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Document 61991CV0002

Gutachten des Gerichtshofes vom 19. März 1993.
Gutachten nach Artikel 228 Absatz 1 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag - Übereinkommen Nr. 170 der Internationalen Arbeitsorganisation über Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit.
Gutachten 2/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 I-01061

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1993:106

GUTACHTEN 2/91 DES GERICHTSHOFES

19. März 1993

„Übereinkommen Nr. 170 der Internationalen Arbeitsorganisation über Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit“

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat am 21. August 1991 beim Gerichtshof einen Antrag auf Gutachten gemäß Artikel 228 Absatz 1 Unterabsatz 2 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gestellt; diese Vorschrift lautet wie folgt:

„Der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat kann zuvor ein Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeit des beabsichtigten Abkommens mit diesem Vertrag einholen. Ist dieses Gutachten ablehnend, so kann das Abkommen nur nach Maßgabe des Artikels 236 in Kraft treten.“

I — Ziel des Antrags auf Gutachten

Mit diesem Antrag ersucht die Kommission den Gerichtshof um ein Gutachten über die Vereinbarkeit des Übereinkommens Nr. 170 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit mit dem EWG-Vertrag, insbesondere über die Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluß dieses Übereinkommens und die sich daraus für die Mitgliedstaaten ergebenden Folgen.

Das Übereinkommen Nr. 170 wurde am 25. Juni 1990 auf der 77. Sitzung der Internationalen Arbeitskonferenz beschlossen.

II — Verfahren

Gemäß Artikel 107 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes wurde der Antrag auf Gutachten dem Rat und den Mitgliedstaaten zugestellt. Schriftliche Stellungnahmen haben die Kommission, der Rat, das Königreich Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, die Griechische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, Irland, das Königreich der Niederlande und das Vereinigte Königreich abgegeben.

Mit Schreiben, das am 30. April 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht wurde, hat die Kommission auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofes geantwortet. In einer öffentlichen Sitzung am Sitze des Gerichtshofes wurden am 30. Juni 1992 die Kommission, der Rat, die genannten Mitgliedstaaten sowie das Königreich Belgien gehört.

Gemäß Artikel 108 §2 der Verfahrensordnung hat der Gerichtshof die Generalanwälte am 23. Oktober 1992 in nichtöffentlicher Sitzung gehört.

III — Die IAO

Die IAO wurde 1919 gegründet, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und die soziale Gerechtigkeit zu fördern. Mitglieder der IAO, einer Unterorganisation der Vereinten Nationen, können die Mitglieder der Vereinten Nationen sowie andere Staaten werden, die gemäß der Verfassung der IAO zugelassen werden. Organe der IAO sind die allgemeine Konferenz von Vertretern der Mitglieder (Konferenz), der Verwaltungsrat und das Internationale Arbeitsamt (IAA). Wesentliche Aufgabe der Konferenz, des obersten Organs der IAO, ist es, Anträge in Form eines internationalen Übereinkommens oder einer Empfehlung anzunehmen. Die Konferenz ist dreigliedrig zusammengesetzt: Jedes Mitglied verfügt über vier Vertreter, nämlich zwei Regierungsdelegierte sowie einen Arbeitgeber- und einen Arbeitnehmervertreter. Jeder Delegierte hat das Recht, für seine Person über alle Fragen abzustimmen, über die die Konferenz berät (Artikel 4 Absatz 1 der Verfassung der IAO).

Das Verfahren der Annahme eines Übereinkommens oder einer Empfehlung umfaßt folgende Phasen: Beschließt der Verwaltungsrat der IAO, die Definition von Normen auf einem bestimmten Gebiet in die Tagesordnung der Konferenz aufzunehmen, so erstellt das IAA einen Bericht auf der Grundlage der Antworten, die die Mitgliedstaaten auf den an sie vom IAA gerichteten Fragebogen gegeben haben. Der Bericht des IAA wird in erster Lesung bei der Jahressitzung der Konferenz erörtert. Beschließt die Konferenz, ein Übereinkommen oder eine Empfehlung anzunehmen, so erstellt das IAA die entsprechenden Texte und stellt sie den Regierungen zur Stellungnahme zu. Für die Annahme sowohl eines Übereinkommens als auch einer Empfehlung bedarf es einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen der anwesenden Delegierten (Artikel 19 Absatz 2 der Verfassung der IAO); nur die Mitglieder können ein Übereinkommen ratifizieren (Artikel 19 Absatz 5 Buchstabe d).

Die Mitglieder legen das angenommene Übereinkommen oder die angenommene Empfehlung der zuständigen nationalen Stelle im Hinblick auf ihre Verwirklichung vor. Sie teilen dem Generaldirektor des IAA die Stelle oder die Stellen, die sie für zuständig erachten, ebenso mit wie die von diesen getroffenen Entscheidungen (Artikel 19 Absatz 5 Buchstaben b und c, Absatz 6 Buchstabe b und c der Verfassung der IAO).

Nach der Geschäftsordnung der Konferenz und dem am 2. Juni 1976 von der Konferenz angenommenen Übereinkommen Nr. 144 über dreigliedrige Beratungen zur Förderung der Durchführung internationaler Arbeitsnormen sind die Sozialpartner u. a. zu hören, um zu den Antworten der Regierungen auf an sie gerichteten Fragebögen Stellung zu nehmen (Artikel 39 Absatz 1 der Geschäftsordnung der Konferenz; Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe a des Übereinkommens Nr. 144), weiter zu Stellungnahmen der Regierungen zu Textentwürfen, die von der Konferenz zu erörtern sind (Artikel 39 Absatz 6 der Geschäftsordnung der Konferenz) sowie zu Vorschlägen, die der oder den zuständigen Stellen gemäß Artikel 19 der Verfassung der IAO zu unterbreiten sind (Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe b des Übereinkommens Nr. 144).

Im übrigen sieht die Verfassung der IAO ein Überwachungsverfahren unter Teilnahme der Sozialpartner vor, das die Durchführung der Übereinkommen durch die Mitgliedstaaten betrifft, die sie ratifiziert haben (Artikel 22 bis 34 der Verfassung der IAO).

Nach Artikel 19 Absatz 8 der Verfassung der IAO darf schließlich „in keinem Fall ... die Annahme eines Übereinkommens oder einer Empfehlung durch die Konferenz oder die Ratifikation des Übereinkommens durch ein Mitglied so ausgelegt werden, als würde dadurch irgendein Gesetz, Rechtsspruch, Gewohnheitsrecht oder Vertrag berührt, die den beteiligten Arbeitnehmern günstigere Bedingungen gewährleisten als sie in dem Übereinkommen oder in der Empfehlung vorgesehen sind“.

IV — Die Beteiligung der Gemeinschaft an der Ausarbeitung von Übereinkommen der IAO

Die Frage der Beteiligung der Gemeinschaft — die nicht Mitglied der IAO ist, aber Beobachterstatus hat — an der Aushandlung von Übereinkommen, die im Rahmen der IAO geschlossen werden, stellte sich zum erstenmal anläßlich des Übereinkommens Nr. 153 über die Arbeits- und Ruhezeiten beim Straßentransport (1977—1979), einem Gebiet, das Gegenstand der Verordnung (EWG) Nr. 543/69 vom 25. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr (ABl. L 77, 49) war. Um die Beteiligung der Gemeinschaft an den Beratungen zu erleichtern, legte das IAA der Konferenz ein Arbeitspapier vor. Die darin vorgeschlagenen Lösungen wurden jedoch von einigen Mitgliedern angesichts der Reaktion ihrer Sozialpartner nicht akzeptiert; diese befürchteten eine Schmälung ihres Einflusses im Rahmen der Konferenz.

Dieses Arbeitspapier, das der Verwaltungsrat des IAA am 12. Februar 1981 erarbeitet hatte, wurde mit einem anderen Papier vom 31. Mai 1989 ergänzt. Nach diesen Papieren konnten die Mitgliedstaaten die Kommission ermächtigen, in ihrem gemeinsamen Namen Änderungen vorzuschlagen, konnte die Stelle nach Artikel 19 der Verfassung der Rat sein und konnte schließlich die Ratifizierung sich aus einer entsprechenden Mitteilung der Gemeinschaft ergeben, sofern die zwölf Mitgliedstaaten zuvor mitgeteilt hatten, daß diese Mitteilung als Ratifizierung durch die Zwölf gelte.

Außerdem wird in diesen Papieren noch die Beachtung der von den Mitgliedstaaten, die ein Übereinkommen ratifiziert haben, übernommenen Verpflichtungen angesprochen. Dazu heißt es, nur die Mitgliedstaaten könnten für eine Mißachtung dieser Verpflichtungen haftbar gemacht werden; das gelte auch, wenn sich die Verletzung eines solchen Übereinkommens aus einer mit Mehrheit beschlossenen Gemeinschaftshandlung ergebe.

Die Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaft im Rahmen der IAO stellte sich erneut bei der Ausarbeitung des Übereinkommens Nr. 162 über die Sicherheit bei der Verwendung von Asbest (1983—1986), da diese Materie auf Gemeinschaftsebene durch vier Richtlinien geregelt war. Ohne die Zuständigkeit der Gemeinschaft zu bestreiten, waren einige Mitgliedstaaten der Ansicht, die Verfassung der IAO erlaube der Gemeinschaft als solcher nicht, an der Konferenz teilzunehmen; der Rat beschloß daher, daß die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten die Leistungen der Gemeinschaft auf diesem Gebiet geltend machen und sich dabei auf die einschlägigen Richtlinien stützen sollten. Die Kommission hat gegen diesen Beschluß des Rates Nichtigkeitsklage mit der Begründung erhoben, er verletze Artikel 228 EWG-Vertrag. Sie nahm ihre Klage jedoch zurück, nachdem der Rat am 22. Dezember 1986 einen Beschluß erlassen hatte, der das Problem der Beteiligung der Gemeinschaft an Verhandlungen im Rahmen der IAO im großen und ganzen zu ihrer Zufriedenheit regelte.

Dieser Beschluß des Rates, der im Einvernehmen mit der Kommission gefaßt wurde, regelte lediglich die Fälle der ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft. Er sieht die vollständige Beachtung der dreigliedrigen Beratung nach dem Übereinkommen Nr. 144 und der Autonomie der Sozialpartner vor. Die Antwort der Gemeinschaft auf den Fragebogen der IAO wird vom Rat auf Vorschlag der Kommission unter Berücksichtigung der Konsultationen mit den Sozialpartnern beschlossen. Zur Vorbereitung der ersten Lesung eines Übereinkommensentwurfs schlägt die Kommission dem Rat vor, einen Beschluß zu fassen, der die Kommission ermächtigt, Verhandlungen zu führen und dieser Verhandlungsdirektiven vorgibt. Bei der Konferenz tritt die Kommission als Sprecher der Gemeinschaft auf und nimmt an Ort und Stelle eine enge Koordinierung mit den Mitgliedstaaten vor. Die Vertreter der Mitgliedstaaten behalten das Recht, in den Plenarsitzungen der Konferenz das Wort zu ergreifen.

Als die Kommission im Juli 1988 die Mitgliedstaaten gemäß dem Ratsbeschluß vom 22. Dezember 1986 ersuchte, auf den Fragebogen der IAO zu dem Übereinkommen Nr. 170 zu antworten, bestritten mehrere Mitgliedstaaten die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft in dieser Angelegenheit. Sie haben folglich der IAO ihre Antworten zugesandt und damit eine Übermittlung auf Gemeinschaftsebene verhindert. Da die Kommission an der ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft keine Zweifel hatte, hat sie dem Rat am 12. Mai 1989 eine Mitteilung übersandt, in der sie um eine Ermächtigung zu Verhandlungen über das Übereinkommen Nr. 170 nachsuchte.

Am 30. November 1989 faßte der Rat jedoch einen Beschluß, mit dem er die Kommission ermächtigte, die Position der Gemeinschaft bei den fraglichen Verhandlungen in enger Abstimmung mit den Mitgliedstaaten zu vertreten. Diesen blieb es unbenommen, zu Punkten Stellung zu nehmen, die in die nationale Zuständigkeit fielen. Weiter wurde ein Verfahren festgelegt, mit dem Zuständigkeitsstreitigkeiten beigelegt werden können. Der Rat sah außerdem erforderlichenfalls eine Ergänzung des Beschlusses vom 22. Dezember 1986 im Einvernehmen mit der Kommission vor, um auch die Fälle der gemischten Zuständigkeit der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten zu regeln und Probleme zu vermeiden, die sich aus der Verfassung oder den Usancen der IAO ergeben könnten.

Nach der Annahme des Übereinkommens Nr. 170 übersandte die Kommission dem Rat eine Mitteilung, in der sie ihre Auffassung kundtat, die Mitgliedstaaten seien verpflichtet, den Direktor des IAA davon zu unterrichten, daß die zuständigen Stellen im Sinne des Artikels 19 Absatz 5 Buchstabe c der Verfassung der IAO die Gemeinschaftsorgane seien. Bei dieser Gelegenheit weigerten sich mehrere nationale Delegationen im Rat, die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluß des Übereinkommens zu akzeptieren.

V — Inhalt des Übereinkommens

Das Übereinkommen Nr. 170 betrifft den Schutz der Arbeitnehmer vor möglichen schädlichen Folgen durch die Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit.

Das Übereinkommen Nr. 170 besteht aus sieben Teilen.

Teil I regelt den Geltungsbereich des Übereinkommens. Es gilt für alle Wirtschaftszweige, in denen chemische Stoffe verwendet werden (Artikel 1 Absatz 1). Die Mitglieder, die das Übereinkommen ratifizieren, können jedoch unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Wirtschaftszweige, Betriebe oder Erzeugnisse von der Anwendung des Übereinkommens ausnehmen. Das ist nur nach Anhörung der in Betracht kommenden maßgebenden Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zulässig (Artikel 1 Absatz 2).

Teil II enthält allgemeine Grundsätze. Nach den Artikeln 3 und 4 müssen die Mitglieder die genannten Verbände zu Maßnahmen hören, die zur Durchführung des Übereinkommens zu treffen sind bzw. mit denen eine in sich geschlossene Politik auf dem Gebiet der Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit festgelegt, durchgeführt und regelmäßig überprüft wird. Artikel 5 lautet wie folgt: „Sofern es aus Gründen der Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist, muß die zuständige Stelle befugt sein, die Verwendung bestimmter gefährlicher chemischer Stoffe zu untersagen oder einzuschränken oder eine vorherige Meldung und Genehmigung zu verlangen, bevor solche chemischen Stoffe verwendet werden.“

Teil III betrifft die Klassifizierung der chemischen Stoffe; er enthält Regeln über ihren Transport, ihre Etikettierung und Kennzeichnung, die Ausarbeitung von Sicherheitsdatenblättern, die den Arbeitgebern zur Verfügung zu stellen sind, und die Verantwortlichkeiten der Lieferanten auf diesem Gebiet (Artikel 6 bis 9).

Teil IV bestimmt die Verantwortlichkeiten der Arbeitgeber bei der Bestimmung der Identität der chemischen Stoffe (Etikettierung, Kennzeichnung und Verwendung von Sicherheitsdatenblättern für diese Stoffe), ihre Umfüllung in andere Behältnisse oder Ausrüstungen und die Exposition der Arbeitnehmer in bezug auf gefährliche chemische Stoffe (Artikel 10 bis 12). Die Arbeitgeber müssen die Arbeitnehmer durch geeignete Mittel vor Risiken aus der Verwendung gefährlicher chemischer Stoffe schützen und das Risiko aufgrund der Beseitigung solcher Stoffe, die nicht mehr benötigt werden, auf ein Mindestmaß herabsetzen (Artikel 13 und 14). Schließlich sind die Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitnehmer über die Gefahren der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit zu unterrichten und sie entsprechend auszubilden (Artikel 15 und 16).

Teil V regelt die Pflichten der Arbeitnehmer, nämlich mit ihren Arbeitgebern bei der Wahrnehmung der Verantwortlichkeiten der Arbeitgeber so eng wie möglich zusammenzuarbeiten und alle Vorschriften und Verfahren im Zusammenhang mit der Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit einzuhalten. Außerdem haben die Arbeitnehmer alle angemessenen Schritte zu unternehmen, um die sich aus der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit für sie selbst und für andere ergebenden Risiken auszuschließen oder auf ein Mindestmaß zu beschränken (Artikel 17).

Teil VI regelt die Rechte der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter. Nach dem Übereinkommen müssen die Arbeitnehmer das Recht haben, sich bei Gefahr infolge der Verwendung chemischer Stoffe in Sicherheit zu bringen, wenn sie hinreichenden Grund zu der Annahme haben, daß ein unmittelbares und erhebliches Risiko für ihre Sicherheit oder Gesundheit besteht; sie haben ihre Vorgesetzten unverzüglich zu informieren. Die Arbeitnehmer sind vor ungerechtfertigten Folgen der Wahrnehmung dieses Rechts oder anderer Rechte aus dem Übereinkommen zu schützen. Sie müssen weiter das Recht haben auf Informationen über die Identität der bei der Arbeit verwendeten chemischen Stoffe, die gefährlichen Eigenschaften solcher Stoffe, Vorsichtsmaßnahmen, Unterweisung und Ausbildung, weiter auf die auf Etiketten und in Kennzeichnungen enthaltenen Informationen und schließlich auf die Sicherheitsdatenblätter sowie alle sonstigen Informationen, die aufgrund dieses Übereinkommens aufbewahrt werden müssen (Artikel 18).

Teil VII regelt die Verantwortung der exportierenden Staaten. Wenn in einem exportierenden Mitgliedstaat alle oder einige Verwendungen gefährlicher chemischer Stoffe aus Gründen der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit verboten sind, hat dieser Staat diesen Umstand und die Gründe dafür jedem importierenden Land mitzuteilen (Artikel 19).

Die Artikel 20 ff. des Übereinkommens enthalten Verfahrensregelungen insbesondere über die Ratifizierung, die Kündigung und die Abänderung des Übereinkommens.

VI — Zusammenfassung der schriftlichen Erklärungen der Organe und der Mitgliedstaaten

A — Zulässigkeit

Nach Auffassung der Bundesrepublik Deutschland ist der Antrag auf Gutachten unstatthaft, da Artikel 228 Absatz 1 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag nur beabsichtigte Gemeinschaftsabkommen betreffe. So liege der vorliegende Fall nicht, da die Gemeinschaft nicht Mitglied der IAO sei und Artikel 19 Absatz 5 Buchstabe d der Verfassung der IAO die Ratifizierung von Übereinkommen auf die Mitglieder der IAO beschränke. Einem Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 durch die Gemeinschaft stehe auch die Struktur der IAO, nämlich ihre Dreigliedrigkeit, entgegen. Nach dem Geist der Verfassung der IAO und dem Übereinkommen Nr. 144 müßten die Beratungen mit den Sozialpartnern wirksam sein, da sie das Ziel hätten, den Sozialpartnern die Möglichkeit zu eröffnen, auf die jeweilige nationale Regierung Einfluß zu nehmen. Dieser Einfluß werde aber verringert, wenn die Haltung der Sozialpartner nur noch über die jeweilige Regierung den Gemeinschaftsorganen übermittelt werde. Darüber hinaus gebe es oft praktische Probleme. Zum einen seien die Fragebogen binnen sehr kurzer Zeit zu beantworten; zum anderen könnten die Regierungsvertreter die Anregungen der Sozialpartner nicht mehr berücksichtigen. Schließlich werde der Einfluß der Sozialpartner dadurch geschwächt, daß während der Verhandlungen auf der Konferenz der Vertreter der Kommission sich den Auffassungen der nationalen Sozialpartner weniger verpflichtet fühle als die Regierungsvertreter, die mit ihren Sozialpartnern ständig in Kontakt seien.

Auch nach Auffassung des Königreichs der Niederlande ist der Antrag auf Gutachten unzulässig, weil das Übereinkommen Nr. 170 nicht zwischen der Gemeinschaft und einem oder mehreren Staaten oder einer internationalen Organisation abgeschlossen werde. Auch könne die Gemeinschaft nicht Partei des Übereinkommens Nr. 170 werden, da sie nicht Mitglied der IAO sei. Eine weite Auslegung des Artikels 228 könne den Gerichtshof jedoch dazu veranlassen, den Antrag auf Gutachten für zulässig zu erachten.

Β — Zur Sache

1.

Nach Auffassung der Kommission und der Griechischen Republik ist nur die Gemeinschaft zum Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 zuständig.

Die Kommission beruft sich insoweit auf die Randnummern 17 und 22 des Urteils des Gerichtshofes vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70 (Kommission/Rat, AETR, Slg. 1971, 2263), in denen es heiße:

„Insbesondere sind in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft zur Verwirklichung einer vom Vertrag vorgesehenen gemeinsamen Politik Vorschriften erlassen hat, die in irgendeiner Form gemeinsame Rechtsnormen vorsehen, die Mitgliedstaaten [nicht mehr] ... berechtigt, mit dritten Staaten Verpflichtungen einzugehen, die diese Normen beeinträchtigen.“

„Zusammengenommen ergeben diese Bestimmungen, daß die Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der Gemeinschaftsorgane keine Verpflichtungen eingehen können, welche Gemeinschaftsrechtsnormen, die zur Verwirklichung der Vertragsziele ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.“

Die auf der Grundlage des Artikels 118a EWG-Vertrag erlassenen gemeinsamen Rechtsnormen könnten im Sinne dieses Urteils durch die von den Mitgliedstaaten im Rahmen der Übereinkommen der IAO eingegangenen Verpflichtungen beeinträchtigt werden. Diese Gefahr werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß die einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften ebenso wie die Vorschriften der Übereinkommen der IAO Mindestvorschriften seien.

In ihrer Antwort auf eine entsprechende Frage des Gerichtshofes führt die Kommission aus, die harmonische und schrittweise Anhebung der den Arbeitsplatz betreffenden Rahmenbedingungen für alle Arbeitnehmer der Gemeinschaft, die mit Artikel 118a angestrebt werde, lasse sich nur schwer mit internationalen Verpflichtungen der Staaten in Einklang bringen, die dazu führen würden, daß innerhalb der Gemeinschaft Gemeinschaftsrecht und partielle Abkommen nebeneinander bestünden, was die Autonomie des Gemeinschaftsgesetzgebers beeinträchtigen würde.

Es werde nämlich nicht immer möglich oder wünschenswert sein, auf Artikel 118a beruhende Vorschriften an Bestimmungen der IAO-Übereinkommen anzupassen; das treffe u.a. auf die Vorgabe des Artikels 118a Absatz 2 zu, daß den Klein- und Mittelbetrieben bei der Anwendung dieser Bestimmung keine unverhältnismäßig hohen Auflagen vorgeschrieben werden dürften, wie sie die Durchführung solcher Übereinkommen nach sich ziehen könne.

Aufgrund von Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Rahmen der IAO eingegangen seien, könnten sie auch Schwierigkeiten haben, den besonderen sozialen und technischen Bedingungen der Gemeinschaft besser angepaßte Bestimmungen zu erlassen. IAO-Übereinkommen seien nur alle zehn Jahre kündbar.

Die Gemeinschaft sei nur dann für den Abschluß eines völkerrechtlichen Übereinkommens ausschließlich zuständig, wenn das Gemeinschaftsrecht das fragliche Gebiet bereits zu einem erheblichen Teil erfasse. Da das vom Übereinkommen Nr. 170 erfaßte Gebiet bereits von mehreren Richtlinien abgedeckt wäre, die teils auf der Grundlage des Artikels 118a, teils auf der Grundlage der Artikel 100 und 100a EWG-Vertrag erlassen worden seien, sei dies hier der Fall.

Die Pflicht nach Artikel 3 des Übereinkommens Nr. 170, die Sozialpartner zu hören, sei eine Verfahrensvorschrift, deren Beachtung die Gemeinschaft sicherstellen könne. Im übrigen werde ein dreigliedrig zusammengesetzter Ausschuß, nämlich der Beratende Ausschuß für Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (errichtet mit Beschluß 74/325 EWG des Rates vom 27. Juni 1974, ABl. L 185, S. 15) bei der Vorbereitung von Gemeinschaftsmaßnahmen auf dem vom Übereinkommen erfaßten Gebiet regelmäßig gehört. Diejenigen Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 170, die nicht von Gemeinschaftsvorschriften erfaßt seien, seien gegenüber der Arbeitssicherheit nur Hilfsvorschriften.

Treffe die Gemeinschaft schließlich bei der Ausübung ihrer ausschließlichen Zuständigkeit im Rahmen der IAO auf Schwierigkeiten, so sei es Aufgabe der Mitgliedstaaten, gemeinsam im Interesse und für Rechnung der Gemeinschaft tätig zu werden.

Auch nach Auffassung der Griechischen Republik verfügt die Gemeinschaft über eine ausschließliche Zuständigkeit für den Abschluß des Übereinkommens Nr. 170. Alle seine Bestimmungen beträfen den Schutz der Arbeitnehmer und damit ein Ziel, das unter Artikel 118a EWG-Vertrag falle und bereits Anlaß zum Erlaß von zwölf Richtlinien gegeben habe. Jedoch solle der Gerichtshof den Gesamtmechanismus des Abschlusses und der Ratifizierung von IAO-Übereinkommen und dabei insbesondere den Punkt überprüfen, ob die Gemeinschaft im Namen der Mitgliedstaaten dieses Übereinkommen ausarbeiten, unterzeichnen, billigen und ratifizieren könne.

Nach Auffassung des Rates, der Bundesrepublik Deutschland, des Königreichs Spanien, des Königreichs Dänemark, der Französischen Republik, Irlands, des Königreichs der Niederlande und des Königreichs Belgien steht die Zuständigkeit für den Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 gleichzeitig der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zu. Die Bundesrepublik Deutschland, das Königreich Spanien und Irland leugnen die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem fraglichen Gebiet mit der Begründung, die von der Kommission angezogenen Randnummern des Urteils AETR beträfen nur den Fall, daß die Gemeinschaft im Rahmen einer gemeinsamen Politik tätig werde. Das sei bei Normen, die auf der Grundlage des Artikels 118a erlassen milden, nicht der Fall. Die Sozialpolitik sei nach wie vor im wesentlichen Sache der Mitgliedstaaten.

Nach Auffassung des Königreichs Spanien können die nach Artikel 100 und 100a erlassenen Richtlinien im vorliegenden Fall nicht herangezogen werden, da sie andere Ziele und Gebiete als diejenigen der Sozialpolitik beträfen.

Nach Auffassung des Rates, des Königreichs Dänemark, der Französischen Republik, des Königreichs der Niederlande und des Königreichs Belgien werden die auf der Grundlage des Artikels 118a erlassenen Vorschriften durch ein IAO-Übereinkommen, das die Mitgliedstaaten auf einem von diesen Vorschriften geregelten Gebiet schlössen, nicht im Sinne des Urteils AETR beeinträchtigt. Diese Vorschriften seien nämlich ebenso wie die IAO-Übereinkommen (Artikel 19 Absatz 8 der Verfassung der IAO) Mindestvorschriften (Artikel 118a Absatz 3). Also könnten die gemeinsamen Vorschriften nur beeinträchtigt werden, wenn die Gemeinschaft beschlösse, weniger strenge als die völkerrechtlichen Vorschriften einzuführen, ohne den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, einen höheren Schutz vorzusehen. So verhalte es sich im fraglichen Gebiet angesichts des Wortlauts des Artikels 118a Absatz 3 aber nicht.

Der Rat, die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Dänemark meinen weiter, die Gemeinschaft verfüge auf keinen Fall über die Zuständigkeit, Verpflichtungen auf dem Gebiet der dreigliedrigen Beratungen nach Artikel 3 und 4 des Übereinkommens Nr. 170 einzugehen. Insoweit seien die Mitgliedstaaten ausschließlich zuständig.

Dasselbe gilt nach Auffassung des Rates für die Verpflichtung, eine in sich geschlossene Politik auf dem Gebiet der Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit gemäß Artikel 4 des Übereinkommens vorzusehen, und für die Durchführung des Artikels 5, also die Übertragung der dort genannten Befugnisse auf die zuständigen nationalen Stellen.

Das Vereinigte Königreich trägt vor, die Zuständigkeiten der Gemeinschaft in der Sozialpolitik unterschieden sich von denen in der Verkehrspolitik, um die es im Urteil AETR gegangen sei; da die Vorschriften nach Artikel 118a Mindestvorschriften seien, sei eine auswärtige Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht gerechtfertigt. Auf diesem Gebiet rechtfertige nur Artikel 235 eine solche Zuständigkeit.

Schließlich bemerkt die Französische Republik, daß die Mitgliedstaaten zumindest insoweit für den Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 ausschließlich zuständig seien, als es um den Schutz der Interessen der überseeischen Länder oder Territorien gehe, da das Gebiet des Übereinkommens nicht unter die Assoziierungsregelung des EWG-Vertrags falle.

Das Königreich Dänemark, das Königreich Spanien, die Französische Republik, Irland und das Königreich der Niederlande weisen darauf hin, daß die Organisation und das Funktionieren der IAO die Ausübung einer Zuständigkeit zum Abschluß eines IAO-Übereinkommens durch die Gemeinschaft erschwerten. Sie führen folgende Gründe an:

Die Gemeinschaft habe nur Beobachterstatus. Wenn sie auch an den Beratungen teilnehmen könne, so habe sie gemäß der Verfassung der IAO kein Stimmrecht (Artikel 12 Absatz 2). Nach Artikel 5 Absatz 5 Buchstabe d der Verfassung könnten nur die Mitglieder ein IAO-Übereinkommen ratifizieren. Irland merkt hierzu an, die Frage, ob die Mitgliedstaaten der Kommission die Befugnis übertragen könnten, in ihrem Namen ein IAO-Übereinkommen zu ratifizieren, werfe völkerrechtliche Probleme auf, insbesondere die Frage nach der Verantwortlichkeit, wenn die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen nicht nachkämen.

Auch das Funktionieren der IAO, das auf deren Dreigliedrigkeit gestützt sei, stehe einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft entgegen. Das entsprechende Vorbringen fällt in der Sache mit dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland zur Zulässigkeit des Antrags zusammen.

Schließlich weisen einige Mitgliedstaaten darauf hin, daß das Verfahren der Gemeinschaft für den Abschluß eines IAO-Übereinkommens, wie es in den Beschlüssen des Rates vom 22. Dezember 1986 und vom 30. November 1989 niedergelegt sei, nur angewandt werden könne, wenn die Organe der IAO zustimmten, was sie bisher nicht getan hätten.

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Stellungnahme des Gerichtshofes

I — Zur Zulässigkeit des Antrags auf Gutachten

1

Die Bundesrepublik Deutschland bestreitet die Statthaftigkeit des von der Kommission gemäß Artikel 228 Absatz 1 EWG-Vertrag gestellten Antrags auf Gutachten; auch das Königreich der Niederlande bezweifelt seine Zulässigkeit. Nach Auffassung dieser Mitgliedstaaten dient das Verfahren des Artikels 228 nur der Prüfung der Vereinbarkeit beabsichtigter Abkommen zwischen der Gemeinschaft und einem oder mehreren Staaten oder einer internationalen Organisation mit dem EWG-Vertrag. Der vorliegende Antrag betreffe hingegen die Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Abschluß eines Übereinkommens, das nur von den Mitgliedern der IAO und nicht von der Gemeinschaft, die kein Mitglied dieser internationalen Organisation sei, ratifiziert werden könne.

2

Dem ist nicht zu folgen.

3

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (Gutachten 1/75 vom 11. November 1975, Slg. 1975, 1355; Gutachten 1/76 vom 26. April 1977, Slg. 1977, 741; Beschluß 1/78, erlassen nach Artikel 103 Absatz 3 EAG-Vertrag, vom 14. November 1978, Slg. 1978, 2151, und Gutachten 1/78 vom 4. Oktober 1979, Slg. 1979, 2871) können im Verfahren des Artikels 228 wie im Verfahren des Artikels 103 EAG-Vertrag alle Fragen der Vereinbarkeit eines beabsichtigten Abkommens mit dem EWG-Vertrag behandelt werden, u.a. auch die Frage, ob der Abschluß eines solchen Abkommens in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Diese Auslegung wird durch Artikel 107 § 2 Verfahrensordnung bestätigt.

4

Der Antrag auf Gutachten betrifft folglich nicht die völkerrechtliche Fähigkeit der Gemeinschaft, in einem IAO-Übereinkommen Verpflichtungen zu übernehmen, sondern nur die Frage, wie sich die Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet, das Gegenstand des Übereinkommens Nr. 170 ist, rein gemeinschaftsrechtlich bestimmen. Hindernisse, die der Ausübung der Zuständigkeit der Gemeinschaft aufgrund einiger Bestimmungen der Verfassung der IAO entgegenstehen könnten, hat der Gerichtshof daher nicht zu beurteilen.

5

Soweit die Verfassung der IAO im übrigen dem Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 durch die Gemeinschaft selbst entgegenstehen sollte, könnte deren auswärtige Zuständigkeit gegebenenfalls über die Mitgliedstaaten ausgeübt werden, die im Interesse der Gemeinschaft gemeinsam handelten.

6

Da somit der Tatbestand des Artikels 228 Absatz 1 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag erfüllt ist, ist der Antrag auf Gutachten zulässig.

II — Zur Sache

7

Vor der Prüfung der Fragen, ob das Übereinkommen Nr. 170 in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt und ob diese Zuständigkeit gegebenenfalls ausschließlich ist, ist ein Hinweis darauf angebracht, daß sich die Zuständigkeit zur Eingehung völkerrechtlicher Verpflichtungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. insbesondere Gutachten 1/76, Randnr. 3) nicht nur aus einer ausdrücklichen Verleihung im EWG-Vertrag ergeben, sondern auch stillschweigend aus seinen Bestimmungen folgen kann. Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, daß die Gemeinschaft immer dann, wenn das Gemeinschaftsrecht ihren Organen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel im Inneren eine Zuständigkeit verleiht, befugt ist, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn eine ausdrückliche diesbezügliche Bestimmung fehlt. Bereits im Urteil vom 14. Juli 1976 in den Rechtssachen 3/76, 4/76 und 6/76 (Kramer, Slg. 1976, 1279, Randnr. 20) hatte der Gerichtshof festgestellt, daß eine solche Zuständigkeit u. a. aus Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane fließen könne, die diese im Rahmen des EWG-Vertrags oder der Beitrittsakten erlassen hätten.

8

Eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft hat der Gerichtshof insbesondere im Zusammenhang mit Artikel 113 EWG-Vertrag (Gutachten 1/75; Urteil vom 15. Dezember 1976 in der Rechtssache 41/76, Donckerwolcke, Slg. 1976, 1921, Randnr. 32) und Artikel 102 der Beitrittsakte (Urteil vom 5. Mai 1981 in der Rechtssache 804/79, Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045, Randnrn. 17 und 18) angenommen. Nach der Rechtsprechung schließt eine solche Zuständigkeit, die sich aus einer Bestimmung des EWG-Vertrags ergibt, eine Parallelzuständigkeit der Mitgliedstaaten sowohl in der Gemeinschafts-wie in der Völkerrechtsordnung aus (vgl. Gutachten 1/75).

9

Ob die Zuständigkeit der Gemeinschaft ausschließlich ist, bestimmt sich nicht nur nach dem EWG-Vertrag, sondern auch danach, in welchem Umfang die Gemeinschaftsorgane zur Durchführung des EWG-Vertrags Maßnahmen getroffen haben; aufgrund solcher Maßnahmen können die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten verlieren, die sie zuvor übergangsweise ausüben konnten. Nach dem Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70 (Kommission/Rat, AETR, Slg. 1971, 263, Randnr. 22) können die Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der Gemeinschaftsorgane keine Verpflichtungen eingehen, welche Gemeinschaftsrechtsnormen, die zur Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags ergangen sind, beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern können.

10

Entgegen dem Vorbringen der Bundesrepublik Deutschland, des Königreichs Spanien und Irlands gilt dies nicht nur für den Fall, daß die Gemeinschaft Gemeinschaftsrecht im Rahmen einer gemeinsamen Politik setzt. Artikel 5 EWG-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten vielmehr auf allen Gebieten, die den Zielen des EWG-Vertrags entsprechen, der Gemeinschaft die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern und alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des EWG-Vertrags gefährden könnten.

11

Die Aufgabe der Gemeinschaft und die Ziele des EWG-Vertrags werden aber auch gefährdet, wenn die Mitgliedstaaten völkerrechtliche Vereinbarungen eingehen könnten, deren Bestimmungen Rechtsnormen auf Gebieten beeinträchtigen oder in ihrer Tragweite ändern könnten, die nicht unter eine gemeinsame Politik fallen.

12

Schließlich kann ein Übereinkommen auch ein Gebiet betreffen, auf dem die Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten geteilt sind. In einem solchen Fall verlangen die Aushandlung und die Durchführung des Übereinkommens ein gemeinsames Vorgehen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten (Urteil Kramer, Randnrn. 39 bis 45; Gutachten 1/78, Randnr. 60).

III

13

Im Lichte dieser Erwägungen ist zu untersuchen, ob das Übereinkommen Nr. 170 in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt und ob diese Zuständigkeit gegebenenfalls ausschließlich ist.

14

Das Übereinkommen Nr. 170 betrifft die Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit. Nach seiner Präambel ist es wesentlich, das Auftreten von durch chemische Einwirkungen verursachten Erkrankungen und Verletzungen bei der Arbeit zu verhüten oder zu verringern, indem alle diese Stoffe im Hinblick auf die von ihnen ausgehenden Gefahren bewertet werden, den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern die für einen wirksamen Schutz erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden und Grundsätze für Schutzprogramme festgelegt werden.

15

Das vom Übereinkommen Nr. 170 erfaßte Rechtsgebiet fällt unter die „Sozialvorschriften“, die das Kapitel 1 des Titels III — Sozialpolitik — des Dritten Teils des EWG-Vertrags bilden.

16

Nach Artikel 118a EWG-Vertrag bemühen sich die Mitgliedstaaten, die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt zu fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen; sie setzen sich die Harmonisierung der in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt zum Ziel. Als Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels der Harmonisierung erläßt der Rat durch Richtlinien Mindestvorschriften. Nach Artikel 118a Absatz 3 hindern die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen die einzelnen Mitgliedstaaten nicht daran, Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen beizubehalten oder zu treffen, die mit dem EWG-Vertrag vereinbar sind.

17

Somit verfügt die Gemeinschaft über eine interne Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Sozialrechts. Damit fällt das Übereinkommen Nr. 170, dessen Gegenstand sich im übrigen mit demjenigen mehrerer nach Artikel 118a erlassener Richtlinien deckt, in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft.

18

Zu prüfen ist nunmehr, ob diese Zuständigkeit ausschließlich ist. Das Übereinkommen Nr. 170 ist nicht geeignet, die auf der Grundlage des Artikels 118 a erlassenen Rechtsnormen zu beeinträchtigen. Erläßt nämlich die Gemeinschaft weniger strenge Rechtsvorschriften, als sie ein IAO-Übereinkommen vorsieht, so können die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 118a Absatz 3 Maßnahmen zum verstärkten Schutz der Arbeitsbedingungen treffen oder zu diesem Zweck das IAO-Übereinkommen anwenden. Erläßt andererseits die Gemeinschaft strengere Normen, als sie ein IAO-Übereinkommen vorsieht, so steht der vollen Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten nichts entgegen, da die Mitglieder der IAO nach Artikel 119 Absatz 8 der IAO-Verfassung weitergehende Maßnahmen treffen können, als sie Übereinkommen und Empfehlungen der IAO vorsehen.

19

Die Kommission wendet ein, es lasse sich nicht immer leicht feststellen, ob eine bestimmte Maßnahme den Arbeitnehmern günstiger sei als eine andere. Um einen Verstoß gegen ein IAO-Übereinkommen zu vermeiden, könnten die Mitgliedstaaten somit versucht sein, Bestimmungen nicht zu erlassen, die den besonderen sozialen und technischen Bedingungen der Gemeinschaft besser angepaßt wären. Da eine solche Haltung die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gefährden könne, müsse die Gemeinschaft zum Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 ausschließlich zuständig sein.

20

Dem ist nicht zu folgen. Mögliche Schwierigkeiten bei der Rechtsetzung der Gemeinschaft, wie sie die Kommission anführt, können keine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft begründen.

21

Aus denselben Gründen kann eine ausschließliche Zuständigkeit auch nicht auf Gemeinschaftsnormen gestützt werden, die auf der Grundlage des Artikels 100 EWG-Vertrag erlassen wurden, namentlich die Richtlinie 80/1107/EWG des Rates vom 27. November 1980 zum Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische, physikalische und biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (ABl. L 327, S. 8) sowie der auf der Grundlage des Artikels 8 dieser Richtlinie erlassenen Einzelrichtlinien, die sämtlich Mindestvorschriften enthalten.

IV

22

Einige Richtlinien, die auf Gebieten ergangen sind, die unter Teil III des Übereinkommens Nr. 170 fallen, enthalten jedoch Vorschriften, die keine Mindestvorschriften sind. So verhält es sich bei der Richtlinie 67/548/EWG des Rates vom 27. Juni 1967 zur Angleichung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Stoffe (ABl. 1967, Nr. 196, S. 1), die auf der Grundlage des Artikels 100 erlassen und u. a. durch die Richtlinie 79/831/EWG des Rates vom 18. September 1979 (ABl. L 259, S. 10) geändert wurde, und bei der Richtlinie 88/379/EWG des Rates vom 7. Juni 1988 zur Angleichung der Rechts-und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung gefährlicher Zubereitungen (ABl. L 187, S. 14), die auf der Grundlage des Artikels 100a erlassen wurde.

23

Diese Richtlinien enthalten Bestimmungen, die unter gewissem Blickwinkel einen weitergehenden Schutz der Arbeitnehmer in ihren Arbeitsbedingungen sicherstellen als ihn Teil III des Übereinkommens Nr. 170 vorsieht. Das gilt namentlich von den sehr detaillierten Regelungen über die Etikettierung, die sich in Artikel 7 der Richtlinie 88/379 finden.

24

Andererseits ist der Anwendungsbereich des Übereinkommens Nr. 170 weiter als derjenige dieser Richtlinien. So ist der Begriff des chemischen Stoffs (Artikel 2 Buchstabe a) weiter als der Erzeugnisbegriff der Richtlinien. Im übrigen erfassen die Artikel 6 Absatz 3 und 7 Absatz 3 anders als diese Richtlinien auch den Transport chemischer Stoffe.

25

Ein Widerspruch zwischen dem Übereinkommen und den Richtlinien besteht nicht. Gleichwohl erfaßt Teil III des Übereinkommens Nr. 170 ein Gebiet, das bereits weitgehend von Gemeinschaftsvorschriften erfaßt ist, die seit 1967 schrittweise im Hinblick auf eine immer weitergehende Harmonisierung erlassen wurden und einerseits Handelshemmnisse beseitigen sollen, die sich aus unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten ergeben, andererseits gleichzeitig dem Schutz der Bevölkerung wie dem der Umwelt dienen sollen.

26

Damit können die Verpflichtungen, die sich aus Teil III des Übereinkommens Nr. 170 ergeben, soweit sie das Gebiet der in Randnummer 22 erwähnten Richtlinien betreffen, das in diesen Richtlinien enthaltene Gemeinschaftsrecht beeinträchtigen; die Mitgliedstaaten können daher außerhalb des Rahmens der Gemeinschaftsorgane solche Verpflichtungen nicht eingehen.

V

27

Teil II des Übereinkommens Nr. 170 enthält in den Artikeln 3 bis 5 allgemeine Grundsätze für seine Durchführung.

28

Da das materielle Recht des Übereinkommens Nr. 170 in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, kann diese auch Verpflichtungen für die Durchführung dieses Rechts übernehmen.

29

Nach Artikel 3 sind die maßgebenden Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer zu den Maßnahmen anzuhören, die zur Durchführung des Übereinkommens Nr. 170 zu treffen sind. Nach Artikel 4 hat jedes Mitglied unter Berücksichtigung der innerstaatlichen Verhältnisse und Gepflogenheiten und in Beratung mit den genannten Verbänden eine in sich geschlossene Politik auf dem Gebiet der Sicherheit bei der Verwendung chemischer Stoffe bei der Arbeit festzulegen.

30

Beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts fällt die Sozialpolitik, namentlich die Abstimmung zwischen den Sozialpartnern, ganz überwiegend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten.

31

Gleichwohl bestehen auch gewisse gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeiten. Nach Artikel 118b EWG-Vertrag bemüht sich die Kommission darum, den Dialog zwischen den Sozialpartnern auf europäischer Ebene zu entwickeln.

32

Die Frage, ob völkerrechtliche Verpflichtungen betreffend die Anhörung der maßgebenden Verbände der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaft fallen, läßt sich daher nicht vom Gegenstand der Anhörung trennen.

33

Nach Artikel 5 des Übereinkommens Nr. 170 muß die zuständige Stelle, sofern es aus Gründen der Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt ist, befugt sein, die Verwendung bestimmter gefährlicher chemischer Stoffe zu untersagen oder einzuschränken oder eine vorherige Meldung und Genehmigung zu verlangen, bevor diese Stoffe verwendet werden.

34

Auch wenn diese zuständige Stelle die Stelle eines Mitgliedstaats ist, kann die Gemeinschaft doch im auswärtigen Bereich die in diesem Artikel vorgesehene Verpflichtung eingehen. Ebenso, wie die Gemeinschaft im Inneren auf einem gemeinschaftsrechtlich geregelten Gebiet vorsehen kann, daß nationale Stellen gewisse Kontrollbefugnisse haben (vgl. u. a. Artikel 4 der Richtlinie 80/107/EWG des Rates vom 27. November 1980 zum Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung durch chemische, physikalische und biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit, ABl. L 327, S. 8, die der Rat anführt), kann sie auch im auswärtigen Bereich die Verpflichtung eingehen, die Beachtung materiellen Rechts, das in ihren Zuständigkeitsbereich fällt, zu sichern, auch wenn dies bedeutet, daß nationale Stellen mit gewissen Kontrollbefugnissen betraut werden.

VI

35

Wie schließlich die Französische Republik vorgetragen hat, fällt der materielle Anwendungsbereich des Übereinkommens nicht in das Gebiet, für das die Assoziierungsregelung für die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete gilt. Wie der Gerichtshof im Gutachten 1/78 (Randnrn. 61 f.) festgestellt hat, ist es daher Sache derjenigen Mitgliedstaaten, die die auswärtigen Beziehungen dieser Gebiete wahrnehmen und die sie insoweit vertreten, das Übereinkommen abzuschließen.

VII

36

In dem Beschluß 1/78 vom 14. November 1978 (Slg. 1978, 2151, Randnrn. 34 bis 36) hat der Gerichtshof entschieden, daß eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen sowohl bei der Aushandlung und dem Abschluß eines Übereinkommens wie bei dessen Durchführung erforderlich ist, wenn sein Gegenstand teils in die Zuständigkeit der Gemeinschaft, teils in diejenige der Mitgliedstaaten fällt. Diese Pflicht zur Zusammenarbeit gilt nicht nur im Rahmen des EAG-, sondern auch im Rahmen des EWG-Vertrags, da sie sich aus der Notwendigkeit einer geschlossenen völkerrechtlichen Vertretung der Gemeinschaft ergibt.

37

Die Zusammenarbeit zwischen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten ist im vorliegenden Fall unumgänglich, weil die Gemeinschaft beim derzeitigen Stand des Völkerrechts ein IAO-Übereinkommen nicht selbst, sondern nur durch die Mitgliedstaaten abschließen kann.

38

Die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten müssen also alle Maßnahmen treffen, um eine solche Zusammenarbeit sowohl bei der Vorlage an die zuständige Stelle und der Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 170 als auch bei der Durchführung dieses Übereinkommens sicherzustellen.

VIII

39

Nach alledem steht die Zuständigkeit für den Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 der IAO den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft gemeinsam zu.

Abschließend äußert sich

DER GERICHTSHOF

gutachtlich wie folgt:

Die Zuständigkeit für den Abschluß des Übereinkommens Nr. 170 der IAO steht den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft gemeinsam zu.

Due

Präsident

Kakouris

Kammerpräsident

Rodríguez Iglesias

Kammerpräsident

Zuleeg

Kammerpräsident

Murray

Kammerpräsident

Mancini

Richter

Jolie

Richter

Schockweiler

Richter

Moitinho de Almeida

Richter

Grévisse

Richter

Diez de Velasco

Richter

Kapteyn

Richter

Edward

Richter

Luxemburg, den 19. März 1993.

Der Kanzler

J.-G. Giraud

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