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Document 61988CC0161

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 16. Mai 1989.
Friedrich Binder GmbH & Co. KG gegen Hauptzollamt Bad Reichenhall.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Finanzgericht München - Deutschland.
Gültigkeit einer Entscheidung über die Nacherhebung von Eingangsabgaben.
Rechtssache 161/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1989 -02415

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1989:200

61988C0161

Schlussanträge des Generalanwalts Darmon vom 16. Mai 1989. - FRIEDRICH BINDER GMBH & CO KG GEGEN HAUPTZOLLAMT BAD REICHENHALL. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: FINANZGERICHT MUENCHEN - DEUTSCHLAND. - GUELTIGKEIT EINER ENTSCHEIDUNG UEBER DIE NACHERHEBUNG VON EINGANGSABGABEN. - RECHTSSACHE 161/88.

Sammlung der Rechtsprechung 1989 Seite 02415


Schlußanträge des Generalanwalts


++++

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1 . Das Finanzgericht München hat Ihnen eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, die im wesentlichen auf die Feststellung abzielt, welche Auswirkung ein Irrtum der innerstaatlichen Verwaltung bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts gegenüber gutgläubigen Wirtschaftsteilnehmern hat .

2 . Der Sachverhalt ist folgender : Vom 30 . Januar bis 5 . März 1983 führte die Friedrich Binder GmbH & Co . KG ( im folgenden : Binder ), eine deutsche Gesellschaft, zwölf Sendungen tiefgefrorener Sauerkirschen aus Jugoslawien ein . Die deutsche Zollverwaltung, das Hauptzollamt Bad Reichenhall, setzte den Zoll zum Präferenzsatz von 10,4 % fest, der im Deutschen Gebrauchszolltarif enthalten war und ab 1 . Januar 1983 galt .

3 . Dieser Zollsatz entstammte einem von der Kommission dem Rat am 16 . Juli 1982 vorgelegten Verordnungsvorschlag . Im vorliegenden Fall anwendbar war aber der Satz von 13 %, der durch die Verordnung Nr . 1272/80 des Rates vom 22 . Mai 1980 über den Abschluß eines Interimsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien betreffend den Handelsverkehr und die handelspolitische Zusammenarbeit ( 1 ) eingeführt worden war . Der Verordnungsvorschlag der Kommission wurde nie angenommen . Der Bundesminister der Finanzen berichtigte durch Erlaß vom 9 . März 1983 den ab 1 . Januar 1983 geltenden Zollsatz in der Weise, daß er ihn wieder auf 13 % festsetzte . Mit drei rechtskräftigen Steuerbescheiden vom 28 . März, 29 . März und 13 . Juni 1983 forderte die deutsche Verwaltung die Zollbeträge, soweit sie noch nicht entrichtet worden waren, nach .

4 . Auf den Einspruch von Binder beantragte die Bundesrepublik Deutschland bei der Kommission mit am 5 . Juli 1985 eingegangenem Schreiben eine Entscheidung darüber, ob es zweckmässig sei, von der Nacherhebung der Eingangsabgaben gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr . 1573/80 der Kommission vom 20 . Juni 1980 ( 2 ) abzusehen . Nach Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1697/79 des Rates vom 24 . Juli 1979 ( 3 ) können nämlich die "zuständigen Behörden ... von einer Nacherhebung von Eingangs - oder Ausfuhrabgaben absehen, deren Nichterhebung auf einen Irrtum der zuständigen Behörden zurückzuführen ist, sofern dieser Irrtum vom Abgabenschuldner nicht erkannt werden konnte" und sofern dieser gutgläubig gewesen und die Zollanmeldung vorschriftsmässig erfolgt ist .

5 . Mit Entscheidung Nr . 8/85 vom 5 . November 1985 ( im folgenden : die Entscheidung ) ordnete die Kommission die Nacherhebung an .

6 . Das Finanzgericht München, bei dem Binder wegen der Zurückweisung ihres Einspruchs durch die Zollverwaltung Klage erhob, hat Sie ersucht, die Gültigkeit dieser Entscheidung zu beurteilen .

7 . Die Parteien des Ausgangsverfahrens haben keine Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht . Gleichwohl lässt sich aufgrund des Vorlagebeschlusses feststellen, daß die Gültigkeit der Entscheidung der Kommission unter Berufung auf eine Verletzung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes und einen Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1697/79 bezweifelt wird . Prüfen wir nacheinander diese beiden Punkte .

8 . Was den Grundsatz des Vertrauensschutzes angeht, so hatte ich bereits in der Rechtssache Padovani ( 4 ) Gelegenheit, zur Anwendung dieses Grundsatzes im Falle eines Irrtums der innerstaatlichen Verwaltung Stellung zu nehmen . Ich hatte damals darauf verwiesen, daß Sie im Urteil Maizena ( 5 ) folgendes ausgeführt haben :

"Eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstossende Praxis eines Mitgliedstaats kann niemals eine gemeinschaftsrechtliche, geschützte Rechtsposition begründen ." ( 6 )

9 . Wie ich jedoch damals erklärte, meinte ich, daß die Tragweite dieses Urteils im Lichte der Rechtsprechung zu bestimmen sei, in der Sie die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit als Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt haben ( 7 ). Diese Grundsätze bezwecken per definitionem den Schutz von in streng juristischer Hinsicht rechtswidrigen Situationen, um ein Gleichgewicht zwischen Billigkeit und Rechtmässigkeit herzustellen . Man würde diesen Grundsätzen einen Grossteil ihrer Wirkungen nehmen, wenn man ihre Anwendung bei Vorliegen eines Irrtums der Verwaltung ausschließen würde .

10 . Die Kommission macht geltend, die Anerkennung eines berechtigten Vertrauens im Falle des Deutschen Gebrauchszolltarifs, der nur deklaratorische Bedeutung habe, würde dazu führen, den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage zu stellen, da allein die im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichten Verordnungen rechtliche Bedeutung hätten .

11 . Zu diesem Punkt sei es mir erlaubt, auf die von Herrn Generalanwalt Reischl in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Amylum ( 8 ) geäusserte Ansicht zu verweisen, nach der in einem veröffentlichten Vorschlag

"sowohl nach unserer wie auch nach der nationalen Rechtsprechung für die Frage des Vertrauensschutzes sicher ein relevantes Element zu erblicken ist ". ( 9 )

Ein veröffentlichter Vorschlag hat aber keine verbindliche Kraft, und wenn er auch, so scheint es, gewisse Wirkungen, wie die von Herrn Reischl angeführten, haben kann, hat er doch keine rechtliche Bedeutung im strengen Wortsinn . Der Deutsche Gebrauchszolltarif hat, ich sagte es bereits, nur deklaratorische Bedeutung . Infolgedessen hat entgegen der Auffassung der Kommission der blosse Umstand, daß die Angaben, mit denen er versehen ist, herangezogen werden, um zu beurteilen, ob sich ein Wirtschaftsteilnehmer auf ein berechtigtes Vertrauen berufen kann, ebensowenig wie bei einem veröffentlichten Vorschlag zur Folge, daß dem Gebrauchszolltarif rechtliche Bedeutung beigemessen wird und daß demzufolge der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts verletzt wird .

12 . Die Kommission macht ausserdem geltend, eine Anerkennung des Vorbringens von Binder hätte zur Folge, daß die Einheit und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt würden, auf deren Notwendigkeit Sie in Ihren Urteilen Racke ( 10 ) und Decker ( 11 ) hingewiesen haben, und hierdurch die Wirtschaftsteilnehmer der anderen Mitgliedstaaten diskriminiert würden, auf die der geltende Abgabensatz angewandt worden sei .

13 . Unabhängig davon, daß keine wirtschaftliche Diskriminierung darin liegt, daß Binder, die dem unzutreffenden Tarif Rechnung getragen hatte, die nacherhobenen Einfuhrabgaben nicht mehr auf ihre Kunden abwälzen kann, berücksichtigt das Argument der Kommission nicht, daß wir es mit einer ganz besonderen - ich würde sogar sagen, einer pathologischen - Situation zu tun haben, die auf einen Irrtum einer nationalen Verwaltung zurückgeht, den die Kommission selbst als äusserst selten ansieht .

14 . Tatsächlich scheint die Kommission vom Gerichtshof implizit die Feststellung zu begehren, daß der Grundsatz des Vertrauensschutzes nur gegenüber einem Text der Gemeinschaftsorgane und nicht gegenüber einem von einer innerstaatlichen Verwaltung herausgegebenen Text geltend gemacht werden könne, selbst wenn er eine Gemeinschaftsregelung betrifft . Anders gesagt, die Kommission scheint es für möglich zu halten, ihre eigenen Irrtümer zu berücksichtigen, nicht aber, die gleiche Haltung gegenüber den Irrtümern der innerstaatlichen Verwaltung einzunehmen .

15 . Zwar haben Sie im Urteil Salerno ausgeführt, daß

"eine Entschließung des Parlaments keinen zwingenden Charakter (( hat )) und ... kein berechtigtes Vertrauen darauf entstehen lassen (( kann )), daß die Organe ihr entsprechen ." ( 12 )

Im Urteil Fingruth ( 13 ) vom 5 . Oktober 1988 haben Sie jedoch eingeräumt, daß eine gemeinsame Praxis eines Gemeinschaftsorgans und einer innerstaatlichen Verwaltung bei einem Gemeinschaftsbeamten ein berechtigtes Vertrauen begründen kann . Wenn das berechtigte Vertrauen aber gegenüber einer Verwaltungspraxis geltend gemacht werden kann, die sowohl von der innerstaatlichen Verwaltung als auch von einem Gemeinschaftsorgan angewandt wird, kann ich nur schwer einsehen, warum dies nicht auch bei einem innerstaatlichen Text, selbst wenn er nur deklaratorische Bedeutung hat, möglich sein soll, der darauf gerichtet ist, der Öffentlichkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts zur Kenntnis zu bringen .

16 . Natürlich lege ich Ihnen nicht nahe, festzustellen, daß die von den innerstaatlichen Verwaltungen bei der Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs begangenen Irrtümer wegen des Grundsatzes des Vertrauensschutzes nie zu einer Nacherhebung führen könnten . Ich schlage lediglich vor, festzustellen, daß dieser Grundsatz in einem derartigen Fall anwendbar ist . Danach wäre zu prüfen, ob Binder unter den tatsächlichen Umständen den Grundsatz des Vertrauensschutzes mit Erfolg gegenüber der Entscheidung der Kommission geltend machen kann .

17 . Prüfen wir nunmehr Artikel 5 der Verordnung Nr . 1697/79 . Diese Bestimmung enthält, wir erinnern uns, den Begriff "Irrtum der zuständigen Behörden ..., (( der )) vom Abgabenschuldner nicht erkannt werden konnte ".

18 . Die Kommission stützt sich, um das Vorbringen von Binder zurückzuweisen, insoweit auf das Urteil Van Gend en Loos ( 14 ), das den - der Kommission zufolge - "vergleichbaren" Artikel 13 der Verordnung Nr . 1430/79 des Rates vom 2 . Juli 1979 über die Erstattung oder den Erlaß von Eingangs - oder Ausfuhrabgaben ( 15 ) betrifft . Absatz 1 dieser Vorschrift bestimmt nämlich : "Eingangsabgaben können bei Vorliegen besonderer Umstände erstattet oder erlassen werden, sofern der Beteiligte nicht fahrlässig oder in betrügerischer Absicht gehandelt hat ." Sie haben in dieser Rechtssache folgendes ausgeführt :

"Selbst wenn Artikel 13 der Verordnung Nr . 1430/79 so ausgelegt werden könnte, daß er mit dem Begriff der höheren Gewalt übereinstimmte, so ist doch ein Fall der höheren Gewalt nur anzunehmen, wenn die vom Betroffenen angeführte äussere Ursache unabwendbare und unvermeidliche Folgen hat, die ihm die Einhaltung seiner Verpflichtungen objektiv unmöglich machen . Für erfahrene Geschäftsleute wie die Klägerinnen kann der Empfang von ungültigen Ursprungszeugnissen nicht als unvorhersehbarer und trotz aller aufgewandten Sorgfalt unvermeidbarer Umstand angesehen werden . Es liegt im Wesen der Tätigkeit einer Zollspedition, daß sie sowohl für die Zahlung der Eingangsabgaben als auch für die Ordnungsmässigkeit der von ihr den Zollbehörden vorgelegten Papiere einzustehen hat ." ( 16 )

19 . Mir erscheint es jedoch nicht sicher, daß, wie die Kommission meint, zwischen Artikel 13 der Verordnung Nr . 1430/79 und Artikel 5 der Verordnung Nr . 1697/79 eine Begriffsidentität besteht . Die erstgenannte Verordnung betrifft nämlich alle Fälle, in denen aus diesem oder jenem Grund die erhobenen oder die "fälligen" Zölle zu erstatten oder zu erlassen sind . Und sie zählt die Gründe auf, die eine solche Erstattung und einen solchen Erlaß rechtfertigen, insbesondere : Berechnung höherer als der gesetzlich geschuldeten Abgaben, vom Einführer wegen Schadhaftigkeit oder Vertragswidrigkeit zurückgewiesene Waren, Irrtum des Versenders, Unmöglichkeit der Verwendung der Waren aus bestimmten Gründen, schließlich - und das ist Gegenstand des Artikels 13 - "Vorliegen besonderer Umstände ..., sofern der Beteiligte nicht fahrlässig oder in betrügerischer Absicht gehandelt hat ". Hierbei handelt es sich in Wirklichkeit um die Hinzufügung eines neuen Tatbestands der Erstattung oder des Erlasses der Zollschuld, und dieser Artikel schließt - völlig vernünftig - die Erstattung oder den Erlaß dann aus, wenn der Beteiligte in betrügerischer Absicht, d . h . bösgläubig, oder fahrlässig, d . h . leicht fahrlässig oder unvorsichtig, gehandelt hat . Es scheint, daß Ihr Urteil Van Gend en Loos, das sich nicht ausdrücklich zur Frage der Übereinstimmung dieser Vorschriften mit dem Begriff der höheren Gewalt äussert, lediglich diesen Fahrlässigkeitsvorbehalt angewandt hat, indem es festgestellt hat, daß ein Zollspediteur, der schon nach der Natur seiner Aufgaben für die Ordnungsmässigkeit der Papiere, die er den Zollbehörden vorlegt, einzustehen hat, die Gültigkeit der ihm übermittelten Ursprungszeugnisse hätte überprüfen müssen .

20 . Ganz anders ist der Aufbau der Verordnung Nr . 1697/79 . Hier geht es nicht um die Erstattung oder den Erlaß von Zöllen, sondern umgekehrt um deren Nacherhebung . Die Verordnung gibt nicht genau an, welche Gründe zur Nichterhebung führen konnten . Artikel 1 bezieht sich nur allgemein auf "vom Abgabenschuldner aus irgendeinem Grunde noch nicht angeforderte Eingangs - oder Ausfuhrabgaben ". Und Artikel 5 legt für die Nacherhebung drei Einschränkungen fest :

- völliger Ausschluß einer Nacherhebung, wenn bei der Festsetzung des Betrags, der niedriger ist als der nach den gesetzlichen Vorschriften geschuldete, von Auskünften ausgegangen worden ist, die von den zuständigen Behörden selber erteilt worden sind und diese Behörden binden;

- der gleiche Ausschluß, wenn bei der Festsetzung dieses Betrags allgemeine Vorschriften zugrunde gelegt worden sind, die später durch eine gerichtliche Entscheidung ausser Kraft gesetzt worden sind; diese Bestimmung ergibt sich, wie die vorangehende, aus Absatz 1 des Artikels;

- Möglichkeit für die zuständigen Behörden, bei Vorliegen eines Irrtums von einer Nacherhebung abzusehen, sofern dieser Irrtum vom Abgabenschuldner nicht erkannt werden konnte; diesen Fall regelt Artikel 5 Absatz 2, um den es in der vorliegenden Rechtssache geht .

21 . Die Verordnung Nr . 1573/80 der Kommission vom 20 . Juni 1980 zur Durchführung des vorgenannten Artikels 5 Absatz 2 legt fest, unter welchen Umständen die zuständige Behörde des Mitgliedstaats die Kommission mit einem Antrag auf Entscheidung befassen muß . Sie haben bereits festgestellt, daß diese Vorschrift

"so auszulegen (( ist )), daß der Abgabenschuldner einen Anspruch darauf hat, daß von einer Nacherhebung abgesehen wird, wenn alle diese Voraussetzungen erfuellt sind".(17 )

22 . Bevor ich die Anwendung des Artikels 5 Absatz 2 im vorliegenden Fall untersuche, halte ich es für richtig, Sie auf Absatz 1 dieses Artikels hinzuweisen . Sie sind zwar nur angerufen worden, um über die Gültigkeit der Entscheidung der Kommission im Hinblick auf Absatz 2 zu befinden, doch muß man sich fragen, ob zu den Faktoren, die die Kommission bei Erlaß ihrer Entscheidung berücksichtigen muß, nicht zunächst auch die Feststellung gehört, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Nacherhebung erfuellt sind, und mithin diejenige, daß Artikel 5 Absatz 1 in dem betreffenden Fall nicht anwendbar ist . Wenn nämlich der Irrtum alle in Absatz 1 dieses Artikels genannten Merkmale aufweist - das heisst wenn er von den zuständigen Behörden ausgeht und in den diese Behörden bindenden Auskünften enthalten ist -, ist eine Nacherhebung völlig ausgeschlossen . Und es wäre nicht verständlich, wenn die Kommission in diesem Fall beurteilen konnte, ob die Zölle im Hinblick auf die Voraussetzungen des Absatzes 2 nachzuerheben sind oder nicht . Es ist ein Gebot blosser Logik, daß die Kommission, bevor sie prüft, ob eine Nacherhebung zu erfolgen hat, feststellt, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für diese Nacherhebung erfuellt sind . Würde man dieses Erfordernis nicht anerkennen, so könnte dies dazu führen, daß die Kommission beschließt, die Abgaben auch in den Fällen nachzuerheben, in denen die Nacherhebung nach Artikel 5 Absatz 1 unzulässig wäre .

23 . Sie werden diese Schwierigkeiten im übrigen einer expliziten Lösung zuführen müssen, denn in der mit der vorliegenden Rechtssache völlig gleichartigen Rechtssache 80/89 hat das Finanzgericht Hamburg ebenfalls eine Frage nach der etwaigen Anwendung des Artikels 5 Absatz 1 zur Vorabentscheidung vorgelegt .

24 . Früher oder später werden Sie somit klarstellen müssen, was unter den Worten "Auskünfte ..., die von den zuständigen Behörden selber erteilt worden sind und diese Behörden binden", zu verstehen ist .

25 . Es ist bekannt, daß im Zollwesen der Abgabenpflichtige bei den Verwaltungsdienststellen deren Stellungnahme zu bestimmten Aspekten der Regelung über die Waren einholen kann, die er anmelden will . Die Lehre vertrat jedoch die Auffassung, daß die in dieser Weise von den Zollstellen abgegebene Stellungnahme keine rechtliche Bedeutung habe und eine blosse Auskunft darstelle, die die Verwaltung nicht binde ( 18 ). Wollte Artikel 5 Absatz 1, indem er auf "Auskünfte ..., die von den zuständigen Behörden selber erteilt worden sind und diese Behörden binden", abstellt, die Stellungnahmen der Zollstellen ausnehmen, von denen die Lehre bisher sagt, sie bänden die Verwaltung nicht, oder wollte er vielmehr zum Ausdruck bringen, daß derartige Stellungnahmen von nun an die Zollbehörden binden und jede Nacherhebung unzulässig machen?

26 . Meines Erachtens kann allein die zweite Hypothese für richtig gehalten werden . Wir müssen nämlich feststellen, daß Artikel 5 Absatz 1 zwei Fälle vorsieht, in denen die Möglichkeit einer Nacherhebung ausgeschlossen ist : Entweder geht der Irrtum auf von der zuständigen Behörde selber erteilte "Auskünfte" zurück ( Gegenstand des ersten Gedankenstrichs ), oder er geht auf "allgemeine Vorschriften ..., die später durch eine gerichtliche Entscheidung ausser Kraft gesetzt worden sind" ( Fall des zweiten Gedankenstrichs ), zurück . Wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber mit dem Begriff "Auskünfte" auch allgemeine Vorschriften, wie Verwaltungsanweisungen oder Vorschriften mit Verordnungscharakter, hätte erfassen wollen, so hätte er auch im ersten Gedankenstrich den Ausdruck "allgemeine Vorschriften", der im zweiten Gedankenstrich steht, angeführt . Daher ist Artikel 5 Absatz 1, der nur eine Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes darstellt, so zu verstehen, daß sich das Vertrauen entweder auf eine besondere Auskunft, die einem Zollanmelder oder irgendeinem anderen betroffenen Wirtschaftsteilnehmer von den Zollstellen erteilt wird, gründen kann, oder auf eine allgemeine Vorschrift, die später von einem Gericht für rechtswidrig erklärt wird . Dagegen kann dieses berechtigte Vertrauen, wenn es an einer Ungültigkeitsentscheidung fehlt, nicht auf eine Vorschrift mit allgemeiner Geltung gründen, die gegen Bestimmungen mit rechtlicher Bedeutung verstösst . Anders zu entscheiden, würde letztlich die Hierarchie der Rechtsnormen umstossen . Das ist übrigens auch die Lösung des deutschen Rechts, da in einem Urteil des Bundesfinanzhofes ( 19 ) die Ansicht vertreten wird, daß ein Steuerschuldner sich nicht darauf berufen kann, daß er auf die Richtigkeit von Bestimmungen eines Erlasses des Bundesministers der Finanzen vertraut hat, die gegen gesetzliche Vorschriften verstießen . Dieser Rechtsprechung zufolge würde es die entgegengesetzte Lösung ermöglichen, daß ein allgemeiner Verwaltungserlaß von gesetzlichen Vorschriften abweichen könnte . Ein Vertrauensschutz kann daher nur im Rahmen eines konkreten Rechtsverhältnisses zwischen der zuständigen Verwaltungsbehörde und dem Steuerschuldner möglich sein .

27 . Wenn aber hiernach Artikel 5 Absatz 1 erster Gedankenstrich dahin auszulegen ist, daß er sich nur auf besondere Auskünfte bezieht, die einem bestimmten Wirtschaftsteilnehmer von den Zollstellen erteilt werden, so würde dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit genommen, wenn man davon ausgehen würde, daß derartige Auskünfte die Zollverwaltung nicht bänden, da die Bestimmung in einem solchen Fall nicht mehr anwendbar wäre und in gewisser Weise völlig ausgehöhlt würde . Diesen Standpunkt vertritt im übrigen auch Professor Berr, der bei der Kommentierung des Artikels 5 der Verordnung Nr . 1697/79 ausdrücklich auf seine Ausführungen zu den Anträgen der Zollanmelder auf Stellungnahme verweist ( 20 ).

28 . Wie dem auch sei, im vorliegenden Fall kann der Deutsche Gebrauchszolltarif, ich sagte es bereits, wegen seines allgemeinen Charakters und weil er nicht auf die besondere Situation eines bestimmten Wirtschaftsteilnehmers abstellt, nicht als von der zuständigen Behörde erteilte Auskünfte qualifiziert werden . Sie werden daher die Auswirkung dieses Zolltarifs und des in ihm enthaltenen Irrtums auf die Entscheidung in dieser Rechtssache nicht auf der Grundlage des Artikels 5 Absatz 1 erster Gedankenstrich zu beurteilen haben .

29 . Daher ist nunmehr zu prüfen, ob die Kommission die Nacherhebung zu Recht nach Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1697/79 angeordnet hat, d . h . ob Binder den fraglichen Irrtum tatsächlich erkennen konnte . Hierzu sind von den Beteiligten entgegengesetzte Argumente vorgetragen worden .

30 . Einerseits wird im Vorlagebeschluß hervorgehoben, daß das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, dessen Bezug für den, der es sich beschaffen will, teuer sei, nicht immer in den Zollämtern verfügbar sei, daß es bisweilen schwierig sei, die anwendbare gemeinschaftsrechtliche Verordnung zu ermitteln, daß jedermann sich stets nach dem vom Bundesminister der Finanzen herausgegebenen Deutschen Gebrauchszolltarif richte, daß die Tarifverordnungen gewöhnlich im Januar oder Februar rückwirkend zum 1 . Januar des laufenden Jahres veröffentlicht würden und schließlich daß die von der Kommission unterbreiteten Vorschläge im allgemeinen vom Rat angenommen würden .

31 . Die Kommission hält dem entgegen, daß der Deutsche Gebrauchszolltarif nur deklaratorische Bedeutung habe, worauf der Kommentar zu diesem Tarif selbst hinweise ( 21 ), daß der Wirtschaftsteilnehmer, der nur diesen Tarif hinzuziehe, die Risiken eines etwaigen Widerspruchs zu den im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlichten Texten auf sich nehmen müsse .

32 . Ich habe bereits meine Auffassung dazu geäussert, ob es möglich ist, hier den Grundsatz des Vertrauensschutzes anzuwenden, ohne in irgendeiner Weise den Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Frage zu stellen .

33 . Ich meine jedoch nicht, daß die Argumente des vorlegenden Gerichts, daß es teuer und schwierig sei, sich das Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften zu beschaffen, stichhaltig sind . Vor den innerstaatlichen Gerichten sind sie jedenfalls bedeutungslos, wo im allgemeinen von jedermann erwartet wird, daß er die Gesetze kennt, sobald sie ordnungsgemäß veröffentlicht worden sind .

34 . Andererseits stellt Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung Nr . 1697/79 unbestreitbar eine Ausnahme vom Grundsatz "nemo censetur ignorare legem" und vom Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts dar . Daher ist diese Ausnahme einschränkend auszulegen .

35 . In diesem Zusammenhang scheint mir, und der Gerichtshof hat es in dem vorgenannten Urteil Van Gend en Loos in bezug auf die Verordnung Nr . 1430/79 angedeutet, daß die Art der vom Abgabenschuldner ausgeuebten Tätigkeiten eines der wichtigsten Kriterien ist, anhand deren zu beurteilen ist, ob der Irrtum erkannt werden konnte . Es ist Sache des Gewerbetreibenden, der - als Zollspediteur oder Import-Export-Unternehmen - gewohnheitsmässig irgendeine Art von Erzeugnissen einführt, sich über die in dem betreffenden Bereich geltenden Zollsätze entweder durch regelmässige Lektüre des Amtsblatts der Europäischen Gemeinschaften oder durch die von den Verbänden und berufsständischen Organisationen seines Gewerbezweigs herausgegebenen Informationen Kenntnisse zu verschaffen . Das Unterlassen solcher Vorsichtsmaßnahmen ist zwar ein Risiko, das er eingehen kann, dann hat er aber auch alle Konsequenzen zu tragen . Ganz anders wäre jedoch der Fall eines Unternehmens zu beurteilen, das diese Ware nur gelegentlich einführt, dessen gewöhnliche gewerbliche Tätigkeit aber nicht auf die Einfuhr dieser Warenart gerichtet ist .

36 . Nichts hindert einen Wirtschaftsteilnehmer schließlich daran, sich von vornherein bei der Zollverwaltung nach der Tarifnummer der Waren, die er einführen möchte, zu erkundigen und so eine Stellungnahme der Zollstellen zu erhalten, die, wie wir gesehen haben, nach Artikel 5 Absatz 1 die Verwaltung bindet und deren eventuelle Irrtümer ihn vor jeder Nacherhebung schützt .

37 . Infolgedessen bin ich der Auffassung, daß Binder den fraglichen Irrtum erkennen konnte .

38 . Ich schlage Ihnen deshalb vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten :

"Die Prüfung der vom Finanzgericht München vorgelegten Frage hat nichts ergeben, was den Schluß zuließe, daß die an die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Entscheidung Nr . 8/85 vom 5 . November 1985, mit der die Kommission feststellte, daß die Eingangsabgaben in einem bestimmten Fall nachzuerheben sind, ungültig wäre ."

(*) Originalsprache : Französisch .

( 1 ) ABl . C 130 vom 27 . 5 . 1980, S . 1 .

( 2 ) Zur Durchführung von Artikel 5 Absatz 2 der Verordnung ( EWG ) Nr . 1697/79 des Rates betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner angeforderten Eingangs - oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung derartiger Abgaben beinhaltet ( ABl . L 161 vom 26 . 6 . 1980, S . 1 ).

( 3 ) Betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner angeforderten Eingangs - oder Ausfuhrabgaben für Waren, die zu einem Zollverfahren angemeldet worden sind, das die Verpflichtung zur Zahlung derartiger Abgaben beinhaltet ( ABl . L 197 vom 3 . 8 . 1979, S . 1 ).

( 4 ) Schlussanträge vom 14 . Juni 1988 in der Rechtssache 210/87, Slg . 1988, 6187 .

( 5 ) Urteil vom 15 . Dezember 1982 in der Rechtssache 5/82, Slg . 1982, 4601 .

( 6 ) Randnr . 22 .

( 7 ) Urteil vom 3 . Mai 1978 in der Rechtssache 112/77, Töpfer, Slg . 1978, 1019 .

( 8 ) Urteil vom 30 . September 1982 in der Rechtssache 108/81, Slg . 1982, 3107 .

( 9 ) S . 3149 .

( 10 ) Urteil vom 25 . Januar 1979 in der Rechtssache 98/78, Slg . 1979, 69 .

( 11 ) Urteil vom 25 . Januar 1979 in der Rechtssache 99/78, Slg . 1979, 101 .

( 12 ) Urteil vom 11 . Juli 1985 in den verbundenen Rechtssachen 87, 130/77, 22/83, 9 und 10/84, Slg . 1985, 2523, Randnr . 59 .

( 13 ) Rechtssache 129/87, Slg . 1988, 6121, Randnr . 15 .

( 14 ) Urteil vom 13 . November 1984 in den verbundenen Rechtssachen 98 und 230/83, Slg . 1984, 3763 .

( 15 ) ABl . L 175 vom 12 . 7 . 1979, S . 1 .

( 16 ) Verbundene Rechtssachen 98 und 230/83, a . a . O ., Randnr . 16 .

( 17 ) Urteil vom 22 . Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85, Foto-Frost, Slg . 1987, 4199, Randnr . 22, Hervorhebung von mir .

( 18 ) Claude J . Berr und Henri Tremeau "Le droit douanier", Régime des opérations de commerce international en France et dans la CEE, 2 . Auflage, Nr . 252, S . 177 .

( 19 ) Urteil vom 18 . März 1986, Az . VII R 55/83, BFHE 146, 294 .

( 20 ) Claude J . Berr und Henri Tremeau : "Le droit douanier", a . a . O ., Nr . 313-1, S . 205 .

( 21 ) Kommentar Zollrecht, § 21, Nr . 44, S . 17 .

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