EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 61990CJ0057

Urteil des Gerichtshofes vom 16. Januar 1992.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik.
Soziale Sicherheit - Krankenversicherungsbeiträge von den zusätzlichen Altersrenten und den Vorruhestandsgeldern - Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnen.
Rechtssache C-57/90.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 I-00075

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1992:10

SITZUNGSBERICHT

in der Rechtssache C-57/90 ( *1 )

I — Rechtlicher Rahmen

Nationale Regelung

1.

Das Gesetz Nr. 79-1129 vom 28. Dezember 1979 über verschiedene Maßnahmen zur Finanzierung der Sozialversicherung (TORF Nr. 302 vom 29.12.1979, S. 3279), das durch die Durchführungsdekrete Nr. 80-298 vom 24. April 1980 (JORF Nr. 99 vom 26.4.1980, S. 1080), Nr. 80-598 und Nr. 80-599 vom 30. Juli 1980 (JORF Nr. 177 vom 31.7.1980, S. 1931) ergänzt worden ist, sieht einen Abzug für Krankenversicherungsbeiträge zur Finanzierung des allgemeinen Sozialversicherungssystems vor, der von den Zusatzaltersversorgungskassen vorgenommen wird. Aufgrund des Schreibens des Ministers für Gesundheit und Sozialversicherung an den Direktor der Caisse nationale d'assurance vieillesse des travailleurs salariés (Staatliche Kasse der Altersversicherung der Arbeitnehmer) vom 18. Februar 1981 gilt dieser Beitrag nicht für die gesetzlichen Altersrenten. Er gilt dagegen für zusätzliche Altersrenten sowie für Vorruhestandsgelder, und zwar unabhängig davon, wo die Leistungsempfänger wohnen.

2.

In bezug auf die besonderen Vorruhestandsgelder („allocations spéciales de préretraite“), die vom Fonds national de l'emploi (im folgenden: FNE) gezahlt werden, bestimmt Artikel L 322-4 des Code du travail (Ordonnance Nr. 86-948 vom 11. August 1986):

„In den in diesem Artikel vorgesehenen Fällen können aufgrund von Verträgen mit den Berufsorganisationen oder den überberuflichen Organisationen, den Gewerkschaften oder den Unternehmen folgende Leistungen gewährt werden:

1)

— ...

2)

— Besondere Beihilfen zugunsten bestimmter Gruppen älterer Arbeitnehmer, wenn nachgewiesen ist, daß ihnen keine neue Verwendung zugewiesen werden kann oder daß die Lage des Unternehmens dazu führt, daß ihr Vollzeitarbeitsplatz mit ihrem Einverständnis in einen Teilzeitarbeitsplatz umgewandelt wird. Die Ansprüche dieser Arbeitnehmer gegenüber der Sozialversicherung werden durch Verordnung festgelegt.

3)

— ...“

Nach Artikel R 322-1 des Code du travail ist der Arbeitsminister ermächtigt, „vorübergehende Maßnahmen zu erlassen, durch die über Kooperationsverträge gewisse Einkommensgarantien für Arbeitnehmer geboten werden, die infolge wirtschaftlicher Umstände ihr Arbeitseinkommen ganz oder zum Teil verloren haben“. Artikel R 322-7 regelt diese vertraglich festgelegten Maßnahmen im einzelnen.

In der durch die Verordnung vom 26. Oktober 1987 (JORF Nr. 252 vom 30.10.1987, S. 12644) geänderten Verordnung vom 15. September 1987 sind die Voraussetzungen für den Beitritt und die Ansprüche der Berechtigten aus Verträgen über besondere Beihilfen des FNE festgelegt.

3.

Die zusätzliche Altersversorgung der Arbeitnehmer, die in den Geltungsbereich des allgemeinen Altersversorgungssystems und der landwirtschaftlichen Versicherungen fällt, ist durch Artikel L 731-5 des Code de la sécurité sociale (Gesetz vom 29. Dezember 1972) für alle Arbeitnehmer und ehemaligen Arbeitnehmer verbindlich vorgeschrieben worden.

In den zwischen den Sozialpartnern geschlossenen Tarifverträgen sind die Bestimmungen über Beiträge und Leistungen im einzelnen festgelegt. Diese Verträge gelten für die Arbeitgeber, die einem der beiden Arbeitgeberverbände angehören, die die Verträge unterzeichnet haben. Durch interministerielle Verordnung, die aufgrund der Artikel L 731-2 und L 731-3 des Code de la sécurité sociale erlassen worden sind, wird die Geltung dieser Bestimmungen auf die den Arbeitgeberorganisationen nicht angehörenden Arbeitgeber und auf die Arbeitgeber der Tätigkeitsbereiche ausgedehnt, die in diesen Organisationen nicht vertreten sind, aber zum Geltungsbereich des allgemeinen Altersversorgungssystems gehören.

Gemeinschaftsrechtliche Regelimg

4.

Nach Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu-und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6)„unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats“.

Artikel 33 dieser Verordnung lautet:

„Der Träger eines Mitgliedstaats, der eine Rente schuldet, darf, wenn die für ihn geltenden Rechtsvorschriften vorsehen, daß von dem Rentner zur Deckung der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft Beiträge einbehalten werden, diese Beiträge von der von ihm geschuldeten Rente in der nach den betreffenden Rechtsvorschriften berechneten Höhe einbehalten, soweit die Kosten der Leistungen aufgrund der Artikel 27, 28, 28a, 29, 31 und 32 zu Lasten eines Trägers des genannten Mitgliedstaats gehen.“

II — Sachverhalt und Verfahren

5.

Mit Schreiben vom 15. Juli 1985 wies die Kommission die französischen Behörden auf die Folgen hin, die sich im Hinblick auf die gemeinschaftsrechtliche Regelung daraus ergäben, daß zu Lasten der in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnenden Empfänger von Leistungen der zusätzlichen Altersversorgung ein Krankenversicherungsbeitrag abgezogen werde. Die französischen Behörden ließen dieses Schreiben unbeantwortet.

Am 5. Oktober 1988 versandte die Kommission ein Aufforderungsschreiben gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag und machte geltend, die französischen Rechtsvorschriften seien insoweit unvereinbar mit Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71, als sie dazu führten, daß Krankenversicherungsbeiträge von zusätzlichen Altersrenten und von Altersruhegeldern von Personen einbehalten wurden, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnten und Leistungen bei Krankheit in diesem anderen Mitgliedstaat bezögen. In diesem Schreiben forderte die Kommission die französische Regierung auf, sich binnen zwei Monaten nach Eingang des Schreibens zu äußern.

6.

In ihrem Antwortschreiben vom 3. Februar 1989 hielt die französische Regierung der Auffassung der Kommission entgegen, daß der in Frage stehende Beitrag einen Solidaritätsbeitrag darstelle, der als solcher keinen Anspruch auf Leistungen begründe, und daß die Leistungen bei Krankheit in einigen Mitgliedstaaten durch Steuern finanziert würden.

7.

Die Kommission war der Auffassung, daß diese Argumente nicht stichhaltig seien, und erließ am 26. Juni 1989 eine mit Gründen versehene Stellungnahme; darin forderte sie die französische Regierung auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung nachzukommen.

8.

Mit Schreiben vom 22. August 1989 wandte die französische Regierung sich gegen die mit Gründen versehene. Stellungnahme und machte geltend, die Verordnung Nr. 1408/71 sei auf zusätzliche Altersrenten und Vorruhestandsgelder nicht anwendbar, die Art und Weise der Finanzierung von Sozialversicherungssystemen falle in die nationale Zuständigkeit und das französische System sei nicht diskriminierend; dagegen ergebe sich aus der Auffassung der Kommission eine Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern und von anderen Arbeitnehmern zu Lasten der letzteren.

9.

Die Kommission hat daraufhin die vorliegende Klage erhoben. Die Klageschrift ist am 7. März 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

Der Gerichtshof hat auf Bericht des Berichterstatters nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.

III — Anträge der Parteien

10.

Die Kommission beantragt,

1)

festzustellen, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates verstoßen hat, daß sie von den Empfängern von Leistungen der Altersversorgung, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnen, einen Krankenversicherungsbeitrag erhebt;

2)

der Französischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Die Französische Republik beantragt,

1)

die Klage der Kommission abzuweisen;

2)

der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

IV — Vorbringen der Parteien

11.

Die Kommission ist der Auffassung, die Abzüge, die die französischen Behörden für die Beiträge zur Versicherung bei Krankheit und Mutterschaft von den durch ihre Dienststellen gezahlten zusätzlichen Altersrenten und Vorruhestandsgeldern bei Personen vornähmen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnten, seien unvereinbar mit Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71, weil die Deckung der Risiken von Krankheit und Mutterschaft bei diesen Personen nicht zu Lasten des französischen Systems gehe. In Artikel 13 Absatz 1 werde der Grundsatz aufgestellt, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien; Artikel 33 stelle eine Konkretisierung dieses Grundsatzes im Bereich der Krankenversicherungsbeiträge dar, die von den durch die Verordnung erfaßten Leistungen bei Alter abgezogen würden.

12.

Für diese Auffassung macht die Kommission erstens geltend, auf diesen Grundsatz könne man sich zugunsten der betroffenen Arbeitnehmer als allgemeinen Grundsatz berufen, der — durch Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 veranschaulicht — schon vor dieser Verordnung bestanden habe und dessen Anwendung daher nicht auf die durch die Verordnung erfaßten Sachverhalte beschränkt werden könne. Dieser Grundsatz sei somit im vorliegenden Fall anwendbar, obwohl weder Zusatzaltersversorgungssysteme noch Vorruhestandsgeldsysteme in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fielen. Der Grundsatz könne auch nicht dadurch seine Geltung verlieren, daß es Ausnahmen wie in Artikel 14c und im Anhang VII der Verordnung gebe, der sich auf die Fälle beziehe, in denen jemand gleichzeitig den Rechtsvorschriften zweier Mitgliedstaaten unterliege.

13.

Die Kommission trägt zweitens vor, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes in Verfahren, die sich auf vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 liegende Sachverhalte bezögen, bestehe das Ziel der Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag darin, eine möglichst weitgehende Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen; es erfordere die Beseitigung von gesetzlichen Bestimmungen, die geeignet seien, die Wanderarbeitnehmer zu benachteiligen, und sich somit hemmend auswirkten. Daraus folge auf jeden Fall, daß diese Bestimmungen in dem Sinne auszulegen seien, daß sie die Wanderarbeitnehmer vor Benachteiligungen schützen wollten. Der Gerichtshof habe daher für Recht erkannt, daß die Anwendung der nationalen Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaats als des Beschäftigungsstaats ausgeschlossen sei, wenn sie den Betroffenen verpflichte, Beiträge an einen Sozialversicherungsträger zu entrichten, ohne daß dieser ihm für das gleiche Risiko und den gleichen Zeitraum einen zusätzlichen Vorteil gewähren würde (siehe Urteil vom 9. Juni 1964 in der Rechtssache 92/63, Nonnenmacher, Slg. 1964, 613).

Ebenso habe der Gerichtshof den Grundsatz bestätigt, daß es anderen Mitgliedstaaten als dem Beschäftigungsstaat verboten sei, ihr Sozialrecht anzuwenden, wenn dies für den Arbeitnehmer eine Erhöhung der Lasten zur Folge habe, der keine entsprechende Verbesserung des Sozialschutzes gegenüberstehe (siehe Urteil vom 5. Dezember 1967 in der Rechtssache 19/67, Van der Vecht, Slg. 1967, 462).

14.

Aus dieser Rechtsprechung gehe hervor, daß der Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien, die gleichzeitige Geltung von Rechtssystemen oder unsachgemäße Überlagerungen von Lasten und Verantwortlichkeiten ausschließen solle, die sich aus der Anwendung von mehreren nationalen Rechtssystemen ergeben könnten. Der Gerichtshof habe damit eine Parallelität zwischen dem für die Beiträge und dem für den Anspruch auf Leistungen geltenden System hergestellt. Im übrigen stehe es den Mitgliedstaaten zwar frei, in den in ihre Zuständigkeit fallenden Bereichen rechtliche Regelungen zu treffen, sie könnten sich jedoch nicht auf ihre nationalen Rechtsvorschriften berufen, um sich ihren Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht zu entziehen. Kein Mitgliedstaat sei daher befugt, zur Finanzierung seines eigenen Krankenversicherungssystems Beiträge zu erheben — auch wenn sie von Leistungen abgezogen würden, die nicht durch die Verordnung Nr. 1408/71 erfaßt seien —, wenn nach den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften das Recht eines anderen Mitgliedstaats anwendbar sei.

15.

Im Urteil vom 28. März 1985 in der Rechtssache 275/83 (Kommission/Belgien, Slg. 1985, 1097, Randnr. 3) habe der Gerichtshof entschieden, daß ein Mitgliedstaat keine Beträge von Renten einbehalten dürfe, und zwar auch bei Fehlen eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Beitrag und dem versicherten Risiko, wenn die betreffenden Leistungen nicht zu Lasten eines Trägers dieses Mitgliedstaat gingen. Im vorliegenden Fall gebe es keinen Wesensunterschied zwischen den von den gesetzlichen Renten und den von den Zusatzrenten und den Vorruhestandsgeldern einbehaltenen Beiträgen. Alle diese Einbehaltungen würden durch dieselben gesetzlichen Bestimmungen erfaßt und seien zur Finanzierung des allgemeinen Krankenversicherungssystems bestimmt.

16.

Der von den französischen Behörden im Schreiben vom 3. Februar 1989 angeführte Umstand, daß die Beiträge Solidaritätsbeiträge darstellten und einer steuerähnlichen Abgabe ähnelten, sei unerheblich. Die VerOrdnung Nr. 1408/71 mache keinen Unterschied zwischen den Beiträgen; diese könnten daher dem Geltungsbereich dieser Verordnung nicht entzogen werden. Ausschlaggebender Gesichtspunkt bei der Anwendung der Verordnung sei nicht die Beitragsbemessungsgrundlage, sondern die Verwendung der Beiträge, denn auf dieser Ebene sei die Aufhebung der Parallelität zwischen dem Beitrag und dem Leistungsanspruch festzustellen.

17.

Zur Ungleichbehandlung von Wanderarbeitnehmern und anderen Arbeitnehmern trägt die Kommission vor, einziges Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Regelung sei der Schutz des Arbeitnehmers, der innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandere. Bei diesem Ziel könnten daher eventuelle „umgekehrte Diskriminierungen“ im Bereich der Freizügigkeit fortbestehen.

18.

Die französische Regierimg führt vorab aus, die Verordnung Nr. 1408/71 betreffe nicht die nationalen Verfahren zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme. Sie weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Artikel 51 EWG-Vertrag nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes keine Harmonisierung, sondern nur eine Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten vorsehe (siehe insbesondere die Urteile vom 15. Januar 1986 in der Rechtssache 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1, vom 27. September 1988 in der Rechtssache 313/86, Lenoir, Slg. 1988, 5391, und vom 12. Juli 1989 in der Rechtssache 141/88, Jordan, Slg. 1989, 2387).

19.

Die französische Regierung ist der Auffassung, in Anbetracht des Fehlens einer Definition des Begriffs „Beiträge“ in der Verordnung Nr. 1408/71 zum einen und der Unterschiede i der Organisation und der Finanzierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit zum anderen fielen die Modalitäten der Finanzierung dieser Systeme nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung. Die Finanzierung der Krank-heits- und Mutterschaftsversicherung werde in Frankreich einerseits durch Beiträge sichergestellt, deren Zahlung Voraussetzung für die Begründung des Leistungsanspruchs sei, und andererseits durch Solidaritätsbeiträge, die keinen Anspruch begründeten, aber geschuldet würden, selbst wenn der Beitragszahler keine Leistung bei Krankheit und Mutterschaft des französischen Systems erhalte. Aus dieser Sicht bestehe kein Zusammenhang zwischen dem Beitrag und dem versicherten Risiko, wie ihn die Verordnung Nr. 1408/71 herstelle. Zwar sei der Solidaritätsbeitrag ganz ohne Zweifel insoweit eine Sozialabgabe, als er der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme dienen solle, der Gerichtshof habe aber keineswegs erklärt, daß jede Abgabe, die zur Finanzierung der Sozialversicherung verwendet werde oder verwendet werden könne, ein Beitrag im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 sei.

20.

Die französische Regierung macht sodann geltend, die Vorruhestandsgelder und die Leistungen der zusätzlichen Altersversorgung fielen nicht in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71. Dieser Geltungsbereich sei in Artikel 4 der Verordnung eindeutig durch eine Aufzählung der Zweige der sozialen Sicherheit definiert, für die die durch die Verordnung geschaffene Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gelte. Bei der gegenwärtigen Rechtslage umfasse diese Aufzählung weder zusätzliche Altersrenten noch Vorruhestandsgelder.

Auf jeden Fall lägen diese Leistungen und die Vorruhestandsgelder aufgrund ihres tarifvertraglichen Charakters außerhalb des sachlichen Geltungsbereichs der Verordnung Nr. 1408/71. Nach Artikel 1 Buchstabe j dieser Verordnung umfasse der Begriff „Rechtsvorschriften“ bestehende oder künftige tarifvertragliche Vereinbarungen nicht, selbst wenn eine behördliche Entscheidung sie für allgemeinverbindlich erklärt oder ihren Geltungsbereich erweitert habe. Das System der Vorruhestandsgelder sei aber tarifvertraglich geregelt und beruhe auf dem Abschluß von besonderen Verträgen zwischen dem Staat und dem betreffenden Unternehmen. Die Leistungen der zusätzlichen Altersversorgung seien ebenfalls in tarifvertraglichen Bestimmungen geregelt.

21.

Was insbesondere die Vorruhestandsgelder angehe, habe der Gerichtshof im Urteil vom 5. Juli 1983 in der Rechtssache 171/82 (Valentini/Assedic, Slg. 1983, 2157) ausgeführt, daß die durch ein nationales berufsübergreifendes Abkommen eingeführten Beihilfen „zur Sicherung des garantierten Einkommens bei Aufgabe der Beschäftigung“ sich von den Leistungen bei Alter insoweit unterschieden, als sie ein beschäftigungspolitisches Ziel verfolgten, indem sie dazu beitrügen, Arbeitsplätze, die von vor dem Eintritt in den Ruhestand stehenden Arbeitnehmern besetzt seien, zugunsten von jüngeren Arbeitslosen freizumachen; diese Zielsetzung sei erst nach der Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise aktuell geworden, von der die Gemeinschaft seit einigen Jahren betroffen sei.

Aus dem genannten Urteil ergebe sich, daß die Vorruhestandsgelder, die den oben genannten Beihilfen „zur Sicherung des garantierten Einkommens bei Aufgabe der Beschäftigung“ ähnlich seien, weder den Leistungen bei Alter noch den Leistungen bei Arbeitslosigkeit im Sinne dieser Verordnung und damit auch nicht den Renten im allgemeinen gleichgestellt werden könnten. Der Solidaritätsbeitrag, den der beanstandete Abzug für Krankenversicherungsbeiträge darstelle und der nach den Vorruhestandsgeldern bemessen werde, könne folglich nicht als ein Krankenversicherungsbeitrag im Sinne von Artikel 33 der Verordnung angesehen werden.

22.

Entgegen dem Vorbringen der Kommission könnten die zur Finanzierung des Krankenversicherungssystems verwendeten Beiträge allein aufgrund dieser Verwendung und unabhängig von ihrer Bemessungsgrundlage nicht unter Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 fallen. Dieser Artikel beziehe sich auf die Beiträge, die auf der Grundlage der nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates geschuldeten Rente berechnet würden. Für die Anwendung dieses Artikels sei die Bemessungsgrundlage dieser Beiträge als solche ein Bestandteil ihrer Definition. Der von den Vorruhestandsgeldern oder den zusätzlichen Altersrenten einbehaltene Solidaritätsbeitrag sei aber kein von einer Rente einbehaltener Beitrag im Sinne des Artikels 31 der Verordnung.

23.

Die französische Regierung bestreitet, daß es einen allgemeinen Grundsatz gebe, wonach die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien. In der Verordnung Nr. 1408/71 gebe es nämlich zahlreiche Ausnahmen, die insbesondere in Artikel 14c und im Anhang VII dieser Verordnung angegeben seien. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts könnten für Arbeitnehmer daher mehrere Sozialversicherungssysteme nebeneinander gelten.

24.

Was den Grundsatz angeht, wonach es anderen Mitgliedstaaten als dem Beschäftigungsstaat verboten ist, ihr Sozialversicherungsrecht anzuwenden, wenn dies für den Arbeitnehmer eine Erhöhung der Lasten zur Folge hat, der keine entsprechende Verbesserung des Sozialschutzes gegenübersteht, trägt die französische Regierung vor, nach den französischen Rechtsvorschriften hätten die Empfänger von Vorruhestandsgeldern immer Anspruch auf die Sachleistungen bei Krankheit und Mutterschaft des allgemeinen Systems. Es sei verwunderlich, daß die Kommission die Vorruheständler in der vorliegenden Rechtssache als Rentenempfänger angesehen habe, während sie sie in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 11. Juni 1987, die eine andere Rechtssache betreffe, aufgefordert habe, auf die Vorruheständler Artikel 19 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden, der sich auf Arbeitnehmer beziehe, die eine Tätigkeit ausübten.

25.

Die französische Regierung macht außerdem geltend, die Verordnung Nr. 1408/71 habe finanzielle Konsequenzen für die Mitgliedstaaten und die betroffenen Träger. In einem solchen Fall gelte aber das Gebot der Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes in besonderem Maße, worauf der Gerichtshof im Urteil vom 13. März 1990 in der Rechtssache C-30/89 (Kommission/Französische Republik, Slg. 1990, I-691, Randnr. 23) hingewiesen habe.

Nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit könne die Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung daher nicht ohne Rechtsgrundlage auf bestimmte Sozialleistungen ausgedehnt werden.

26.

Schließlich bestreitet die französische Regierung, daß das einzige Ziel der gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet, die den Schutz der Arbeitnehmer bezwecke, die innerhalb der Gemeinschaft zu-und abwanderten, impliziere, daß „umgekehrte Diskriminierungen“ hinzunehmen seien. Aus den Begründungserwägungen der Verordnung Nr. 1408/71 gehe hervor, daß die Gleichbehandlung in bezug auf die nationalen Rechtsvorschriften für alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und nicht nur für die Wanderarbeitnehmer garantiert werde. Es würde daher dem oben genannten Grundsatz nicht entsprechen, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnenden Rentner von dem Solidaritätsbeitrag freizustellen.

27.

In ihrer Erwiderung trägt die Kommission vor, die Berufung auf das Urteil vom 5. Juli 1983 in der Rechtssache Valentini gehe an der Sache vorbei, denn im vorliegenden Rechtsstreit gehe es nicht um die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Vorruheständler. In diesem Zusammenhang wiederholt die Kommission, daß der vorliegende Fall im Lichte des Artikels 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 zu prüfen sei. Der Umstand, daß die Zusatzrenten und die Vorruhestandsgelder als solche nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung fielen, bedeute nicht, daß die Mitgliedstaaten Regelungstechniken einsetzen dürften, die darauf hinausliefen, daß die praktische Wirksamkeit der Verordnung durch tatsächliche Hindernisse für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigt werde.

28.

Die mit Gründen versehene Stellungnahme vom 11. Juni 1987 sei in einem ganz anderen Fall erlassen worden, in dem es um die Nichtanwendung des Artikels 19 der Verordnung Nr. 1408/71 auf Arbeitnehmer gegangen sei, die in Frankreich einen Anspruch auf eine Vorruhestandsleistung besäßen und sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hätten.

29.

In ihrer Gegenerwiderung macht die französische Regierung zum einen geltend, nach den französischen Rechtsvorschriften werde die Zahlung der Vorruhestandsgelder normalerweise bei Wiederaufnahme einer Berufstätigkeit ausgesetzt. Zum anderen sei die Kumulierung dieser Gelder mit einer Altersrente nur möglich, wenn diese vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses und vor dem Bezug des Vorruhestandsgelds festgesetzt worden sei oder wenn es sich um eine Hinterbliebenenrente handele.

30.

Der in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnende Empfänger eines französischen Vorruhestandsgelds, der jede Berufstätigkeit aufgegeben habe und keine Altersrente erhalte, falle ausschließlich unter die französischen Rechtsvorschriften. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sei, daß ein Arbeitnehmer, der seine Tätigkeit in einem Mitgliedstaat aufgebe, ohne anschließend im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu arbeiten, weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats seiner letzten Beschäftigung unterliege, unabhängig davon, wieviel Zeit seit der Beendigung der in Rede stehenden Tätigkeit und dem Ende des Arbeitsverhältnisses verstrichen sei (siehe Urteil vom 12. Juni 1986.in der Rechtssache 302/84, Ten Holder, Slg. 1986, 1827). Da das die Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft betreffende Kapitel 1 des Titels III der Verordnung Nr. 1408/71 keine besondere Vorschrift über Vorruheständler enthalte, sei auf diese Artikel 19 des Abschnitts 2 dieses Kapitels anzuwenden, der sich auf Arbeitnehmer beziehe, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat niedergelassen hätten.

31.

Was die Stellung eines Empfängers eines französischen Vorruhestandsgelds angehe, der in einem anderen Mitgliedstaat wohne, jede Berufstätigkeit aufgegeben habe, im übrigen aber eine Altersrente erhalte, sei die einschlägige Vorschrift ebenfalls Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71. Wie sich aus dem Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache Ten Holder ergebe, bleibe in einem solchen Fall in Anbetracht der Bestimmungen über die Voraussetzungen der Kumulierung eines Vorruhestandsgelds mit einer Altersrente Frankreich der Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung. Die französischen Rechtsvorschriften seien daher sowohl in bezug auf die Beiträge als auch in bezug auf die Leistungen weiterhin anwendbar.

32.

Außerdem seien Vorruhestandsgelder nach dem Urteil vom 5. Juli 1963 in der Rechtssache Valentini Renten nicht gleichzustellen. Der Vorruheständler sei folglich Arbeitnehmer im Sinne von Titel III Kapitel 1 Abschnitt 2 der Verordnung Nr. 1408/71; für ihn gelte damit Artikel 34 Absatz 2 dieser Verordnung.

33.

In allen oben genannten Fallgestaltungen seien die französischen Rechtsvorschriften daher anwendbar, und die Leistungen bei Krankheit, die dem Vorruheständler durch das System seines Wohnstaats gewährt würden, gingen weiterhin zu Lasten des französischen Systems.

34.

Was die zusätzlichen Altersrenten angeht, macht die französische Regierung, die sich dabei insbesondere auf das Urteil vom 12. Juni 1986 in der Rechtssache Ten Holder stützt, geltend, der Empfänger einer oder mehrerer allein unter die französischen Rechtsvorschriften fallender Renten, der in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohne, unterliege allein den französischen Rechtsvorschriften. In einem solchen Fall seien die Artikel 28 und 28a der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbar; daraus folge, daß die dem Betroffenen gewährten Leistungen bei Krankheit zu Lasten Frankreichs gingen.

35.

Was die Lage des Empfängers einer oder mehrerer französischer Renten und einer oder mehrerer von einem anderen Mitgliedstaat gewährter Renten angeht, der in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnt, weist die französische Regierung schließlich darauf hin, daß Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 sich ausdrücklich auf die Beiträge beziehe, die von Renten im Sinne der Verordnung erhoben würden. Die Zusatzrenten fielen aber nicht in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung. Im übrigen gehe aus dem Urteil vom 17. Mai 1990 in der Rechtssache C-262/88 (Barber, Slg. 1990, I-1889) hervor, daß die in Frage stehenden zusätzlichen Altersrenten, die unter eine tarifvertragliche Regelung fielen, einen Teil einer aufgeschobenen Vergütung darstellten.

36.

Nach alledem liege in der vorliegenden Rechtssache weder ein Verstoß gegen Artikel 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 noch ein Verstoß gegen den Grundsatz der Parallelität von Beiträgen und Leistungen vor.

P. J. G. Kapteyn

Berichterstatter


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

Top

URTEIL DES GERICHTSHOFES

16. Januar 1992 ( *1 )

In der Rechtssache C-57/90

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch den Rechtsberater Jean-Claude Séché und Maria Patakia, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Roberto Hayder, Juristischer Dienst der Kommission, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,

Klägerin,

gegen

Französische Republik, vertreten durch Philippe Pouzoulet, stellvertretender Leiter der Direktion für rechtliche Angelegenheiten des Außenministeriums, und Claude Chavance, Attaché principal der Zentralverwaltung dieses Ministeriums, als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Französische Botschaft, 9, boulevard Prince Henri, Luxemburg,

Beklagte,

wegen Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag und insbesondere gegen die Artikel 13 Absatz 1 und 33 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) verstoßen hat, daß sie von den zusätzlichen Altersrenten sowie von den Vorruhestandsgeldern, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnende Personen erhalten, deren Versicherung gegen Krankheit und Mutterschaft nicht zu Lasten eines französischen Systems geht, einen Krankenversicherungsbeitrag abzieht,

erläßt

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten O. Due, der Kammerpräsidenten R. Joliét, F. Grévisse und P. J. G. Kapteyn, der Richter C. N. Kakouris, G. C. Rodríguez Iglesias und M. Diez de Velasco,

Generalanwalt: C. O. Lenz

Kanzler: D. Louterman, Hauptverwaltungsrätin

aufgrund des Sitzungsberichts,

nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 2. Juli 1991,

nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. September 1991,

folgendes

Urteil

1

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 7. März 1990 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag und insbesondere gegen die Artikel 13 Absatz 1 und 33 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 6) verstoßen hat, daß sie von den zusätzlichen Altersrenten sowie von den Vorruhestandsgeldern, die in einem anderen Mitgliedstaat als Frankreich wohnende Personen erhalten, deren Versicherung gegen Krankheit und Mutterschaft nicht zu Lasten eines französischen Systems geht, einen Krankenversicherungsbeitrag abzieht.

2

Gemäß Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Gemäß Artikel 33 dieser Verordnung darf der Träger eines Mitgliedstaats, der eine Rente schuldet, wenn die für ihn geltenden Rechtsvorschriften vorsehen, daß von dem Rentner zur Deckung der Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft Beiträge einbehalten werden, diese Beiträge von der von ihm geschuldeten Rente in der nach den betreffenden Rechtsvorschriften berechneten Höhe einbehalten, soweit die Kosten der Leistungen aufgrund der Artikel 27, 28, 28a, 29, 31 und 32 zu Lasten eines Trägers des genannten Mitgliedstaats gehen.

3

Das Gesetz Nr. 79-1129 vom 28. Dezember 1979 über verschiedene Maßnahmen zur Finanzierung der Sozialversicherung (JORF Nr. 302 vom 29. Dezember 1979, S. 3279), das durch die Durchführungsdekrete Nr. 80-298 vom 24. April 1980 (JORF Nr. 99 vom 26. April 1980, S. 1080), Nrn. 80-598 und 80-599 vom 30. Juli 1980 (JORF Nr. 177 vom 31. Juli 1980, S. 1931) ergänzt worden ist, sieht den Abzug eines Beitrags zur Finanzierung des allgemeinen Systems der Sozialversicherung von den zusätzlichen Altersrenten und von den Vorruhestandsgeldern unabhängig vom Wohnort der Empfänger vor.

4

Die besonderen Vorruhestandsgelder werden vom Fonds national de l'emploi gezahlt. Gemäß Artikel L 322-4 des Code du travail (Ordonnance Nr. 86-948 vom 11. August 1986) können diese Gelder zugunsten bestimmter Gruppen älterer Arbeitnehmer aufgrund von Verträgen gewährt werden, die von den zuständigen Behörden mit den Berufsorganisationen oder den berufsübergreifenden Organisationen, den Gewerkschaften oder den Unternehmen geschlossen werden.

5

Die zusätzliche Altersversorgung der Arbeitnehmer, die in den Geltungsbereich des allgemeinen Altersversorgungssystems und der landwirtschaftlichen Versicherungen fallen, ist durch Artikel L 731-5 des Code de la sécurité sociale (Gesetz vom29. Dezember 1972) verbindlich vorgeschrieben worden. Tarifverträge, die von den Sozialpartnern abgeschlossen werden und für Arbeitgeber gelten, die einem der beiden Arbeitgeberverbände, die die Verträge unterzeichnet haben, angehören, enthalten genaue Bestimmungen über Beiträge und Leistungen. Durch interministerielle Verordnungen, die auf der Grundlage von Artikel L 731-2 des Code de la sécurité sociale erlassen worden sind, wird die Geltung dieser Bestimmungen auf die den genannten Arbeitgeberorganisationen nicht angehörenden Arbeitgeber und auf die Arbeitgeber in Tätigkeitsbereichen ausgedehnt, die in diesen Organisationen nicht vertreten sind, aber zum Geltungsbereich des allgemeinen Altersversorgungssystems gehören.

6

Wegen weiterer Einzelheiten des rechtlichen Rahmens, der Vorgeschichte des Rechtsstreits und des Parteivorbringens wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7

Die Kommission ist der Meinung, es sei mit den Bestimmungen des Artikels 13 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht vereinbar, daß die französischen Stellen im Rahmen der Versicherung bei Krankheit und Mutterschaft einen Beitrag auf Vorruhestandsgelder und zusätzliche Altersrenten, die an Personen mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat und mit Anspruch auf Leistungen bei Krankheit nach dessen Recht gezahlt werden, eingeführt hätten.

8

In Artikel 13 Absatz 1 sei der wichtige Grundsatz verankert, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien, zu dem der Artikel 33 eine Konkretisierung im Bereich der Krankenversicherungsbeiträge enthalte, die von den von der Verordnung Nr. 1408/71 erfaßten Leistungen bei Alter abgezogen würden. Bei diesem Grundsatz handle es sich um einen allgemeinen, schon vor der Verordnung Nr. 1408/71 geltenden Grundsatz; er greife im vorliegenden Fall ein, obwohl an sich zum sachlichen Geltungsbereich der Verordnung weder Vorruhestandszahlungen noch zusätzliche Altersrenten gehörten.

9

Der Gerichtshof habe in Urteilen, die sich auf vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 liegende Sachverhalte bezögen, die Artikel 48 und 51 EWG-Vertrag im Sinne eines solchen Grundsatzes ausgelegt, der darauf abziele, die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Staaten oder unsachgemäße Überlagerungen von Belastungen und Verantwortlichkeiten auszuschließen, die sich aus der Anwendung der Rechtsvorschriften mehrerer Staaten ergeben würden. Nach Ansicht der Kommission hat der Gerichtshof eine Parallelität zwischen dem für die Beiträge und dem für den Leistungsanspruch geltenden System hergestellt.

10

Die Französische Republik bestreitet, daß es einen allgemeinen Grundsatz gebe, wonach die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar seien. Tatsächlich gebe es in der Verordnung Nr. 1408/71 zahlreiche Abweichungen davon, namentlich in Artikel 14c und in Anhang VII. Nach dem gegenwärtigen Stand der Gemeinschaftsregelung könnten also im Bereich der sozialen Sicherheit die Rechtsvorschriften mehrerer Staaten gleichzeitig auf Arbeitnehmer angewandt werden.

11

Zunächst ist festzustellen, daß die Empfänger von Vorruhestandsgeldern oder zusätzlichen Altersrenten Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 sind und daß sie in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung, wie er in Artikel 2 umschrieben ist, fallen.

12

Ferner ist festzustellen, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 60/85, Luijten, Slg. 1986, 2365, Randnrn. 12 und 13) der Grundsatz, daß auf Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, der schon zur Zeit der Geltung der Verordnung Nr. 3 des Rates über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer angewandt worden ist, in Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) verankert ist. Artikel 13 Absatz 1 bestimmt, daß die Betroffenen den Rechtsvorschriften nur eines einzigen Mitgliedstaats unterworfen sind und daß sich „nach diesem Titel bestimmt“, welche Rechtsvorschriften dies sind.

13

Dieser Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, gilt jedoch nur für die Sachverhalte, auf die sich die Artikel 13 Absatz 2 und 14 bis 17 der Verordnung beziehen, d. h. die Vorschriften, die das im jeweiligen Fall anzuwendende Recht bestimmen. Wie sich nämlich aus dem Urteil vom 21. Februar 1991 in der Rechtssache C-140/88 (Noij, Slg. 1991, I-388, Randnrn. 9 und 10) ergibt, können Personen wie etwa Arbeitnehmer, die eine Berufstätigkeit endgültig aufgegeben haben und bei denen keine der in diesem Artikel behandelten Fallgestaltungen vorliegt, gleichzeitig den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten unterworfen sein.

14

Da sich die Empfänger von Vorruhestandsgeldern oder von zusätzlichen Altersrenten nicht in einer Lage befinden, auf die sich die Artikel 13 Absatz 2 und 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71 beziehen, kann der Grundsatz, daß die Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats anwendbar sind, nicht zu ihren Gunsten geltend gemacht werden.

15

Was Artikel 33 der Verordnung Nr. 1408/71 anbelangt, ergibt sich aus dem Urteil vom 28. März 1985 in der Rechtssache 275/83 (Kommission/Belgien, Slg. 1985, 1097), daß Beiträge von den gesetzlichen Altersrenten, Altersruhegeldern, Ruhegehältern und Hinterbliebenenrenten, auch wenn es an einer unmittelbaren Beziehung zwischen Beitrag und versichertem Risiko fehlt, von einem Mitgliedstaat nicht einbehalten werden können, wenn die entsprechenden Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft nicht zu Lasten eines Träger dieses Mitgliedstaats gehen.

16

Abschnitt 5 von Titel III der Verordnung Nr. 1408/71, zu dem Artikel 33 gehört und der die Überschrift „Rentenberechtigte und deren Familienangehörige“ trägt, gilt jedoch nur für Empfänger von Ruhegeldern oder Renten, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu zahlen sind. Als Staat, der ein Ruhegeld oder eine Rente im Sinne von Artikel 33 schuldet, ist also jeder Staat anzusehen, der nach seinen Rechtsvorschriften ein Ruhegeld oder eine Rente schuldet.

17

Gemäß Artikel 1 Buchstabe j Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sind unter dem Begriff „Rechtsvorschriften“ für jeden Mitgliedstaat die bestehenden und künftigen Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften zu verstehen, die sich auf die in Artikel 4 Absätze 1 und 2 genannten Zweige und Systeme der sozialen Sicherheit beziehen.

18

Nach Absatz 2 dieser Vorschrift umfaßt der Begriff „Rechtsvorschriften“ aber bestehende oder künftige tarifvertragliche Vereinbarungen nicht, selbst wenn eine behördliche Entscheidung sie für allgemein verbindlich erklärt oder ihren Geltungsbereich erweitert hat, soweit diese Einschränkung nicht in den in diesem Absatz vorgesehenen Fällen durch eine Erklärung des betreffenden Mitgliedstaats aufgehoben worden ist.

19

Die französischen Bestimmungen über die Vorruhestandsgelder und die zusätzlichen Altersrenten sind in Verträgen zwischen den zuständigen Stellen und den Berufsorganisationen oder den berufsübergreifenden Organisationen, den Gewerkschaften oder den Unternehmen oder in Tarifverträgen zwischen den Sozialpartnern festgelegt worden; die Erklärung nach Artikel 1 Buchstabe j Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 ist in bezug auf sie nicht abgegeben worden.

20

Daher ist festzustellen, daß diese Regelungen keine Rechtsvorschriften im Sinne des Artikels 1 Buchstabe j Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 darstellen. Folglich ist Artikel 33 auf sie nicht anwendbar.

21

Nach alledem und ohne daß es nötig wäre, auf das übrige Verteidigungsvorbringen der Beklagten einzugehen, ist festzustellen, daß die Französische Republik nicht gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag und insbesondere nicht gegen die Artikel 13 Absatz 1 und 33 der Verordnung Nr. 1408/71 verstoßen hat.

Kosten

22

Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

 

Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF

für Recht erkannt und entschieden:

 

1)

Die Klage wird abgewiesen.

 

2)

Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Due

Joliét

Grévisse

Kapteyn

Kakouris

Rodríguez Iglesias

Díez de Velasco

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. Januar 1992.

Der Kanzler

J.-G. Giraud

Der Präsident

O. Due


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

Top