Mitgliedstaaten und der Binnenschiffahrtsverbände auf Gemeinschaftsebene Spezialschiffe von Absatz 1 ausnehmen."

    9 Aus einem Vermerk der Generaldirektion Verkehr der Kommission vom 7. Dezember 1990(2) geht hervor, daß die Kommission bei der Entscheidung, ob ein Schiff ein "Spezialschiff" im Sinne von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c ist, u. a. das Kriterium anwendet, ob das Schiff speziell für die Beförderung einer bestimmten Art von Waren konzipiert ist und ob es ohne Konstruktionsänderung für die Beförderung anderer Waren auf den Binnenwasserstrassen technisch geeignet ist.

    Der Sachverhalt und die Fragen des nationalen Gerichts

    10 Aus der Vorlageentscheidung ergeben sich wenig Einzelheiten über den tatsächlichen Hintergrund dieses Rechtsstreits, und die folgende Sachverhaltsdarstellung beruht weitgehend auf den schriftlichen und mündlichen Erklärungen, die die Wiljo NV und die Kommission vor dem Gerichtshof abgegeben haben. Die Tätigkeit der Wiljo NV besteht in der Belieferung von Seeschiffen mit Brennstoffen. Mit Schreiben vom 19. Januar 1993 stellte sie bei der Kommission den Antrag, ein neues Schiff, das in Betrieb genommen werden sollte, die "Smaragd", von der Regel "alt für neu" auszunehmen, weil dieses Schiff ein "Spezialschiff" im Sinne von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung sei. In ihrem Antrag an die Kommission beschrieb sie das Schiff als ein Motortankschiff mit einer Tragfähigkeit von 2 500 t und den Abmessungen 100 m x 11,40 m x 4 m und erklärte, daß das Schiff ausschließlich für die Belieferung von Seeschiffen mit Brennstoffen verwendet werden solle. Mit Schreiben vom 6. Mai 1993 teilte die Kommission der Wiljo NV mit, daß sie "aufgrund von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der [Verordnung] entschieden [habe], den Befreiungsantrag abzulehnen", und daß sie den für die Verwaltung des belgischen Abwrackfonds zuständigen Behörden eine Kopie des Schreibens übersenden werde. In ihrem Schreiben stellte sie fest, daß das Schiff für die Beförderung aller Arten von Flüssigladungen auf den Binnenwasserstrassen technisch geeignet sei und sich nicht wesentlich von herkömmlichen Tankschiffen unterscheide. Es trage daher zur Erhöhung der Kapazitäten der Flotte bei, die der Verordnung unterliege. Die Wiljo NV hat dieses Schreiben nicht gemäß Artikel 173 des Vertrages angefochten.

    11 Die Wiljo NV trägt vor, daß die Smaragd ein typisches Bunkerschiff sei, das speziell für die Belieferung von Seeschiffen mit Brennstoffen ausgerüstet sei. Das Schiff sei insbesondere mit einem 20 m hohen hydraulischen Mast mit einer Sicherheitsleiter ausgerüstet, um es den Besatzungsmitgliedern zu ermöglichen, an Bord von Seeschiffen zu gehen. Auch wenn der Mast abgesenkt werde, könne das Schiff Kanäle im Binnenland und viele Flüsse nicht befahren, weil es nicht unter den Brücken hindurchfahren könne. Darüber hinaus sei es, um den Anforderungen der Seefahrt zu genügen, mit einer besonderen Abdeckung zum Schutz gegen Seegang ausgerüstet mit dem Ergebnis, daß der Tiefgang bei voller Beladung zu groß sei, um den Rhein oder die Mosel befahren zu können. Die Smaragd verfüge zwar über die erforderlichen Bescheinigungen für die Fahrt auf den Binnenwasserstrassen, insbesondere die von der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt ausgestellte Bescheinigung, doch bedeute dies nicht, daß sie dies tatsächlich ohne Einschränkungen tun könne. Um die Seeschiffahrtsstrassen zu befahren, was Teil ihrer Versorgungstätigkeit sei, müsse sie solche Bescheinigungen haben. Das Schiff verfüge auch über eine Fahrttauglichkeitsbescheinigung für Mündungsgewässer, die zur Fahrt in Küstengewässern berechtige.

    12 Die Kommission trägt vor, daß die Eignung des Schiffes für den Güterverkehr auf Binnenwasserstrassen das einzige brauchbare Kriterium für die Anwendung von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung sei. Sie sei nicht in der Lage, die tatsächliche Verwendung eines Schiffes zu überwachen. Sie widerspricht den Erklärungen der Wiljo NV über die Eignung der Smaragd für die Fahrt auf Binnenwasserstrassen. Sie trägt vor, daß das Schiff für die Fahrt auf dem Rhein bis Basel zugelassen sei und daß der Fluß ausreichend tief sei und die Brücken ausreichend hoch für das Schiff seien, sofern der hydraulische Mast umgelegt werde. Angeblich sei das Schiff auf Binnenwasserstrassen gesichtet worden. Die Kommission weist schließlich die Behauptung der Wiljo NV zurück, daß die Behandlung der Smaragd im Widerspruch zu der Praxis stehe, wie sie in bezug auf andere Bunkerschiffe gehandhabt werde.

    13 In dem Verfahren vor dem nationalen Gericht wendet sich die Wiljo NV gegen ein Schreiben des belgischen Staates vom 1. Oktober 1993, mit dem der Einmalbeitrag an den Abwrackfonds gemäß Artikel 8 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung und gemäß der Entscheidung der Kommission vom 6. Mai 1993 angefordert wurde. Das nationale Gericht ersucht den Gerichtshof um Vorabentscheidung über folgende Fragen:

    1. Erfasst der Begriff "Spezialschiffe" in Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung (EWG) Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt bei Berücksichtigung der allgemeinen und besonderen Zielsetzung dieser Verordnung Schiffe, die aufgrund ihrer spezifischen Konstruktion und Ausrüstung oder aufgrund ihrer spezifischen Verwendung den Schiffsraum oder die Tonnage in der Binnenschiffahrt nicht erhöhen und die deshalb den strukturellen Kapazitätsüberhang im Güterverkehr auf dem Netz der untereinander verbundenen Binnenwasserstrassen der EG-Mitgliedstaaten nicht beeinflussen können?

    2. Widerspricht das von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften in ihrer Entscheidung vom 6. Mai 1993 angewandte Kriterium der "technischen Eignung für die Binnenschiffahrt", das zur Folge hat, daß auch die Schiffe, die in Wirklichkeit nicht für den Güterverkehr auf dem Netz der untereinander verbundenen Binnenwasserstrassen der EG-Mitgliedstaaten verwendet werden, der Beitragspflicht im Rahmen der "Regelung alt für neu" unterliegen, bei Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit nicht der Zielsetzung der Verordnung Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt?

    3. Reicht bei Berücksichtigung der allgemeinen und besonderen Zielsetzung der Verordnung Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt eine bloß theoretische Eignung eines Schiffes für die Binnenschiffahrt in dem Sinne, daß eine solche Eignung erst nach einem umständlichen und teuren Umbau und deshalb in einer wirtschaftlich nicht realistischen Weise hergestellt werden könnte oder daß die Verwendung des Schiffes für den Güterverkehr auf den Binnenwasserstrassen deswegen wirtschaftlich völlig unrentabel wäre, weil das Schiff nicht für die Binnenschiffahrt entworfen oder ausgerüstet worden ist, für die Begründung der Beitragspflicht im Rahmen der "Regelung alt für neu" aus?

    4. Kann bei Berücksichtigung der allgemeinen und besonderen Zielsetzung der Verordnung Nr. 1101/89 des Rates vom 27. April 1989 über die Strukturbereinigung in der Binnenschiffahrt die Entscheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 6. Mai 1993 bezueglich des Motortankschiffs "Smaragd" als gültig angesehen werden, soweit sie ein Schiff, das speziell als Bunkerschiff mit der ausschließlichen Bestimmung der Versorgung von Seeschiffen mit Brennstoff entworfen, gebaut und ausgerüstet worden ist und für die Beförderung von Brennstoffprodukten auf den Binnenwasserstrassen für Dritte oder selbst für eigene Rechnung weder besonders geeignet noch bestimmt ist und deshalb den Schiffsraum oder die Tonnage in der Binnenschiffahrt nicht erhöht, der einmaligen Beitragspflicht im Rahmen der "Regelung alt für neu" unterwirft?

    5. Stellt der Umstand, daß die Kommission das Kriterium der technischen Eignung anstelle der tatsächlichen Verwendung des Schiffes anwendet, nicht einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot dar, soweit aufgrund des von der Kommission angewandten Kriteriums für die Schiffe, die in Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Deutschland und Frankreich in Betrieb genommen werden, der Einmalbeitrag in bestimmten Fällen geschuldet wird, ohne daß das Schiff tatsächlich für die Binnenschiffahrt verwendet wird und dadurch zur Erhöhung der Tonnage in der Binnenschiffahrt beiträgt, während der Einmalbeitrag bei der Inbetriebnahme eines Schiffes in den übrigen Mitgliedstaaten nur geschuldet wird, wenn die tatsächliche Verwendung (auf dem Netz der untereinander verbundenen Binnenwasserstrassen der Gemeinschaft) dazu Veranlassung gibt?

    14 Um den Zweck dieser Fragen zu verstehen, ist es erforderlich, das Vorbringen der Wiljo NV vor dem nationalen Gericht zu untersuchen. Ausweislich der Vorlageentscheidung trägt die Wiljo NV vor, daß sie zur Zahlung des Beitrags nicht verpflichtet sei, weil es sich bei der Smaragd um ein Bunkerschiff handele, das ausschließlich für die Belieferung von Seeschiffen verwendet werde und nicht mit einem gewöhnlichen Tankschiff verglichen werden könne. Nach Auffassung der Wiljo NV widerspricht die Entscheidung der Kommission der allgemeinen Zielsetzung der Verordnung und enthält keine zutreffende technische Analyse der Merkmale und der Ausrüstung des Schiffes. Der Wortlaut der Vorlageentscheidung legt demgemäß die Annahme nahe, daß sich die Wiljo NV in dem Verfahren vor dem nationalen Gericht auf den Standpunkt stellt, daß die Entscheidung der Kommission wegen Verstosses gegen die Verordnung ungültig sei. Dies wird durch die Klageschrift der Wiljo NV in dem Verfahren vor dem nationalen Gericht bestätigt, in dem sie sich ausdrücklich auf Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung bezieht und mit den Worten schließt: "Aus diesen Gründen kann die Entscheidung der Kommission nicht als gültig angesehen werden."

    15 Es ist daher klar, daß die Fragen des nationalen Gerichts, die mit den von der Wiljo NV in ihrer Klageschrift formulierten Fragen übereinstimmen, dem nationalen Gericht die Prüfung dieses Vorbringens ermöglichen sollten. Obwohl sie die Auslegung der Verordnung betreffen, sollen sie das nationale Gericht in die Lage versetzen, die von der Kommission in ihrer Entscheidung getroffene Feststellung, daß die Smaragd nicht als "Spezialschiff" im Sinne von Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c anzusehen sei und deshalb der Regel "alt für neu" unterliege, auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen.

    16 In diesem Zusammenhang ist an die Rechtsprechung des Gerichtshofes zu erinnern, wonach die Befugnis zur Feststellung der Ungültigkeit einer Handlung der Gemeinschaft, wenn sie vor einem nationalen Gericht geltend gemacht wird, dem Gerichtshof vorbehalten bleibt(3). Wenn der Gerichtshof die Fragen des nationalen Gerichts beantworten wollte, wäre es erforderlich, sie neu zu formulieren und als Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit zu behandeln.

    17 Die Kommission wendet jedoch ein, daß die Wiljo NV aufgrund des in der Rechtssache TWD Textilwerke Deggendorf(4) aufgestellten Grundsatzes daran gehindert sei, die Rechtmässigkeit ihrer Entscheidung vor dem nationalen Gericht in Frage zu stellen. Der Gerichtshof hat dort entschieden, daß sich die Firma TWD nicht auf die Ungültigkeit einer an Deutschland ergangenen Entscheidung der Kommission, mit der die Rückzahlung der an sie geleisteten Beihilfe angeordnet worden war, in einem Verfahren berufen konnte, das sie vor einem deutschen Gericht gegen die von den nationalen Behörden getroffenen Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Entscheidung angestrengt hatte. Die Firma TWD hatte es unterlassen, die Entscheidung der Kommission gemäß Artikel 173 EG-Vertrag anzufechten, obwohl es klar war, daß sie es hätte tun können. Wenn dem Empfänger einer Beihilfe gestattet würde, sich vor dem nationalen Gericht auf die Rechtswidrigkeit einer Entscheidung der Kommission zu berufen, wäre ihm die Möglichkeit geboten, die Bestandskraft zu umgehen, die nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit einer Entscheidung nach Ablauf der in Artikel 173 festgelegten Frist zukommen muß.

    18 Die Wiljo NV hat in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, daß das Urteil in der Rechtssache TWD in der vorliegenden Rechtssache keine Anwendung finden könne. Das Urteil sei nach Ablauf der Frist für die Anfechtung der Entscheidung der Kommission vom 6. Mai 1993 ergangen. Darüber hinaus seien in erster Linie die nationalen Behörden für die Verwaltung des Fonds zuständig, und für die Wiljo NV habe die Annahme nahegelegen, daß die Entscheidung der Kommission in einem Verfahren gegen diese Behörden vor den nationalen Gerichten angefochten werden könne, zumal die Kommission in ihrer Entscheidung erklärt habe, daß diesen Behörden eine Kopie übersandt werde.

    19 Diese Argumente überzeugen mich nicht. Der Gerichtshof hat es nicht für angebracht gehalten, die zeitliche Wirkung seiner Entscheidung in der Rechtssache TWD in irgendeiner Weise zu begrenzen. Darüber hinaus ist die vorliegende Rechtssache jedenfalls klarer als die Rechtssache TWD. Obwohl die Verwaltung des Abwrackfonds in der Verantwortung der nationalen Behörden liegt, behält die Verordnung in einer Reihe von Fällen der Kommission Befugnisse vor. Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung ermächtigt die Kommission, für Spezialschiffe eine Befreiung von der Verordnung zu erteilen. Demgemäß beantragte die Wiljo NV unmittelbar bei der Kommission eine Entscheidung nach dieser Vorschrift. Auf diesen Antrag erließ die Kommission eine Einzelfallentscheidung, die sich unmittelbar an die Wiljo NV richtete. Die Wiljo NV hatte daher unbestreitbar Kenntnis von der Entscheidung und deren Konsequenzen. Darüber hinaus gibt es nicht den geringsten Zweifel, daß die Entscheidung gemäß Artikel 173 des Vertrages innerhalb der durch diese Vorschrift festgelegten Frist anfechtbar war. Unbestreitbar gilt dies trotz der Tatsache, daß eine Kopie der Entscheidung an die für deren Durchführung zuständigen nationalen Behörden übersandt wurde.

    20 Der Gerichtshof hat sein Urteil in der Rechtssache TWD auf den Grundsatz der Rechtssicherheit gestützt. Dasselbe gilt hier. Die vorliegende Rechtssache zeigt jedoch auch, wie wichtig es ist, zu gewährleisten, daß Rechtsstreitigkeiten in geeigneten Verfahren und vor dem richtigen Gericht verhandelt werden. Vorabentscheidungsverfahren sind einfach ungeeignet, wenn die zu lösenden Rechtsfragen mit schwierigen Fragen des Sachverhalts vermengt sind. Ausserdem ist es das Gericht erster Instanz, das bei einer Entscheidung wie der streitigen die erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zu treffen und das Recht auf diesen Sachverhalt anzuwenden hat. Ich bin daher der Auffassung, daß auch aus diesem Grund die Forderung des Gerichtshofes berechtigt ist, daß Privatpersonen, soweit dies möglich ist, die Rechtmässigkeit solcher Maßnahmen vor dem Gericht erster Instanz bestreiten, so daß alle streitigen Sach- und Rechtsfragen vor einem einzigen Gericht und in einem speziell für diesen Zweck vorgesehenen Verfahren geprüft werden können(5).

    21 Schließlich versuchte die Wiljo NV im Verfahren vor dem Gerichtshof, sich den Konsequenzen der Entscheidung in der Rechtssache TWD mit dem Argument zu entziehen, daß die Smaragd überhaupt nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung falle. Folglich habe sie die Aufforderung zur Beitragszahlung ungeachtet der Tatsache anfechten können, daß die Entscheidung der Kommission nun bestandskräftig und nicht mehr anfechtbar sei.

    22 Ich bin nicht der Auffassung, daß der Gerichtshof dieser Frage nachzugehen braucht. Dieses Argument taucht in der Vorlageentscheidung nirgends auf. Es erscheint auch nicht in der von der Wiljo NV in dem nationalen Verfahren eingereichten Klageschrift, die sich in der an den Gerichtshof weitergeleiteten Akte des nationalen Gerichts befindet. Demgemäß stellen die Fragen des nationalen Gerichts nicht auf die Artikel 1 und 2 der Verordnung, sondern auf Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c der Verordnung und die Entscheidung der Kommission ab. Sie befassen sich insbesondere mit dem Kriterium der technischen Eignung für den Güterverkehr auf Binnenwasserstrassen, das die Kommission für die Entscheidung heranzieht, ob ein Schiff ein unter die Ausnahme gemäß Artikel 8 Absatz 3 Buchstabe c fallendes Spezialschiff ist. Über den Wortlaut des Ersuchens des nationalen Gerichts hinauszugehen wäre unvereinbar mit der dem Gerichtshof nach Artikel 177 des Vertrages zukommenden Aufgabe und auch mit dem Erfordernis, die Rechte derjenigen zu gewährleisten, die gemäß Artikel 20 der EG-Satzung zur Einreichung schriftlicher Erklärungen beim Gerichtshof berechtigt sind(6).

    23 Aus den vorgenannten Gründen bin ich nicht der Auffassung, daß der Gerichtshof die Fragen des nationalen Gerichts zu beantworten braucht.

    Ergebnis

    24 Ich bin daher der Ansicht, daß das nationale Gericht an eine an ein Unternehmen gerichtete Entscheidung der Kommission gebunden ist, wenn dieses Unternehmen gegen diese Entscheidung nicht gemäß Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag Klage erhoben hat, sondern vor dem nationalen Gericht eine Klage erhebt, mit der es die Entscheidung der Kommission anficht. Es besteht daher keine Notwendigkeit, über die vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen zu entscheiden.

    (1) - ABl. L 116, S. 25.

    (2) - Vermerk über die Festlegung allgemeiner Kriterien für die Ausnahme von Spezialschiffen von den in Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1101/89 des Rates angegebenen Bedingungen.

    (3) - Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85 (Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 17).

    (4) - Urteil vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92 (Slg. 1994, I-833).

    (5) - Vgl. zu derselben Frage Nr. 20 meiner Schlussanträge in der Rechtssache TWD.

    (6) - Vgl. aus letzter Zeit den Beschluß des Gerichtshofes vom 19. Juli 1996 in der Rechtssache C-191/96 (Mario Modesti, Slg. 1996, I-3937).

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