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Document 61992CC0199

Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas vom 15. Juli 1997.
Hüls AG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtsmittel - Verfahrensordnung des Gerichts - Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung - Geschäftsordnung der Kommission - Verfahren für den Erlaß einer Entscheidung des Kommissionskollegiums - Begriffe der Vereinbarung und der abgestimmten Verhaltensweise - Beweisrecht - Unschuldsvermutung - Geldbuße.
Rechtssache C-199/92 P.

Sammlung der Rechtsprechung 1999 I-04287

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1997:358

SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GEORGES COSMAS

vom 15. Juli 1997 ( *1 )

Inhaltsverzeichnis

 

I — Sachverhalt und Verfahren vor dem Gericht erster Instanz

 

II — Zulässigkeit des Rechtsmittels

 

III — Zulässigkeit der Streithilfe

 

IV — Die Rechtsmittelgründe

 

A — Die Rechtsmittelgründe, die formelle Mängel der Entscheidung der Kommission betreffen

 

1. Die maßgeblichen Vorschriften und das PVC-Urteil des Gerichtshofes

 

a) Die anwendbaren Vorschriften

 

b) Das PVC-Urteil des Gerichtshofes

 

2. Das angefochtene Urteil

 

3. Prüfung der Rechtsmittelgründe

 

a) Zu den Grenzen der Befugnisse des Rechtsmittelgerichts

 

b) Zur falschen Auslegung der Begriffe der Inexistenz einer Entscheidung und der Rechtmäßigkeitsvermutung durch das Gericht

 

— Vorbringen der Beteiligten

 

— Erörterung der vorstehenden Rechtsmittelgründe

 

i) Zum Umfang der Kontrolle im Rechtsmittelverfahren bezüglich der von Amts wegen geprüften Fragen

 

ii) Zum Vorliegen vollständig nachgewiesener formeller Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission

 

iii) Zur Richtigkeit der Randnummer 385 des angefochtenen Urteils

 

c) Zum Vorliegen wesentlicher formeller Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission

 

— Vorbringen der Beteiligten

 

— Erörterung der vorstehenden Fragen

 

i) Die Befugnisse des Gemeinschaftsgerichts in bezug auf die Leitung und den Fortgang des Verfahrens

 

ii) Prüfung des klageabweisenden Urteils des Gerichts im Hinblick auf die Beweislastregeln

 

iii) Prüfung des Vorbringens nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

 

iii.1. Das Verbot des Vorbringens neuer Angriffsmittel nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

 

iii.2. Ausnahmen vom Verbot des Vorbringens von Angriffsoder Verteidigungsmitteln nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

 

iii.2.1. Wenn die mit Verzögerung vorgebrachten Umstände erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung bekanntgeworden sind

 

iii.2.2 Ist der mit Verzögerung vorgebrachte Rechtsmittelgrund vom Gericht von Amts wegen zu prüfen?

 

B — Die Rechtsmittelgründe, die die vom Gericht getroffene Feststellung von Verstößen gegen Artikel 85 des Vertrages betreffen

 

1. Die Argumentation der Parteien

 

a) Zur Teilnahme an den regelmäßigen Sitzungen

 

b) Zur Teilnahme an den Preisinitiativen

 

c) Zu den Maßnahmen zur Förderung der Durchführung der Preisinitiativen

 

2. Rechtliche Würdigung des Parteivorbringens

 

a) Zur Zulässigkeit

 

b) Zur Begründetheit

 

V — Entscheidungsvorschlag

In der vorliegenden Rechtssache hat der Gerichtshof über das nach Artikel 49 der EWG-Satzung des Gerichtshofes eingelegte Rechtsmittel der Hüls AG wegen Aufhebung eines Urteils des Gerichts erster Instanz vom 10. März 1992 ( 1 ) zu entscheiden.

Mit dem angefochtenen Urteil wurde die Klage abgewiesen, die die Rechtsmittelführerin gemäß Artikel 173 EWG-Vertrag gegen die sogenannte Polypropylen-Entscheidung der Kommission vom 23. April 1986 ( 2 ) erhoben hatte. Diese Entscheidung betraf die Anwendung von Artikel 85 EWG-Vertrag im Bereich der Herstellung von Polypropylen. ( 3 )

I — Sachverhalt und Verfahren vor dem Gericht erster Instanz

1.

Bezüglich des Sachverhalts und des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz ergibt sich aus dem angefochtenen Urteil folgendes:

Der westeuropäische Polypropylenmarkt wurde vor 1977 fast ausschließlich von zehn Herstellern beliefert, darunter die Rechtsmittelführerin mit einem Marktanteil zwischen ungefähr 4,5 % und 6,5 %. Nach dem Auslaufen der Patente der Firma Montedison traten ab 1977 neue Hersteller mit großen Produktionskapazitäten auf. Dem stand kein entsprechender Anstieg der Nachfrage gegenüber, so daß mindestens bis 1982 kein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bestand. Allgemein war der Polypropylenmarkt in der Zeit von 1977 bis 1983 durch eine niedrige Rentabilität und/oder erhebliche Verluste gekennzeichnet.

2.

Am 13. und 14. Oktober 1983 führten Beamte der Kommission im Rahmen ihrer Befugnisse aus Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962 ( 4 ) gleichzeitig Nachprüfungen bei einer Reihe von Unternehmen durch, die im Bereich der Polypropylen-Herstellung tätig sind. Im Anschluß an diese Nachprüfungen richtete die Kommission Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 an diese, aber auch an weitere Unternehmen mit ähnlichem Geschäftsgegenstand. Anhand des im Rahmen dieser Nachprüfungen und Auskunftsverlangen erlangten Beweismaterials gelangte die Kommission zu der Auffassung, daß bestimmte Polypropylenhersteller, darunter die Rechtsmittelführerin, in der Zeit von 1977 bis 1983 gegen Artikel 85 EWG-Vertrag verstoßen hätten. Am 30. April 1984 beschloß sie deshalb, ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 einzuleiten, und übermittelte den betroffenen Unternehmen Mitteilungen der Beschwerdepunkte.

3.

Am Ende dieses Verfahrens erließ die Kommission am 23. April 1986 die obengenannte Entscheidung mit folgendem Tenor:

„Artikel 1

[Die Unternehmen]... Chemische Werke Hüls (jetzt Hüls AG)... haben gegen Artikel 85 Absatz 1 EWG-Vertrag verstoßen, indem sie

...

im Fall von BASF, DSM und Hüls von einem Zeitpunkt zwischen 1977 und 1979 bis mindestens November 1983

an einer von Mitte 1977 stammenden Vereinbarung und abgestimmten Verhaltensweise beteiligt waren, durch die die Gemeinschaft mit Polypropylen beliefernden Hersteller:

a)

miteinander Verbindung hatten und sich regelmäßig (von Anfang 1981 an zweimal monatlich) in einer Reihe geheimer Sitzungen trafen, um ihre Geschäftspolitik zu erörtern und festzulegen;

b)

von Zeit zu Zeit für den Absatz ihrer Erzeugnisse in jedem Mitgliedstaat der EWG Ziel- (oder Mindest-)preise festlegten;

c)

verschiedene Maßnahmen trafen, um die Durchsetzung dieser Zielpreise zu erleichtern, (vor allem) unter anderem durch vorübergehende Absatzeinschränkungen, den Austausch von Einzelangaben über ihre Verkäufe, die Veranstaltung lokaler Sitzungen und ab Ende 1982 ein System der *‚Kundenführerschaft‘ zwecks Durchsetzung der Preiserhöhungen gegenüber Einzelkunden;

d)

gleichzeitige Preiserhöhungen vornehmen, um die besagten Ziele durchzusetzen;

e)

den Markt aufteilen, indem jedem Hersteller ein jährliches Absatzziel bzw. eine Quote (1979, 1980 und zumindest für einen Teil des Jahres 1983) zugeteilt wurde oder, falls es zu keiner endgültigen Vereinbarung für das ganze Jahr kam, die Hersteller aufgefordert wurden, ihre monatlichen Verkäufe unter Bezugnahme auf einen vorausgegangenen Zeitraum einzuschränken (1981, 1982).

...

Artikel 3

Gegen die in dieser Entscheidung genannten Unternehmen werden wegen des in Artikel 1 festgestellten Verstoßes folgende Geldbußen festgesetzt:

...

vii)

Hüls AG, eine Geldbuße von 2750000 ECU bzw. 5898447,50 DM“.

4.

Vierzehn der fünfzehn Unternehmen, an die die genannte Entscheidung gerichtet war, darunter die Rechtsmittelführerin, haben Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung der Kommission erhoben. In der mündlichen Verhandlung, die vom 10. Dezember 1990 bis zum 15. Dezember 1990 vor dem Gericht stattfand, haben die Parteien mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.

5.

Mit gesondertem Schriftsatz vom 4. März 1992, also nach Abschluß des schriftlichen und des mündlichen Verfahrens, jedoch noch vor Verkündung der Entscheidung, hat die Rechtsmittelführerin beim Gericht beantragt, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Zur Begründung dieses Antrags hat sie sich auf bestimmte tatsächliche Umstände berufen, die ihr nach ihrem Vorbringen erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung, genauer: nach Erlaß des Urteils des Gerichts vom 27. Februar 1992 in den Rechtssachen BASF u. a./Kommission (im folgenden: PVC-Sachen) ( 5 ) bekanntgeworden sind. Sie hat geltend gemacht, aus diesen Umständen ergäben sich wesentliche formelle Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission, zu deren Prüfung die Durchführung einer erneuten Beweisaufnahme erforderlich sei. ( 6 )

Nach erneuter Anhörung des Generalanwalts zu der neu aufgetauchten Frage hat das Gericht den Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zurückgewiesen und die Klage mit dem oben genannten Urteil vom 10. März 1992 insgesamt abgewiesen.

6.

Gegen dieses klageabweisende Urteil hat die Rechtsmittelführerin vor dem Gerichtshof Rechtsmittel mit dem Antrag eingelegt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Entscheidung der Kommission für inexistent, hilfsweise für nichtig zu erklären, weiter hilfsweise: die Sache an das Gericht zurückzuverweisen. Gleichzeitig beantragt sie, der Rechtsmittelgegnerin die Kosten aufzuerlegen.

Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und der Rechtsmittelführerin die Kosten aufzuerlegen.

Zugunsten der Rechtsmittelführerin ist die Firma DSM NV dem Rechtsstreit als Streithelferin beigetreten.

II — Zulässigkeit des Rechtsmittels

7.

Mit ihrer Rechtsmittelbeantwortung beantragt die Kommission zunächst, das Rechtsmittel als unzulässig zurückzuweisen. Sie erhebt zu diesem Zweck bestimmte Einreden der Unzulässigkeit, die sich auf die zweite Gruppe der von der Rechtsmittelführerin vorgetragenen Rechtsmittelgründe beziehen, d. h. auf diejenigen, mit denen ein Verstoß gegen das materielle Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft gerügt wird. Die Rechtsmittelführerin macht ihrerseits geltend, die genannten Einreden seien unbegründet und könnten nicht zur Zurückweisung des gesamten Rechtsmittels als unzulässig führen.

8.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das Rechtsmittel nach Artikel 51 der EWG-Satzung des Gerichtshofes „auf Rechtsfragen beschränkt [ist]. Es kann nur auf die Unzuständigkeit des Gerichts, auf einen Verfahrensfehler, durch den die Interessen des Rechtsmittelführers beeinträchtigt werden, sowie auf eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts durch das Gericht gestützt werden.“ Ferner verbieten die Artikel 113 § 2 und 116 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes den Parteien, den vor dem Gericht verhandelten Streitgegenstand durch das Rechtsmittel oder durch die Rechtsmittelbeantwortung zu verändern. Nach Artikel 119 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof außerdem das Rechtsmittel jederzeit durch Beschluß, der mit Gründen zu versehen ist, zurückweisen, wenn es offensichtlich unzulässig ist.

Das eingelegte Rechtsmittel kann nur dann ganz unzulässig sein, wenn es keinen in zulässiger Weise geltend gemachten Rechtsmittelgrund umfaßt. Somit ist es erforderlich, sämtliche Rechtsmittelgründe zu prüfen und festzustellen, daß keiner von ihnen zulässig ist. ( 7 )

9.

Unter diesem Gesichtspunkt ist die Einrede der Unzulässigkeit der Kommission unerheblich, weil mit ihr nur gegen die zweite Gruppe der Rechtsmittelgründe, also jene, die sich auf angebliche Verstöße gegen das materielle Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft beziehen, Rügen erhoben werden, ohne daß zugleich geltend gemacht wird, daß auch die anderen Rechtsmittelgründe, d. h. die der ersten Gruppe, die in der Rechtsmittelschrift enthalten sind, unzulässig seien. Mit den letztgenannten Klagegründen werden Mängel des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz gerügt. Selbst wenn das Vorbringen der Kommission letztlich durchgreifen sollte (was ich unten im Rahmen der separaten Erörterung der einzelnen Rechtsmittelgründe zusammen mit den Gegenargumenten der Rechtsmittelführerin prüfen werde), kann es folglich nicht zur Zurückweisung des Rechtsmittels insgesamt als unzulässig führen.

III — Zulässigkeit der Streithilfe

10.

In ihrem Streithilfeschriftsatz legt die DSM den Schwerpunkt ihres Interesses auf die formelle Rechtmäßigkeit der streitigen Polypropylen-Entscheidung und macht folgendes geltend: Die Kommission habe die Beweislast dafür getragen, daß beim Erlaß der Polypropylen-Entscheidung die anzuwendenden Verfahrensvorschriften eingehalten worden seien. Außerdem sei das Gericht verpflichtet gewesen, von Amts wegen oder auf einen entsprechenden Antrag der Klägerin in dem bei ihm anhängigen Verfahren zu prüfen, inwieweit die angefochtene Entscheidung bestimmte wesentliche formelle Mängel aufweise. Zur Untermauerung ihres Vorbringens beruft sich die Streithelferin auf den Sachverhalt und die Entscheidung des Gerichts in den Soda-Sachen ( 8 ) und in den LDPE-Sachen ( 9 ). Schließlich beantragt sie, dem Rechtsmittel stattzugeben, das angefochtene Urteil des Gerichts erster Instanz aufzuheben und die Polypropylen-Entscheidung für inexistent oder für nichtig zu erklären. Nach Ansicht der Streithelferin käme der eventuelle Erfolg des Rechtsmittels und die Inexistentoder Nichtigerklärung der Polypropylen-Entscheidung nicht nur der Rechtsmittelführerin, sondern auch ihr selbst zugute. Daher habe sie ein rechtliches Interesse daran, dem Rechtsstreit als Streithelferin beizutreten.

In der Folge wird die Zulässigkeit der Streithilfe untersucht, und sodann wird das obige Vorbringen in materieller Hinsicht geprüft.

11.

Mit ihrer Stellungnahme zur Streithilfe, die sie am 20. Juni 1995 beim Gerichtshof eingereicht hat, erhebt die Kommission mit folgender Begründung eine Einrede der Unzulässigkeit: Mit dem Urteil des Gerichtshofes in den PVC-Sachen ( 10 ) sei entschieden worden, daß bestimmte formelle Mängel von Entscheidungen der Kommission von der Art, wie sie die Streithelferin rüge, nur zur Nichtigerklärung der betreffenden Handlung und nicht zur Anerkennung ihrer Inexistenz führten. Da demnach die Nichtigerklärung einer Einzelfallentscheidung nur zugunsten der sie beantragenden Partei Wirkungen entfalte, werde ein eventuelles Nichtigkeitsurteil des Gerichtshofes der Streithelferin nicht zugute kommen. Dieses Urteil werde keine Wirkungen erga omnes entfalten, sondern betreffe nur jenen Teil der Polypropylen-Entscheidung, mit dem der Rechtsmittelführerin bestimmte Maßnahmen und Sanktionen auferlegt worden seien. Die Streithelferin als Dritte habe daher kein berechtigtes Interesse am Beitritt als Streithelfer.

Ferner führt die Kommission aus, die Streithelferin versuche durch ihre Streithilfe ihr Versäumnis wettzumachen, daß sie nicht unmittelbar gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 17. Dezember 1991 ( 11 ) Rechtsmittel eingelegt habe, mit dem ihr Antrag zurückgewiesen worden sei, die oben erwähnte Entscheidung der Kommission für nichtig zu erklären, soweit sie sie selbst betreffe. Die Streithelferin verfolge somit das Ziel, die negativen Folgen der Tatsache, daß sie die Frist für die Einlegung des Rechtsmittels ungenutzt habe verstreichen lassen, dadurch zu vermeiden, daß sie die Verbindlichkeit dieser Frist mittelbar umgehe.

Schließlich bestreitet die Kommission die Zulässigkeit des im Rahmen der Streithilfe gestellten Antrags, die Polypropylen-Entscheidung zugunsten aller Polypropylen-Hersteller, an die sie gerichtet sei, für inexistent oder für nichtig zu erklären. Einen solchen Antrag habe die Rechtsmittelführerin im Rahmen ihrer Rechtsmittelschrift nicht gestellt. Daher gehe die Stellung dieses Antrags durch die Streithelferin über die Grenzen dessen hinaus, was diese im Rahmen des vorliegenden Prozesses anstreben könne, da sie eben dem akzessorischen Charakter der Streithilfe zuwiderlaufe.

12.

Zunächst ist festzustellen, daß die Prüfung der Zulässigkeit des Beitritts als Streithelfer der im Beschluß vom 30. September 1992 enthaltenen Entscheidung des Gerichtshofes nicht widerspricht; mit dem genannten Beschluß ist die Streithelferin als solche zum Verfahren zugelassen worden. Im Rahmen des Beschlusses ist die Frage der Zulässigkeit seinerzeit unter dem Gesichtspunkt summarisch geprüft worden, ob der Streithelferin die Beteiligung am schriftlichen und am mündlichen Verfahren in der vorliegenden Rechtssache gestattet werden soll. Die in dem Beschluß getroffene Entscheidung über die Zulässigkeit des Beitritts als Streithelfer ist somit meines Erachtens vorläufig gewesen und hat keine Rechtskraft entfaltet, die der Prüfung der Zulässigkeit im derzeitigen Verfahrensstadium entgegenstünde. Dies findet sowohl in einer grammatikalischen und einer an Sinn und Zweck ausgerichteten Auslegung der anzuwendenden Verfahrensvorschriften ( 12 ) als auch in der Rechtsprechung ( 13 ) des Gerichtshofes eine Stütze.

13.

Der Beitritt als Streithelfer vor dem Gerichtshof ist (außer für die Mitgliedstaaten und die Organe der Gemeinschaft, auf die sich Artikel 37 Absatz 1 bezieht) in Artikel 37 Absatz 2 der EWG-Satzung des Gerichtshofes auch für alle Personen vorgesehen, die ein berechtigtes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits glaubhaft machen. Dieses berechtigte Interesse muß unmittelbar und gegenwärtig sein. Mit den aufgrund des Beitritts gestellten Anträgen können nur die Anträge der Partei, zu deren Gunsten der Beitritt erfolgt, unterstützt werden. Es handelt sich somit um eine Neben- und nicht um eine Hauptintervention.

14.

Die Rechtsprechung hat sich noch nicht eingehend mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Beitritts befaßt, der erst im Rechtsmittelverfahren erfolgt. Bestimmte Beschlüsse des Gerichtshofes (die freilich, wie bemerkt, nicht die Verbindlichkeit eines Urteils haben) enthalten jedoch nützliche und klare Hinweise. So verliert der Beitretende das Recht zum Beitritt nicht schon deshalb automatisch, weil er selbständig einen Rechtsbehelf oder ein Rechtsmittel hätte einlegen können. ( 14 ) Eine solche absolute Wirkung schreibt der Gerichtshof anscheinend auch nicht dem Umstand zu, daß wegen Ablaufs der Frist oder wegen eines anderen Prozeßhindernisses die Einlegung eines eigenständigen Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs unterblieben ist. Im Gegenteil wird die Tatsache, daß der Streithelfer hätte selbständig handeln und so die Eigenschaft einer Partei erlangen können, als Umstand gewertet, aufgrund dessen ein berechtigtes Interesse am Beitritt glaubhaft erscheint. ( 15 )

15.

Es fragt sich somit, wie entschieden werden kann, ob eine Person, die nicht selbständig einen Rechtsbehelf oder ein Rechtsmittel gegen eine bestimmte Handlung eingelegt hat, ein berechtigtes Interesse an der Zulassung als Streithelfer in einem anhängigen Prozeß hat, in dem eine andere Person als Partei gegen dieselbe Handlung vorgeht. ( 16 ) Ob ein unmittelbares und gegenwärtiges Interesse vorliegt, ist anhand der Anträge der Partei zu bestimmen, zu deren Gunsten die Streithilfe erfolgt. ( 17 ) Während die Glaubhaftmachung des berechtigten Interesses leichter ist, wenn die Nichtigerklärung einer normativen Handlung beantragt wird — eben weil diese Nichtigerklärung erga omnes wirkt —, gilt dies nicht für den Fall, daß sich der Rechtsstreit wie hier auf die Rechtmäßigkeit einer Einzelfallentscheidung bezieht. Im zweiten Fall entfaltet nur die eventuelle Feststellung der Inexistenz der Handlung — wegen gravierender Mängel oder der materiellen Inexistenz der Handlung — Wirkungen gegenüber allen. ( 18 ) Wird die Handlung dagegen aus formellen oder materiellen Gründen für nichtig erklärt, so wirkt diese Nichtigerklärung nur zugunsten der obsiegenden Partei. ( 19 ) Daher erwächst dem Streithelfer aus dieser Nichtigerklärung kein unmittelbares berechtigtes Interesse, das darin bestünde, daß diese Einzelfallentscheidung auch in bezug auf den ihn betreffenden Teil für nichtig erklärt oder zumindest unwirksam gemacht würde. Der mittelbare Rechtsvorteil, der sich für den Streithelfer eventuell daraus ergibt, daß der Rechtmäßigkeit der fraglichen Handlung entgegenstehende Hindernisse zutage treten, reicht als Rechtfertigung für seine Zulassung zu dem anhängigen Rechtsstreit nicht aus. ( 20 )

16.

Lassen Sie mich nunmehr auf der Grundlage der bisherigen Ausführungen — in den Einzelheiten und insgesamt — die Zulässigkeit der Streithilfe in der vorliegenden Rechtssache prüfen. Dabei sind folgende beiden rechtlichen Voraussetzungen maßgeblich: Zum einen muß unmittelbar und gegenwärtig ein berechtigtes Interesse des Streithelfers glaubhaft gemacht werden, das aus dem Ausgang des fraglichen Rechtsstreits erwächst. Zum anderen darf der Streithelfer keine selbständigen, d. h. über das Petitum der von ihm unterstützten Partei hinausgehenden Anträge stellen. ( 21 ) Im vorliegenden Fall lassen sich die ordnungsgemäß gestellten Anträge der Rechtsmittelführerin, zu deren Gunsten die Streithilfe erfolgt, in drei Gruppen einteilen:

Auf jeden Fall wird die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils mit eventueller Rückverweisung an das Gericht erster Instanz zu erneuter Entscheidung beantragt. Dieser Antrag kann für sich genommen für die Streithelferin keinerlei unmittelbares berechtigtes Interesse begründen, da die Aufhebung des die Rechtsmittelführerin betreffenden erstinstanzlichen Urteils keinesfalls die Rechtsstellung der Streithelferin beeinflussen kann. Auch wenn zusammen mit der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils die Rückverweisung der Sache an das Gericht beantragt wird, stellt der eventuelle Vorteil für die Streithelferin — der bestenfalls in der Wahrscheinlichkeit bestünde, daß das Gericht bei der neuen Prüfung der Sache zu der Feststellung gelangen würde, daß die Polypropylen-Entscheidung inexistent ist — lediglich ein hypothetisches, mittelbares und zukünftiges berechtigtes Interesse dar, das für die Begründung der Zulässigkeit der Streithilfe nicht ausreicht.

Soweit die Streithelferin dagegen beantragt, daß der Gerichtshof nach Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils selbst in der Sache entscheiden und die Inexistenz der Polypropylen-Entscheidung feststellen möge, weil sie wesentliche Mängel aufweise oder materiell inexistent sei, so kommt der eventuelle Erfolg dieses Antrags auch der Streithelferin zugute, weil die Feststellung der Inexistenz, wie schon gesagt, erga omnes wirkt. Insofern hat die Streithelferin ein unmittelbares und gegenwärtiges berechtigtes Interesse an der Zulassung zum vorliegenden Rechtsmittelverfahren.

Soweit die Rechtsmittelführerin aber beantragt, daß der Gerichtshof nach Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils selbst in der Sache entscheiden und die Polypropylen-Entscheidung aus formellen oder materiellen Gründen für nichtig erklären möge, wirkt die eventuelle Nichtigerklärung nicht gegenüber allen, sondern nur zugunsten der Rechtsmittelführerin. Daher kann die Streithelferin aus der eventuellen Nichtigerklärung der Polypropylen-Entscheidung kein berechtigtes Interesse herleiten.

Außerdem beantragt die Rechtsmittelführerin nicht — und könnte auch nicht beantragen —, die Wirkungen der Nichtigerklärung der Polypropylen-Entscheidung auf alle Polypropylen-Hersteller auszudehnen, an die die Entscheidung gerichtet ist. ( 22 ) Aus diesem Grund ist der dahin gehende Antrag der Streithelferin unzulässig.

17.

Nach alledem ist die Streithilfe zum Teil zulässig, und zwar insoweit, als die Streithelferin die Rechtsmittelführerin in ihrem Antrag unterstützt, das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und gemäß den obigen Ausführungen die Inexistenz der Polypropylen-Entscheidung festzustellen. ( 23 ) Die übrigen Anträge der Streithelferin und ihr Vorbringen zur Unterstützung anderer Anträge der Rechtsmittelführerin sind unzulässig und brauchen daher nicht in der Sache geprüft zu werden.

IV — Die Rechtsmittelgründe

A — Die Rechtsmittelgründe, die formelle Mängel der Entscheidung der Kommission betreffen

18.

Die Rechtsmittelführerin vertritt die Ansicht, die Polypropylen-Entscheidung der Kommission, gegen die sie sich mit ihrer Klage vor dem Gericht erster Instanz gewandt habe, sei mit wesentlichen formellen Mängeln behaftet, derentwegen sie nichtig sei. Diese Mängel oder zumindest eindeutige und ausreichende Anhaltspunkte für ihr Vorliegen habe sie vor Erlaß des erstinstanzlichen Urteils schriftsätzlich vorgetragen. Das Gericht habe mit seiner Weigerung, dieses Vorbringen weiter zu prüfen, obwohl sie dies mit Schriftsatz vom 4. März 1992 beantragt habe, gegen eine Reihe von Verfahrensvorschriften verstoßen. Auch sei diese Weigerung auf eine fehlerhafte Begründung gestützt worden, denn das Gericht habe die Begriffe der Inexistenz einer Entscheidung und der Rechtmäßigkeitsvermutung falsch ausgelegt.

Im folgenden werde ich zunächst den Rechtsmittelgrund prüfen, der sich auf die Auslegung dieser Begriffe bezieht, und mich sodann mit der Frage der geltend gemachten Verfahrensverstöße befassen.

1. Die maßgeblichen Vorschriften und das PVC-Urteil des Gerichtshofes

a) Die anwendbaren Vorschriften

19.

Artikel 48 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung des Gerichts bestimmt:

„Im übrigen können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.“

Artikel 60 dieser Verfahrensordnung lautet:

„Ist in einer Rechtssache kein Generalanwalt bestellt, so erklärt der Präsident am Ende der Verhandlung die mündliche Verhandlung für geschlossen.“

Artikel 61 §2 dieser Verfahrensordnung lautet:

„Nach dem Vortrag oder der Übergabe der Schlußanträge erklärt der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen.“

Artikel 62 der Verfahrensordnung des Gerichts bestimmt:

„Das Gericht kann nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung anordnen.“

Artikel 64 § 4 Absatz 1 der genannten Verfahrensordnung lautet:

„Jede Partei kann in jedem Verfahrensstadium den Erlaß oder die Abänderung prozeßleitender Maßnahmen vorschlagen. In diesem Fall werden die anderen Parteien angehört, bevor diese Maßnahmen angeordnet werden.“

Besonders nützlich ist die Anführung der Vorschriften über die Geltendmachung des Rechtsbehelfs der Wiederaufnahme.

In Artikel 41 der EWG-Satzung des Gerichtshofes, der auch im Verfahren vor dem Gericht anwendbar ist, heißt es:

„Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann beim Gerichtshof nur dann beantragt werden, wenn eine Tatsache von entscheidender Bedeutung bekannt wird, die vor Verkündung des Urteils dem Gerichtshof und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt war.“

Ergänzend bestimmt Artikel 125 der Verfahrensordnung des Gerichts:

„Unbeschadet der in den Artikeln 38 Absatz 3 der EGKS-Satzung, 41 Absatz 3 der EWG-Satzung und 42 Absatz 3 der EAG-Satzung vorgesehenen Frist von zehn Jahren ist die Wiederaufnahme des Verfahrens binnen drei Monaten nach dem Tag zu beantragen, an dem der Antragsteller Kenntnis von der Tatsache erhalten hat, auf die er seinen Antrag stützt.“

b) Das PVC-Urteil des Gerichtshofes

20.

Dieses Urteil ( 24 ) hat besondere Bedeutung für die Entscheidung der Fragen, die sich in der vorliegenden Rechtssache stellen. In diesem Urteil war im Rahmen der aufgrund eines Rechtsmittels gegen das PVC-Urteil des Gerichts vom 27. Februar 1992 erfolgenden Kontrolle die Frage geprüft worden, welche Rechtsfolgen das Fehlen einer gemäß Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission von deren Präsidenten und dem Exekutivsekretär unterzeichneten Urschrift einer Entscheidung der Kommission hat. ( 25 )

21.

In einem ersten Schritt stellte der Gerichtshof fest, daß dieser Formfehler die Entscheidung nicht inexistent macht. Diese Feststellung wurde wie folgt begründet. ( 26 ) Für die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane gelte die Vermutung der Gültigkeit. Ausnahmsweise entfalteten Rechtsakte, „die offenkundig mit einem derart schweren Fehler behaftet sind, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung ihn nicht tolerieren kann“, keine Rechtswirkungen, so daß für sie die Rechtmäßigkeitsvermutung nicht gelte und sie als „rechtlich inexistent“ anzusehen seien. Jedoch sei die Feststellung der rechtlichen Inexistenz auf „ganz außergewöhnliche Fälle“ zu beschränken. Zu den formellen Mängeln, über die in der damaligen Rechtssache zu entscheiden war, führte der Gerichtshof sodann aus: „Im übrigen sind die vom Gericht festgestellten Zuständigkeits- und Formfehler betreffend das Verfahren für den Erlaß der Entscheidung durch die Kommission — für sich allein und auch insgesamt betrachtet — nicht derart schwerwiegend, daß die genannte Entscheidung als rechtlich inexistent betrachtet werden müßte.“

22.

Der Gerichtshof hob die Entscheidung des Gerichts über die Inexistenz auf und prüfte im Hinblick auf eine Entscheidung in der Sache, inwiefern sich aus denselben formellen Mängeln ein Grund für die Nichtigerklärung der Entscheidung ergibt. ( 27 ) Dabei berücksichtigte er drei wesentliche Gesichtspunkte. Erstens die grundlegende Bedeutung des die Tätigkeit der Kommission beherrschenden Kollegialprinzips ( 28 ) die Beachtung dieses Prinzips sei für die Rechtssubjekte zwangsläufig von Interesse, insbesondere wenn die Kommission mit ihren Entscheidungen, mit denen sie Verstöße gegen Artikel 85 des Vertrages feststelle, Anordnungen gegenüber den betroffenen Unternehmen erlasse und ihnen Sanktionen auferlege. Zweitens berücksichtigte der Gerichtshof die Pflicht zur Begründung derartiger Entscheidungen der Kommission gemäß Artikel 190 des Vertrages; aus dieser Pflicht ergebe sich, daß es, „[d]a der verfügende Teil und die Begründung einer Entscheidung... ein unteilbares Ganzes darstellen,... nach dem Kollegialprinzip ausschließlich Sache des Kollegiums [ist], beide zugleich anzunehmen“. Drittens führt der Gerichtshof den Grundsatz an, daß insbesondere für den Erlaß von Entscheidungen, mit denen eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 des Vertrages festgestellt werde, keine Ermächtigung des für die Wettbewerbspolitik zuständigen Mitglieds der Kommission in Betracht komme.

23.

Somit sei „[d]ie Kommission... u. a. verpflichtet, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann‚. Im Rahmen dieser Verpflichtung sei auch Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission erlassen worden. „Anders als die Kommission meint“, sei daher „die in diesem Artikel 12 Absatz 1 vorgesehene Ausfertigung der Rechtsakte keine bloße Formalie, die ihr Erinnerungsvermögen stützen soll; sie soll vielmehr die Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt. Damit ermöglicht sie es, im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle zu prüfen. [Die Vorschrift, die] die Ausfertigung der Rechtsakte vorsieht, stellt somit eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EWG-Vertrag dar, wegen deren Verletzung die Nichtigkeitsklage gegeben ist.“

24.

Aus diesem Urteil des Gerichtshofes ergibt sich, daß das Fehlen einer gemäß den vorstehenden Ausführungen ausgefertigten Urschrift ohne weiteres einen Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift und keinen Grund für die Inexistenz der Entscheidung darstellt. ( 29 )

2. Das angefochtene Urteil

25.

Das Gericht wies die mit dem Schriftsatz der Rechtsmittelführerin vom 4. März 1992 gestellten Anträge ( 30 ) mit folgender, in den Randnummern 384 und 385 des angefochtenen Urteils enthaltener Begründung zurück:

„Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das zitierte Urteil vom 27. Februar 1992 als solches keine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren rechtfertigt. Im übrigen hat die Klägerin abweichend von ihrem Vorbringen in den PVC-Verfahren (vgl. Randnr. 13 des Urteils des Gerichts vom 27. Februar 1992) in diesem Verfahren bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nicht einmal andeutungsweise vorgetragen, daß die angefochtene Entscheidung wegen der behaupteten Mängel inexistent sei. Es fragt sich daher schon, ob die Klägerin hinreichend dargelegt hat, warum sie die angeblichen Mängel, die ja vor der Klageerhebung bestanden haben sollen, anders als im PVC-Verfahren nicht eher in dieses Verfahren eingeführt hat. Selbst wenn der Gemeinschaftsrichter die Frage der Existenz der angefochtenen Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren des Artikels 173 Absatz 2 EWG-Vertrag von Amts wegen zu prüfen hat, bedeutet dies aber nicht, daß in jedem Verfahren nach Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag von Amts wegen Ermittlungen über eine eventuelle Inexistenz der angefochtenen Entscheidung zu führen sind. Nur soweit die Parteien hinreichende Anhaltspunkte für eine Inexistenz der angefochtenen Entscheidung vortragen, ist das Gericht gehalten, dieser Frage von Amts wegen nachzugehen. Im vorliegenden Fall ergibt das Vorbringen der Klägerin keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine derartige Inexistenz der Entscheidung: Unter 1.2 ihres Schriftsatzes hat sich die Klägerin auf einen angeblichen Verstoß gegen die Sprachenregelung in der Geschäftsordnung der Kommission berufen. Ein derartiger Verstoß kann jedoch nicht zur Inexistenz der angefochtenen Entscheidung führen, sondern allenfalls — nach rechtzeitiger Rüge — zur Nichtigkeit. Im übrigen hat die Klägerin unter I.3 ihres Schriftsatzes vorgetragen, es spreche unter Berücksichtigung der Sachlage in den PVC-Verfahren eine tatsächliche Vermutung dafür, daß die Kommission auch bei ihren Polypropylen-Entscheidungen unbefugt nachträgliche Änderungen vorgenommen habe. Die Klägerin hat jedoch nicht dargelegt, warum die Kommission auch im Jahr 1986, also in einer normalen Situation, die sich von den besonderen Umständen der PVC-Verfahren beim Ablauf ihres Mandats im Januar 1989 erheblich unterschied, nachträglich Änderungen an der Entscheidung vorgenommen haben soll. Der bloße Hinweis auf ein ‚fehlendes Unrechtsbewußtsein‘ reicht hierfür nicht aus. Die diesbezügliche pauschale Vermutung der Klägerin gibt mithin keinen hinreichenden Anlaß zu einer Beweisaufnahme nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.

Das Vorbringen unter L1 des Schriftsatzes der Klägerin ist schließlich dahin zu werten, daß diese unter Bezugnahme auf die Erklärungen der Verfahrensbevollmächtigten der Kommission in den PVC-Verfahren konkret behauptet, es fehle eine durch die Unterschriften des Präsidenten der Kommission und des Exekutivsekretärs festgestellte Urschrift der angefochtenen Entscheidung. Dieser angebliche Mangel, selbst wenn er bestehen sollte, führt jedoch für sich genommen noch nicht zur Inexistenz der angefochtenen Entscheidung. Anders als in den bereits mehrfach erwähnten PVC-Verfahren hat die Klägerin im vorliegenden Verfahren nämlich keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorgetragen, daß nach Erlaß der angefochtenen Entscheidung der Grundsatz der Unantastbarkeit eines beschlossenen Rechtsakts verletzt worden ist und damit die angefochtene Entscheidung — zugunsten der Klägerin — die Vermutung ihrer Rechtmäßigkeit verloren hat, die ihr aufgrund des Anscheins zukommt. Dann aber führt das bloße Fehlen einer ausgefertigten Urschrift noch nicht zur Inexistenz der angefochtenen Entscheidung. Auch insoweit war die mündliche Verhandlung daher nicht für eine nachträgliche Beweisaufnahme wiederzueröffnen. Da das Vorbringen der Klägerin auch keine Wiederaufnahme des Verfahrens begründen würde, war ihrer Anregung, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, nicht stattzugeben.“

3. Prüfung der Rechtsmittelgründe

a) Zu den Grenzen der Befugnisse des Rechtsmittelgerichts

26.

Ich halte es für zweckmäßig, vorab eine von der Rechtsmittelführerin aufgeworfene Frage zu beantworten, die die Grenzen der Befugnisse des Rechtsmittelgerichts betrifft.

Die Rechtsmittelführerin beantragt, der Gerichtshof möge, wenn er dies für erforderlich halte, eine ergänzende Beweisaufnahme bezüglich des Vorliegens von formellen Mängeln der Polypropylen-Entscheidung anordnen. Die betreffenden formellen Mängel sind mit der Rechtsmittelschrift vorgetragen worden. Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin ist die Befugnis zur Durchführung einer ergänzenden Beweisaufnahme noch im Stadium des Rechtsmittelverfahrens eng mit der jedem Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft obliegenden Verpflichtung verknüpft, von Amts wegen umfassend zu prüfen, ob das bis dahin durchgeführte Verwaltungs- und Gerichtsverfahren Mängel aufweist.

27.

Zu der Frage, ob der Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren eine Beweisaufnahme zum Zweck der Feststellung der obengenannten formellen Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission anordnen darf, ist folgendes zu bemerken: Aus dem Charakter der Kontrolle im Rechtsmittelverfahren, wie sie in den Prozeßrechtssystemen der Mitgliedstaaten verstanden und in den entsprechenden Vorschriften der EWG-Satzung und der Verfahrensordnung des Gerichtshofes umschrieben ist, ergibt sich, daß diese Kontrolle auf die Feststellung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung beschränkt ist, d. h. auf die rechtliche Bewertung der gerichtlichen Begründung dieses Urteils auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen dieses Gerichts abzielt. Dagegen ist das Rechtsmittelgericht nicht zu einer Beweiswürdigung befugt, es sei denn, daß eine falsche Darstellung der Tatsachen (dénaturation des faits) gerügt wird. ( 31 ) Somit ist eine weitere Beweisaufnahme im Rechtsmittelverfahren nicht denkbar. ( 32 )

Nach alledem ist der Antrag der Rechtsmittelführerin auf Durchführung einer ergänzenden Beweisaufnahme durch den Gerichtshof hinsichtlich der geltend gemachten mutmaßlichen formellen Mängel der streitigen Polypropylen-Entscheidung der Kommission zurückzuweisen.

b) Zur falschen Auslegung der Begriffe der Inexistenz einer Entscheidung und der Rechtmäßigkeitsvermutung durch das Gericht

— Vorbringen der Beteiligten

28.

Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, weil das Gericht die Rechts begriffe der „Inexistenz“ einer Entscheidung und der „Rechtmäßigkeitsvermutung“ unzutreffend ausgelegt und falsch angewendet habe.

Insbesondere macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe zu Unrecht entschieden, daß eine nicht ordnungsgemäß unterzeichnete Entscheidung nicht ohne weiteres inexistent sei, sondern daß für sie die Rechtmäßigkeitsvermutung gelte. Damit habe das Gericht gegen die allgemein anerkannten Grundsätze für die Inexistenz von Rechtsakten verstoßen, wie sie in der Rechtsprechung anerkannt seien ( 33 ). Ferner habe es im Rahmen der Begründung dieser seiner Auffassung den Begriff der Rechtmäßigkeitsvermutung und die Lehre vom faktischen Verwaltungsakt (Anscheinstheorie; Théorie de l'apparence) falsch ausgelegt. Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin können so schwerwiegende und offensichtliche formelle Mängel, wie sie der streitigen Polypropylen-Entscheidung der Kommission anhafteten, nicht durch Berufung auf die Anscheinstheorie heilen. Außerdem wäre es widersinnig und inkonsequent, die Rechtmäßigkeitsvermutung als Kriterium für die Existenz eines Rechtsakts heranzuziehen.

Die Rechtsmittelführerin macht geltend, diese Rügen würden durch das PVC-Urteil des Gerichtshofes nicht widerlegt; statt inexistent zu sein, sei die angefochtene Handlung vielmehr wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären.

29.

Zur Entgegnung auf diese Ausführungen verweist das Gericht auf die vom Gerichtshof in den PVC-Sachen getroffene Entscheidung. Nach Ansicht der Kommission stellt sich nach Erlaß des PVC-Urteils des Gerichtshofes nicht mehr die Frage der Inexistenz von Rechtsakten, die die von der Rechtsmittelführerin beschriebenen Mängel aufwiesen. Im übrigen habe das Gericht die Polypropylen-Entscheidung zu Recht nicht als inexistent angesehen, da keine ausreichenden Beweise für das Vorliegen der von der Rechtsmittelführerin geltend gemachten Mängel und Formverstöße vorgelegen hätten. ( 34 )

— Erörterung der vorstehenden Rechtsmittelgründe

i) Zum Umfang der Kontrolle im Rechtsmittelverfahren bezüglich der von Amts wegen geprüften Fragen

30.

An diesem Punkt ist zu prüfen, inwiefern die Tatsache, daß ein Aufhebungsgrund vom Tatsachengericht (Gericht erster Instanz) von Amts wegen geprüft worden ist, Bedeutung für die Art und Weise hat, in der die erstinstanzliche Entscheidung über diesen Aufhebungsgrund im Rechtsmittelverfahren zu überprüfen ist. ( 35 ) Daß ein Klagegrund zu den von Amts wegen zu prüfenden Gesichtspunkten gehört, bedeutet nicht ohne weiteres, daß er erstmals im Rechtsmittelverfahren vorgebracht und dort geprüft werden kann oder daß sich die Kontrolle im Rechtsmittelverfahren auf Fragen erstreckt, die in der ersten Instanz weder aufgeworfen noch behandelt worden sind. Das Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof kann auch für von Amts wegen zu prüfende Fragen nicht in ein Berufungsverfahren umgewandelt werden, in dessen Rahmen Tatsachenfragen geprüft würden. Gemäß der Regelung in Artikel 51 Absatz 1 der EWG-Satzung des Gerichtshofes hat es lediglich den Zweck, eventuelle rechtliche Mängel der erstinstanzlichen Entscheidung aufzuspüren. Daher ist die Kontrolle durch den Gerichtshof in bezug auf die Frage, ob die streitige Polypropylen-Entscheidung wesentliche formelle Mängel aufweist, darauf beschränkt, zu prüfen, ob die vom Tatsachengericht festgestellten tatsächlichen Umstände richtig unter die anzuwendende Rechtsvorschrift subsumiert worden sind und, soweit dies in der Rechtsmittelschrift beantragt wird, ob entsprechende Tatsachen in zulässiger Weise vor dem Tatsachengericht vorgetragen, von diesem aber pflichtwidrig nicht geprüft worden sind.

31.

Das übrige Vorbringen der Rechtsmittelführerin, mit der sie insbesondere ihren Schriftsatz vom 4. März 1992 zu ergänzen versucht und die über die Grenzen der Kontrolle im Rechtsmittelverfahren im Sinne der vorstehenden Erwägung hinausgehen, ist zurückzuweisen. ( 36 )

ii) Zum Vorliegen vollständig nachgewiesener formeller Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission

32.

Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist zu bemerken, daß das Gericht keinen Rechtsfehler in bezug auf die Ermittlung und die Würdigung von Tatsachen begangen hat, aus denen sich wesentliche formelle Mängel der Polypropylen-Entscheidung ergaben. Dem angefochtenen Urteil ist nicht zu entnehmen, daß dem Tatsachengericht etwa Gesichtspunkte dieser Art und Bedeutung bekannt gewesen wären, oder gar, daß es sie falsch gewürdigt hätte.

33.

Unter den gemäß den obigen Ausführungen geltend gemachten formellen Mängeln ist derjenige erheblich, der sich auf das Fehlen einer beglaubigten Urschrift der Entscheidung der Kommission im Sinne des Artikels 12 der Geschäftsordnung der Kommission bezieht. Die besondere Bedeutung dieses Mangels ergibt sich klar aus dem oben referierten PVC-Urteil des Gerichtshofes. Nach diesem Urteil ( 37 ) ist die Beglaubigung (Ausfertigung) der Entscheidungen ein wesentliches Formerfordernis, durch dessen Erfüllung es ermöglicht wird, den Inhalt, die Sprache und die Begründung der überprüften Entscheidung eindeutig zu bestimmen. Aus der Begründung dieses Urteils geht hervor, daß das Fehlen einer Beglaubigung ohne weiteres zur Nichtigerklärung des mit diesem Mangel behafteten Rechtsakts führt, ohne daß nachgewiesen werden müßte, inwiefern ihr Inhalt nachträglich verändert oder die Sprachenregelung nicht eingehalten worden ist.

34.

Im vorliegenden Fall ist das Fehlen einer beglaubigten Urschrift der streitigen Polypropylen-Entscheidung vom Gericht nicht festgestellt worden, und auch die Rechtsmittelführerin macht nicht geltend, daß sie eindeutig und bestimmt eine entsprechende Rüge erhoben oder vollständig nachgewiesene Tatsachen vorgetragen habe, aus denen sich diese formellen Mängel ergeben hätten. Somit hat das erstinstanzliche Gericht in keiner Weise etwa deshalb rechtsfehlerhaft gehandelt, weil es nicht entschieden hat, daß die angefochtene Handlung der Kommission wesentliche formelle Mängel aufweist.

iii) Zur Richtigkeit der Randnummer 385 des angefochtenen Urteils

35.

Im Anschluß an die obigen Darlegungen komme ich nun zur Prüfung der Stichhaltigkeit des vorgebrachten Rechtsmittelgrundes, demzufolge das Gericht die Rechtsbegriffe der „Inexistenz“ einer Handlung und der „Rechtmäßigkeitsvermutung“ unzutreffend ausgelegt und falsch angewandt hat.

36.

Tatsächlich halte ich den Gedankengang des Gerichts, der in Randnummer 385 des angefochtenen Urteils wiedergegeben wird, nicht für richtig. Seine Fehlerhaftigkeit ergibt sich aus der Begründung, mit der festgestellt worden ist, daß kein Grund für die Inexistenz der vor dem Gericht angefochtenen Entscheidung vorliege. Die Überprüfung dieser Begründung ( 38 ) führt meines Erachtens, was ihre Stichhaltigkeit angeht, zu einem eindeutigen Ergebnis. Zunächst einmal ist die Heranziehung der Rechtmäßigkeitsvermutung als Begründung für die Verneinung der Inexistenz nach meinem Dafürhalten rechtsfehlerhaft. Zum einen geht die Entscheidung über die Existenz einer Handlung, worauf auch die Rechtsmittelführerin hinweist und wie sich außerdem aus den oben wiedergegebenen Ausführungen des Gerichtshofes in den PVC-Sachen ergibt, der Frage, ob eine Rechtmäßigkeitsvermutung begründet worden ist, logisch voraus und stellt eine zwingende Voraussetzung für letztere dar. Zum anderen kommt — und dies ist bedeutsamer, weil es auch für den Fall gilt, daß der Verstoß gegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission zur Nichtigerklärung und nicht zur Inexistenz der fehlerhaften Entscheidung führt — eine Heranziehung der Vermutung der Rechtmäßigkeit einer mit Klage angefochtenen Entscheidung zu dem Zweck, die gegen diese Entscheidung gerichteten Argumente und Angriffsmittel der Parteien zurückzuweisen, nicht in Betracht. Es ist mit anderen Worten nicht möglich, einen formellen Mangel einer angefochtenen Entscheidung mit der Begründung zu verneinen, daß er durch die Rechtmäßigkeitsvermutung gedeckt sei, da diese Vermutung eine gerichtliche Kontrolle nicht ausschließt.

37.

Außerdem ist zweifelhaft, ob die Verpflichtung zum Vortrag „konkreter Anhaltspunkte“ zur Entkräftung der Rechtmäßigkeitsvermutung, wie sie das Gericht als Voraussetzung für die Feststellung der Inexistenz verlangt, nicht mit den Beweislastregeln ( 39 ) unvereinbar ist.

38.

Trotz dieser Mängel bin ich jedoch der Ansicht, daß das Urteil des Gerichts nicht aufzuheben ist, weil das Ergebnis, zu dem das Gericht bei der Erörterung des Vorbringens der Rechtsmittelführerin zur Inexistenz der streitigen Entscheidung gelangt ist, unabhängig von der näheren Begründung des angefochtenen Urteils zu diesem Punkt zutreffend ist. So ist zu Recht entschieden worden, daß die geltend gemachten Mängel der Polypropylen-Entscheidung, selbst wenn sie vorliegen sollten, diese nicht inexistent machen. Diese Auffassung wird auch durch das PVC-Urteil des Gerichtshofes bestätigt, dessen Begründung ich in einem früheren Abschnitt meiner Schlußanträge ( 40 ) wiedergegeben und analysiert habe. Ist die Begründung des angefochtenen Urteils mangelhaft, das Ergebnis, zu dem das Gericht in seiner Entscheidungsformel gelangt, dagegen zutreffend, so sind der betreffende Rechtsmittelgrund und die Streithilfe — diese insgesamt — nach der Rechtsprechung zur Kontrolle im Rechtsmittelverfahren ( 41 ) zurückzuweisen.

c) Zum Vorliegen wesentlicher formeller Mängel der angefochtenen Entscheidung der Kommission

39.

Auch wenn aus dem Streitstoff, der dem Gericht zur Entscheidung unterbreitet worden war, nicht hervorgeht, daß der Verfasser der angefochtenen Entscheidung wesentliche formelle Verstöße begangen hat, ist doch zu prüfen, ob nicht derselbe Streitstoff die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zum Zweck neuer prozeßleitender Maßnahmen rechtfertigte.

— Vorbringen der Beteiligten

40.

Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht habe durch seine ablehnende Entscheidung über den Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen, da es die Artikel 62 und 64 § 3 Buchstabe d seiner Verfahrensordnung und Artikel 21 der EWG-Satzung des Gerichtshofes falsch angewandt habe. Diese Vorschriften nähmen innerhalb des Rechtsschutzsystems der Gemeinschaft eine besondere Stellung ein. Sie böten die erforderlichen prozessualen Garantien für die Wahrung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör.

41.

Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin hatte das Gericht kein uneingeschränktes Ermessen in bezug auf die Entscheidung über ihren Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Artikel 62 der Verfahrensordnung des Gerichts sei dahin auszulegen, daß das Gericht zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet sei, wenn eine Partei einen entsprechenden Antrag stelle und dieser durch den Vortrag entscheidungserheblicher Tatsachen untermauert sei, die die betreffende Partei nicht gekannt habe und daher bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht habe vortragen können. ( 42 ) Derartige Tatsachen seien von den Bediensteten der Kommission am 10. Dezember 1991 im Rahmen der PVC-Sachen offenbart worden; sie gingen ihres Gewichts und ihres allgemeinen Charakters wegen über die Grenzen jener Rechtssache hinaus und beträfen unmittelbar die streitige Polypropylen-Entscheidung. Aufgrund der fraglichen Erklärungen in den PVC-Sachen sei anzunehmen, daß die Kommission erstens nicht die Verpflichtung zur Ausfertigung einer Urschrift ihrer Entscheidungen gemäß Artikel 12 ihrer Geschäftsordnung, zweitens nicht die Sprachenregelung für ihre Entscheidungen und drittens nicht das Verbot der nachträglichen Veränderung des Inhalts der erlassenen Entscheidung einhalte. Die Rechtsmittelführerin macht geltend, sie sei vor Abgabe der Erklärungen vom 10. Dezember 1991 nicht in der Lage gewesen, diese Tatsachen zu erkennen, da es keinerlei Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben habe. Diese Tatsachen stünden auch der Vermutung der Rechtmäßigkeit der Polypropylen-Entscheidung der Kommission entgegen. Es habe sich somit um Tatsachen gehandelt, die für die Entscheidung des beim Gericht anhängigen Rechtsstreits „erheblich“ gewesen seien. Insbesondere das Fehlen einer beglaubigten Urschrift stelle gemäß den Ausführungen des Gerichtshofes im PVC-Urteil einen Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift dar, der zur Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung führe, ohne daß es weiterer Beweise bedürfe. Zur Rechtzeitigkeit ihres Antrags auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung trägt die Rechtsmittelführerin vor, sie habe von den genannten erheblichen Tatsachen erst am 10. Dezember 1991 Kenntnis erlangt. Jedenfalls unterliege die Stellung ihres Antrags auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung keiner prozessualen Ausschlußfrist. Die dreimonatige Ausschlußfrist des Artikels 125 der Verfahrensordnung des Gerichts betreffe nur den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme und könne daher, da sie zur Beschränkung eines prozessualen Rechts festgesetzt worden sei, nicht analog auf den Fall eines Antrags auf Wiedereröffnung des Verfahrens angewandt werden.

42.

Mit nahezu gleicher Begründung macht die Rechtsmittelführerin geltend, das Gericht habe mit seinem Urteil gegen Artikel 64 § 3 Buchstabe d seiner Verfahrensordnung, wie er in Verbindung mit Artikel 64 § 1 der Verfahrensordnung und Artikel 21 der EWG-Satzung des Gerichtshofes auszulegen sei, verstoßen. Im Rahmen seiner Verpflichtung zur Erhebung der für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen Beweise sei das Gericht gehalten, eine Beweisaufnahme anzuordnen, wenn folgende drei Voraussetzungen gemeinsam erfüllt seien: Erstens müßten die Tatsachen, über die Beweis erhoben werden solle, ein für die Entscheidung des Rechtsstreits entscheidendes Argument der Parteien betreffen, zweitens müsse es dem Gemeinschaftsrichter gerade deshalb unmöglich sein zu entscheiden, weil er nicht wisse, ob diese Tatsachen vorlägen, und drittens müsse darüber hinaus zur Klärung der Frage, ob dies der Fall sei, eine Beweisaufnahme erforderlich sein. Wenn die genannten Voraussetzungen erfüllt seien, sei das Gemeinschaftsgericht zur Durchführung der erforderlichen Beweisaufnahme verpflichtet. Die Rechtsmittelführerin beruft sich insoweit auf die Schlußanträge des Generalanwalts Lagrange in der Rechtssache La Providence ( 43 ) und auf die Auffassung des Gerichtshofes in der Rechtssache Nölle ( 44 ). Sie macht geltend, daß ihr Antrag vom 4. März 1992 diese Voraussetzungen erfüllt habe und daher zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung hätte führen müssen. Mit diesem Antrag sei die mutmaßliche Inexistenz der Polypropylen-Entscheidung geltend gemacht worden. Die Entscheidung über dieses Vorbringen habe notwendigerweise ausschlaggebende Bedeutung für die Entscheidung des anhängigen Rechtsstreits gehabt. Ferner sei der Antrag auf Tatsachen (Fehlen einer Urschrift, Verstoß gegen die Sprachenregelung, nachträgliche Veränderungen des Inhalts der Entscheidung) gestützt gewesen, deren Vorliegen wahrscheinlich gewesen sei. Zu ihrer Feststellung sei es erforderlich gewesen, weitere Beweise zu erheben und insbesondere der Kommission aufzugeben, die in ihrem Besitz befindlichen maßgeblichen Schriftstücke vorzulegen. Das Gericht sei daher verpflichtet gewesen, ihrem Antrag auf eine erneute Beweisaufnahme (wie er in ihrem Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung enthalten gewesen sei) stattzugeben. Für diesen Antrag gelte keine prozessuale Ausschlußfrist, somit auch nicht die Frist des Artikels 125 der Verfahrensordnung des Gerichts, die nur den Rechtsbehelf der Wiederaufnahme betreffe. Dem Antrag hätte daher, wie es in einem ähnlichen Fall bei der Entscheidung in den PVC-Sachen geschehen sei, stattgegeben werden müssen. Schließlich vertritt die Rechtsmittelführerin die Ansicht, soweit das Gericht in dem angefochtenen Urteil entschieden habe, daß ihm gegenüber keine ausreichenden konkreten Anhaltspunkte vorgetragen worden seien, die zur Untermauerung des Antrags auf Durchführung einer weiteren Beweisaufnahme geeignet gewesen wären, habe es gegen die Beweislastregeln verstoßen.

43.

Die Kommission entgegnet erstens, die Rechtsmittelführerin mache zu Unrecht geltend, daß das Gericht zur Wiedereröffnung des Verfahrens verpflichtet gewesen sei, denn eine solche Maßnahme sei im konkreten Fall nicht erforderlich gewesen. Der Antrag der Rechtsmittelführerin auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sei nicht auf entscheidungserhebliche Tatsachen gestützt gewesen und nicht fristgerecht gestellt worden. Das Vorbringen über einen Verstoß gegen die Sprachenregelung für die Entscheidung und über das Fehlen einer beglaubigten Urschrift der angefochtenen Entscheidung sei vom Gericht zu Recht zurückgewiesen worden, weil die fraglichen Mängel, wie später im PVC-Urteil des Gerichtshofes festgestellt worden sei, einen mit ihnen behafteten Rechtsakt selbst dann nicht inexistent machten, wenn sie vorlägen. Zu den von der Rechtsmittelführerin als neu angeführten Tatsachen bemerkt die Kommission folgendes: Soweit sie mit dem PVC-Urteil des Gerichts zusammenhingen, könnten sie nicht zur Begründung eines Antrags auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung vorgebracht werden; es sei entschieden worden, daß der Inhalt einer Gerichtsentscheidung nicht die Wiederaufnahme der mündlichen Verhandlung in einem anderen Prozeß rechtfertigen könne. ( 45 ) Wenn die Darlegungen ihrer Vertreter in der mündlichen Verhandlung, auf die das PVC-Urteil des Gerichts gestützt gewesen sei, als neue Tatsachen angesehen würden, so seien sie von der Rechtsmittelführerin mit ihrem Antrag vom 4. März 1992 verspätet vorgebracht worden. Ein entsprechender Antrag hätte in analoger Anwendung der Regelung für den Antrag auf Wiederaufnahme nach Artikel 125 der Verfahrensordnung des Gerichts innerhalb von drei Monaten nach Kenntniserlangung von diesen Tatsachen gestellt werden müssen. Schon am Nachmittag des 22. November 1991 habe einer ihrer Bediensteten im Rahmen der mündlichen Verhandlung in den PVC-Sachen eingeräumt, daß das Verfahren des Artikels 12 ihrer Geschäftsordnung nicht mehr angewandt werde. Von diesem Tag an habe die Rechtsmittelführerin somit die Tatsachen gekannt, auf die sie sich mit ihrem Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung berufen habe.

44.

Ferner macht die Kommission geltend, das Gericht habe zu Recht entschieden, daß die Rechtsmittelführerin keine Anhaltspunkte vorgetragen habe, die ausgereicht hätten, um ihrem Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung stattgeben zu können. Die Auffassung des Gerichts sei auch dann zutreffend, wenn der Schriftsatz der Rechtsmittelführerin vom 4. März 1992 dahin auszulegen sein sollte, daß damit die formelle Nichtigkeit und nicht die Inexistenz der streitigen Polypropylen-Entscheidung geltend gemacht worden sei. Die Rechtsmittelführerin und nicht sie habe die Beweislast dafür getragen, daß die fraglichen formellen Mängel vorgelegen hätten. Der gegenteiligen Ansicht der Rechtsmittelführerin stehe die Vermutung der Rechtmäßigkeit entgegen, die nach der Rechtsprechung ( 46 ) für die Handlungen der Gemeinschaftsorgane gelte. Auch habe sich die Rechtsmittelführerin nicht darauf beschränken können, die angebliche Nichtbeachtung des Verfahrens nach Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission geltend zu machen. Vielmehr hätte sie konkrete Anhaltspunkte dafür vortragen müssen, daß die Polypropylen-Entscheidung nach ihrem Erlaß inhaltlich verändert worden sei. Diese Ansicht, die das Gericht in der vorliegenden Rechtssache zugrunde gelegt habe, werde durch das Urteil Lestelle/Kommission ( 47 ) gestützt. Jedenfalls hätte die angebliche formelle Nichtigkeit der Polypropylen-Entscheidung nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts schon mit der Klageschrift und keinesfalls erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung geltend gemacht werden müssen. Hilfsweise macht die Kommission geltend, die Entscheidung darüber, ob eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung erforderlich sei, habe im freien Ermessen des Gerichts gestanden. ( 48 )

45.

Zur Auslegung von Artikel 64 § 3 Buchstabe d der Verfahrensordnung trägt die Kommission vor, weder aus dieser Bestimmung noch aus einer anderen Verfahrensvorschrift ergäben sich bestimmte Voraussetzungen, bei deren Vorliegen das Gemeinschaftsgericht einem Antrag auf Erlaß prozeßleitender Maßnahmen stattgeben müsse. Es treffe somit nicht zu, daß das Gericht verpflichtet sei, Auskünfte einzuholen, die sich auch auf verspätet oder allgemein und unbestimmt von den Parteien vorgetragene Tatsachen bezögen. Die Kommission verweist demgegenüber auf die Artikel 173 des Vertrages, 19 Absatz 1 der EWG-Satzung des Gerichtshofes sowie 44 § 1 Buchstaben c und e und 48 §§ 1 und 2 der Verfahrensordnung des Gerichts, aus denen sie den Grundsatz ableitet, daß die antragstellende Partei rechtzeitig ihre Anträge stellen und die diese tragenden Beweismittel angeben müsse. Prozeßleitende Maßnahmen seien nicht dazu bestimmt, Versäumnisse der Parteien hinsichtlich des rechtzeitigen und ordnungsgemäßen Vortrags ihrer Argumente zu heilen. Ferner macht die Kommission geltend, die Behauptung der Rechtsmittelführerin, daß ein Widerspruch zwischen dem PVC-Urteil und dem Urteil in der vorliegenden Rechtssache in bezug auf die maßgebliche Frage stehe, werde erstmals mit der Rechtsmittelschrift vorgebracht und sei daher unzulässig. Schließlich habe das von der Rechtsmittelführerin angeführte Urteil Nölle nicht die Rechtsprechungsorgane der Gemeinschaft betroffen und weder eine Auslegung noch die Anwendung einer prozessualen Vorschrift enthalten, auf die es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits ankomme.

46.

Wegen des Vorbringens der Streithelferin siehe die Nummern 10 ff. dieser Schlußanträge, auf die ich hiermit verweise.

— Erörterung der vorstehenden Fragen

47.

Gemäß den vorstehenden Darlegungen stellt sich somit die Frage, ob das Gericht den Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens zu Recht zurückgewiesen hat — eine Frage, die unmittelbar mit dem eventuellen Vorliegen wesentlicher formeller Mängel der Polypropylen-Entscheidung der Kommission zusammenhängt.

i) Die Befugnisse des Gemeinschaftsgerichts in bezug auf die Leitung und den Fortgang des Verfahrens

48.

Weder aus einer grammatikalischen noch aus einer teleologischen Auslegung der Artikel 49, 62 und 64 der Verfahrensordnung des Gerichts ( 49 ) noch aus einer anderen Verfahrensvorschrift ergibt sich eine Verpflichtung des Gemeinschaftsgerichts, Anträgen von Parteien auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung oder auf die Anordnung einer ergänzenden Beweisaufnahme stattzugeben. Das Gericht verfügt insoweit lediglich über ein Ermessen, wie sich zwingend aus dem allgemeinen Grundsatz des Prozeßrechts ergibt, daß das Gericht Herr sowohl des Verfahrens als auch der Beweisaufnahme ist. Diese Befugnisse des Gerichts werden sowohl durch das Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft als auch durch die Rechtsschutzsysteme der Mitgliedstaaten anerkannt. Es kann auch nicht angenommen werden, daß durch sie der Anspruch der Parteien auf Rechtsschutzgewährung verletzt würde.

49.

Es bestehen jedoch bestimmte Grenzen für die Ausübung der genannten Befugnisse, die sich aus zwei anderen für die richterliche Tätigkeit maßgeblichen fundamentalen Verfahrensgrundsätzen ergeben. Es handelt sich zum einen um den Grundsatz, der dem Gericht die Einhaltung der Beweislastregeln gebietet, und zum anderen um den Grundsatz, daß das Gericht keine Rechtsverweigerung betreiben darf, sondern mit ordnungsgemäßer und ausreichender Begründung auf den Streitstoff eingehen muß, der ihm in zulässiger Weise unterbreitet worden ist. Anhand dieser Grundsätze ist im folgenden zu prüfen, ob die ablehnende Entscheidung des Gerichts über den Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens rechtmäßig war.

ii) Prüfung des klageabweisenden Urteils des Gerichts im Hinblick auf die Beweislastregeln

50.

In der vorliegenden Rechtssache hatte die Rechtsmittelführerin im erstinstanzlichen Verfahren nach Schluß der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, daß eventuell wesentliche formelle Mängel vorlägen, die der von ihr angefochtenen Entscheidung anhafteten und sie inexistent machten; sie hatte daher die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und die erneute Durchführung einer Beweisaufnahme beantragt. Das Gericht wies den Antrag mit der Begründung zurück, die Rechtsmittelführerin habe keine „hinreichenden Anhaltspunkte“ für die Inexistenz der angefochtenen Entscheidung vorgetragen. Außer in bezug auf das Vorbringen, daß die Entscheidung gegen die Sprachenregelung verstoße, hinsichtlich dessen im angefochtenen Urteil von Verspätung die Rede ist, stellte das Gericht insbesondere fest, daß die Rechtsmittelführerin nicht ausreichend dargelegt habe, weshalb sie es für wahrscheinlich halte, daß die Kommission nachträglich Änderungen an der Polypropylen-Entscheidung vorgenommen habe, und daß sie keine „konkreten Anhaltspunkte“ vorgetragen habe, durch die die Vermutung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung entkräftet worden wäre. Das Gericht war somit der Ansicht, daß die Rechtsmittelführerin zur Untermauerung ihres Vorbringens von formellen Mängeln, die zur Feststellung der Inexistenz der angefochtenen Entscheidung führen und die Wiedereröffnung des Verfahrens rechtfertigen, dieses Vorbringen hätte vollständig begründen und belegen müssen.

51.

Zunächst einmal war die Feststellung des Gerichts, daß auch dann kein Grund für die Inexistenz vorliege, wenn die Kommission die geltend gemachten Verfahrensverstöße begangen haben sollte, nicht fehlerhaft. ( 50 ) Wie ich weiter oben in meiner Untersuchung dargelegt habe, führt dieser Umstand für sich genommen jedoch nicht dazu, daß das Rechtsmittel zurückzuweisen ist. Das fragliche Vorbringen der Rechtsmittelführerin in der ersten Instanz ging nicht dahin, daß die angefochtene Entscheidung wahrscheinlich inexistent sei, sondern hatte zum Inhalt, daß die Mängel des Fehlens einer beglaubigten Urschrift, der nachträglichen Veränderung des Inhalts der Entscheidung und eines Verstoßes gegen die Sprachenregelung vorlägen. Für das Gericht kommt es nicht auf die von den Parteien vorgenommene rechtliche Einordnung der Tatsachen an, sondern auf die von ihnen geltend gemachten Tatsachen selbst; dies gilt insbesondere dann, wenn diese Tatsachen, sollten sie vorliegen, die Handlung zwar nicht inexistent machen können, sich aber aus ihnen ein wesentlicher formeller Mangel der erlassenen Entscheidung ergibt, der von Amts wegen zu prüfen ist und zur Nichtigerklärung der Entscheidung führt.

Wie oben ( 51 ) dargelegt, ging der betreffende Punkt des Vorbringens in dem am 4. März 1992 beim Gericht eingereichten Schriftsatz dahin, daß es mutmaßlich an einer beglaubigten Urschrift der Entscheidung gefehlt habe; falls dieses Vorbringen bewiesen worden wäre, hätte dies zur Nichtigerklärung der Entscheidung geführt. Das Gericht konnte der Rechtsmittelführerin somit nicht allein deshalb, weil sie von einem Grund für die Inexistenz und nicht von einem Nichtigkeitsgrund gesprochen hatte, entgegenhalten, daß der fragliche Mangel, selbst wenn man sein Vorliegen unterstelle, nicht entscheidungserheblich sei.

52.

Damit sind wir bereits am Kern des Problems angelangt, das sich in folgender Frage zusammenfassen läßt: War das Gericht im Hinblick darauf, daß eventuell ein Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift vorlag, aufgrund irgendeiner Verfahrensvorschrift verpflichtet, die Wiedereröffnung des Verfahrens und eine weitere Beweisaufnahme anzuordnen ?

53.

Nach den Ausführungen des Gerichts, die die Kommission mit ihren Argumenten unterstützt, wurde der Antrag der Rechtsmittelführerin in der Sache geprüft und zurückgewiesen, weil die Rechtsmittelführerin keine „hinreichenden“ oder „konkreten“ Anhaltspunkte zur Untermauerung ihres Vorbringens vorgetragen hatte. Wichtig ist dabei somit unabhängig davon, ob das Vorbringen auf die Feststellung der Inexistenz — auf die sich das Gericht bezieht — abzielte oder — wie es angebracht gewesen wäre — die Nichtigkeit der Entscheidung betraf, daß es vom Gericht zurückgewiesen wurde, weil es die vorgetragenen Anhaltspunkte nicht für ausreichend hielt.

54.

Diese Auffassung erscheint mir nicht zutreffend, weil sie den Beweislastregeln widerspricht. Wie oben dargelegt ist das Gemeinschaftsgericht zwar Herr des Verfahrens und der Beweisaufnahme, muß aber bei der Ausübung der dadurch begründeten Befugnisse die Beweislastregeln beachten. Grundsätzlich trägt jede Partei die Beweislast für ihre Tatsachenbehauptungen. Jedoch gelten immer dann Ausnahmen von diesem Grundsatz, wenn die Beweismittel sich in der ausschließlichen Verfügungsgewalt der Gegenpartei befinden ( 52 ) oder wenn diese durch ihr Verhalten den Zugang zu den Beweismitteln unmöglich macht ( 53 ). In diesen Fällen hat die Partei, die die betreffenden Tatsachen vorträgt, meines Erachtens folgende Verpflichtungen: Zum einen muß sie „Anhaltspunkte“ dafür vortragen, daß die ihr unbekannten Tatsachen „für ihre Verteidigung von Bedeutung gewesen wären“ ( 54 ) zum anderen muß sie zumindest den „Ansatz eines Beweises“ für die Verdachtsmomente erbringen, die sich ihrer Ansicht nach aus den ihr unzugänglichen Beweismitteln ergeben. ( 55 )

55.

Im vorliegenden Fall sind zwei Punkte von Belang: Erstens hat die Rechtsmittelführerin vorgetragen, daß es an einer beglaubigten Urschrift der Entscheidung fehle, was ihrer Ansicht nach aufgrund einer Reihe von Anhaltspunkten wahrscheinlich ist. Zweitens führt der von der Rechtsmittelführerin geltend gemachte Mangel, wenn er vorliegt, ohne weiteres zur Nichtigkeit der angefochtenen Entscheidung. Unter diesen Umständen hätte das Gericht anerkennen müssen, daß die Rechtsmittelführerin das nach den Beweislastregeln Erforderliche getan hatte, d. h. daß sie mit ihrem Schriftsatz all die Anhaltspunkte vorgetragen hatte, die sie nach Lage der Dinge vortragen konnte und mußte. Zwar stellten diese Anhaltspunkte keinen Vollbeweis oder auch nur „eingehende“ Indizien für das Vorliegen des Rechtsverstoßes dar. Aus den Beweislastregeln ergab sich jedoch — in der konkreten Frage — für die Rechtsmittelführerin nur die Verpflichtung zur Erbringung eines „ansatzweisen Beweises“ für das Vorliegen von Verdachtsmomenten für den Rechtsverstoß und nicht zum Vortrag von Anhaltspunkten, die einen Vollbeweis oder hinreichende Anhaltspunkte für diesen Rechtsverstoß dargestellt hätten.

56.

Nach alledem konnte das Gericht, soweit es sich auf eine Sachprüfüng des Schriftsatzes einließ, den Antrag der Rechtsmittelführerin auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht ohne Verstoß gegen die Beweislastregeln mit der Begründung zurückweisen, das Vorbringen, auf das dieser Antrag gestützt sei, reiche zur Begründung der Auffassung der Rechtsmittelführerin nicht aus.

iii) Prüfung des Vorbringens nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

57.

Die vorstehende Feststellung reicht indessen nicht aus, um dem Rechtsmittel stattgeben zu können. Wie schon wiederholt dargelegt, hat die Rechtsmittelführerin Ausführungen zum Vorliegen formeller Mängel der angefochtenen Entscheidung in der ersten Instanz erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung gemacht. Daher ist zu prüfen, ob aufgrund dieses Umstands die Zurückweisung des Antrags auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und allgemeiner die Nichtprüfung des Schriftsatzes gerechtfertigt war.

iii.1. Das Verbot des Vorbringens neuer Angriffsmittel nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

58.

Die prozeßrechtlichen Regelungen über das Verfahren vor den Rechtsprechungsorganen der Gemeinschaft enthalten Vorschriften und Fristen, die die Parteien beim Vorbringen von Angriffs- oder Verteidigungsmitteln und bei der Stellung von Anträgen einzuhalten haben. Die Festlegung von Beschränkungen für die Art und Weise, in der die Parteien am Fortgang des Verfahrens mitwirken, ist im Interesse einer besseren, zügigeren und rationelleren Rechtspflege unerläßlich. Diese prozessualen Beschränkungen sind Ausfluß der fundamentalen Grundsätze der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäßen Rechtspflege (bonne administration de la justice).

59.

Eine ähnliche prozeßrechtliche Beschränkung enthält auch Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts. Danach „können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind“. Artikel 48 § 1 lautet: „Die Parteien können in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung noch Beweismittel benennen. Sie haben die Verspätung zu begründen.“ Die genannten Vorschriften sind in dem Kapitel der Verfahrensordnung enthalten, das das schriftliche Verfahren regelt. Somit sind die Parteien ab Beginn des Rechtsstreits und schon im Stadium des schriftlichen Verfahrens gehalten, rechtzeitig und möglichst schnell sowohl ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel als auch die Beweismittel, auf die sie diese stützen, vorzubringen. Das Gemeinschaftsgericht darf ungerechtfertigte Verspätungen nicht hinnehmen. Im Rahmen des prozessualen Systems der Gemeinschaft sind alle Fragen, die, sei es auf rechtlichem oder auf tatsächlichem Gebiet, aufgeworfen werden sollen, jedenfalls kurz im verfahrenseinleitenden Schriftstück darzustellen. ( 56 ) Sie können dann im Laufe des schriftlichen und des mündlichen Verfahrens ausgeführt und konkretisiert werden. Im übrigen vollzieht sich die Beweisaufnahme im Rahmen des Vorbringens der Parteien und auf der Grundlage der Beweise, die die Parteien im Laufe des Verfahrens vorbringen und geltend machen.

60.

Demgemäß ist die Möglichkeit, Angriffs- oder Verteidigungsmittel gestützt auf nachträglich zutage getretene Gründe vorzubringen, zwar in Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts vorgesehen, wegen ihres Ausnahmecharakters aber eng auszulegen. Jedenfalls darf nicht übersehen werden, daß die den Parteien gegebene Möglichkeit, Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, Anträge zu stellen oder Tatsachen vorzutragen, grundsätzlich dahin gehend beschränkt ist, daß von ihr höchstens bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung Gebrauch gemacht werden kann. ( 57 ) Dies ist die Bedeutung der Artikel 60 und 61 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts, die bestimmen, wann der Präsident die mündliche Verhandlung für geschlossen erklärt. Daher hat der Schluß der mündlichen Verhandlung zur Folge, daß die Parteien die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten des anhängigen Rechtsstreits nicht mehr verändern können.

61.

Auch wenn der Gerichtshof ein Vorbringen zu prüfen hat, das mit Verzögerung, aber noch innerhalb des zeitlichen Rahmens des schriftlichen Verfahrens erfolgt ist, untersucht er, ob diese Verzögerung der Gegenpartei nicht die wirksame Wahrnehmung ihrer Interessen unmöglich macht, was mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Parteien zusammenhängt, oder ob sie ihn nicht in der Ausübung seiner Rechtsprechungstätigkeit behindert ( 58 ) ; ist dies zu bejahen, so prüft er das Vorbringen nicht. In Übertragung dieses Gedankengangs auf den Fall, daß nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorgebracht werden oder eine Berufung auf rechtliche oder tatsächliche Gründe erfolgt, ist festzustellen, daß dies eventuell die prozessualen Rechte der Gegenpartei beeinträchtigt und in jedem Fall begriffsnotwendig die Tätigkeit des Gerichts behindert; dieses hat in einem solchen Fall über eine Sache zu entscheiden, deren tatsächlicher und rechtlicher Teil ständig verändert wird.

62.

Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß es den Parteien grundsätzlich nicht gestattet ist, nach Schluß der mündlichen Verhandlung Tatsachen und Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorzubringen. ( 59 ) Dieses Verbot ist noch strikter auszulegen als das grundsätzliche Verbot neuen Vorbringens in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung, also in einem dem Ende des schriftlichen Verfahrens vorausgehenden Stadium des Verfahrens.

iii.2. Ausnahmen vom Verbot des Vorbringens von Angriffs- oder Verteidigungsmitteln nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung

63.

Jedoch sind meines Erachtens Ausnahmen von dem soeben dargelegten Grundsatz zulässig. Es dürften zwei Gründe in Betracht kommen, die Abweichungen vom Verbot neuen Vorbringens nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten. Erstens wenn die Frage, die die Partei mit Verzögerung aufwirft, zu der Gruppe der Fragen gehört, die das Gericht von Amts wegen zu prüfen hat; dieser Fall, den ich im folgenden Abschnitt meiner Schlußanträge prüfen werde ( 60 ), läuft dem Verbot eigentlich nicht zuwider, relativiert aber seine Auswirkungen. Zweitens wenn die Tatsachen, auf die das mit Verzögerung vorgebrachte Vorbringen der Partei gestützt wird, dieser nicht früher bekannt waren, so daß sie sie nicht rechtzeitig vorbringen konnte.

iii.2.1. Wenn die mit Verzögerung vorgebrachten Umstände erst nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung bekanntgeworden sind

64.

Die Abweichung vom Verbot der verzögerten Berufung auf neue Tatsachen oder Gründe, insbesondere wenn diese der betroffenen Partei vor dem Ablauf der mündlichen Verhandlung unbekannt waren, ist im Prozeßrecht der Gemeinschaft zuzulassen. Dies ergibt sich zum einen aus der allgemeinen Formulierung des Artikels 48 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts, der zwar systematisch zum Kapitel über das schriftliche Verfahren gehört, sich aber allgemein auf neues Vorbringen „im Laufe des Verfahrens“ bezieht und sich daher, wie in der Rechtsprechung anerkannt wird ( 61 ), auch auf die Möglichkeit neuen Vorbringens nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung erstreckt. ( 62 ) Es ergibt sich außerdem aus dem grundlegenden Anspruch auf Rechtsschutz und aus dem Grundsatz der ordnungsgemäßen Rechtspflege in der Ausprägung, die er im Prozeßrecht der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten gefunden hat.

65.

Noch eine weitere Bemerkung ist besonders angebracht: Die Gründe, die eventuell die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung rechtfertigen, sind dieselben, die a fortiori die Durchbrechung der Rechtskraft im Fall des Rechtsbehelfs der Wiederaufnahme rechtfertigen. Die hier geprüfte rechtliche Problematik ist nämlich mit derjenigen bei der Stellung eines Wiederaufnahmeantrags eng verwandt und für das Verständnis und die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits besonders nützlich.

66.

Nach den schon angeführten Bestimmungen des Artikels 41 der EWG-Satzung des Gerichtshofes und des Artikels 125 der Verfahrensordnung des Gerichts müssen sich Wiederaufnahmeanträge auf eine Tatsache stützen, die folgende Voraussetzungen erfüllt:

Sie muß für die Entscheidung des Rechtsstreits erheblich sein;

sie darf der Partei und dem Gericht vor Verkündung des Urteils nicht bekannt gewesen sein;

es dürfen keine drei Monate seit dem Tag verstrichen sein, an dem der Antragsteller Kenntnis von dieser Tatsache erhalten hat.

67.

Meines Erachtens ist dem Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung stattzugeben, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, die denjenigen entsprechen, unter denen ein Wiederaufnahmeantrag zulässig wäre. Anderenfalls würde man zu dem rechtlich absurden Ergebnis gelangen, daß die Partei, die nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung Kenntnis von einer erheblichen Tatsache erlangt, nicht nur daran gehindert wäre, sie vor Verkündung des Urteils geltend zu machen, sondern auch das Recht auf Beantragung der Wiederaufnahme verlieren würde, weil diese Tatsache vor der Verkündung des Endurteils bekanntgeworden ist.

68.

Es muß somit möglich sein, beim Gemeinschaftsgericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu beantragen, wenn vor der Schließung der mündlichen Verhandlung eine Tatsache von entscheidender Bedeutung bekannt wird, die dem Gericht und der die Wiedereröffnung beantragenden Partei unbekannt war. Es bleibt noch zu prüfen, ob es erforderlich ist, daß der Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung in Analogie zur Regelung des Artikels 125 der Verfahrensordnung des Gerichts über den Wiederaufnahmeantrag innerhalb von drei Monaten nach Kenntniserlangung von der Tatsache gestellt wird. Die analoge Anwendung einer prozessualen Vorschrift — insbesondere einer Ausschlußfrist für die Ausübung eines Rechts — scheint nicht mit den in der Gemeinschaftsrechtsordnung allgemein anerkannten Grundsätzen im Einklang zu stehen. Es widerspräche jedoch den fundamentalen Grundsätzen, die eine möglichst zügige und gute Justizgewährung gebieten, wenn der Partei volle Wahlfreiheit hinsichtlich des Zeitraums eingeräumt würde, zu dem sie den Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens stellt. Dieser Antrag müßte nicht nur innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Kenntniserlangung von der erheblichen Tatsache (der meines Erachtens nach Ablauf von drei Monaten nicht mehr angemessen ist), sondern unverzüglich gestellt werden, damit jede weitere Verzögerung des Erlasses des Urteils vermieden wird.

69.

Bezüglich des Sachverhalts der vorliegenden Rechtssache bin ich zunächst der Ansicht, daß eine Tatsache, die, wenn sie bewiesen wird, ohne weiteres zur Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung wegen Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift führt, die Merkmale einer Tatsache „von entscheidender Bedeutung“ aufweist und damit ebenso die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung rechtfertigt, wie sie die Wiederaufnahme eines durch Urteil abgeschlossenen Verfahrens rechtfertigen würde. ( 63 ) Es bleibt zu prüfen, zu welchem Zeitpunkt sie der Rechtsmittelführerin bekanntgeworden ist, damit geklärt werden kann, ob sie ihr bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung unbekannt war und ob sie sie dem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist vorgetragen hat. Im vorliegenden Fall kommt es darauf an, wann der Rechtsmittelführerin Umstände bekannt wurden, die geeignet waren, sie zu Zweifeln an der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung der Kommission zu veranlassen und aus diesem Grund eine weitere Beweisaufnahme zu beantragen.

70.

Meines Erachtens bedarf es hier einiger Vorbemerkungen.

71.

Zunächst bin ich der Ansicht, daß an das Fehlen einer Kenntnis als Voraussetzung für neues Vorbringen strenge Anforderungen zu stellen sind. ( 64 ) Eine Partei, die gegen einen Rechtsakt gerichtlich vorgegangen ist und die Wiedereröffnung des Verfahrens beantragt, muß jede ihr mögliche Sorgfalt bei der Erlangung des Beweismaterials an den Tag legen, das zur Untermauerung ihres Vorbringens dienlich ist. Derartige Beweise sind nicht nur diejenigen, aus denen sich ohne jeden Zweifel das Vorliegen eines Mangels des angefochtenen Rechtsakts ergibt, der geeignet ist, zu dessen Nichtigerklärung zu führen, sondern auch Umstände, aus denen ein, wenn auch geringer Verdacht erwächst, daß sich nach sorgfältiger Untersuchung ein stichhaltiger Grund für die Nichtigkeit der Entscheidung herausstellen könnte. Hat die Partei Umstände der letztgenannten Art während des gesamten schriftlichen, Beweis- und mündlichen Verfahrens ignoriert, so kann sie nicht durch Berufung auf andere Tatsachen, die die Verdachtsmomente, die durch die ursprünglichen Anhaltspunkte bei ihr hätten hervorgerufen werden müssen, verstärken und ergänzen, die Wiedereröffnung des Verfahrens erwirken.

72.

Im vorliegenden Fall ist der Zeitpunkt der Kenntniserlangung von der entscheidungserheblichen Tatsache, von dem die Rechtzeitigkeit der Stellung des Antrags auf Wiedereröffnung des Verfahrens abhängt, identisch mit dem Zeitpunkt, zu dem die antragstellende Partei hinreichende Anhaltspunkte für den Verdacht erlangt hat, daß der angefochtenen Entscheidung bestimmte wesentliche formelle Mängel anhaften könnten. Maßgeblich ist somit nicht der Zeitpunkt, zu dem sich der Verdacht der Partei bestätigte oder konkretisierte, sondern derjenige, von dem an Beweismaterial vorlag, aufgrund dessen dieser Verdacht entstehen konnte. Wenn die „Tatsache von entscheidender Bedeutung“ in Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts besteht, die einer weiteren Aufklärung bedürfen, so gilt diese Tatsache von dem Zeitpunkt an als der Partei bekannt, von dem an sie Zugang zu Informationen erlangt, aus denen diese Zweifel, wenn auch nur ansatzweise, erwachsen. Ignoriert sie diese Informationen oder unterbewertet sie sie, so verwirkt sie das Recht, sie ausnahmsweise nach Schluß der mündlichen Verhandlung vorzubringen. Es kommt somit nicht nur darauf an, wann die Partei, die die Tatsache vorträgt, davon Kenntnis erlangt hat, sondern auch darauf, wann sie bei Aufwendung der gebotenen Sorgfalt davon Kenntnis hätte erlangen müssen. ( 65 )

73.

In der vorliegenden Rechtssache, genauer: bezüglich der Frage, ob es eine beglaubigte Urschrift der Polypropylen-Entscheidung der Kommission gibt — dies ist, wie oben dargelegt, auch die entscheidende Frage —, komme ich zu folgendem Ergebnis: Die Rechtsmittelführerin macht geltend, die Umstände, aus denen die Zweifel an der Existenz einer beglaubigten Urschrift erwachsen seien, seien ihr erst durch die Erklärungen der Bediensteten der Kommission in der mündlichen Verhandlung in den PVC-Sachen bekanntgeworden. Laut diesen Erklärungen, die am 10. Dezember 1991 abgegeben worden seien, seien Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission sowie andere Form- und Verfahrensvorschriften für den Erlaß von Rechtsakten der Kommission vor längerer Zeit außer Kraft getreten und seien nicht nur im Fall der PVC-Entscheidung, sondern auch in anderen gleichartigen Fällen nicht mehr angewandt worden.

74.

Tatsächlich haben diese Umstände Gewicht, da sie die Möglichkeit betreffen, daß beim Erlaß der streitigen Polypropylen-Entscheidung wesentliche Formvorschriften verletzt worden sein könnten. Sie stellen jedoch insofern keine „unbekannten Tatsachen von entscheidender Bedeutung“ dar, als sie nicht erstmals Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung hervorrufen; sie verstärken lediglich Verdachtsmomente noch mehr, die sich schon aus den in den Akten enthaltenen Informationen ergaben, über die die Partei schon vor Beginn des Prozesses verfügte. Aufgrund ihrer Sorgfaltspflicht hätte sie bereits bei der Einreichung ihrer Klage oder zumindest bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung erkennen müssen, daß eventuell keine beglaubigte Urschrift existierte. ( 66 )

75.

Außerdem müssen die Akten einer Rechtssache vollständig und den Parteien zugänglich sein, damit die in ihnen enthaltenen Informationen überprüft und das Fehlen anderer erheblicher Informationen festgestellt werden können. Nur so kann die Waffengleichheit der Parteien gewährleistet werden, indem ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, festzustellen, ob ein bestimmtes Schriftstück existiert und insbesondere ob bei seinem Zustandekommen die gesetzlich vorgeschriebenen Förmlichkeiten eingehalten worden sind, wie z. B. ob die den betreffenden Rechtsakt erlassende Stelle zuständig war, ob sie (Kollegialorgane betreffend) ordnungsgemäß besetzt war, ob sie ordnungsgemäß zusammengetreten ist usw. Im Einklang mit dem, was ich oben bereits zu den Beweislastregeln ausgeführt habe, hätte es somit genügt, wenn die Rechtsmittelführerin rechtzeitig das eventuelle Fehlen einer Urschrift der Entscheidung geltend gemacht hätte, damit das Gericht eine weitere Beweisaufnahme anordnet und insbesondere der Kommission als Partei aufgibt, die in ihrem Besitz befindlichen Nachweise für die Existenz einer Urschrift vorzulegen.

76.

Die Tatsache, aus der erstmals Zweifel an der Einhaltung der formellen Voraussetzungen für den Erlaß der Polypropylen-Entscheidung durch die Kommission erwuchsen, besteht also drin, daß die Prozeßakten in der vorliegenden Rechtssache keine Informationen enthielten, aus denen sich mit Sicherheit die Einhaltung der fraglichen formellen Voraussetzungen ergeben hätte ( 67 ) dies war zu einem Zeitpunkt der Fall, der eindeutig vor dem Schluß der mündlichen Verhandlung lag. Daher bin ich der Ansicht, daß keine nachträgliche Kenntniserlangung von einer entscheidungserheblichen Tatsache durch die Rechtsmittelführerin vorlag, durch die die Verzögerung ihres Antrags auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gerechtfertigt worden wäre. ( 68 )

iii.2.2 Ist der mit Verzögerung vorgebrachte Rechtsmittelgrund vom Gericht von Amts wegen zu prüfen?

77.

Es bleibt noch zu untersuchen, ob die Auswirkungen der Verzögerung des Vorbringens eines Angriffsmittels aufgehoben sein können, wenn dieses von Amts wegen zu prüfen ist. Tatsächlich stellt das Fehlen einer beglaubigten Urschrift von Rechtsakten der Kommission, wie schon dargelegt, eine Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift dar und unterliegt der von Amts wegen erfolgenden Kontrolle durch das Gemeinschaftsgericht. ( 69 ) Es fragt sich daher, ob das Gericht die mit Verzögerung vorgebrachten Angriffsmittel der Parteien hätte prüfen und die angefochtene Entscheidung für nichtig erklären oder zumindest eine Beweisaufnahme anordnen müssen, um das etwaige Vorliegen eines formellen Mangels festzustellen.

78.

Im Hinblick auf diese Frage sind die Grenzen der von Amts wegen erfolgenden Prüfung durch das Gericht zu untersuchen. ( 70 ) Im Falle eines von Amts wegen zu prüfenden Nichtigkeitsgrundes darf das Gericht ohne Antrag von sich aus den Akteninhalt untersuchen, um das Vorliegen eines solchen Grundes festzustellen. Die von Amts wegen erfolgende Prüfung durch das Gericht ist, soweit sie den Sachverhalt betrifft, grundsätzlich auf den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Akteninhalt beschränkt. Nur wenn sich aus diesem ergibt, daß ein Rechtsakt unter Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften erlassen worden ist, hat das Gericht diesen Rechtsakt aufzuheben. Es ist zwar befugt, sich nicht mit den in den Akten enthaltenen Indizien zu begnügen und eine ergänzende Beweisaufnahme anzuordnen; ein solches Vorgehen ist jedoch fakultativ und nicht etwa geboten. Aus dem Umstand allein, daß das Gericht aufgrund bestimmter Indizien im schon vorhandenen Beweismaterial, die von Amts wegen zu prüfende Fragen betreffen, seine Untersuchung weiter vorantreiben und eventuell feststellen könnte, daß der angefochtene Rechtsakt rechtswidrig ist, folgt nicht, daß die gerichtliche Entscheidung aufzuheben wäre, weil sie unter Verstoß gegen die Vorschriften über die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung erlassen worden ist.

79.

Im vorliegenden Fall ergibt sich weder aus dem angefochtenen Urteil, daß ein wesentlicher formeller Mangel der angefochtenen Entscheidung vorgelegen habe, der vom Gericht von Amts wegen hätte geprüft werden müssen, noch wird geltend gemacht, daß ein in vollem Umfang bewiesener dahin gehender Sachvortrag erfolgt sei. Das Gericht hat auch nicht etwa allein deshalb gegen die Vorschriften über die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung verstoßen, weil es nicht eingehend untersucht hat, ob die vorgeschriebenen Form- und Verfahrensvoraussetzungen für den Erlaß der streitigen Polypropylen-Entscheidung der Kommission eingehalten worden waren. Zutreffend wird in der Begründung des angefochtenen Urteils dazu ausgeführt, „Selbst wenn der Gemeinschaftsrichter die Frage der Existenz der angefochtenen Entscheidung im Nichtigkeitsverfahren des Artikels 173 Absatz 2 EWG-Vertrag von Amts wegen zu prüfen hat, bedeutet dies aber nicht, daß in jedem Verfahren nach Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag von Amts wegen Ermittlungen über die eventuelle Inexistenz der angefochtenen Entscheidung zu führen sind.“ ( 71 )

Nach alledem ist der von der Rechtsmittelführerin vor Erlaß des erstinstanzlichen Urteils gestellte Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens zu Recht zurückgewiesen worden. Alle Rechtsmittelgründe, mit denen das Gegenteil geltend gemacht wird, sind somit unbegründet und zurückzuweisen.

B — Die Rechtsmittelgründe, die die vom Gericht getroffene Feststellung von Verstößen gegen Artikel 85 des Vertrages betreffen

80.

Mit dem zweiten Teil ihrer Rechtsmittelschrift macht die Rechtsmittelführerin eine Reihe von Irrtümern geltend, denen das Gericht bei der Prüfung und der Feststellung des für die vorliegende Rechtssache maßgeblichen Sachverhalts unterlegen haben soll.

81.

Wie die Kommission zu Recht geltend gemacht hat, stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Art und Weise der Feststellung des Sachverhalts durch das Tatsachengericht einerseits und der Inhalt dieser Feststellungen andererseits Rechtsfragen im Sinne von Artikel 51 der EWG-Satzung des Gerichtshofes sind und daher durch das Rechtsmittelgericht zu überprüfen sind.

Die Frage der Zulässigkeit werde ich im Rahmen der Untersuchung der einzelnen Rügen der Rechtsmittelführerin prüfen. Diese wendet sich mit ihrer Rechtsmittelschrift — bei richtiger Auslegung — gegen die Feststellungen des Gerichts zu drei besonderen Themen: zur Teilnahme erstens an den regelmäßigen Sitzungen der Polypropylen-FIersteller, zweitens an den Preisinitiativen und drittens an den Maßnahmen zur Förderung der Durchführung der Preisinitiativen.

1. Die Argumentation der Parteien

a) Zur Teilnahme an den regelmäßigen Sitzungen

82.

Die Rechtsmittelführerin macht geltend, das Gericht sei unter Verstoß gegen die beweisrechtlichen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts zu der unzutreffenden Feststellung gelangt, daß sie von Ende 1978 bis Anfang 1979 an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller teilgenommen habe. Im einzelnen habe sich das Gericht auf folgendes gestützt: erstens auf eine Antwort des konkurrierenden Unternehmens ICI auf eine Frage der Kommission, die in keiner Weise die Dauer ihrer Teilnahme an den genannten Sitzungen betroffen habe, zweitens auf verschiedene im Besitz der Unternehmen ICI, ATO und Hercules befindliche Tabellen, die aber besonders fragwürdige Unterlagen darstellten, da die Ansichten über ihr Zustandekommen auseinander gingen und sie keinen Schluß auf die Dauer ihrer Teilnahme an den betreffenden Sitzungen zuließen, sowie schließlich auf ihre Antwort auf das Auskunftsersuchen der Kommission, aus der sich in Verbindung mit ihrer Teilnahme in den Jahren 1982 und 1983 entgegen jeder Logik ergeben solle, daß sie „regelmäßig“ auch schon an früheren Sitzungen teilgenommen habe (siehe Randnrn. 114 bis 118 des angefochtenen Urteils). Demnach habe das Gericht seine Schlußfolgerungen in diesem Punkt auf nicht glaubwürdige Unterlagen und im wesentlichen nur auf die Auskünfte des konkurrierenden Unternehmens ICI gestützt. Die Rechtsmittelführerin beruft sich insoweit auf das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Duraffour/Rat ( 72 ).

Ferner macht die Rechtsmittelführerin geltend, indem das Gericht von ihr verlangt habe, Anhaltspunkte dafür vorzutragen, daß sie ohne jede wettbewerbsfeindliche Einstellung an den Sitzungen teilgenommen habe (Randnr. 126 des angefochtenen Urteils), habe es gegen die Beweislastregeln und gegen die Unschuldsvermutung verstoßen, zumal es von ihr im Kern den Beweis einer negativen Tatsache, nämlich ihrer fehlenden Mitwirkung an einem wettbewerbsfeindlichen Verhalten, verlangt habe. Die Rechtsmittelführerin verweist insoweit auf die Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn zum Urteil Musique Diffusion Française u. a./Kommission ( 73 ). Ferner macht die Rechtsmittelführerin geltend, indem das Gericht ohne ausreichende Belege auf ihre regelmäßige Teilnahme an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller geschlossen habe, habe es der Sache nach zu ihren Lasten eine Vermutung zugrunde gelegt, deren Entkräftung von ihr unter Verstoß gegen die Beweislastregeln verlangt worden sei.

83.

Die Kommission vertritt die Ansicht, die Rechtsmittelführerin stelle mit ihrer Argumentation die Würdigung des Sachverhalts durch das Gericht in Frage; ihre dahin gehende Rüge sei demgemäß als unzulässig zurückzuweisen. Hilfsweise macht die Kommission geltend, das Gericht habe seine Feststellung über die zeitlichen Grenzen der Teilnahme der Rechtsmittelführerin an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller nicht allein auf die Auskünfte von ICI (Randnr. 114 des angefochtenen Urteils), sondern auch auf den Inhalt der in Randnummer 115 des angefochtenen Urteils angeführten Tabellen gestützt. Zugleich vertritt die Kommission die Ansicht, mit den Randnummern 116 f. des angefochtenen Urteils würden die von der Rechtsmittelführerin gemachten Angaben als falsch erwiesen und damit jegliche Bedenken gegen die in den Randnummern 114 und 115 gezogenen Schlußfolgerungen ausgeräumt. Es könne in diesem Zusammenhang nicht von einer Umkehr der Beweislast die Rede sein. Dergleichen könne im übrigen auch nicht in bezug auf die Randnummer 126 des angefochtenen Urteils angenommen werden. Mit dieser Randnummer habe das Gericht von der Rechtsmittelführerin verlangt, darzutun, weshalb ihrer Ansicht nach ihre Teilnahme an Erörterungen mit einem rechtswidrigen Inhalt trotzdem nicht gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen habe; es könne nicht angenommen werden, daß dieses Verlangen des Gerichts den Vorschriften über die Verteilung der Beweislast zuwiderlaufe oder gegen die Unschuldsvermutung verstoße.

b) Zur Teilnahme an den Preisinitiativen

84.

Mit diesem Teil ihrer Argumentation wendet sich die Rechtsmittelführerin gegen die Feststellung des Gerichts, daß sie an den regelmäßigen Sitzungen der Polypropylen-Hersteller, die Preisfestsetzungen zum Gegenstand gehabt hätten, teilgenommen und sich auch den betreffenden Initiativen angeschlossen habe (Randnrn. 167 f. des angefochtenen Urteils). Sie macht geltend, ihre Teilnahme sei nur für eine begrenzte Anzahl von Sitzungen nachgewiesen. Daß das Gericht aus dieser Teilnahme auf ihre Mitwirkung an den Preisinitiativen geschlossen und dabei von ihr den Vortrag von Anhaltspunkten für das Gegenteil verlangt habe (Randnr. 168 des angefochtenen Urteils), stelle eine Umkehr der Beweislast und einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung dar. Dies gelte um so mehr, als sie die Zielpreise nur selten eingehalten und die von ihr in diesem Rahmen erteilten entsprechenden Preisinstruktionen nur unternehmensinterner Art gewesen seien. Die gesamte Frage stehe im übrigen im Zusammenhang mit der Verkennung des Begriffes der abgestimmten Verhaltensweise durch die Kommission. Eine solche Verhaltensweise setze voraus, daß alles, was Gegenstand der Beratungen gewesen sei, auch umgesetzt werde. Jedenfalls sei ihre Teilnahme an sämtlichen Preisinitiativen nicht nachgewiesen worden, so daß die bewußt unpräzise Feststellung des Gerichts zu diesem Punkt (Randnr. 173 des angefochtenen Urteils) im Widerspruch zum festgestellten Sachverhalt stehe und gegen Artikel 190 EG-Vertrag verstoße. Die Rechtsmittelführerin bezweifelt außerdem den Beweiswert der Antwort von ICI auf die Fragen der Kommission (siehe Randnr. 174 des angefochtenen Urteils) in bezug auf ihre Teilnahme an den Preisabsprachen schon ab 1979. Abschließend stellt sie aufgrund der vorstehenden Ausführungen die Entscheidung des Gerichts in Frage, mit der dieses sie für die Teilnahme an den Preisinitiativen verantwortlich macht (Randnr. 177 des angefochtenen Urteils).

85.

Die Kommission macht geltend, es stelle im vorliegenden Fall keine Umkehr der Beweislast dar, daß verlangt worden sei, konkrete Anhaltspunkte zur Untermauerung des Vorbringens vorzutragen, daß aus der Teilnahme an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller nicht auf eine Mitwirkung an den Preisinitiativen geschlossen werden könne, die Gegenstand dieser Sitzungen gewesen seien (siehe Randnr. 168 des angefochtenen Urteils). Das Gericht habe zugleich festgestellt, daß die von der Rechtsmittelführerin erteilten Preisinstruktionen nicht rein interner Art gewesen seien (Randnr. 173 des angefochtenen Urteils). Schließlich sei der Verweis auf Artikel 190 EG-Vertrag im Zusammenhang mit der Begründung des angefochtenen Urteils ohne jede rechtliche Bedeutung. Auch handele es sich bei der Infragestellung der Beweiskraft der von ICI erteilten Auskünfte um ein unzulässiges Vorbringen, da sie gegen die Beweiswürdigung durch das Tatsachengericht gerichtet sei.

c) Zu den Maßnahmen zur Förderung der Durchführung der Preisinitiativen

86.

In diesem Teil ihrer Argumentation wendet sich die Rechtsmittelführerin zunächst gegen die Feststellung des Gerichts, daß sie durch die Teilnahme an den Sitzungen, in denen ein Komplex von Maßnahmen zur Schaffung günstiger Voraussetzungen für eine Preisanhebung beschlossen worden sei, auch diesen Maßnahmen zugestimmt habe, da sie nichts zum Beweis des Gegenteils vortrage (Randnr. 190 des angefochtenen Urteils). Sie macht geltend, diese Argumentation, innerhalb deren unbestimmt von einem „Bündel von Maßnahmen“ die Rede sei und ihre rechtliche Argumentation und ihr zur Begründung angeführter Sachvortrag in der ersten Instanz außer acht gelassen würden, genüge weder der Begründungspflicht nach Artikel 190 EG-Vertrag noch den Erfordernissen einer Beweiswürdigung.

87.

Im einzelnen tragt die Rechtsmittelführerin vor, eine Kundenführerschaft („account leadership“) sei (entgegen den Ausführungen in Randnummer 191 des angefochtenen Urteils) niemals vereinbart worden, sondern nur Gegenstand von Erörterungen und Vorschlägen gewesen. Auch sei sie selbst niemals Kundenführer in diesem Sinn, wenn auch im Einzelfall Lieferant gewesen. Ein System der Kundenführerschaft sei niemals durchgeführt worden, wie sich auch aus der Wortwahl in den in Randnummer 192 des angefochtenen Urteils angeführten Schriftstücken ergebe, in denen von einem „Versuch“ und von einem Verhalten, das „hätte“ an den Tag gelegt werden „sollen“, die Rede sei.

88.

Zu den Mengenzielen und den Quoten trägt die Rechtsmittelführerin schließlich vor, das Gericht habe sie aufgrund der unzutreffenden Feststellung verantwortlich gemacht, daß sie regelmäßig an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller teilgenommen habe (Randnr. 231 des angefochtenen Urteils). Ferner werde dadurch, daß das Gericht die Nennung ihres Namens in bestimmten Tabellen als ergänzendes Indiz heranziehe (Randnr. 232), der Eindruck erweckt, daß es eine Reihe von Anhaltspunkten für ihre Beteiligung an diesem Teil der Zuwiderhandlung gebe; die fraglichen Tabellen stellten aber gemäß den oben wiedergegebenen Beanstandungen keine sichere Quelle dar und ließen auch nicht den vom Gericht aus ihnen gezogenen Schluß auf ein bestimmtes Verhalten zu.

89.

Die Kommission entgegnet zunächst, die Kritik der Rechtsmittelführerin an der Randnummer 190 des angefochtenen Urteils sei auf eine unvollständige Lektüre des Urteils des Gerichts gestützt. Außerdem habe die Rechtsmittelführerin mit deri Rügen, die das System der Kundenführerschaft beträfen, die Feststellung des Gerichts (Randnrn. 192 f.) außer acht gelassen, daß dieses System zwei Monate lang teilweise, wenn auch nicht zur Zufriedenheit der Beteiligten, angewandt worden sei.

90.

Die Kritik der Rechtsmittelführerin in bezug auf die Absatzziele und die Quoten richte sich gegen die in den Randnummern 231 f. enthaltenen Feststellungen des Gerichts und ignoriere damit sowohl die vorhandenen Beweise als auch den detaillierten Inhalt der Tabellen, wie er sich aus der Randnummer 233 des angefochtenen Urteils ergebe. Demzufolge sei die Argumentation der Rechtsmittelführerin unzulässig, soweit sie sich auf die Beweiswürdigung durch das Gericht beziehe.

2. Rechtliche Würdigung des Parteivörbringens

a) Zur Zulässigkeit

91.

Wie oben schon ausgeführt, ist das Rechtsmittel nach den Artikeln 168a EG-Vertrag und 51 der EWG-Satzung des Gerichtshofes auf Rechtsfragen beschränkt.

Aus den genannten Vorschriften ergibt sich nach ständiger Rechtsprechung, daß das Rechtsmittel unter Ausschluß jeder Würdigung des Sachverhalts ausschließlich auf Gründe gestützt werden kann, die die Verletzung von Rechtsnormen betreffen. Das Rechtsmittelgericht überprüft somit nicht die Beweiswürdigüng durch das Tatsachengericht, es sei denn, daß zulässigerweise eine verfälschende Darstellung (dértaturation) des Beweismaterials gerügt wird. Der Gerichtshof ist nach Artikel 168a EWG-Vertrag befugt, die rechtliche Qualifizierung der festgestellten Tatsachen und die vom Gericht aus ihnen abgeleiteten Folgerungen zu überprüfen. ( 74 ) Somit ist er weder befugt, den Sachverhalt festzustellen noch — grundsätzlich — die vom Gericht seinen Tatsachenfeststellungen zugrunde gelegten Beweismittel zu prüfen. Soweit die Beweismittel ordnungsgemäß und im Einklang mit den Vorschriften und allgemeinen Grundsätzen über die Beweislâst sowie mit den prozeßrechtlichen Vorschriften über die Beweisaufnahme vorgelegt und geltend gemacht worden sind, ist das Gericht dafür zuständig, den Beweiswert der ihm unterbreiteten Beweismittel zu beurteilen. ( 75 )

92.

Auf dieser Grundlage ist festzustellen, daß sich die Rechtsmittelführerin in ihrer Argumentation schwerpunktmäßig auf die Würdigung der vorhandenen Beweismittel durch das Gericht bezieht, wobei sie in der Sache für eine abweichende Auslegung des Beweismaterials eintritt. In diesem Zusammenhang stellt sie den Beweiswert verschiedener Informationen in Frage, so z. B. derjenigen, die von ICI erteilt wurden (siehe Randnrn. 114 und 174 des angefochtenen Urteils), die sich aus verschiedenen Tabellen ergeben (siehe Randnrn. 115 und 232 des angefochtenen Urteils) oder die in Protokollen über die Sitzungen der Polypropylen-Hersteller enthalten sind (siehe Randnrn. 191 f. des angefochtenen Urteils). Nach Auffassung der Rechtsmittelführerin kann aus diesem Beweismaterial keine Rechtfertigung für die Schlußfolgerungen des Gerichts bezüglich ihrer Teilnahme an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller während der gesamten ihr zugeschriebenen Dauer und hinsichtlich ihrer Mitwirkung an den einzelnen im Rahmen dieser Sitzungen getroffenen Maßnahmen hergeleitet werden. Damit wendet sich die Rechtsmittelführerin aber gegen die Beweiswürdigung in der Sache, ohne geltend zu machen und darzutun, daß das Gericht die Beweismittel verfälschend dargestellt habe; die betreffenden Rügen sind somit unzulässig und zurückzuweisen. ( 76 ) Die Rechtsmittelführerin macht nur insoweit einen im Rechtsmittelverfahren zu überprüfenden Mangel des erstinstanzlichen Urteils geltend, als sie eine Umkehr der Beweislast durch das Gericht und eine daraus folgende Verletzung der zu ihren Gunsten geltenden Unschuldsvermutung rügt. ( 77 )

b) Zur Begründetheit

93.

Meines Erachtens hat das Gericht mit dem angefochtenen Urteil nicht gegen die Beweislastregeln und den allgemeinen Grundsatz über die Beachtung der für den Beschuldigten geltenden Unschuldsvermutung verstoßen. Ich verweise insoweit auf meine Untersuchung in den entsprechenden Abschnitten meiner Schlußanträge in den Rechtssachen Enichem und Montecatini. ( 78 )

V — Entscheidungsvorschlag

94.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.

das Rechtsmittel insgesamt zurückzuweisen,

2.

die Anträge der Streithelferin zurückzuweisen,

3.

der Streithelferin ihre Kosten aufzuerlegen und

4.

der Rechtsmittelführerin die übrigen Kosten aufzuerlegen.


( *1 ) Originalsprache: Griechisch.

( 1 ) Rechtssache T-9/89 (Hüls/Kommission, Slg. 1992, II-499).

( 2 ) IV/31.149 — Polypropylen (ABl. 1986, L 230, S. 1).

( 3 ) Den Schwerpunkt der vorliegenden Rechtssache wie auch (insgesamt zehn) weiterer, dieselbe Polypropylen-Entscheidung der Kommission betreffender Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof bildet die Frage, ob das beim Erlaß der angefochtenen Handlung angewandte Verfahren rechtmäßig war und inwiefern diese wesentliche formelle Mängel aufweist, die im Verfahren vor dem Gericht erster Instanz eingehender hätten geprüft werden müssen. Die von den Rechtsmittelführerinnen in allen diesen Verfahren vorgetragenen Rechtsmittelgründe weisen zwar beträchtliche Ähnlichkeiten auf, stimmen aber nicht völlig überein, und die tatsächlichen Umstände in den einzelnen Rechtssachen sind nicht immer gleich. Die aufgeworfenen Rechtsfragen erfordern indessen in einer Reihe von Punkten eine einheitliche Erörterung; dies gilt insbesondere für die sechs Unternehmen, darunter die Rechtsmittelführerin, über deren Klage das Gericht erster Instanz mit sechs Urteilen vom 10. März 1992 entschieden hat. Diese Unternehmen hatten in der Zeit zwischen dem 27. Februar 1992, an dem das PVC-Urteil des Gerichts erlassen wurde, und dem 10. März 1992 beim Gericht die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt, damit festgestellt werden kann, ob auch unter Berücksichtigung der Umstände, die im Rahmen der zeitlich parallelen und dem Gegenstand nach ähnlichen PVC-Sachen zutage getreten waren, alle formellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen für den Erlaß der angefochtenen Polypropylen-Entscheidung eingehalten worden sind. Das Gericht wies alle dahin genenden Anträge zurück.

Aus Gründen der Systematik ist es angezeigt, die Rechtssachen C-199/92 P (Hüls), C-49/92 P (Enichem) und C-235/92 P (Montecatini) als erste zu prüfen. In diesen Rechtssachen werden die meisten der Fragen analysiert, die sich in der Gruppe dieser Rechtssachen stellen; um Wiederholungen nach Möglichkeit zu vermeiden, wird dann auf diese Rechtssachen verwiesen.

( 4 ) ABI. 1962, 13, S. 204.

( 5 ) Verbundene Rechtssachen T-79/89, T-84/89 bis T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 (Slg. 1992, II-315).

( 6 ) Die Rechtsmittelführerin trägt mit diesem Schriftsatz vor, aufgrund des Vorbringens der Kommission in den PVC-Sachen sei zu vermuten, daß auch in der vorliegenden Rechtssache der gleiche von Amts wegen zu beachtende Verfahrensfehler gegeben sei. Daher sei es erforderlich, noch in diesem Verfahrensstadium eine Beweisaufnahme anzuordnen — insbesondere: der Kommission aufzugeben, eine durch die Unterschriften des Präsidenten der Kommission und des Exekutivsekretärs beglaubigte Abschrift der Urschrift der streitigen Polypropylen-Entscheidung und weitere Dokumente vorzulegen —, damit festgestellt werden könne, ob die Polypropylen-Entscheidung in den Sprachen erlassen worden sei, die das Gemeinschaftsrecht dafür vorsehe, und ob nach Erlaß der Entscheidung Änderungen an der ursprünglichen Entscheidung vorgenommen worden seien.

( 7 ) Die Rechtsmittelschrift muß erschöpfend und umfassend auf ihre Zulässigkeit hin geprüft werden. Wie sich aus verschiedenen Beschlüssen des Gerichtshofes ergibt, kann ein Rechtsmittel nur dann insgesamt für unzulässig erklärt werden, wenn zuvor alle vorgebrachten Rechtsmittelgründe geprüft worden sind und festgestellt worden ist, daß keiner von ihnen zulässig ist. Siehe Beschlüsse des Gerichtshofes vom 17. September 1996 in der Rechtssache C-19/95 P (San Marco Impex Italiana/Kommission, Slg. 1996, I-4435), vom 25. März 1996 in der Rechtssache C-137/95 P (VSPOB u. a./Kommission, Slg. 1996, I-1611), vom 24. April 1996 in der Rechtssache C-87/95 P (CNPAAP/Kommission, Slg. 1996, I-2003) und vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache C-148/96 P (Goldstein/Kommission, Slg. 1996. I-3885). Vgl. ferner Urteil des Gerichtshofes vom 2. März 1994 in der Rechtssache C-53/92 P (Hilti/Kommission, Slg. 1994, I-667).

( 8 ) Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, T-31/91 und T-32/91 (jeweils Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1775, II-1821 und II-1825) sowie in den Rechtssachen T-36/91 und T-37/91 (jeweils ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847 und II-1901).

( 9 ) Urteil vom 6. April 1995 in den verbundenen Rechtssachen T-80/89, T-81/89, T-83/89, T-87/89, T-88/89, T-90/89, T-93/89, T-95/89, T-97/89, T-99/89, T-100/89, T-101/89, T-103/89, T-105/89, T-107/89 und T-112/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1995, II-729).

( 10 ) Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555), siehe unten Nrn. 20 ff.

( 11 ) Rechtssache T-8/89 (DSM/Kommission, Slg. 1991, II-1833).

( 12 ) In Artikel 93 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes in seiner Fassung sowohl vor als auch nach deren Änderung von 1993 heilst es:

„§2

Der Präsident entscheidet über den Antrag durch Beschluß oder übertragt die Entscheidung dem Gerichtshof.

...

§3

Gibt der Präsident dem Antrag statt, so sind dem Streithelfer alle den Parteien zugestellten Schriftstücke zu übermitteln ...“

Aus diesen Vorschriften ergibt sich, daß der Zweck dieses besonderen Verfahrens darin besteht, vorab zu prüfen, ob einem Dritten die Beteiligung an dem anhängigen Rechtsstreit gestattet werden muß, und nicht etwa in der endgültigen Entscheidung darüber, ob das Vorbringen des Dritten insgesamt als zulässig anzusehen ist.

( 13 ) Siehe Schlußanträge des Generalanwalts Reischl in der Rechtssache 138/79 (Roquette frères, Slg. 1980, 3362) betreffend die Zulässigkeit der Streithilfe des Rates in dem betreffenden Rechtsstreit, die schließlich die Zustimmung des Gerichtshofes gefunden haben: „Meines Erachtens können die erwähnten Bedenken nicht einfach unter Hinweis auf den genannten Beschluß beiseite geschoben werden. Ein solcher Beschluß eröffnet den Zugang zum Verfahren lediglich vorläufig; über die Zulässigkeit der Streithilfe wird dagegen gegebenenfalls im Urteil entschieden, wie sich mit Deutlichkeit der bisherigen Rechtsprechung entnehmen läßt. Ich verweise hierzu auf das Urteil der Rechtssache 9/61 (Regierung des Königreichs der Niederlande/Hohe Behörde der EGKS, Urteil vom 12. Juli 1962, Slg. 1962, 471).“

( 14 ) Vgl. die beiden Beschlüsse vom 15. November 1993 in der Rechtssache C-76/93 P (Scaramuzza/Kommission, Slg. 1993, I-5716 und I-5721). In dieser Rechtssache berücksichtigt der Gerichtshof die Tatsache, daß die Person, die die Zulassung als Streithelfer beantragt, nicht selbständig Klage erhoben hat, wozu sie in der Lage gewesen wäre; er erklärt den Antrag auf Zulassung als Streithelfer aber nicht deshalb für unzulässig, sondern weil der Antragsteller kein unmittelbares berechtigtes Interesse geltend machen konnte, das sich ergäbe, wenn den Anträgen der Partei, zu deren Gunsten die Streithilfe erfolgen sollte, stattgegeben würde.

( 15 ) Dies scheint sich aus der Formulierung des Beschlusses vom 14. Februar 1996 in der Rechtssache C-245/95 P (Kommission/NTN Corporation u. a., Slg. 1996, I-553, insbes. Randnm. 8 f.) zu ergeben. Die Tatsache, daß die Person, die die Zulassung als Streithelferin beantragt, nicht selbständig einen Rechtsbehelf eingelegt hat, hat lediglich die für sie nachteilige Folge, daß sie auf die Unterstützung der Anträge der Partei, zu deren Gunsten sie dem Streit beitreten will, beschränkt ist. Siehe auch Beschluß vom 28. November 1991 in der Rechtssache T-35/91 (Eurosport Consortium/Kommission, Slg. 1991, II-1359).

( 16 ) Wenn eine Einzelfallentscheidung, d. h. ein Rechtsakt, der keine generellen und abstrakten Rechtsnormen umfaßt, die rechtliche Stellung mehrerer Personen regelt, so handelt es sich in Wirklichkeit um eine Zusammenfassung mehrerer Einzelfallenrscheidungen in einem einheitlichen Akt. Dies gilt auch für die Polypropylen-Entscheidung. In dieser sind Fünfzehn Verwaltungssanktionen zusammengefaßt, d. h. so viele, wie die duren sie betroffenen Unternehmen. Diese Tatsache hat besondere Bedeutung dafür, wie über das berechtigte Interesse der Streithelferin zu entscheiden ist. Im Kern begehrt diese die Beteiligung an einem Rechtsstreit, der nicht die sie betreffende Einzelfallentscheidung, sondern eine andere Einzelfallentscheidung zum Gegenstand hat, die zusammen mit der sie betreffenden Entscheidung in einem einheitlichen Akt enthalten ist.

( 17 ) Siehe die oben (in Fußnote 16 und in Fußnote 15) angeführten Beschlüsse C-245/95 P und C-76/93 P.

( 18 ) Eben weil festgestellt wird, daß keine Handlung vorliegt, in der die Einzelfallentscheidung, die die vom Streithelfer unterstützte Partei betrifft, und die den Streithelfer betreffende Einzelfallentscheidung zusammengefaßt sind. Aus diesem Grund kommt der von der Partei geführte Nachweis der materiellen Inexistenz der Handlung unmittelbar auch dem Streithelfer zugute.

( 19 ) So ergibt sich, wiederum für den Fall der Zusammenfassung mehrerer Einzelfallentscheidungen in einem einzigen Schriftstück, aus der Nichtigerklärung für einen der Betroffenen keine unmittelbare positive Rechtsfolge für die anderen. Dies gilt auch dann, wenn die Nichtigerklärung auf einen formellen Mangel der Handlung gestützt worden ist, der notwendigerweise auch den anderen mit ihr zusammengefaßten Einzelfallentscheidungen anhaftet. Diese Ansicht, die voll und ganz auf die Logik der Nichtigkeitskontrolle gestützt ist, darf nicht verwundern; sie wird im übrigen von den Kassations- und Revisionsgerichten der Mitgliedstaaten anerkannt.

( 20 ) Diese Auffassung wurde auch mit dem Beschluß Scaramuzza (angeführt in Fußnote 15, Randnrn. 7 ff.) anerkannt.

( 21 ) Siehe hierzu Urteil vom 15. Juni 1993 in der Rechtssache C-225/91 (Matra/Kommission, Slg. 1993, I-3203, Randnrn. 11 f.).

( 22 ) Der Antrag der Rechtsmittelführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und „insgesamt für nichtig zu erklären“, kann nicht in diesem Sinn ausgelegt werden. Die Rechtsmittelführerin kann die Nichtigerklärung nur insoweit beantragen, als die Entscheidung sie betrifft. Auch können die Rechtsprechungsorgane der Gemeinschaft abgesehen vom Fall der Feststellung der Inexistenz nicht im Wege der Analogie die generelle Nichtigkeit einer Handlung annehmen, in der mehrere Einzelfallentscheidungen zusammengefaßt sind.

( 23 ) Soweit sich die Einrede der Unzulässigkeit der Kommission auf die Entscheidung des Gerichtshofes in den PVC-Sachen (siehe oben, Fußnote 11 und unten Nrn. 20 ff.) über die Frage stützt, ob bestimmte wesentliche formelle Mängel einer Handlung diese inexistent oder nur nichtig machen, ist sie unbegründet, weil die Kommission insoweit die Grenzen der Rechtskraft der fraglichen Gerichtsentscheidung verkennt. Die Tatsache, daß der Gerichtshof in den PVC-Sachen keine Inexistenz angenommen hat, schließt trotz der Parallelen zwischen beiden Fällen nicht aus, daß er dies im vorliegenden Fall tun wird.

( 24 ) Siehe oben, Fußnote 10.

( 25 ) In den PVC-Sachen sind das Fehlen einer beglaubigten Urschrift und damit der Verstoß gegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission gerichtlich festgestellt worden, und sie werden von der Kommission nicht bestritten. Daher hatte der Gerichtshof anders als bei den tatsächlichen Gegebenheiten in der Polypropylen-Sache lediglich zu bestimmen, welche Rechtsfolgen die schon festgestellte Verletzung des Artikels 12 der Geschäftsordnung der Kommission hat.

( 26 ) Randnrn. 48 bis 54.

( 27 ) Randnrn. 61 bis 78.

( 28 ) Der Gerichtshof verweist insoweit auf das Urteil vom 23. September 1986 in der Rechtssache 5/85 (AKZO Chemie/Kommission, Slg. 1986, 2585).

( 29 ) Gegen die oben wiedergegebene Rechtsprechung könnte man eventuell einwenden, daß mit dieser Entscheidung nicht mit der gebotenen Strenge auf einen so schweren Rechtsverstoß der Kommission reagiert werde, wie es der Verstoß gegen Artikel 12 der Geschäftsordnung sei. Insbesondere für einen Juristen, der die im öffentlichen Recht bestimmter Mitgliedstaaten geltenden Grundsätze kennt, dürfte es verwunderlich sein, daß eine nicht unterzeichnete Sachentscheidung nicht für inexistent erklärt wird. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß der Gerichtshof zu dieser Auffassung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des „Verwaltungshandelns“ der Gemeinschaftsorgane gelangt ist und daß er dabei meiner persönlichen Ansicht nach glaubte, mit der Charakterisierung des konkreten Rechtsverstoßes als „wesentlicher Formfehler“, der die Nichtigkeit der Entscheidung nach sich zieht, würden das harmonische Funktionieren der Gemeinschaftsorgane wie auch die rechtlichen Interessen der betroffenen Privatpersonen auf bestmögliche Weise geschützt. Aus diesem Grund bin ich entgegen den genannten Bedenken bezüglich der Frage, ob die in den PVC-Sachen ausgesprochene Sanktion für den Rechtsverstoß der Kommission streng genug war, der Ansicht, daß diese Rechtsprechungsentscheidung auch in der vorliegenden Rechtssache als akzeptabel angesehen werden kann.

( 30 ) Siehe oben, Fußnote 5.

( 31 ) Demgemäß wird auch im Urteil vom 1. Juni 1994 in der Rechtssache C-136/92 P (Kommission/Brazzelli Lualdi u. a., Slg. 1994, I-1981, Randnr. 49) folgendes ausgeführt: „Somit ist allein das Gericht für die Tatsachenfeststellung zuständig, sofern sich nicht aus den Prozeßakten ergibt, daß seine Feststellungen tatsächlich falsch sind.“

( 32 ) Das Verbot von Beweiserhebungen gilt sowohl im Stadium vor der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über die Begründetheit des Rechtsmittels als auch für den Fall, daß dem Rechtsmittel stattgegeben wird und sich die Frage stellt, ob die Sache zur Entscheidung an das Tatsachengericht zurückverwiesen werden soll. Für das Stadium vor der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils ergibt sich das Verbot daraus, daß hinsichtlich einer Tatsache, die das Tatsachengericht nicht kannte, ein Mangel seiner gerichtlichen Begründung nicht vorliegen könnte. Für das Stadium nach der Aufhebung sieht Artikel 54 der EWG-Satzung vor, daß der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden kann, „wenn dieser zur Entscheidung reif ist“. Sind weitere Beweiserhebungen erforderlich, so bedeutet dies, daß die Sache nicht „reif“ zur Entscheidung ist.

( 33 ) Urteil vom 12. Juli 1957 in den Rechtssachen 7/56 und 3/57 bis 7/57 (Algera u. a./Gemeinsame Versammlung der EGKS, Slg. 1957, 85). Nach Ansicht der Rechtsmittelführerin folgt dieses Urteil den in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten weitgehend anerkannten Grundsätzen und sieht einen Rechtsakt als inexistent an, wenn er besonders schwere und offensichtliche Mängel aufweist. Die Rechtsmittelführerin leitet aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ab, daß die fehlende Unterzeichnung eines Rechtsakts ein solcher schwerer und offensichtlicher Mangel ist. Sie verweist insoweit auf die Schlußanträge des Generalanwalts Trabucchi in den verbundenen Rechtssachen 15/73 bis 33/73, 52/73, 53/73, 57/73 bis 109/73, 116/73, 117/73, 123/73 und 132/73 bis 137/73 (Kortner-Schots u. a./Rat, Kommission und Parlament, Slg. 1974, 177) sowie auf die Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in der Rechtssache 15/85 (Consorzio Cooperative d'Abruzzo/Kommission, Slg. 1987, 1005). Das Fehlen der erforderlichen Unterschriften in der Polypropylen-Entscheidung sei augenscheinlich. Demgemäß macht die Rechtsmittelführerin geltend, aus ihrem Vorbringen im Schriftsatz vom 4. März 1992 ergebe sich die Vermutung für das Vorliegen eines weiteren besonders schweren und offensichtlichen Mangels, nämlich für die Veränderung des Inhalts der Polypropylen-Entscheidung nach ihrem Erlaß. Da das Gericht nicht entschieden habe, daß die genannten Mängel die fragliche Entscheidung von vornherein inexistent gemacht hätten, habe es durch seine Auslegung des Begriffs der „Inexistenz“ eines Rechtsakts gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen.

( 34 ) Wegen der Erforderlichkeit des vollen Nachweises derartiger formeller Mängel verweist die Kommission auf das schon angeführte PVC-Urteil und auf das Urteil vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache T-43/92 (Dunlop Slazenger/Kommission, Slg. 1994, II-441) sowie auf die Urteile vom 27. Oktober 1994 in den Rechtssachen T-34/95 (Fiatagri und New Holland Ford/Kommission, Slg. 1994, II-905) und T-35/92 (Deere/Kommission, Slg. 1994, II-957).

( 35 ) Sowohl die Inexistenz als auch die von der Rechtsmittelführerin angeführten wesentlichen formellen Mängel gehören zur Gruppe der von Amts wegen zu prüfenden Fragen. Siehe z. B. die Urteile des Gerichtshofes vom 21. Dezember 1954 in den Rechtssachen 1/54 (Frankreich/Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1954-1955, 9) und 2/54 (Italien/Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1954—1955, 81), vom 20. März 1959 in der Rechtssache 18/57 (Nold/Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1958—1959, 91) und vom 7. Mai 1991 in den Rechtssachen C-291/89 (Interhotel/Kommission, Slg. 1991, I-2257, Randnr. 14) und C-304/89 (Oliveira/Kommission, Slg. 1991, I-2283, Randnr. 18).

( 36 ) Meines Krachtens trifft die Ansicht nicht zu, daß alle Mängel, die sich unmittelbar aus der angefochtenen Entscheidung der Kommission ergeben, wie sie in der vom Gericht seinem Urteil zugrunde gelegten Akte enthalten ist, im Rechtsmittelverfahren erstmals geltend gemacht werden können. Die streitige Entscheidung ist kein Schriftsatz des erstinstanzlichen Prozesses und kann daher nicht Grundlage für das Vorbringen von Rechtsmittelgründen sein. Wie schon ausgeführt, ergibt sich aus dem Grundgedanken der aufgrund eines Rechtsmittels vorzunehmenden Kontrolle und aus deren Stellung im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaftsrechtsordnung zwingend der fundamentale Grundsatz, daß nur die rechtlichen Mängel der erstinstanzlichen Entscheidung als Rechtsmittelgrund geltend gemacht werden können, die sich aus dem Wortlaut des mit dem Rechtsmittel angefochtenen Urteils und der übrigen Verfahrensdokumente ersehen lassen. Die Zurückweisung der Rechtsmittelgründe, die sich auf den Inhalt der in der ersten Instanz angefochtenen Entscheidung beziehen, ist Ausfluß dieses Grundsatzes; die angefochtene Handlung ist lediglich ein Beweismittel, für dessen Würdigung ausschließlich das Tatsachengericht, d. h. das Gericht erster Instanz, zuständig ist.

( 37 ) Siehe Randnrn. 73 bis 76 des (in Fußnote 10 angeführten) PVC-Urteils.

( 38 ) Siehe dazu unten in dem Abschnitt, in dem auf die ablehnende Entscheidung des Gerichts erster Instanz vor dem Hintergrund der Beweislastregeln verwiesen wird.

( 39 ) Siehe unten, Nrn. 50 ff.

( 40 ) Siehe oben, Nrn. 20 ff.

( 41 ) Urteil vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache C-36/92 P (SEP/Kommission, Slg. 1994, I-1911, Randnr. 33).

( 42 ) Die Rechtsmittelführerin verweist insoweit auf die Urteile vom 14. Dezember 1962 in den Rechtssachen 2/62 und 3/62 (Kommission/Luxemburg und Belgien, Slg. 1962, 869) und vom 26. November 1981 in der Rechtssache 195/80 (Michel/Parlament, Slg. 1981, 2861).

( 43 ) Urteil vom 9. Dezember 1965 in den Rechtssachen 29/63, 31/63, 36/63, 39/63 bis 47/63, 50/63 und 51/63 (Société anonyme des laminoirs, hauts fourneaux, forces, fonderies et usines de la Providence u. a./Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1965, 1198).

( 44 ) Urteil vom 22. Oktober 1991 in der Rechtssache C-16/90 (Nölle, Slg. 1991, I-5163).

( 45 ) Die Kommission verweist auf den Beschluß vom 26. März 1992 in der Rechtssache T-4/89 REV (BASF/Kommission, Slg. 1992, II-1591) und auf das Urteil vom 19. März 1991 in der Rechtssache C-403/85 Rév. (Ferrandi/Kommission, Slg. 1991, I-1215).

( 46 ) Siehe die oben in Fußnote 35 angeführten Urteile Dunlop Slazenger/Kommission, Fiatagri und New Holland Ford/Kommission und Deere/Kommission.

( 47 ) Urteil vom 9. Juni 1992 in der Rechtssache C-30/91 P (Slg.1992, I-3755).

( 48 ) Die Kommission stützt sich auf das Urteil vom 10. Dezember 1992 in der Rechtssache T-33/91 (Williams/Rechnungshof, Slg, 1992, II-2499, Randnr. 31).

( 49 ) Diese Vorschriften entsprechen den Artikeln 61 und 45 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes.

( 50 ) Ich verweise insoweit auf das PVC-Urteil des Gerichtshofes, wie oben wiedergegeben, und auf meine Ausführungen dazu, die sich auf die Rechtsnatur des durch das Fehlen einer beglaubigten Urschrift begründeten Mangels beziehen. Siene die Nummern 20 ff. und 38 dieser Schlußanträge.

( 51 ) Siehe Nr. 33 dieser Schlußanträge.

( 52 ) Siehe Urteil des Gerichtshofes vom 1. Dezember 1965 in der Rechtssache 45/64 (Kommission/Italien, Slg. 1965, 1126) und Schlußanträge des Generalanwalts Lagrange in der oben in Fußnote 43 angeführten Rechtssache Forges de la Providence.

( 53 ) Urteil des Gerichtshofes vom 28. April 1966 in der Rechtssache 49/65 (Ferriere e Acciaierie Napoletane/Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1966, 106).

( 54 ) Vgl. auch Urteil vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-145/89 (Baustahlgewebe/Kommission, Slg. 1995, II-987, Randnr. 34).

( 55 ) Urteil vom 28. April 1966 in der Rechtssache 51/65 (ILFO/ Hohe Behörde der EGKS, Slg. 1966, 130). Es sei darauf hingewiesen, daß die betreffende Partei bei ihrem Vorbringen nicht von jeder prozessualen Obliegenheit befreit ist, weil sonst eine Vermutung dafür entstünde, daß die von ihr geltend gemachten mutmaßlichen Mängel tatsächlich vorliegen. Sie muß — um das Gericht zur weiteren Untersuchung seines-Vorbringens und eventuell darüber hinaus zu einer Beweisaufnahme zu zwingen — den „Ansatz eines Beweises“ für die Richtigkeit ihres Vorbringens vorbringen. Dabei ist der Begriff des „Ansatzes eines Bewel ses“ je nach den besonderen Umständen des Einzelfalles verschieden und kann nicht gleichbedeutend mit einem Vollbeweis sein.

Im übrigen wäre es einer Person nicht zuzumuten, wenn sie gegenüber einem Gericht den Vollbeweis für Dinge er bringen müßte, von denen sie keine volle Kenntnis haben kann. Erst recht würde dies für eine Partei gelten, die gerade deshalb, weil sie keinen Zugang zu bestimmten Beweismitteln hat, die Anordnung einer zusätzlichen Beweisaufnahme beantragt, „hinreichende Anhaltspunkte“ für Formverstöße vortragen müßte, von denen sie vermutet, daß sie sich nach Durchführung dieser ergänzenden Beweisaufnahme herausstellen.

( 56 ) Siehe Artikel 44 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts.

( 57 ) Diese Beschränkung entspricht allen nationalen prozessualen Systemen; sie ist eng mit dem fundamentalen Grundsatz der Rechtssicherheit und der geordneten Rechtspflege verbunden.

( 58 ) Siehe Urteil vom 14. Mai 1975 in der Rechtssache 74/74 (CNTA/Kommission, Slg. 1975, 533, Randnr. 4). Vgl. Urteil vom 9. Februar 1994 in der Rechtssache T-109/92 (Lacruz Bassols/Gerichtshof, Slg. 1994, II-105, Randnr. 67).

( 59 ) Ebendies unterscheidet auch die vorliegende Rechtssache von den einen entsprechenden Gegenstand betreffenden PVC-, LDPE- und Soda-Rechtssachen. In diesen Rechtssachen wurden die Klagegründe, mit denen formelle Mängel der angefochtenen Entscheidungen gerügt wurden, zwar möglicherweise mit Verzögerung, aber doch vor Schließung der mündlichen Verhandlung vorgebracht.

( 60 ) Siehe unten, Nrn. 77 ff.

( 61 ) Siehe Urteil vom 16. Juni 1971 in der Rechtssache 77/70 (Prelle/Kommission, Slg. 1971, 561, Randnr. 7).

( 62 ) In Artikel 64 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts heißt es: „Jede Partei kann in jedem Verfahrensstadium den Erlaß oder die Abänderung prozeßleitender Maßnahmen vorschlagen.“ Dieser Antrag kann gegebenenfalls auf das Vorliegen oder die Wahrscheinlichkeit neuer Tatsachen gestützt werden.

( 63 ) Man könnte geltend machen, daß die Darlegungen der Bevollmächtigten der Kommission in den PVC-Sachen, auf die der fragliche Schriftsatz der Rechtsmittelführerin gestützt war, keine „Tatsachen“ darstellten, sondern ein indirektes Mittel, um auf verdeckte Weise eine Reihe von Gründen für die Nichtigerklärung der Polypropylen-Entscheidung vorzubringen. Nach dieser Auffassung wären die betreffenden Gründe verspätet vorgebracht worden und damit unzulässig gewesen. Meines Erachtens sollte dieser Auslegung des Schriftsatzes nicht gefolgt werden, wenngleich sie nicht einer gewissen Logik entbehrt. Mit ihrem rechtlichen Vorbringen setzte die Rechtsmittelführerin einen tatsächlichen Umstand, die Begehung von Verstößen durch die Kommission bei Erlaß der Polypropylen-Entscheidung, voraus. Entscheidend ist, daß geklärt wird, zu welchem Zeitpunkt die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren von diesen Rechtsverstößen Kenntnis erlangte oder hätte Kenntnis erlangen müssen.

( 64 ) Diese Auffassung vertrat auch der Gerichtshof bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags. In der Rechtsprechung ist deutlich gemacht worden, daß ein Antrag auf Wiederaufnahme wegen deren Ausnahmecharakters an besonders strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen gebunden ist. Verlangt wird „völlige Unbekanntheit“ der Tatsache, auf die der Wiederaufnahmeantrag gestützt wird; eine derartige Unbekanntheit liegt nicht vor, wenn es möglich war, im Laufe des Verfahrens Kenntnis von der Tatsache zu erlangen. Siehe Urteil vom 10. Januar 1980 in der Rechtssache 116/78 rev. (Bellintani u. a./Kommission, Slg. 1980, 23).

( 65 ) Eine Partei, die durch ihr Verschulden nicht rechtzeitig Kenntnis von einer Tatsache erlangt hat, kann nicht unter Berufung darauf, daß sie von der Tatsache nur mit Verzögerung erfahren habe, die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung erwirken. Zum gleichen Ergebnis gelangte der Gerichtshof in seinem Urteil vom 21. Januar 1971 in der Rechtssache 56/70 (Mandelli/Kommission, Slg. 1971, 1) bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmeantrags. Die Partei, die die Wiederaufnahme beantragt hatte, berief sich auf einen Bericht der italienischen Behörden, von dem sie erst nach Abschluß des ursprünglichen Verfahrens Kenntnis erlangt habe.

Der Gerichtshof stellte jedoch fest, daß die Existenz dieses Berichts der Antragstellerin nicht habe unbekannt sein können und daß sie in keiner Weise daran gehindert gewesen sei, „beim Gerichtshof einen Beweisantrag [zu] stellen... mit dem Ziel, die Vorlage des fraglichen Dokuments sowie aller sonstigen etwa bei der italienischen Verwaltung vorhandenen einschlägigen Informationen zu erreichen“. Mit dieser Begründung wies er den Antrag auf Wiederaufnahme zurück. Der Gerichtshof weist Anträge auf Ergänzung der Beweisaufnahme, die nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung gestellt werden, zurück, wenn die Partei die Möglichkeit hatte, den Antrag vor diesem Zeitpunkt zu stellen (Urteil vom 15. Dezember 1995 in der Rechtssache C-415/93, Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 54).

( 66 ) Somit konnte die Rechtsmittelführerin die fragliche Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift nicht zulässigerweise nach dem Schluß der mündlichen Verhandlung geltend machen. Denn entweder ergaben sich die betreffenden Rechtsverstöße der Kommission mit Sicherheit aus dem Akteninhalt — dann hätten sie spätestens mit der Klagebeantwortung geltend gemacht werden müssen — oder der Akteninhalt ließ lediglich Zweifel daran aufkommen, ob die wesentliche Formvorschrift eingehalten worden war — dann hätte die Rechtsmittelführerin sie rechtzeitig vortragen und zugleich eine Beweisaufnahme zu diesem Punkt beantragen müssen.

( 67 ) Man könnte geltend machen, daß die ersten Verdachtsgründe bereits mit der Zustellung der Polypropylen-Entscheidung an die Rechtsmittelführerin entstanden seien, da sich aus dem zugestellten Text nicht ergeben habe, daß die wesentliche Formvorschrift des Artikels 12 der Geschäftsordnung der Kommission eingehalten worden sei.

( 68 ) Diese Sicht der Dinge ist meines Erachtens, mag sie auchgegenüber der Partei, die das betreffende Angriffsmittel geltend macht, streng erscheinen, am ehesten angebracht. Dagegen vermag ich nicht der vom Gericht in den (in den Fußnoten 8 und 9) bereits angeführten Soda- und LDPE-Sachen vertretenen Ansicht zuzustimmen, daß die Kläger zu Recht erst das Endurteil in den PVC-Sachen abgewartet hätten, bevor sie ein entsprechendes Tatsachenvorbringen in ihre eigenen Prozesse eingeführt hätten. Unabhängig davon, ob die Tatsachen, die im Zuge des Verfahrens in den PVC-Sachen ans Licht kamen, den Parteien anderer Prozesse unbekannt waren oder nicht, hätten letztere auf jeden Fall sorgfältig die formelle Rechtmäßigkeit der sie betreffenden Entscheidung prüfen müssen, wenn auch nur anhand einer Durchsicht der Verfahrensakte.

Die späteren Enthüllungen verstärkten lediglich die Verdachtsmomente bezüglich eventueller Formverstöße der Kommission. Die Rechtsmittelführerin kann auch nicht unter Berufung auf die Vermutung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung geltend machen, daß sie sich nicht habe vorstellen können, daß jenseits der scheinbaren Vollständigkeit der Entscheidung ernsthafte Mängel verborgen lägen. Sobald jemand gerichtlich gegen eine Handlung eines Gemeinschaftsorgans vorgeht, hört die Rechtmäßigkeitsvermutung auf, zu seinen Lasten oder zu seinen Gunsten zu gelten. Einerseits kann die Rechtmäßigkeitsvermutung, wie bereits festgestellt (siehe Fußnote 36) nicht zur Widerlegung eines Klagegrundes angeführt werden, mit dem in zulässiger Weise ein Grund für die Rechtswidrigkeit der Handlung geltend gemacht wird. Andererseits kann sich der Kläger auf diese Vermutung nicht als Rechtfertigung dafür berufen, daß er einen rechtlichen Mangel der angefochtenen Handlung nicht rechtzeitig aufgespürt hat.

( 69 ) Siehe oben, Fußnote 36.

( 70 ) Siehe die obigen Ausführungen zur von Amts wegen vorzunehmenden gerichtlichen Prüfung.

( 71 ) Man könnte sagen, daß die Verpflichtung zu einer von Amts wegen vorzunehmenden gerichtlichen Prüfung enger ist als die Sorgfaltspflicht der Parteien, aufgrund deren diese, wie dargelegt, auch Anhaltspunkte für eventuelle formelle Rechtsverstöße der angefochtenen Entscheidung aufspüren und rechtzeitig vortragen müssen. Diese Feststellung darf nicht verwundem. Die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung im Rahmen des Nichtigkeitsverfahrens ist nicht zu dem Zweck vorgesehen worden, Versäumnisse der Parteien zu heilen. Sie bezweckt vielmehr die Wahrung des Rechts durch die Feststellung offensichtlicher schwerer Rechtsmängel von Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane. Ergeben sich diese Rechtsverstöße nicht aus dem Akteninhalt, so ist das Gemeinschaftsgericht nicht verpflichtet, eine zusätzliche Beweisaufnahme durchzuführen. Es ist zu einer weiteren Untersuchung berechtigt, aber nicht verpflichtet.

( 72 ) Urteil des Gerichtshofes vom 16. Juni 1971 in der Rechtssache 18/70 (Duraffour/Rat, Slg. 1971, 515).

( 73 ) Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juni 1983 in den verbundenen Rechtssachen 100/80 bis 103/80 (Musique Diffussion Française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825).

( 74 ) Siehe Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Kommission/Brazzelli Lüaldi u. a. (angerührt in Fußnote 31, Randnrn. 48 f.) und Beschluß in der Rechtssache San Marco Impex Italiana Srl/Kommission (angeführt in Fußnote 7, Randnr. 39).

( 75 ) Siehe die Rechtssachen Kommission/Brazzelli Lualdi u. a. (angeführt in Füßnote 32, Randnr; 66) und San Marco Impex Italiana Srl/Kommission (angeführt in Fußnote 7, Randnr. 40).

( 76 ) Tatsächlich verlangt die Rechtsmittelführerin mit ihrer gesamten Argumentation bezüglich des rechtlichen Inhalts des zweiten Teils der Rechtsmittelschrift in Wirklichkeit eine Ausweitung der Kontrolle, die im Rahmen von Artikel 51 der EWG-Satzung des Gerichtshofes im Rechtsmittelverfahren durchzuführen ist. Ferner ist daran zu erinnern, daß die Rechtsmittelschrift nach Artikel 112 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts u. a. „die Rechtsmittelgründe“ enthalten muß. Hält man sich streng an den Wortlaut dieser Vorschrift, so könnte man viel leicht — mit der Kommission — in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die im zweiten Teil der Rechtsmittelschrift enthaltene Argumentation insgesamt als unzulässig, da zu unbestimmt, zurückzuweisen ist. Meines Erachtens ist ein solches Vorgehen jedoch auf Rechtsmittelschriften zu beschränken, die keinen Raum für eine rechtliche Würdigung im Rahmen des Rechtsmittelverfahrens lassen. Ansonsten ist ungeachtet des Ermessens, das dem Gericht insoweit zuzugestehen ist, im Interesse eines möglichst umfassenden Rechtsschutzes sicher ein Auslegungsansatz geboten, durch den anhand grammatikalischer und logischer Regeln die in der Rechtsmittelschrift enthaltenen Rechtsbehauptungen herausgearbeitet werden, ohne solche dort ausfindig zu machen, wo sie nicht vorhanden sind.

( 77 ) Man könnte sich im Rahmen einer Auslegung der Rechtsmittelschrift fragen, ob nicht eigentlich eine mangelhafte Begründung des angefochtenen Urteils geltend gemacht wird. Dergleichen könnte man z. B. aus dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin ableiten, daß das Gericht seine Schlußfolgerung in bezug auf ihre Teilnahme an den Sitzungen der Polypropylen-Hersteller von Ende 1978 bis Anfang 1979 lediglich auf die Antwort von ICI auf das Auskunftsersuchen gestützt habe. Ich glaube indessen nicht, daß sich die Rechtsmittelführerin gegen die Begründung des Urteils als solche wendet, da die Rechtsmittelführerin selbst einräumt, daß das Gericht insoweit auch andere Beweismittel anführt (die in Randnr. 115 erwähnten Tabellen; siehe jedoch auch Randnr. 116), denen die Rechtsmittelführerin lediglich die Beweiskraft abspricht. Sie beschränkt sich somit auf eine Beanstandung der Würdigung des vorliegenden Sachverhalts.

( 78 ) Siehe die Nrn. 50 ff. meiner Schlußanträge vom heutigen Tag in der Rechtssache C-49/92 P (Kommission/Enichem) sowie die Nummern 53 bis 68 meiner ebenfalls heute vorgetragenen Schlußanträge in der Rechtssache C-235/92 P (Montecatini/Kommission).

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