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Document 61990CC0311

    Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 16. Januar 1992.
    Josef Hierl gegen Hauptzollamt Regensburg.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Finanzgericht München - Deutschland.
    Zusätzliche Abgabe für Milch.
    Rechtssache C-311/90.

    Sammlung der Rechtsprechung 1992 I-02061

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1992:13

    61990C0311

    Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 16. Januar 1992. - JOSEF HIERL GEGEN HAUPTZOLLAMT REGENSBURG. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT MUENCHEN - DEUTSCHLAND. - ZUSAETZLICHE ABGABE AUF MILCH. - RECHTSSACHE C-311/90.

    Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-02061


    Schlußanträge des Generalanwalts


    ++++

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    1. Im vorliegenden Fall hat das Finanzgericht München zwei Fragen nach der Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 775/87 des Rates vom 16. März 1987 (ABl. L 78, S. 5), mit der ein Teil der Referenzmengen gemäß Artikel 5c Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse (ABl. L 148, S. 13) vorübergehend ausgesetzt wird, zur Vorabentscheidung vorgelegt.

    2. Zum Abbau der Überschussproduktion sieht Artikel 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 775/87 in den Unterabsätzen 1 bis 3 folgendes vor:

    "Ab dem vierten Zwölfmonatszeitraum der Anwendung der in Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 genannten zusätzlichen Abgabe wird ein einheitlicher Teil jeder Referenzmenge gemäß Artikel 5c Absatz 1 der genannten Verordnung ausgesetzt.

    Dieser Teil wird so bestimmt, daß die Summe der ausgesetzten Mengen im vierten Zeitraum 4 % und im fünften Zeitraum 5,5 % der in Artikel 5c Absatz 3 der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 für den dritten Zwölfmonatszeitraum festgesetzten Gesamtgarantiemenge des jeweiligen Mitgliedstaats entspricht.

    Jedoch können die Mitgliedstaaten ab dem vierten Zeitraum die für den fünften Zeitraum vorgesehenen Mengen aussetzen."

    Nach Artikel 1 Absatz 2 war die zusätzliche Abgabe demgemäß für die in den jeweiligen Zwölfmonatszeiträumen gelieferten oder gekauften Milchmengen zu entrichten, die über die so herabgesetzte Referenzmenge hinausgingen. Artikel 2 Absatz 1 sieht die Gewährung einer Vergütung von 10 ECU je 100 kg für die ausgesetzten Mengen vor. Artikel 2 Absatz 2 erlaubt es den Mitgliedstaaten, sich im vierten Zwölfmonatszeitraum an der Finanzierung der Maßnahme zu beteiligen, indem sie die für die ausgesetzten Mengen gezahlte Vergütung bis auf 12,5 ECU je 100 kg erhöhen.

    3. Der Kläger des Ausgangsverfahrens, Josef Hierl, ist Eigentümer eines landwirtschaftlichen Mischbetriebs, der etwa zur Hälfte aus Wiesen besteht, die hauptsächlich für Milchvieh genutzt werden. Ihm war eine Referenzmenge (oder "Quote") von 17 000 kg zugeteilt worden, die am 16. Juni 1987 mit Wirkung vom 1. April 1987 auf 16 490 kg gekürzt wurde. Diese Kürzung erfolgte gemäß Artikel 5c Absatz 3 Unterabsätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 804/68 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1335/86 des Rates vom 6. Mai 1986 (ABl. L 119, S. 19). Gleichzeitig wurde eine Menge von 935 kg, also 5,5 % der ursprünglichen Quote, ebenfalls mit Wirkung vom 1. April 1987 gemäß der Verordnung Nr. 775/87 vorübergehend ausgesetzt; in der vorliegenden Rechtssache geht es um die Aussetzung der letztgenannten Menge.

    4. Das Finanzgericht hat Zweifel an der Gültigkeit der Bestimmung, aufgrund deren die Aussetzung erfolgte. Es führt zunächst aus, gemäß Artikel 39 Absatz 2 EWG-Vertrag seien bei der Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik "die besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit, die sich aus dem sozialen Aufbau der Landwirtschaft und den strukturellen und naturbedingten Unterschieden der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete ergibt", sowie "die Notwendigkeit, die geeigneten Anpassungen stufenweise durchzuführen", zu berücksichtigen. Nach Auffassung des Finanzgerichts gehört es zu dem besonderen Wesen der landwirtschaftlichen Tätigkeit, daß, insbesondere im Fall der Milchwirtschaft, die Landwirtschaft traditionell auf dem Familienbetrieb beruhe, wobei in der Regel eigenes Futter zur Milchviehhaltung verwendet werde. Solche Betriebe seien im Vergleich zu den sogenannten Agrarfabriken besonders schutzwürdig; diesem Schutzbedürfnis würden die Bestimmungen über die Aussetzung von Referenzmengen nicht gerecht. Das Finanzgericht vertritt weiter die Ansicht, die einheitliche Aussetzung aller Referenzmengen in Höhe von 5,5 % verstosse gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung.

    5. Das Finanzgericht München hat dem Gerichtshof demgemäß folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    "1) Ist Artikel 1 Absatz 1 Unterabsätze 1 bis 3 der Verordnung (EWG) Nr. 775/87 vom 16. März 1987 wegen Verstosses gegen Artikel 39 EWG-Vertrag und den EG-rechtlichen Gleichheitsgrundsatz ungültig, weil bei der Aussetzung der Referenzmengen unterschiedslos - ohne Rücksicht auf die jeweilige Höhe der jeweiligen Referenzemenge - der gleiche prozentuale Kürzungssatz vorgeschrieben wird?

    2) Ist die genannte Rechtsnorm insgesamt oder nur insoweit ungültig, als davon Milcherzeuger mit einer bestimmten Referenzmenge - gegebenenfalls welcher - betroffen sind?"

    Übereinstimmung mit den Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik

    6. Ich möchte zunächst auf die Frage eingehen, ob die beanstandete Bestimmung mit den in Artikel 39 EWG-Vertrag niedergelegten Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik vereinbar ist. Jedoch ist von vornherein darauf hinzuweisen, daß sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes klar ergibt, daß das Ziel der Verordnung Nr. 775/87 gemäß deren erster Begründungserwägung, nämlich die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage, im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik ein rechtmässiges Ziel ist: siehe Rechtssache 84/87 (Erpelding, Slg. 1988, 2647, Randnr. 26) sowie Rechtssache C-331/88 (Fedesa, Slg. 1990, I-4023, Randnrn. 26 bis 27). Es wurde auch nicht geltend gemacht, daß die betreffende Maßnahme zur Erreichung dieses Ziels unverhältnismässig sei.

    7. Da die in Artikel 39 EWG-Vertrag genannten Ziele auch die Gewährleistung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung umfassen, kann die Erleichterung der Lasten der landwirtschaftlichen Kleinbetriebe somit ein rechtmässiges politisches Ziel darstellen. Die Verordnung kann jedoch nicht deshalb beanstandet werden, weil sie keine besondere Bestimmung zu diesem Zweck enthält. Wie die Kommission ausgeführt hat, gibt es tatsächlich andere Bestimmungen der Milchquotenregelung, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Kleinerzeuger zu begünstigen: siehe Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1371/84 der Kommission vom 16. Mai 1984 mit den Durchführungsbestimmungen für die Zusatzabgabe nach Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 (ABl. 1984 L 132, S. 11), wonach die Mitgliedstaaten bei der Berechnung der Quoten die Höhe der Lieferungen bestimmter Gruppen von Abgabenpflichtigen berücksichtigen können; siehe auch Artikel 3 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 857/84 des Rates vom 31. März 1984 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5c der Verordnung (EWG) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse, der durch Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 3880/89 des Rates vom 11. Dezember 1989 (ABl. L 378, S. 3) eingefügt wurde und die Zuteilung zusätzlicher Referenzmengen an solche Erzeuger erlaubt, deren individuelle Referenzmenge höchstens 60 000 kg beträgt. Zwar müssen alle Gemeinschaftsbestimmungen irgendein Ziel der Gemeinschaft fördern, es kann jedoch eindeutig nicht verlangt werden, daß jede Bestimmung allen Zielen der Gemeinschaft, von denen manche ohnehin oft nicht gleichzeitig verwirklicht werden können, dient: siehe Urteil in den verbundenen Rechtssachen 197/80 bis 200/80, 243/80, 245/80 und 247/80 (Ludwigshafener Walzmühle/Rat und Kommission, Slg. 1981, 3211, Randnr. 41) sowie Rechtssache 203/86 (Spanien/Rat, Slg. 1988, 4563, Randnr. 10).

    8. Das Finanzgericht verweist schließlich auf die Rechtssache 139/77 (Denkavit, Slg. 1978, 1317) zur Unterstützung des Standpunkts, daß landwirtschaftliche Betriebe, die ihr eigenes Futter erzeugen, besonders schutzwürdig seien. Offensichtlich lässt sich dies jenem Fall so allgemein nicht entnehmen. Wie die dänische Regierung ausführt, waren die streitigen nationalen Maßnahmen in der Rechtssache 139/77 dazu bestimmt, den deutschen Landwirten einen Ausgleich für die Aufwertung der Deutschen Mark zu verschaffen. Demgemäß war die Unterscheidung zwischen Landwirten, die ihr eigenes Futter anbauten, und Großbetrieben, die es aus dem Ausland einführen konnten, für die Frage erheblich, ob eine Maßnahme, die die erstgenannte Gruppe begünstigte, als diskriminierend angesehen werden konnte: siehe Randnummer 17. Die beanstandete Bestimmung steht demgemäß mit den in Artikel 39 EWG-Vertrag niedergelegten Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik in Einklang.

    Gleichbehandlung

    9. Als nächstes ist zu überlegen, ob die beanstandete Bestimmung gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstösst. Dieser Grundsatz ist nicht nur ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, sondern er ist auch für die Schaffung einer gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte in Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag wie folgt niedergelegt:

    "Die gemeinsame Organisation hat sich auf die Verfolgung der Ziele des Artikels 39 zu beschränken und jede Diskriminierung zwischen Erzeugern und Verbrauchern innerhalb der Gemeinschaft auszuschließen."

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann eine Diskriminierung vorliegen, wenn gleiche Sachverhalte ungleich und wenn ungleiche Sachverhalte gleich behandelt werden: siehe z. B. Rechtssache 13/63 (Italien/Kommission, Slg. 1963, 357, 384) und Rechtssache 8/82 (Wagner, Slg. 1983, 371, Randnr. 18). Das Finanzgericht meint, daß die einheitliche Aussetzung jeder Referenzmenge in Höhe von 5,5 % Kleinerzeuger dadurch diskriminiere, daß sie ebenso behandelt würden wie Grosserzeuger. Für kleinere Erzeuger sei es insbesondere schwieriger, auf das Erfordernis, die Erzeugung herabzusetzen, zu reagieren. Zum Beispiel könne ein Grosserzeuger durch Drosselung des Ankaufs von importiertem Futter seine Kosten senken, während ein Kleinerzeuger seine Futtermittel eher selbst erzeuge. Ein landwirtschaftlicher Großbetrieb könne auch leichter auf andere Produkte ausweichen, um die niedrigere Milcherzeugung auszugleichen. Die griechische Regierung unterstützt diesen Standpunkt; sie hat in ihren schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, daß die beanstandete Bestimmung die besonders schwierige Lage der kleinen landwirtschaftlichen Betriebe übersehe.

    10. Es ist festzustellen, daß kein konkreter Beweis für das Argument vorgelegt wird, daß sich die beanstandete Maßnahme auf die Kleinerzeuger stärker auswirke; diese Behauptung wurde auch von der Kommission und der dänischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen sowie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung bestritten. Wie die Kommission und die dänische Regierung ausgeführt haben, ist dies keinesfalls offensichtlich, da die grösseren Erzeuger eine höhere Belastung durch feste Kosten haben könnten und es ihnen daher schwerer fallen könnte, ihre Produktion zu drosseln. Ausserdem ist es, wie der Rat in seinen schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, denkbar, daß ein entgangener Gewinn durch die in Artikel 2 der Verordnung Nr. 775/87 vorgesehene Vergütung vollständig kompensiert wird.

    11. Jedenfalls ist eine Maßnahme, die für bestimmte Erzeuger je nach der individuellen Ausrichtung ihrer Erzeugung oder den örtlichen Bedingungen unterschiedliche Auswirkungen haben kann, nicht als eine nach Artikel 40 Absatz 3 EWG-Vertrag verbotene Diskriminierung anzusehen, wenn die Maßnahme auf objektiven, den Erfordernissen der gemeinsamen Marktorganisation angepassten Kriterien beruht: siehe Rechtssache 179/84 (Bozzetti, Slg. 1985, 2301, Randnr. 34). Möglicherweise lässt sich tatsächlich nicht gewährleisten, daß die Auswirkungen einer allgemeinen Maßnahme für alle Gruppen von Erzeugern absolut identisch sind; unter solchen Umständen ist es ausreichend, wenn die gewählten Mittel objektiv gerechtfertigt und ihrem Ziel angemessen sind, wenn nur dieses Ziel selbst im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik liegt: siehe Rechtssache 84/87 (Erpelding, a. a. O., Absatz 6, Randnr. 30).

    12. Somit werden Erzeuger bei einer einheitlichen prozentualen Aussetzung auf den ersten Blick gleich behandelt. Um eine gegen Artikel 40 Absatz 3 EWG-Vertrag verstossende Diskriminierung nachzuweisen, müsste nicht nur aufgezeigt werden, daß eine solche Maßnahme für verschiedene Gruppen von Erzeugern unterschiedliche Auswirkungen hat, sondern auch, daß dasselbe Ziel auf weniger diskriminierende Art und Weise hätte erreicht werden können. Die griechische Regierung macht geltend, es wäre möglich gewesen, die Kleinerzeuger von der Aussetzung der Quoten auszunehmen oder zumindest in ihrem Fall eine niedrigere prozentuale Kürzung vorzusehen. Eindeutig hätten jedoch solche Alternativen den von den grösseren Erzeugern zu tragenden Teil der Belastung erhöht. Es ist keinesfalls offensichtlich, daß eine dieser Alternativen ein zufriedenstellendes Mittel gewesen wäre, die erforderliche globale Herabsetzung zu erreichen, oder daß sie nicht zu einer Diskriminierung der Grosserzeuger geführt hätte.

    13. Schließlich ist festzustellen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber beim Erlaß von Maßnahmen im Agrarsektor über einen gewissen Ermessensspielraum verfügt, der seiner politischen Verantwortung auf diesem Gebiet entspricht: siehe Bozzetti (a. a. O., Absatz 11, Randnr. 30) sowie verbundene Rechtssachen C-267/88 bis C-285/88 (Wuidart, Slg. 1990 I-435, Randnr. 14). Zwar sollte das letztgenannte Urteil meiner Auffassung nach nicht dahin verstanden werden, daß Maßnahmen, die prima facie als diskriminierend anzusehen waren, durch das weite Ermessen des Gesetzgebers gerechtfertigt werden könnten; und es ist darauf hinzuweisen, daß die Passage aus dem Urteil in der Rechtssache 265/87 (Schräder, Slg. 1989, 2237), die in diesem Urteil zitiert wird, die Verhältnismässigkeit und nicht die Diskriminierung betraf. Wie auch immer, es ist nicht erforderlich, auf das weite Ermessen des Gesetzgebers zu verweisen, um die in der vorliegenden Rechtssache streitige Maßnahme zu rechtfertigen, die nicht prima facie diskriminierend ist und bei der ohnehin nicht dargetan ist, daß sie nicht objektiv gerechtfertigt ist.

    14. Die erste Vorlagefrage des Finanzgerichts ist demgemäß zu verneinen. Es besteht somit keine Veranlassung zur Beantwortung der zweiten Frage.

    Antrag

    15. Meines Erachtens sollte der Gerichtshof die Vorlagefragen des Finanzgerichts München daher wie folgt beantworten:

    Die Untersuchung der Vorlagefragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Artikels 1 Absatz 1 der Verordnung Nr. 775/87 vom 16. März 1987 beeinträchtigen könnte.

    (*) Originalsprache: Englisch.

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