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Document 61991CC0314

Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 13. Januar 1993.
Beate Weber gegen Europäisches Parlament.
Abgeordneter des Europäischen Parlaments - Übergangsvergütung - Erlöschen des Mandats während der laufenden Wahlperiode.
Rechtssache C-314/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 I-01093

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1993:5

Conclusions

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
WALTER VAN GERVEN
vom 13. Januar 1993 (1)



Rechtssache C-314/91



Beate Weber
gegen
Europäisches Parlament


„Abgeordneter des Europäischen Parlaments – Übergangsvergütung – Erlöschen des Mandats während der laufenden Wahlperiode“






Herr Präsident,meine Herren Richter!

1. Im vorliegenden Rechtsstreit zwischen Beate Weber und dem Europäischen Parlament geht es um die Regelung für die Schaffung einer Übergangsvergütung beim Erlöschen des Mandats für die Abgeordneten des Europäischen Parlaments (im folgenden: die Regelung) (2) . Beate Weber war seit 1979 Abgeordnete des Europäischen Parlaments und wurde zuletzt 1989 wiedergewählt. Mit Wirkung vom 14. Dezember 1990 schied sie aus dem Parlament aus, um Oberbürgermeisterin von Heidelberg zu werden. Das Parlament lehnte es ab, ihr eine Übergangsvergütung nach der genannten Regelung zu gewähren. Vor dem Gerichtshof begehrt die Klägerin jetzt die Nichtigerklärung der ablehnenden Entscheidung, die Verurteilung des Parlaments zur Gewährung der Vergütung (3) und die Verurteilung des Parlaments zur Tragung der Kosten.Wegen einer vollständigen Darstellung des Sachverhalts und des rechtlichen Rahmens des vorliegenden Verfahrens verweise ich auf den Sitzungsbericht.

Die Zulässigkeitsfrage

2. Bevor ich auf die Begründetheit eingehe, möchte ich die Zulässigkeit der Klage untersuchen. Das Parlament macht geltend, daß die Klage unzulässig sei, da die angefochtene Maßnahme die interne Arbeitsweise des Parlaments betreffe und keine Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalte. Das Parlament beruft sich hierfür auf das Urteil Les Verts/Parlament (4) , nach dem nur Klagen gegen Handlungen des Parlaments zulässig seien, die dazu bestimmt seien, gegenüber Dritten Rechtswirkungen zu erzeugen; mit Dritten seien nur außenstehende Personen gemeint. Da die streitige Entscheidung im Zusammenhang mit dem Rechtsverhältnis zwischen dem Parlament und seinen Mitgliedern stehe, sei die Klage von Beate Weber unzulässig. Ich kann mich dieser Argumentation nicht anschließen.

3. Ausgangspunkt und Grundprinzip des genannten Urteils Les Verts/Parlament ist die Feststellung, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen (5) . Durch den Vertrag ist ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen worden, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Organe übertragen ist (6) . Das bedeutet, daß vor dem Gerichtshof gegen alle Handlungen der Gemeinschaftsorgane geklagt werden kann, die Rechtswirkungen entfalten können (7) .

4. In den Beschlüssen Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament und Blot/Parlament hat der Gerichtshof entschieden, daß gegen Entscheidungen, die nur die interne Organisation der Arbeit des Parlaments betreffen, keine Nichtigkeitsklage gegeben ist (8) . Es handelt sich hierbei um Entscheidungen, die entweder keine Rechtswirkungen entfalten können oder nur Rechtswirkungen innerhalb des Parlaments für die Arbeit des Parlaments entfalten. Der letztgenannte Fall stellt somit eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, daß vor dem Gerichtshof gegen alle Handlungen der Gemeinschaftsorgane geklagt werden kann, die Rechtswirkungen entfalten können. Diese Ausnahme knüpft an die Befugnis zur internen Organisation an, die dem Parlament durch die Artikel 25 Absatz 1 EGKS-Vertrag, 142 Absatz 1 EWG-Vertrag und 112 Absatz 1 EAG-Vertrag verliehen worden ist. Es handelt sich jedoch um eine eng begrenzte Ausnahme. Damit eine Entscheidung von der Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Gerichtshof auszunehmen ist, muß sie gleichzeitig drei Voraussetzungen erfüllen: Sie muß im Rahmen der internen Organisation der Arbeit des Parlaments ergehen, darf ihre Rechtswirkungen nur innerhalb des Parlaments entfalten und muß mit in der Geschäftsordnung geregelten Verfahren überprüft werden können (9) .

5. Was nun konkret die Klage von Beate Weber betrifft, so sind untersuchte Regelung und die streitige Entscheidung des Parlaments eindeutig so beschaffen, daß sie Rechtswirkungen entfalten, und zwar gegenüber der Klägerin (10) . Außerdem betrifft die Entscheidung nicht die interne Organisation der Arbeit des Parlaments. Eine finanzielle Regelung für ausscheidende Parlamentsmitglieder steht nämlich nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Organisation des Parlaments oder seiner Arbeit. Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß die Klage zulässig ist.

6. Der Vollständigkeit halber möchte ich noch hinzufügen, daß ich für die Entscheidung der Zulässigkeitsfrage das Kriterium des Dritten nicht verwendet habe. Nach Ansicht des Parlaments sind nach dem Urteil Les Verts/Parlament nur Klagen gegen Handlungen des Parlaments zulässig, die dazu bestimmt sind, gegenüber Dritten Rechtswirkungen zu erzeugen, wobei Dritte nur außenstehende Personen seien. Ich glaube nicht, daß dieses Urteil so aufzufassen ist. Kern des Urteils ist der Grundsatz, daß die Möglichkeit einer direkten Klage gegen alle Handlungen gegeben ist, die Rechtswirkungen entfalten können. Dies gilt insbesondere für Handlungen, die Rechtswirkungen gegenüber Personen außerhalb des Organs entfalten können, wie dies in dem dem Urteil Les Verts/Parlament zugrunde liegenden Sachverhalt der Fall war; es gilt jedoch nicht ausschließlich für diese Personengruppe. Das Kriterium des Dritten ist daher keine notwendige Voraussetzung für die Zulässigkeit. In späteren Entscheidungen wurde das Kriterium übrigens nur in Fällen angewandt, in denen die Klage für zulässig erklärt wurde (11) . In denjenigen Rechtssachen, in denen die Klage als unzulässig abgewiesen wurde, nämlich Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament I und Blot/Parlament, ergab sich die Unzulässigkeit nicht aus der Eigenschaft der Kläger als Dritten, sondern aus der Feststellung, daß die angefochtenen Entscheidungen die interne Organisation der Arbeit des Parlaments betrafen (12) .

Die Auslegungsfrage

7. Ich komme nun zur Begründetheit der Klage. Die Klägerin und das Europäische Parlament streiten um die Auslegung der Regelung, wie sie vom Präsidium des Parlaments am 18. Mai 1988 gebilligt wurde. Der Streit geht darum, ob die Regelung auf Situationen wie die der Klägerin anwendbar ist, in denen ein Mitglied aus dem Parlament im Laufe des fünfjährigen Mandats ausscheidet, um sich einer anderen Tätigkeit zu widmen. Nach Ansicht des Europäischen Parlaments gilt die Regelung nur bei der Beendigung des parlamentarischen Mandats durch Ablauf der Wahlperiode von fünf Jahren, d. h. wenn keine Wiederwahl erfolgt. Nach Auffassung der Klägerin gilt die Regelung unterschiedslos bei jedem Ausscheiden aus dem Parlament.

8. Nach Artikel 1 der Regelung haben die Abgeordneten des Parlaments auf Antrag Anspruch auf eine Übergangsvergütung nach dem Erlöschen ihres Mandats , wie es im Deutschen, der Verfahrenssprache, heißt. Der Streit geht um die Auslegung des Begriffs Erlöschen in dieser Bestimmung.Die Regelung enthält weder eine Definition oder Erläuterung dieses Begriffs noch eine Verweisung auf andere Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. In Ermangelung einer solchen Definition ist dieser Begriff unter Berücksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs, in dem er verwendet wird, und entsprechend dem Sinn, den er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat, auszulegen (13) .

9. Ich möchte zunächst den Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch untersuchen. Es fragt sich, ob Erlöschen (wenn dieses Wort im Zusammenhang mit einem Mandat gebraucht wird) ein allgemeiner und neutraler Begriff ist oder aber die Vorstellung eines Ablaufs einschließt, d. h. einer passiven, automatischen Beendigung, die nicht auf das Betreiben oder eine Entscheidung des Mandatsinhabers zurückzuführen ist. Das Parlament vertritt in seiner Klagebeantwortung die Ansicht, daß mit Erlöschen nur ein passiver, automatischer Ablauf (das Ende des fünfjährigen Mandats) gemeint sein könne, und zwar im Gegensatz zu dem neutralen Begriff Beendigung. Dies überzeugt nicht wirklich. Erlöschen scheint mir als Begriff ebensogut zu neutralen Begriffen wie Beendigung oder Ende wie zu einem ausschließlich passiven Begriff wie Ablauf zu passen (14) .Im Lichte der niederländischen Fassung der Regelung betrachtet, in der gerade der übereinstimmende Begriff beëindiging (und nicht beispielsweise afloop) gebraucht wird, überzeugt die vom Parlament vorgenommene Herstellung eines Gegensatzes zu dem Begriff Beendigung sicher nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein in verschiedenen Sprachen verfaßter Text im Lichte seiner Fassung in allen Sprachen auszulegen (15) . Ein Vergleich mit den anderen Fassungen ergibt im übrigen, daß die neutrale und allgemeine Formulierung nicht nur im Niederländischen, sondern auch im Französischen ( à partir de la fin de leur mandat), im Englischen ( from the end of their term of office und end of service im Titel der Regelung), im Italienischen ( a partire del termine del loro mandato und fine im Titel) und im Spanischen ( a partir del fin de su mandato) verwendet wird. Die französische und die italienische Fassung sind von besonderer Bedeutung, da sich aus den vom Parlament vorgelegten Dokumenten ergibt, daß die Regelung vom Präsidium in der französischen Fassung auf der Grundlage eines früheren Entwurfs in italienischer Sprache gebilligt wurde.Nach allem komme ich zu dem Ergebnis, daß die Wortwahl in der Regelung die restriktive Auslegung, die vom Europäischen Parlament vertreten wird, nicht stützt, sondern vielmehr in die Richtung der allgemeinen Bedeutung weist, auf die sich die Klägerin beruft. Lassen Sie mich jetzt prüfen, ob der Auslegung des Parlaments aufgrund des allgemeinen Zusammenhangs, in dem die Regelung steht, doch gefolgt werden kann. Ich werde dabei nacheinander den Zweck der Regelung und den Zusammenhang, in dem die gesamte Regelung steht, untersuchen.

10. Was den Zweck angeht, enthält die Regelung nur wenige Hinweise; zumindest enthält sie nichts, was die Lösung des fraglichen Auslegungsproblems erlaubte. Die Regelung hat keine einleitenden Erwägungen, und auch der Titel und die verschiedenen Artikel enthalten nicht mehr, als was sich aus dem Begriff Übergangsvergütung ergeben kann.Nach Ansicht des Europäischen Parlaments besteht der Zweck der Regelung darin, die Existenzsicherung nicht wiedergewählter Abgeordneter zu gewährleisten. Wenn ein Abgeordneter ausscheide, um eine andere Tätigkeit auszuüben, stelle sich aber die Frage der Existenzsicherung nicht. Nach Ansicht der Klägerin soll die Vergütung dagegen die Kosten decken, die bei jedem Ausscheiden aus dem Parlament und bei jedem Überwechseln in eine andere Tätigkeit entstehen. Beide Regelungszwecke sind einleuchtend und in gleicher Weise mit dem Wortlaut der Regelung vereinbar. Die Entstehungsgeschichte der Regelung gibt ebenfalls keinen Aufschluß. Unter den Dokumenten, die das Parlament dem Gerichtshof vorgelegt hat, befinden sich nur einige aus der Zeit vor der Billigung der Regelung durch das Präsidium am 18. Mai 1988 (16) . Diese Unterlagen enthalten keine verwertbaren Angaben, die über die Formulierungen hinausgehen, die in die Regelung selbst aufgenommen wurden.Das Parlament hat in seiner Antwort auf eine entsprechende Frage des Gerichtshofes ausgeführt, daß es bei der Vorbereitung der Regelung auch von in den Parlamenten der Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen ausgegangen sei. Es hat jedoch keine entsprechenden vorbereitenden Dokumente vorlegen können. Aber es hat zwei interne Vermerke jüngeren Datums vorgelegt, in denen die nationalen Regelungen miteinander verglichen werden. Ich kann in diesen Vermerken nichts finden, was die jetzige Auslegung des Parlaments stützen würde. Eher im Gegenteil: In den Vermerken heißt es, daß in einigen Ländern, nämlich den Niederlanden und Deutschland, die Übergangsvergütung gekürzt wird, wenn das ehemalige Parlamentsmitglied andere Einkünfte erzielt. Im Umkehrschluß nehme ich an, daß in den fünf anderen Ländern, in denen es eine Übergangsvergütung gibt, keine Kürzung vorgenommen wird. Bestimmt in den ersten beiden, vielleicht aber auch in den anderen Ländern scheint also der Ausgangspunkt der zu sein, daß die Übergangsvergütung ─ wenn auch zuweilen in gekürzter Form ─ auch Abgeordneten gewährt wird, die aus dem Parlament ausscheiden, um eine andere Tätigkeit auszuüben.

11. In bezug auf den Zusammenhang der gesamten Regelung beruft sich die Klägerin auf die Artikel 1 und 2 der Regelung. Diese Artikel deuten darauf hin, daß auch unvollständige Mandate, d. h. Mandate, die weniger als fünf Jahre gedauert haben, berücksichtigt werden können. Das Parlament führt hierzu aus, daß die Regelung zwar auf unvollständige Mandate, die während einer fünfjährigen Wahlperiode begännen, angewandt werden könne, jedoch nicht auf Mandate, die während der Wahlperiode endeten. Das Parlament hat jedoch nichts vorgetragen, was diese Auslegung stützen könnte. Obwohl die genannten Artikel auch für den Fall eines Mandats gelten, das weniger als fünf Jahre gedauert hat, machen sie nicht den Unterschied, wie ihn das Parlament vorträgt. Ich vermag dieser Auslegung daher nicht zu folgen.Das Parlament verweist ferner auf Artikel 2 Satz 3 der Regelung. Danach erlischt der Anspruch auf die Übergangsvergütung ..., wenn der ehemalige Abgeordnete in einem der Organe der Gemeinschaft mit einer Funktion betraut bzw. wenn er in das nationale Parlament gewählt wird, ferner im Falle seines Ablebens. Diese Aufzählung enthalte nur Beispiele; sie sei Ausdruck des allgemeinen Grundsatzes, daß einem Abgeordneten, der aus dem Parlament ausscheide, um eine andere Tätigkeit zu übernehmen, keine Vergütung gewährt werde. Auch dieser Auslegung vermag ich nicht zu folgen. Nichts weist darauf hin, daß die erwähnte Aufzählung nicht abschließend sein soll. Hätte ein allgemeinerer Ausschluß verfügt werden sollen, hätte dies deutlich formuliert werden können.

12. Zum Schluß möchte ich noch auf das Vorbringen des Parlaments eingehen, daß sein Präsidium am 12. Dezember 1990 die Regelung bindend ausgelegt habe und daß sich daraus ergebe, daß die Klägerin keinen Anspruch auf eine Übergangsvergütung habe.Die Regelung wurde in ihrer ursprünglichen Form vom Präsidium des Europäischen Parlaments am 18. Mai 1988 gebilligt. Selbstverständlich ist das Präsidium dazu befugt, diese Regelung zu ändern, wie dies am 24. Juni 1992, d. h. zu einem für die vorliegende Rechtssache nicht mehr maßgebenden Zeitpunkt geschah (17) . Die Entscheidung vom 12. Dezember 1990 ist jedoch von ganz anderer Art. Den Dokumenten, die das Parlament dem Gerichtshof vorgelegt hat, insbesondere den Auszügen aus den Protokollen der Sitzungen des Kollegiums der Quästoren vom 18. Oktober und vom 8. November 1990, ist zu entnehmen, daß unter anderem die Frage behandelt wurde, ob die Regelung vom 18. Mai 1988 auch für Parlamentsmitglieder gilt, die aus dem Parlament freiwillig während einer fünf Jahre dauernden Mandatszeit ausscheiden. Aufgrund dieser Untersuchung konkreter Fälle erklärte das Präsidium des Parlaments am 12. Dezember 1990 (zwei Tage vor dem Ausscheiden der Klägerin aus dem Parlament), daß es die Übergangsvergütung als Vergütung am Ende der Wahlperiode betrachten ( considérer) werde, daß das Kollegium der Quästoren aber dennoch hinreichend begründete Anträge einer Einzelfallprüfung unterziehen und dann dem Präsidium einen Bericht vorlegen werde. (18) .Das Parlament vertritt in seiner Klagebeantwortung die Ansicht, daß diese Auslegung seines Präsidiums eine authentische und daher verbindliche Auslegung sei, da sie von dem Organ ausgehe, das die fragliche Regelung erlassen habe. Dies überzeugt mich keineswegs. Die Technik der authentischen Auslegung von Regelungen ist eine Technik, mit der vorsichtig umgegangen werden muß, da sie bedeutet, daß der neu ausgelegten Regelung Rückwirkung verliehen wird. Eine solche Wirkung, die von der üblichen Art und Weise der Rechtsetzung abweicht und in einem Spannungsverhältnis zur Rechtssicherheit steht, kann meines Erachtens nur ganz ausnahmsweise und mit der erforderlichen Begründung angewandt werden. Sie kann nicht wie im vorliegenden Fall en passant anläßlich der Anwendung der geltenden Regelung auf konkrete Fälle verfügt werden. Hinzu kommt noch, daß die vom Präsidium am 12. Dezember 1990 vorgenommene Auslegung auch noch in einem anderen Punkt mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Konflikt gerät. Nachdem nämlich zuerst der Grundsatz aufgestellt worden ist, daß die Regelung nur bei Beendigung einer Wahlperiode angewandt werden soll, ermöglicht die beschlossene Auslegung anschließend Abweichungen im Einzelfall, ohne anzugeben, welche Kriterien dabei angewandt werden sollen. Dies dürfte wohl kaum mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang zu bringen sein, von dem der Gerichtshof festgestellt hat, daß er im Falle einer Regelung mit finanziellen Konsequenzen ein zwingendes Erfordernis ist (19) . Auf den vorliegenden Fall bezogen bedeutet dies, daß es für die Betroffenen mit Gewißheit vorhersehbar sein muß, in welchen Fällen sie von einer finanziellen Vergünstigung wie der Übergangsvergütung ausgeschlossen werden können.

13. Nach allem bin ich der Ansicht, daß der Wortlaut der Regelung keinen Aufschluß über die Frage gibt, ob Parlamentsmitglieder, die während eines fünfjährigen Mandats aus dem Europäischen Parlament freiwillig ausscheiden, von der Gewährung einer Übergangsvergütung ausgeschlossen sind. Ein solcher Ausschluß kann auch nicht aus Zweck und Entstehungsgeschichte der Regelung oder aus dem allgemeinen Zusammenhang, in dem sie steht, abgeleitet werden. Die vom Präsidium des Parlaments am 12. Dezember 1990 verabschiedete Auslegung kann meines Erachtens nicht als bindend angesehen werden, da sie nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit in Einklang steht.

14. Daher schlage ich vor, die Klage von Beate Weber für zulässig zu erklären, die ablehnende Entscheidung des Europäischen Parlaments vom 2. Oktober 1991 für nichtig zu erklären und dem Europäischen Parlament die Kosten aufzuerlegen.


1
Originalsprache: Niederländisch.


2
Gebilligt durch das Präsidium des Europäischen Parlaments am 18. Mai 1988, PE 121.917/PRÄS/rev.II.


3
Wie der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, ist dieser zweite Klageantrag unzulässig. Nach Artikel 176 EWG-Vertrag hat das Organ, dem das für nichtig erklärte Handeln zur Last fällt, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofes ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Der Gerichtshof kann nicht, ohne seine Zuständigkeit zu überschreiten, den Gemeinschaftsorganen Anweisungen hinsichtlich der Vollstreckung seiner Urteile erteilen. Derartige Anträge sind deshalb unzulässig. (Urteil vom 20. Juni 1985 in der Rechtssache 141/84, De Compte, Slg. 1985, 1951, Randnr. 22).


4
Urteil vom 23. April 1986 in der Rechtssache 294/83 (Les Verts/Parlament, Slg. 1986, 1339).


5
Urteil Les Verts/Parlament, Randnr. 23.


6
Urteil Les Verts/Parlament, Randnr. 23; wiederholt im Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85 (Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 16) und im Beschluß vom 13. Juli 1990 in der Rechtssache C-2/88 (Zwartveld, Slg. 1990, I-3365, Randnr. 16).


7
Urteil Les Verts/Parlament, Randnr. 24 mit Verweisung auf das Urteil vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70 (Kommission/Rat [AETR], Slg. 1971, 263, Randnr. 42); Urteil vom 27. September 1988 in der Rechtssache 302/87 (Parlament/Rat, Slg. 1988, 5615, Randnr. 20). Ich benutze die Formulierung Rechtswirkungen entfalten können des zuletzt genannten Urteils anstelle der Formulierung die dazu bestimmt sind, eine Rechtswirkung zu erzeugen des zuerst genannten Urteils, um den möglichen Eindruck zu vermeiden, daß die Frage, ob eine Handlung Rechtswirkungen entfaltet, vom Willen des Urhebers der Handlung abhängig wird. Der rechtserzeugende Charakter einer Handlung hängt von Art und Bedeutung der Handlung insgesamt ab.


8
Beschluß vom 4. Juni 1986 in der Rechtssache 78/85 (Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament, Slg. 1986, 1753, Randnr. 11) und Beschluß vom 22. Mai 1990 in der Rechtssache C-68/90 (Blot/Parlament, Slg. 1990, I-2101, Randnr. 12).


9
Ich übernehme diese drei Voraussetzungen aus der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 1986 zur Haltung des Europäischen Parlaments vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im Rahmen von gemäß Artikel 173 EWG-Vertrag erhobenen Klagen (ABl. C 283, S. 85). Im Anschluß an die Formulierung in den Beschlüssen Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament und Blot/Parlament ersetze ich interne Selbstorganisation zur Verdeutlichung durch interne Organisation der Arbeit.


10
Es ist unbestritten, daß die Klägerin in der von Artikel 173 Absatz 2 EWG-Vertrag verlangten Weise betroffen ist.


11
Urteil vom 3. Juli 1986 in der Rechtssache 34/86 (Rat/Parlament, Slg. 1986, 2155, Randnrn. 5 und 6); Beschluß vom 16. Oktober 1986 in der Rechtssache 221/86 R (Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament, Slg. 1986, 2969, Randnr. 19).


12
Beschluß vom 4. Juni 1986 in der Rechtssache 78/85 (a. a. O., Slg. 1986, 1753, Randnr. 11); Beschluß vom 22. Mai 1990 in der Rechtssache C-68/90 (a. a. O., 1990, I-2101, Randnrn. 11 und 12).


13
Urteil vom 27. Januar 1988 in der Rechtssache 349/85 (Dänemark/Kommission, Slg. 1988, 169, Randnr. 9).


14
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß der Begriff Erlöschen auch in Artikel 7 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments verwendet werde und daß in dieser Bestimmung eindeutig auch die Beendigung durch Rücktritt als eine Form des Erlöschens aufgeführt sei.


15
Urteil vom 7. Juli 1988 in der Rechtssache 55/87 (Moksel/BALM, Slg. 1988, 3845, Randnr. 15).


16
Es handelt sich um Auszüge aus den Protokollen des Kollegiums der Quästoren vom 21./22. März 1988 vom 26. April 1988 und den in italienischer Sprache abgefaßten Entwurf PE 117.147/QUEST.


17
Aus den Änderungen geht allerdings hervor, daß auch ein Parlamentsmitglied Anspruch auf eine Übergangsvergütung hat, das sein Mandat aus freien Stücken niederlegt, unter der Voraussetzung, daß das Mitglied sein Mandat mindestens drei Jahre lang ausgeübt hat. Es wird klargestellt, daß Einkünfte aus einem öffentlichen Amt oder einem Amt bei den Gemeinschaften abgezogen werden.


18
Aus dem Protokoll der Sitzung des Kollegiums der Quästoren vom 8. November 1990 geht hervor, daß das Kollegium die Auszahlung der Übergangsvergütung an ein Parlamentsmitglied, das sein Mandat freiwillig zurückgegeben hatte, befürwortet hat. Die Entscheidung des Präsidiums vom 12. Dezember 1990 stellte wohl auf diesen Fall ab, als sie auf eine Prüfung von Fall zu Fall verwies.


19
Urteil vom 15. Dezember 1987 in der Rechtssache 325/85 (Irland/Kommission, Slg. 1987, 5041). Randnr. 18 dieses Urteils lautet wie folgt: Im übrigen müssen Rechtsakte der Gemeinschaft, wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat, eindeutig sein, und ihre Anwendung muß für die Betroffenen vorhersehbar sein. Dieses Gebot der Rechtssicherheit gilt in besonderem Maße, wenn es sich um Vorschriften handelt, die finanzielle Konsequenzen haben können, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen durch diese Vorschriften auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen.
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