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Document 61995CC0144

Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola vom 25. April 1996.
Strafverfahren gegen Jean-Louis Maurin.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de police de Toulouse - Frankreich.
Vorabentscheidungsverfahren - Auslegung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs - Nationale Rechtsvorschriften auf dem Gebiete der Bekämpfung betrügerischer Handlungen - Lebensmittel - Unzuständigkeit.
Rechtssache C-144/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 I-02909

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1996:165

61995C0144

Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola vom 25. April 1996. - Strafverfahren gegen Jean-Louis Maurin. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de police de Toulouse - Frankreich. - Vorabentscheidungsverfahren - Auslegung der Grundsätze des rechtlichen Gehörs - Nationale Rechtsvorschriften auf dem Gebiete der Bekämpfung betrügerischer Handlungen - Lebensmittel - Unzuständigkeit. - Rechtssache C-144/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-02909


Schlußanträge des Generalanwalts


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1 Das Tribunal de police Toulouse hat dem Gerichtshof mit Urteil vom 4. April 1995 folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist das Verfahren zur Feststellung von Verstössen, wie es sich aus dem Gesetz vom 1. August 1905 über betrügerische Handlungen und Fälschungen bei Waren oder Dienstleistungen in bezug auf die Etikettierung und die Aufmachung von Lebensmitteln ergibt, und insbesondere der Umstand, daß das Protokoll nicht von der von den Ermittlungen betroffenen Person zu unterzeichnen ist, mit den vom Gerichtshof entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen über das rechtliche Gehör vereinbar?

2 Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens lässt sich wie folgt zusammenfassen. J.-L. Maurin (der Angeklagte) wird wegen Verstosses gegen Artikel 18 des Dekrets Nr. 84-1147 vom 7. Dezember 1984 strafrechtlich verfolgt. Konkret wird ihm zur Last gelegt, Lebensmittel zum Verkauf angeboten zu haben, deren Haltbarkeitsdauer überschritten war. Dieser Rechtsverstoß wurde von den zuständigen französischen Behörden nach einer Kontrolle in den Räumlichkeiten seines Unternehmens festgestellt. Das am 15. Juni 1993 aufgenommene Protokoll wurde der Staatsanwaltschaft Toulouse am 18. Juni 1993 übermittelt und dem Angeklagten am 22. Juni 1993 zugestellt. In der Hauptverhandlung vor dem nationalen Gericht rügte dieser die Nichtigkeit dieses Protokolls, da es nicht von der von den Ermittlungen betroffenen Person unterzeichnet worden sei. Dies stelle einen Verstoß gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Grundsätze dar. Konkret würden die Grundsätze des rechtlichen Gehörs verletzt.

Im Vorlageurteil wird ausgeführt, daß das Protokoll nach den für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vom Betroffenen nicht unterzeichnet werden muß. Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof jedoch, ob dieses Erfordernis "mit den vom Gerichtshof entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen über das rechtliche Gehör" vereinbar ist.

3 Die Kommission, die französische und die britische Regierung wenden ein, daß der Gerichtshof für die Entscheidung über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzuständig sei. Das Ausgangsverfahren betreffe einen Fall, auf den das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung finde. Es handele sich also um einen Sachverhalt, der sich ausschließlich nach nationalem Recht regele: Das vorlegende Gericht müsse über die Anwendung einer in den französischen Rechtsvorschrift vorgesehenen Sanktion wegen Verstosses gegen eine ebenfalls der nationalen Rechtsordnung angehörende Bestimmung entscheiden. Es fehlten also die Voraussetzungen für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts und somit der Begründung der Zuständigkeit des Gerichtshofes.

4 Dieser Meinung ist zu folgen. Vor allem weist der Sachverhalt, der Gegenstand des Vorlageurteils ist, keinerlei Zusammenhang mit der Gemeinschaftsrechtsordnung auf. Die Richtlinie 79/112/EWG(1) enthält Rechtsvorschriften über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln und bestimmt auch, daß bei der Aufmachung der Ware deren Mindesthaltbarkeitsdatum anzugeben ist. Der Zweck dieses Rechtsaktes besteht jedoch, wie sich aus seiner ersten Begründungserwägung ergibt, darin, "die Unterschiede, die gegenwärtig zwischen den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung von Lebensmitteln bestehen" und die "den freien Verkehr mit diesen Erzeugnissen [behindern] und ... eine ungleiche Wettbewerbslage hervorrufen [können]", zu beseitigen. Zu diesem Zweck "ist ein Verzeichnis der Angaben aufzustellen, die grundsätzlich bei der Etikettierung aller Lebensmittel zu beachten sind"(2). Die Richtlinie verfolgt dieses Ziel schlicht dadurch, daß sie einheitliche Kriterien für die Etikettierung der Lebensmittel vorschreibt. Der einzige mögliche Verstoß gegen ihre Bestimmungen besteht somit in der Vermarktung von Erzeugnissen, deren Etikettierung von ihren Vorgaben abweicht. Die Richtlinie regelt daher nicht den Fall, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, in dem eine Ware zwar entsprechend den Vorschriften des Gemeinschaftsrechts etikettiert ist, jedoch zu einem Zeitpunkt zum Verkauf angeboten wird, zu dem das auf der Verpackung angegebene Verbrauchsdatum überschritten ist. Es stellt sich hier nicht die Frage, ob die Waren entsprechend den Vorgaben der Richtlinie etikettiert waren; in einem solchen Fall wäre der Sachverhalt tatsächlich vom Gemeinschaftsrecht geregelt. Vielmehr geht es um die Entscheidung, wie das Anbieten von Lebensmitteln, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, zum Verkauf sanktioniert werden soll: Damit befasst sich jedoch weder die erwähnte Richtlinie noch eine andere Bestimmung des Gemeinschaftsrechts. Der Fall fällt in die Zuständigkeit des nationalen Gesetzgebers. Zu Recht vertreten daher die Beteiligten die Ansicht, daß sich das gegen den Angeklagten eingeleitete Verfahren auf den Verstoß gegen eine Bestimmung des nationalen Rechts bezieht, die keinen Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsrecht aufweist.

Nun ergibt sich aus der gefestigten Rechtsprechung, "daß der Gerichtshof ... für die Beachtung der Grundrechte im Bereich des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen hat, aber nicht prüfen kann, ob eine nationale Regelung, die nicht im Rahmen des Gemeinschaftsrechts liegt, mit der Europäischen Menschenrechtskonventions vereinbar ist"(3). Da, wie ausgeführt, die gegen den Angeklagten verhängte Sanktion in einer nationalen Rechtsvorschrift vorgesehen ist, die nicht der Durchführung einer Rechtsvorschrift der Gemeinschaft dient, ist der Gerichtshof nicht für die Beurteilung zuständig, ob die Einzelheiten des Verfahrens für die Verhängung dieser Sanktion im Einklang mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen insbesondere über das rechtliche Gehör stehen, für deren Beachtung der Gerichtshof Sorge zu tragen hat.

Antrag

Nach allem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Frage des Tribunal de police Toulouse wie folgt zu antworten:

Zwar hat der Gerichtshof für die Beachtung der Grundrechte in dem besonderen Bereich des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen, er kann jedoch nicht prüfen, ob ein nationales Gesetz, das, wie im vorliegenden Fall, nicht in den Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs vereinbar ist.

(1) - Richtlinie des Rates vom 18. Dezember 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 1979, L 33, S. 1).

(2) - Siebte Begründungserwägung der Richtlinie.

(3) - Urteil vom 30. September 1987 in der Rechtssache 12/86 (Demirel, Slg. 1987, 3719, Randnr. 28). Siehe auch Urteil vom 11. Juli 1985 in den verbundenen Rechtssachen 60/84 und 61/84 (Cinéthèque, Slg. 1985, 2605, Randnr. 26).

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