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Document 61992CC0066

    Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 6. Mai 1993.
    Genaro Acciardi gegen Commissie beroepszaken administratieve geschillen in de provincie Noord-Holland.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
    Soziale Sicherheit - Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 - Soziale Vergünstigung.
    Rechtssache C-66/92.

    Sammlung der Rechtsprechung 1993 I-04567

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1993:177

    SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    CARL OTTO LENZ

    vom 6. Mai 1993 ( *1 )

    A — Einführung

    1.

    Der vorliegende Fall betrifft die Auslegung der Artikel 4 und 68 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 1 ) und des Artikels 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 ( 2 ).

    2.

    Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Herr Acciardi, ist ein italienischer Staatsangehöriger, der in den Niederlanden als Arbeitnehmer tätig war und dort wohnt. Seine Ehefrau und sein Sohn leben in Italien. Im Jahre 1985 wurde er arbeitslos und erhielt Leistungen nach der Werkloosheidswet, dem niederländischen Gesetz über die Arbeitslosenunterstützung, bis die in diesem Gesetz vorgesehene Förderungshöchstdauer erreicht war.

    3.

    Im Anschluß hieran wurde Herrn Acciardi im Februar 1988 eine Leistung nach der Wet inkomensvoorziening oudere en gedeeltelijk arbeidsongeschikte werkloze werknemers, dem niederländischen Gesetz über die Versorgung älterer und teilweise arbeitsunfähiger arbeitsloser Arbeitnehmer (im folgenden „IOAW“ genannt), bewilligt ( 3 ). Gemäß Artikel 4 Absatz 1 IOAW hängt der Anspruch auf eine Leistung nach diesem Gesetz davon ab, daß das monatliche Einkommen des Betroffenen und gegebenenfalls seines Ehegatten unter den vom Gesetz festgelegten Grundbeträgen liegt. Nach Artikel 4 Absatz 3 IOAW entspricht für einen arbeitslosen Arbeitnehmer und seinen Ehegatten die Hälfte des Nettogrundbetrags (jeweils) der Hälfte des Nettomindestlohns. Für einen alleinstehenden arbeitslosen Arbeitnehmer mit Kind beträgt der Nettogrundbetrag 90 % des Nettomindestlohns, während er sich im Falle eines arbeitslosen Arbeitnehmers ohne Kinder auf 70 % des Nettomindestlohns beläuft.

    4.

    Die Höhe der zu gewährenden Leistung berechnet sich grundsätzlich dadurch, daß man die Einkünfte des Begünstigten von dem relevanten Grundbetrag abzieht (Artikel 9 Absatz 1 IOAW). Nach Artikel 26 Absatz 1 IOAW wird die Leistung nur gewährt, wenn der Betroffene bestimmte Bedingungen erfüllt, die seine Wiedereingliederung ins Berufsleben zum Ziel haben (zum Beispiel die Pflicht, nach einer Stelle zu suchen), es sei denn, daß gesundheitliche oder andere Gründe dies unmöglich machen. Diese Bedingungen gelten grundsätzlich auch für den Ehegatten des Betroffenen (Artikel 26 Absatz 2 IOAW).

    5.

    Nach Artikel 4 Absatz 2 IOAW haben der arbeitslose Arbeitnehmer und sein Ehegatte gleichermaßen Anspruch auf die Leistung. Auf Antrag eines oder beider Ehegatten wird jedem von ihnen die Hälfte der Leistung ausgezahlt.

    6.

    Artikel 5 IOAW bestimmt, daß ein außerhalb der Niederlande wohnender arbeitsloser Arbeitnehmer keinen Anspruch auf diese Leistung hat. Wohnt lediglich der Ehegatte im Ausland, so hat dieser keinen Anspruch auf Leistung; der arbeitslose Arbeitnehmer wird in einem solchen Fall so behandelt, als wäre er ein Alleinstehender (Artikel 5 Absatz 2 IOAW).

    7.

    Die Anwendung der soeben genannten Vorschrift durch die zuständige niederländische Behörde hatte zur Folge, daß Herr Acciardi als Alleinstehender ohne Kinder eingestuft wurde ( 4 ). Herr Acciardi beschritt gegen diese Entscheidung den Rechtsweg. Der Raad van State, der über diesen Rechtsstreit zu entscheiden hat, hat dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Ist Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wonach diese Verordnung für bestimmte Zweige der sozialen Sicherheit gilt, so zu verstehen, daß eine Regelung wie in der IOAW, die sowohl Merkmale der sozialen Sicherheit als auch der Sozialhilfe aufweist, in den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt?

    2.

    Falls diese Frage bejaht wird: Ist Artikel 68 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 so auszulegen, daß er einem Mitgliedstaat die Beibehaltung einer Rechtsvorschrift verbietet, nach der die Leistung für einen in den Niederlanden wohnenden Gemeinschaftsangehörigen, der als arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinne der IOAW anzusehen ist und dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt oder dort seinen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt hat, ohne Berücksichtigung des Ehegatten festgesetzt wird?

    3.

    Falls die erste Frage verneint wird: Steht das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit der Anwendung einer Rechtsvorschrift entgegen, nach der die Leistung für einen in den Niederlanden wohnenden Gemeinschaftsangehörigen, der als arbeitsloser Arbeitnehmer im Sinne der IOAW anzusehen ist und dessen Ehegatte in einem anderen Mitgliedstaat wohnt oder dort seinen nicht nur vorübergehenden Aufenthalt hat, ohne Berücksichtigung des Ehegatten festgesetzt wird?

    Β — Stellungnahme

    I — Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71

    8.

    Mit seiner ersten Frage begehrt das vorlegende Gericht zu erfahren, ob eine Regelung wie die der IOAW in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

    9.

    Ihrem Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben g) zufolge gilt die Verordnung Nr. 1408/71 (unter anderem) für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die „Leistungen bei Arbeitslosigkeit“ betreffen. Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung bestimmt, daß diese auf die Sozialhilfe nicht anwendbar ist.

    10.

    Die niederländische Regierung ist der Auffassung, die auf der Grundlage der IOAW gewährten Leistungen seien dem Bereich der Sozialhilfe zuzurechnen, da die IOAW zu einer Gruppe von Gesetzen gehöre, die das Ziel verfolgten, den Begünstigten ein Existenzminimum zu gewährleisten. Nach den Angaben der Kommission ( 5 ) vertrat die niederländische Regierung bereits während der Beratung des Gesetzes im Parlament die Ansicht, daß es sich um ein Sozialhilfegesetz handle, das nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 falle.

    11.

    Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes hängt die Antwort auf die Frage, ob eine Leistung in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, „im wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen dieser Leistung ab, insbesondere von ihrer Zielsetzung und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob sie nach den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit angesehen wird“ ( 6 ).

    12.

    Es ist unschwer zu erkennen, daß die auf der Grundlage der IOAW gewährte Leistung Merkmale aufweist, die gemeinhin für eine Sozialhilfeleistung kennzeichnend sind. Wie die niederländische Regierung in ihrer Stellungnahme ausgeführt hat, entsprechen die Nettogrundbeträge der IOAW den in der Algemene Bijstandswet, dem allgemeinen Sozialhilfegesetz der Niederlande (im folgenden „ABW“ genannt), vorgesehenen Beträgen. In beiden Fällen entspricht der maximale Nettogrundbetrag dem Nettomindestlohn (im Falle eines Ehepaars). Beide Gesetze verfolgen daher das Ziel, den Begünstigten einen bestimmten, zur Deckung der grundlegenden Bedürfnisse ausreichenden Betrag zu verschaffen. Aus diesem Grunde werden auch die sonstigen Einkünfte des Betroffenen (und gegebenenfalls seines Ehegatten) bei der Berechnung der zu gewährenden Leistung berücksichtigt.

    13.

    Der Umstand, daß eine Leistung Elemente aufweist, die sie in die Nähe der Sozialhilfe rücken, führt jedoch nicht notwendigerweise zu der Schlußfolgerung, daß die Verordnung Nr. 1408/71 auf sie keine Anwendung fände. Der Gerichtshof hat bereits mehrmals festgestellt,

    „daß es zwar für die Anwendung der Gemeinschaftsregelung über die soziale Sicherheit wünschenswert erscheinen mag, die gesetzlichen Systeme eindeutig danach zu unterscheiden, ob sie der sozialen Sicherheit oder der Sozialhilfe zuzurechnen sind, daß aber nicht auszuschließen ist, daß nationale Rechtsvorschriften ihrem persönlichen Geltungsbereich, ihren Zielen und den Modalitäten ihrer Anwendung nach beiden Rechtsgebieten gleich nahestehen“ ( 7 ).

    14.

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehört eine Leistung zum System der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71, wenn sie auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Voraussetzungen und unabhängig von jeder individuellen, der Behörde einen gewissen Spielraum eröffnenden Beurteilung der Bedürfnisse des Betroffenen gewährt wird. Außerdem muß die Leistung einen Bezug zu einem der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgezählten Risiken aufweisen. In seinem kürzlich erlassenen Urteil in der Rechtssache Kommission/Luxemburg hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung wie folgt zusammengefaßt:

    „Der Gerichtshof hat wiederholt ausgeführt, daß eine Leistung dann als Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund eines gesetzlichen Tatbestands gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht“ ( 8 ).

    15.

    Es ist offenkundig, daß die IOAW den Begünstigten eine „gesetzlich umschriebene Stellung“ ( 9 ) einräumt. Liegen die im Gesetz festgelegten Voraussetzungen vor, so hat der Begünstigte einen Anspruch auf die Leistung. Es mag zwar sein, daß die zuständige Behörde bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen — und besonders die in Artikel 26 IOAW genannten — erfüllt sind, über einen gewissen Beurteilungsspielraum verfügt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Gewährung der Leistung im Ermessen der Behörde stünde.

    Diesem Umstand kann jedoch meines Erachtens keine besondere Bedeutung beigemessen werden. Der Vertreter der niederländischen Regierung hat in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf hingewiesen, daß es in einem fortschrittlichen Sozialstaat durchaus nicht ungewöhnlich ist, daß auch die Empfänger von Sozialhilfe einen Rechtsanspruch auf die Gewährung dieser Leistung haben können ( 10 ).

    16.

    Was mit diesem Kriterium gemeint ist, ergibt sich meines Erachtens wesentlich deutlicher aus der Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Scrivner ( 11 ). In diesem Fall ging es um die im belgischen Recht vorgesehene Leistung von Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Gerichtshof stellte fest, daß auf diese Leistung ein Anspruch bestand und sie jedem gewährt wurde, der nicht über ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt verfügt und sich diese auch nicht anderweit beschaffen kann. Er folgerte daraus:

    „Somit wird auf die Bedürftigkeit als wesentliches Anwendungskriterium abgestellt und auf jegliche Voraussetzung hinsichtlich der Berufstätigkeits-, Beitrags-oder Mitgliedschaftszeiten, die bei einer zur Abdeckung eines bestimmten Risikos vorgesehenen Einrichtung der sozialen Sicherheit zurückgelegt worden sind, verzichtet.“ ( 12 )

    Der Gerichtshof entschied daher, daß die betreffende Leistung nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fiel.

    Eine weitere Präzisierung läßt sich der Entscheidung im Falle Piscitello ( 13 ) entnehmen Dort entschied der Gerichtshof, daß eine Leistung wie die Sozialrente des italienischen Rechts zum Bereich der sozialen Sicherheit zu rechnen sei. Er stellte dabei insbesondere auf den Umstand ab, daß die relevanten Vorschriften nicht „die für die Sozialhilfe kennzeichnende Beurteilung nach dem Einzelfall“ vorsahen ( 14 ).

    17.

    Wendet man diese Kriterien auf den vorliegenden Fall an, so ist zunächst festzustellen, daß die niederländische Regelung keine Prüfung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorsieht. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung sind erschöpfend im Gesetz niedergelegt; der Behörde wird — wie bereits erwähnt — insoweit keinerlei Ermessensspielraum eingeräumt.

    18.

    Was die Frage nach der Bedeutung der Bedürftigkeit betrifft, ist hier insbesondere zu betrachten, in welcher Weise bei der Gewährung von Leistungen nach der IOAW die persönlichen Verhältnisse des Begünstigten berücksichtigt werden. Die niederländische Regierung hat sich — wie bereits erwähnt — zur Stützung ihrer These, wonach die IOAW nicht vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt werde, insbesondere auf die Parallelen zwischen der IOAW und der ABW gestützt. Aus ihren Ausführungen ergibt sich, daß Leistungen auf der Grundlage dieses allgemeinen Sozialhilfegesetzes nur gewährt werden, wenn der Betroffene nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten. Bei der Prüfung der Bedürftigkeit werden daher folgerichtig sowohl das Einkommen des Betroffenen wie auch sein sonstiges Vermögen berücksichtigt. Die Gewährung von Leistungen nach der IOAW hängt dagegen allein davon ab, ob das Einkommen des Begünstigten (und gegebenenfalls seines Ehegatten) einen bestimmten Betrag nicht übersteigt ( 15 ). Dies hat zur Konsequenz, daß eine Person, die nur über ein geringfügiges oder gar kein Einkommen verfügt, auch dann in den Genuß von Leistungen nach der IOAW kommen kann, wenn sie über beträchtliches Vermögen (zum Beispiel wertvolle Baugrundstücke) verfügt. Der Freigebigkeit der Mitgliedstaaten sind zwar insoweit keine — rechtlichen — Grenzen gesetzt. Ich habe aber starke Zweifel daran, daß man eine solche Leistung als eine Leistung der „Sozialhilfe“ einstufen könnte.

    Zudem ist die in Artikel 9 Absatz 4 und 5 IOAW enthaltene Regelung zu beachten. Hat der Betroffene zuvor Leistungen nach der Werkloosheidswet bezogen, die (unter Hinzurechnung aller eventuell zu gewährenden Zuschläge) geringer waren als die Leistungen nach der IOAW, so werden aufgrund dieser Bestimmungen die Leistungen nach der IOAW entsprechend gekürzt. Dies zeigt ganz deutlich, daß die IOAW nicht vorrangig auf die Bedürftigkeit der Betroffenen abstellt — diese hängt ja offensichtlich nicht davon ab, welche Einkünfte die betreffende Person bezogen hat, bevor sie Leistungen nach der IOAW beantragt.

    19.

    Der zuletzt genannte Umstand verdeutlicht vielmehr, daß der Zweck der IOAW jedenfalls hinsichtlich der von ihr erfaßten älteren Arbeitslosen darin besteht, diesen Personen auch nach Ablauf der Förderungshöchstdauer nach dem allgemeinen Gesetz über die Arbeitslosenunterstützung entsprechende oder zumindest ein Existenzminimum gewährleistende Leistungen zu sichern und sie nicht auf die allgemeinen Sozialhilfevorschriften zu verweisen. Es handelt sich damit um eine Regelung, die meines Erachtens einen klaren Bezug zu dem in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 genannten Risiko der Arbeitslosigkeit aufweist. Diese enge Verbindung wird auch durch die in Artikel 26 ff. IOAW enthaltenen Bestimmungen bekräftigt, die das Ziel verfolgen, die Wiedereingliederung der Betroffenen in das Arbeitsleben zu fördern. Schließlich ist auch darauf hinzuweisen, daß die Förderung nur gewährt wird, wenn der Begünstigte noch nicht 65 Jahre alt ist (und damit das Rentenalter erreicht hätte).

    Der Einwand der niederländischen Regierung, die Förderung nach der IOAW hänge nicht von der Tatsache der Arbeitslosigkeit an sich ab, sondern von deren Fortdauer, vermag nicht zu überzeugen. Jegliche Arbeitslosenunterstützung wird nur solange gewährt, als der Betroffene arbeitslos ist. Darüber hinaus bestätigt dieses Argument ganz im Gegenteil die enge Verknüpfung zwischen den Leistungen nach der IOAW und der Arbeitslosigkeit des Begünstigten.

    20.

    Das Argument der niederländischen Regierung, bei der Förderung nach der IOAW handle es sich um Leistungen, die nicht von Beiträgen abhängig seien, kann kurz abgehandelt werden. Die Verordnung Nr. 1408/71 gilt nach ihrem Artikel 4 Absatz 2 sowohl für die auf Beiträgen beruhenden wie für beitragsfreie Systeme der sozialen Sicherheit. Der Gerichtshof hat dies bereits wiederholt bekräftigt ( 16 ).

    21.

    Auch der Umstand, daß die IOAW in der von den Niederlanden gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1408/71 abgegebenen Erklärung nicht enthalten ist, ändert nichts daran, daß die IOAW aufgrund der bereits erörterten Umstände in den Geltungsbereich der Verordnung fällt. Gesetze, die in einer solchen Erklärung genannt sind, werden zwar ohne weiteres von der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt ( 17 ). Wie der Gerichtshof entschieden hat, können nationale Rechtsvorschriften aber auch dann in den Geltungsbereich der Verordnung fallen, wenn sie in der Erklärung eines Mitgliedstaats nicht genannt sind ( 18 ).

    22.

    Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß eine Regelung wie die IOAW in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt.

    II — Anwendbarkeit des Artikels 68 Absatz 2

    23.

    Da die IOAW wegen ihres Bezuges zur Arbeitslosigkeit in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, finden auf sie die Vorschriften dieser Verordnung über Arbeitslosigkeit (Artikel 67 ff.) Anwendung. Artikel 68 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung enthält folgende Bestimmung für die Berechnung der Leistungen:

    „Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften sich die Höhe der Leistungen nach der Zahl der Familienangehörigen richtet, berücksichtigt auch die Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, als ob sie im Gebiet des zuständigen Staates wohnten.“

    Es ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 1 Buchstabe f der Verordnung „Familienangehörige“ diejenigen Personen sind, die in den nationalen Vorschriften (hier also der IOAW) als solche anerkannt sind. Wird nach diesen Rechtsvorschriften jedoch eine Person nur dann als Familienangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Arbeitnehmer in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von diesem bestritten wird. Diese Voraussetzungen, deren Vorliegen das nationale Gericht festzustellen hat, scheinen im vorliegenden Falle gegeben zu sein. Den folgenden Ausführungen liegt daher die Annahme zugrunde, daß es sich bei der Ehegattin von Herrn Acciardi um eine Familienangehörige im Sinne von Artikel 68 Absatz 2 handelt.

    24.

    Die Kommission hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Anwendbarkeit des Artikels 68 Absatz 2 Satz 1 im vorliegenden Fall auf den ersten Blick zweifelhaft erscheinen könnte. Diese Vorschrift bezieht sich ersichtlich auf nationale Vorschriften, nach denen die dem Begünstigten zu gewährende Leistung erhöht wird, wenn er Familienangehörige zu versorgen hat. Betrachtet man den Fall eines verheirateten arbeitslosen Arbeitnehmers, so zeigt sich jedoch, daß nach den Bestimmungen der IOAW nicht die dem Begünstigten gewährten Leistungen erhöht werden, sondern dem Ehegatten ein eigener Anspruch zugesprochen wird. Ich teile jedoch die Auffassung der Kommission, daß diese Besonderheiten der Anwendung von Artikel 68 Absatz 2 Satz 1 nicht im Wege stehen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß im Falle eines unverheirateten Antragstellers die Höhe der Leistungen nach der IOAW sich zweifellos nach der Zahl der Familienangehörigen richtet: Für den kinderlosen Arbeitnehmer beträgt der Nettogrundbetrag 70 % des Nettomindestlohns, für den Arbeitnehmer mit Kind jedoch 90 % ( 19 ). Auch für verheiratete Antragsteller gilt nichts anderes. Das Gesetz weist zwar dem Ehegatten des arbeitslosen Arbeitnehmers einen eigenen Anspruch auf die Hälfte der zu gewährenden Leistung zu (Artikel 4 Absatz 2 IOAW). Wie die Kommission in ihrer schriftlichen Stellungnahme ausgeführt hat, handelt es sich hierbei gleichwohl nicht um ein eigenständiges, sondern um ein abgeleitetes Recht des Ehegatten. Aus Artikel 5 Absatz 2 IOAW erhellt, daß der Ehegatte nur dann einen Anspruch hat, wenn der arbeitslose Arbeitnehmer zum Bezug der Leistungen nach der IOAW berechtigt ist. Der Anspruch des Ehegatten steht und fällt daher mit dem Anspruch des arbeitslosen Arbeitnehmers.

    Hält man sich diese Abhängigkeit vor Augen, so ergibt sich, daß ein unverheirateter Arbeitnehmer sich höchstens auf einen Nettogrundbetrag von 90 % des Nettomindestlohns stützen kann, während der entsprechende Betrag sich für einen verheirateten Antragsteller — gemeinsam mit seinem Ehegatten — auf 100 % beläuft. Die Höhe der Leistungen nach der IOAW richtet sich somit nach der Zahl der Familienangehörigen im Sinne von Artikel 68 Absatz 2 Satz 1.

    25.

    Auf die zweite Vorlagefrage ist somit zu antworten, daß Artikel 68 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 so auszulegen ist, daß sie bei der Gewährung von Leistungen nach einem Gesetz wie der IOAW einer Bestimmung entgegensteht, nach der bei der Berechnung der Leistungen ein Ehegatte, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, nicht berücksichtigt wird.

    26.

    Der Vertreter der niederländischen Regierung hat während der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, daß sich für die Niederlande gravierende finanzielle Konsequenzen ergeben würden, wenn bei der Gewährung von Leistungen nach der IOAW auch im Ausland lebende Ehegatten berücksichtigt werden müßten. Obwohl es sicherlich nicht akzeptabel wäre, die Auslegung von Vorschriften des Gemeinschaftsrechts von den wirtschaftlichen Folgen abhängig zu machen, die eine solche Auslegung zeitigen könnte, scheint mir dieser Einwand eine genauere Betrachtung zu verdienen.

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß der Vertreter der niederländischen Regierung nicht in der Lage war, auf eine entsprechende Frage des Gerichtshofes hin die von ihm befürchteten Folgen auch nur annähernd zu beziffern. Weiterhin ist zu beachten, daß die Einstufung der Leistungen nach der IOAW als Leistungen der sozialen Sicherheit auf der ständigen und konsequenten Rechtsprechung des Gerichtshofes basiert, die auch dem niederländischen Gesetzgeber bekannt sein mußte. Vor allem ist jedoch zweifelhaft, worin die negativen Auswirkungen einer solchen Auslegung denn eigentlich zu sehen sein könnten. Wie ich bereits in der mündlichen Verhandlung ausgeführt habe, wäre Frau Acciardi zweifellos berechtigt, zu ihrem Mann in die Niederlande zu ziehen. Würde sie von diesem Recht Gebrauch machen, so wäre unstreitig der volle Betrag der von Herrn Acciardi im Ausgangsrechtsstreit geltend gemachten Leistung zu gewähren.

    27.

    Gewichtiger scheint mir die Frage, ob sich diese Auslegung mit den in der IOAW festgelegten besonderen Bedingungen für die Gewährung der Leistungen in Einklang bringen läßt. Wie wir bereits gesehen haben, schreibt Artikel 26 IOAW vor, daß der Begünstigte und sein Ehegatte grundsätzlich verpflichtet sind, nach einer Beschäftigung zu suchen. Es leuchtet ein, daß Frau Acciardi nicht in der Lage sein dürfte, die sich aus dieser Vorschrift für sie ergebenden Obliegenheiten in den Niederlanden zu erfüllen.

    Die Kommission hat in ihrer schriftlichen Stellungnahme ausgeführt, daß sich diese Schwierigkeiten durch eine entsprechende Anwendung der in den Rechtssachen Bronzino ( 20 ) und Gatto ( 21 ) entwickelten Grundsätze lösen ließe. In diesen Rechtssachen ging es um die Frage, ob ein in Deutschland lebender Wanderarbeitnehmer einen Anspruch auf Zahlung eines Kindergeldes für arbeitslose Kinder im Alter von 16 bis 20 Jahren hatte, auch wenn diese Kinder im Ausland lebten. Die Bundesregierung machte in diesen Verfahren geltend, daß die nach deutschem Recht vorgesehene Beschränkung der Leistung auf in Deutschland lebende Kinder sachlich gerechtfertigt sei. Die deutschen Behörden seien nur dann in der Lage, Ausbildungs-oder Arbeitsstellen zu vermitteln, wenn der Jugendliche der Berufsberatung oder Arbeitsvermittlung in Deutschland zur Verfügung stehe. Sähe man die deutschen Behörden in solchen Fällen als zur Gewährung von Kindergeld verpflichtet an, bestünde für die Arbeitsvermittlung in anderen Mitgliedstaaten kein besonderes Interesse, die betreffende Person schnell und vorrangig zu vermitteln ( 22 ).

    Der Gerichtshof entschied, daß es genüge, wenn das Kind der Arbeitsvermittlung in dem Staat zur Verfügung stehe, in dem es wohnt ( 23 ). Den Einwand der Bundesregierung, daß es damit den deutschen Behörden unmöglich gemacht werde, sich durch die Vermittlung eines Arbeitsplatzes an das Kind von ihrer Leistungspflicht zu befreien, wies der Gerichtshof zurück. Er bemerkte jedoch zugleich, daß dieses Argument „im Bereich der Arbeitslosenunterstützung seine Berechtigung haben mag“ ( 24 ).

    Ich bin wie die Kommission der Ansicht, daß es im vorliegenden Fall ausreicht, wenn Frau Acciardi den mit der Arbeitsvermittlung betrauten Behörden in Italien zur Verfügung steht. Die leisen Bedenken, die man insoweit der soeben zitierten Stelle des Urteils im Falle Bronzino entnehmen könnte, wären im vorliegenden Fall nicht angebracht, wie sich aus folgenden Überlegungen ergibt: Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Berücksichtigung des im Ausland lebenden Ehegatten dazu führt, daß auch dessen Einkünfte bei der Berechnung der Leistungen nach der IOAW berücksichtigt werden. Es ist durchaus möglich, daß diese Berechnungsweise für den in den Niederlanden lebenden arbeitslosen Arbeitnehmer nachteiliger ist als die derzeit angewandte Methode ( 25 ). Darüber hinaus ist zu beachten, daß die in Artikel 26 Absatz 1 genannten Bedingungen für den Ehegatten nur in sehr eingeschränkter Weise gelten. Nach Artikel 26 Absatz 2 IOAW hat der Ehegatte die in Absatz 1 aufgezählten Obliegenheiten nur, wenn seine Wiedereingliederung in das Berufsleben aufgrund einer nicht lange zurückliegenden Tätigkeit „billigerweise“ erwartet werden kann; liegt die letzte Berufstätigkeit des Ehegatten mehr als zwei Jahre zurück, so treffen ihn diese Obliegenheiten überhaupt nicht. Im Unterschied zu dem in den Rechtssachen Bronzino und Gatto vorliegenden Sachverhalt kann sich der niederländische Träger hier auch nicht nur durch die Vermittlung einer Stelle an den Ehegatten von der Leistungspflicht befreien: Wie wir gesehen haben, genügt es, wenn dem arbeitslosen Arbeitnehmer selbst eine Stelle mit einem entsprechenden Einkommen vermittelt wird.

    III — Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot

    28.

    Die dritte Vorlagefrage betrifft die Frage eines möglichen Verstoßes gegen das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, hat der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikels 7 EWG-Vertrag im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Artikel 48 EWG-Vertrag eine besondere Ausprägung erfahren. Dieser Artikel wiederum wurde durch die Verordnung Nr. 1612/68 durchgeführt, nach deren Artikel 7 Absatz 2 ein Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat im Aufnahmemitgliedstaat die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießt ( 26 ). Die Vorlagefrage zielt daher auf die Auslegung des Artikels 7 Absatz 2 dieser Verordnung ab.

    29.

    Da das vorlegende Gericht diese Frage jedoch nur für den Fall gestellt hat, daß die erste Vorlagefrage zu verneinen sein sollte, erübrigt es sich nach der von mir vertretenen Auffassung, auf diese Frage einzugehen. Für den Fall, daß Sie insoweit anderer Ansicht sein sollten, werde ich im folgenden hilfsweise auf die mit dieser Frage aufgeworfenen Probleme eingehen.

    Dabei ist zu beachten, daß eine Antwort auf die dritte Frage nicht nur dann geboten wäre, wenn die erste Vorlagefrage zu verneinen wäre (d. h., wenn die Leistungen nach der IOAW als Leistungen der Sozialhilfe einzustufen wären). Wie Herr Acciardi vortragen hat lassen, wäre eine Beantwortung dieser Frage auch dann sinnvoll, wenn die erste Frage (wie von mir vorgeschlagen) zu bejahen wäre, jedoch die zweite Frage verneint würde. Was die zuletzt genannte Konstellation (auf die ich im folgenden nicht näher eingehen werde) betrifft, darf darauf hingewiesen werden, daß es durchaus möglich ist, daß eine Leistung sowohl von der Verordnung Nr. 1408/71 wie auch von der Verordnung Nr. 1612/68 erfaßt wird ( 27 ).

    30.

    Nach Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 hat ein Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat in dem Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, Anspruch auf die gleichen „sozialen und steuerlichen Vergünstigungen“ wie die inländischen Arbeitnehmer. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes erfaßt dieser Begriff alle Vergünstigungen,

    „die — ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht — den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnortes im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern“. ( 28 )

    Diese Begriffsbestimmung ist so weit gefaßt, daß sie auch Sozialhilfeleistungen zu erfassen geeignet ist ( 29 ).

    31.

    Im vorliegenden Fall braucht auf diese Frage nicht weiter eingegangen zu werden, da die niederländische Regierung selbst geltend gemacht hat, daß die Leistungen nach der IOAW als Vergünstigungen im Sinne des Artikels 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 zu betrachten seien. Der Vertreter der niederländischen Regierung hat dies zwar gegen Ende der mündlichen Verhandlung auf eine etwas merkwürdige Weise zu relativieren gesucht, indem er zu bedenken gab, daß es sich bei Herrn Acciardi möglicherweise nicht (mehr) um einen „Arbeitnehmer“ im Sinne dieser Vorschrift handle. Selbst wenn man dieses Argument gelten ließe, würde sich an dem Ergebnis nichts ändern, kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß die Arbeitslosigkeit von Herrn Acciardi an seiner Eigenschaft als Arbeitnehmer im Sinne des Gesetzes nichts ändert.

    32.

    Die niederländische Regelung stellt nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht auf die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen ab. Ein arbeitsloser Arbeitnehmer mit niederländischer Staatsangehörigkeit, der nicht in den Niederlanden wohnt, ist daher nicht zum Bezug von Leistungen nach der IOAW berechtigt, auch wenn er alle sonstigen Bedingungen erfüllt. Haben sowohl der arbeitslose Arbeitnehmer wie auch sein Ehegatte die niederländische Staatsangehörigkeit, so wird auch dieser Arbeitnehmer als Alleinstehender behandelt, wenn sein Ehegatte im Ausland lebt. Antragsteller niederländischer Staatsangehörigkeit und solche aus anderen Mitgliedstaaten werden also in gleicher Weise behandelt.

    33.

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbieten die Vorschriften über die Gleichbehandlung freilich „nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“ ( 30 ). Da das Problem, daß die Familienangehörigen außerhalb der Niederlande wohnen, sich im wesentlichen für die Wanderarbeitnehmer stellen dürfte ( 31 ), ließe sich die Ansicht vertreten, daß die Regelung der IOAW zu einer versteckten Diskriminierung von Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten führt.

    34.

    Ich bin allerdings der Auffassung, daß eine solche Schlußfolgerung im vorliegenden Fall nicht angemessen wäre, da die Anknüpfung der IOAW an den Wohnsitz sachlich gerechtfertigt erscheint. Handelt es sich bei den Leistungen nach der IOAW um Leistungen der Sozialhilfe ( 32 ), so ist es sachgerecht, daß diese dem Unterhalt der Personen dienen sollen, die auf dem Gebiet des betroffenen Staates wohnen. Die niederländische Regierung hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Regelungen über Sozialhilfe typischerweise auf den Wohnsitz (oder den Aufenthalt) des Betroffenen im Inland abstellen.

    Nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 haben der Ehegatte und bestimmte weitere Angehörige des betroffenen Arbeitnehmers das Recht, bei ihm Wohnung zu nehmen. Machen sie von diesem Recht Gebrauch, so kommen dem Betroffenen die Leistungen nach der IOAW in voller Höhe zugute. Tun sie dies nicht, so erscheint es nicht unbillig, sie erforderlichenfalls auf die Unterstützung durch den Staat zu verweisen, in dem sie wohnen.

    35.

    Dieses Ergebnis läßt sich meines Erachtens auch auf die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes stützen. Im Falle Hoeckx zum Beispiel ging es um eine Leistung, die nicht in den Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fiel; diese Leistung wurde nach der belgischen Regelung Angehörigen anderer Mitgliedstaaten nur gewährt, wenn diese zuvor mindestens fünf Jahre in Belgien gelebt hatten. Der Gerichtshof entschied auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68, daß die Gewährung einer solchen sozialen Vergünstigung nicht davon abhängig gemacht werden dürfe, daß der Betroffene „während eines bestimmten Zeitraums tatsächlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gewohnt hat, wenn dies bei Angehörigen dieses Mitgliedstaats nicht gefordert wird“ ( 33 ).

    Im Falle Bemini ging es um die Frage, ob die Niederlande verpflichtet waren, Leistungen an eine italienische Staatsangehörige zu gewähren, die in Italien studierte. Nach niederländischem Recht bestand ein Anspruch auf Förderung nur für niederländische Staatsangehörige sowie (unter bestimmten Bedingungen) für ausländische Studenten mit Wohnsitz in den Niederlanden. Auch in diesem Falle stellte der Gerichtshof darauf ab, daß das Wohnsitzerfordernis nicht für die Angehörigen des betroffenen Mitgliedstaats (den Niederlanden) galt ( 34 ).

    36.

    Eine Bestätigung für die Annahme, daß die Gewährung von Leistungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 davon abhängig gemacht werden kann, daß die betreffende Person ihren Wohnsitz in dem Staat hat, der diese Leistungen gewährt, findet sich auch in dem Urteil in der Rechtssache Frascogna ( 35 ). In diesem Falle ging es um die Frage, ob eine italienische Staatsangehörige Anspruch auf eine vom französischen Recht vorgesehene besondere Altersbeihilfe hatte. Die Antragstellerin lebte in Frankreich bei ihrem Sohn, der dort als Arbeitnehmer tätig war. Nach französischem Recht wurde die Leistung an französische Staatsangehörige gewährt. Ausländer waren nur anspruchsberechtigt, wenn sie aus einem Staat stammten, der mit Frankreich vertraglich die Gegenseitigkeit vereinbart hatte oder wenn sie mindestens 15 Jahre in Frankreich gewohnt hatten. In jedem Falle mußte der Betroffene in Frankreich ansässig sein.

    Der Gerichtshof entschied auf der Grundlage von Artikel 7 Absatz 2, daß „Familienangehörige aufsteigender Linie eines Arbeitnehmers aus einem anderen Mitgliedstaat nicht schlechter gestellt werden dürfen, wenn sie von ihrem Recht, bei dem Arbeitnehmer Wohnung zu nehmen, das ihnen gemäß Artikel 10 der Verordnung Nr. 1612/68 zusteht, Gebrauch gemacht haben“ ( 36 ).

    37.

    In der Rechtssache Kommission/Luxemburg ( 37 ) hat Generalanwalt Jacobs die Auffassung vertreten, daß Luxemburg das Recht hatte, die Gewährung der Geburtsbeihilfe davon abhängig zu machen, daß die Mutter zur Zeit der Geburt ihren Wohnsitz in Luxemburg hatte ( 38 ).

    38.

    Die Kommission hat hingegen in der mündlichen Verhandlung den Standpunkt vertreten, daß sich der Anspruch von Herrn Acciardi auch auf Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 stützen lasse. Sie hat zur Begründung dieser Auffassung insbesondere auf einen von ihr im Jahre 1990 vorgelegten Vorschlag zur Änderung dieser Verordnung verwiesen ( 39 ). Dieser Entwurf sieht vor, dem Artikel 7 der Verordnung folgenden Absatz 5 neu einzufügen:

    „Der Mitgliedstaat, dessen Rechts-und Verwaltungsvorschriften Rechte einräumen oder die Gewährung sozialer oder steuerlicher Vergünstigungen von bestimmten Gegebenheiten oder Umständen abhängig machen, berücksichtigt, soweit erforderlich, dieselben Gegebenheiten oder Umstände in jedem anderen Mitgliedstaat, als bestünden sie im eigenen Hoheitsgebiet.“

    Mir scheint, daß dieser Vorschlag — der vom Gesetzgeber noch nicht aufgegriffen worden ist — für die Entscheidung des vorliegenden Falles ohne Bedeutung ist. Die Auffassung der Kommission würde dazu führen, daß die Unterschiede zwischen den Verordnungen Nr. 1408/71 und 1612/68, die nun einmal bestehen ( 40 ), in diesem Punirte eingeebnet würden.

    39.

    Auf die dritte Vorlagefrage wäre damit zu antworten, daß eine Regelung wie die der IOAW keine Diskriminierung im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68 darstellt.

    C —Schlußantrag

    40.

    Ich schlage Ihnen daher vor, auf die Fragen des Raad van State wie folgt zu antworten:

    1)

    Eine Regelung wie die der Wet inkomensvoorziening oudere en gedeeltelijk arbeidsongeschikte werkloze werknemers (IOAW) fällt in den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71.

    2)

    Artikel 68 Absatz 2 Satz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ist so auszulegen, daß er bei der Gewährung von Leistungen nach einem Gesetz wie der IOAW einer Bestimmung entgegensteht, nach der bei der Berechnung der Leistungen ein Ehegatte, der in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, nicht berücksichtigt wird.


    ( *1 ) Originalsprache: Deutsch.

    ( 1 ) Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-und abwandern (ABl. L 149, S. 2) in der Neufassung durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 vom 2. Juni 1983, ABl. L 230 vom 22. August 1983, S.6, zuletzt geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 1249/92 vom 30. April 1992 (ABl. L 136, S. 28).

    ( 2 ) Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2).

    ( 3 ) Zur Klarstellung sei angemerkt, daß die Vorteile dieses Gesetzes zwei Kategorien von Personen zugute kommenälteren Arbeitslosen einerseits und teilweise arbeitsunfähigen Arbeitslosen andererseits.

    ( 4 ) Die Einstufung als Arbeitnehmer oline Kind ist —wie der Vertreter der niederländischen Regierung während der mündlichen Verhandlung klargestellt hat — auf Artikel 3 Absatz 7 IOAW gegründet. Nach dieser Bestimmung gilt eine Person, die als eigenes Kind dem Haushalt einer dritten Person angehört, nicht als „Kind“ i. S. d. IOAW. Die Anwältin von Herrn Acciardi hat während der Verhandlung vor dem Gerichtshof erklärt, daß Herr Acciardi in dem Ausgangsrechtsstreit hilfsweise geltend gemacht habe, er sei wenigstens als Arbeitnehmer mit Kind einzustufen. Es ist unstreitig, daß die Vorlagefragcn dieses Problem nicht berühren, so daß der Gerichtshof dazu nicht Stellung zu nehmen hat. Es darf jedoch angemerkt werden, daß die nachstehenden Erwägungen zu den Vorlagefragcn auch für die Frage nach der eventuellen Berücksichtigung des Sohnes relevant sein werden.

    ( 5 ) Siehe Ziffer 17 der schriftlichen Stellungnahme der Kommission vom 9. Juni 1992.

    ( 6 ) Urteil vom 3. Juni 1992 in der Rechtssache C-45/90 (Paletta, Sig. 1992, I-3423, Randnr. 16). Vgl. zuletzt das Urteil vom 10. März 1993 in der Rechtssache C-111/91 (Kommission/Luxemburg, Slg. 1993,I-817, Randnr. 28)

    ( 7 ) Urteil vom 20. Juni 1991 in der Rechtssache C-356/89 (Newton, Slg. 1991, I-3017, Randnr. 12). Vgl. auch Urteil vom 28. Mai 1974 in der Rechtssache 187/73 (Callemeyn, Slg. 1974, 553, Randnr. 6) und Urteil vom 13. November 1974 in der Rechtssache 39/74 (Costa, Slg. 1974, 1251, Randnr. 6).

    ( 8 ) Urteil vom 10. März 1993 (a. a. O., Fußnote 6, Randnr. 29). Vgl. auch das Urteil vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-78/91 (Hughes, Slg. 1992,I-4839, Randnr. 15).

    ( 9 ) So die im Falle Callemeyn (a. a. O., Fußnote 7, Randnr. 7) verwendete Formulierung.

    ( 10 ) So besteht z. B. in Deutschland ein einklagbarer Anspruch auf Sozialhilfe.

    ( 11 ) Urteil vom 27. März 1985 in der Rechtssache 122/84 (Slg. 1984, 1027).

    ( 12 ) A. a. O., Fußnote 11, Randnr. 20).

    ( 13 ) Urteil vom 5. Mai 1983 in der Rechtssache 139/82 (Slg. 1983, 1427).

    ( 14 ) A. a. O. (Fußnote 13, Randnr. 11).

    ( 15 ) Auch hinsichtlich der Anrechenbarkeit des Einkommens enthält die IOAW besondere, für die Betroffenen im Vergleich mit der ABW günstigere Vorschriften (vgl. Artikel 8 IOAW).

    ( 16 ) Vgl. etwa das Urteil vom 24. Februar 1987 in den verbundenen Rechtssachen 379/85 bis 381/85 und 93/86 (Giletti, Slg. 1987, 955, Randnr. 7).

    ( 17 ) Urteil vom 29. November 1977 in der Rechtssache 35/77 (Beerens, Slg. 1977, 2249, Randnrn. 9 f).

    ( 18 ) Urteil vom 27. Januar 1981 in der Rechtssache 70/80 (Vigier, Slg. 1981, 229, Randnr. 15).

    ( 19 ) Siehe oben, Ziffer 3.

    ( 20 ) Urteil vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C-228/88 (Slg. 1990, I-531).

    ( 21 ) Urteil vom 22. Februar 1990 in der Rechtssache C-12/89 (Slg. 1990, I-557) (abgekürzte Veröffentlichung).

    ( 22 ) Vgl. den Sitzungsbericht in der Rechtssache Bronzino (Slg. 1990, I-537).

    ( 23 ) Urteil im Fall Bronzino (a. a. O., Fußnote 20, Randnr. 12).

    ( 24 ) A. a. O. (Fußnote 20, Randnr. 14). In den Rechtssachen Bronzino und Gatto ging es um die Auslegung des Artikels 73 der Verordnung Nr. 1408/71 (der „Familienleistungen“ zum Gegenstand hat).

    ( 25 ) Verfügt dieser Ehegatte über ein entsprechend hohes Einkommen, kann der Anspruch des arbeitslosen Arbeitnehmers ganz wegfallen.

    ( 26 ) Vgl. Urteil vom 18. Juni 1987 in der Rechtssache 316/85 (Lebon, Slg. 1987, 2811, Randnr. 10).

    ( 27 ) Vgl. das bereits zitierte Urteil vom 10. März 1993 (a. a. O., Fußnote 6, Randnr. 21) und die Schlußanträge von Generalanwalt Jacobs in dieser Rechtssache vom 16. Dezember 1992 (insbesondere Nrn. 32 bis 34). Siehe auch meine Schlußanträge vom 12. Januar 1993 zum Urteil vom 27. Mai 1993 in der Rechtssache C-310/91 (Schmid, Sig. 1993, I-3011, Nrn. 51 ff).

    ( 28 ) Vgl. etwa das Urteil vom 27. März 1985 in der Rechtssache 249/83 (Hoeckx, Slg. 1985, 973, Randnr. 20).

    ( 29 ) Vgl. Urteile vom 27. März 1985 in der Rechtssache 122/84, a.a.O. (Fußnote 11) und in der Rechtssache 249/83, a. a. O. (Fußnote 28), die eine Leistung betrafen, durch die allgemein der notwendige Lebensunterhalt sichergestellt werden sollte.

    ( 30 ) Urteil vom 12. Februar 1974 in der Rechtssache 152/73 (Sotgiu, Slg. 1974,153, Randnr. 11). Ebenso z. B. das Urteil vom 8. Mai 1990 in der Rechtssache C-175-88 (Biehl, Slg. 1990,I-1779, Randnr. 13) und das Urteil vom 10. März 1993 (a. a. O., Fußnote 6, Randnr. 9).

    ( 31 ) Vgl. hierzu das Urteil vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84 (Pinna (I), Slg. 1986, 1, Randnr. 24).

    ( 32 ) Ich darf noch einmal daran erinnern, daß ich im Rahmen der hilfsweisen Erörterung der dritten Vorlagefrage davon ausgehe, daß dies der Fall ist.

    ( 33 ) Urteil vom 27. März 1985 (a. a. O., Fußnote 28, Randnr. 25) (Hervorhebung von mir).

    ( 34 ) Urteil vom 26. Februar 1992 in der Rechtssache C-3/90 (Slg. 1992, I-1071, Randnr. 28).

    ( 35 ) Urteil vom 6. Juni 1985 in der Rechtssache 157/84 (Slg. 1985, 1739).

    ( 36 ) A. a. O. (Fußnote 35, Randnr. 23) (Hervorhebungen von mir). Es ist bemerkenswert, daß der Gerichtshof auch in diesem Fall nicht das Wohnsitzkrilerium als solches beanstandete. Hervorgehoben wurde vielmehr, daß „die Gewährung einer solchen sozialen Vergünstigung nicht davon abhängig gemacht werden darf, daß der Betroffene eine bestimmte Anzahl von Jahren im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gewohnt hat, wenn eine solche Voraussetzung für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist“ (a. a. O., Randnr. 25).

    ( 37 ) A. a. O. (Fußnote 6), Es ging in diesem Fall um die Geburtsbcilulfc und die Muttcrschaftsbeihilfe des luxemburgischen Rechts.

    ( 38 ) Schlußanträge vom 16. Dezember 1992, Nr. 25.

    ( 39 ) Geänderter Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 11. April 1990 (ABl. C 119, S. 10).

    ( 40 ) Vgl. etwa meine Schlußanträge in der Rechtssache 375/85 (Campana, Slg. 1987, 2395, 2403 Nr. 39).

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