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Document 61985CC0235

Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 12. Februar 1987.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Königreich der Niederlande.
Mehrwertsteuerpflichtige - Einrichtungen des öffentlichen Rechts - Notare und Gerichtsvollzieher.
Rechtssache 235/85.

Sammlung der Rechtsprechung 1987 -01471

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1987:83

61985C0235

Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 12. Februar 1987. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH DER NIEDERLANDE. - MEHRWERTSTEUERPFLICHTIGE - EINRICHTUNGEN DES OEFFENTLICHEN RECHTS - NOTARE UND GERICHTSVOLLZIEHER. - RECHTSSACHE 235/85.

Sammlung der Rechtsprechung 1987 Seite 01471


Schlußanträge des Generalanwalts


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A - Sachverhalt

1 . In dem Vertragsverletzungsverfahren, welches uns heute beschäftigt, geht es um die Frage, ob das Königreich der Niederlande, der Beklagte, kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet ist, die amtlichen Tätigkeiten der Notare und Gerichtsvollzieher der Mehrwertsteuer zu unterwerfen .

2 . Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Klägerin, sieht in der Nichterhebung der Mehrwertsteuer bei diesen Berufsgruppen durch den Beklagten einen Verstoß gegen die Sechste Richtlinie des Rates vom 17 . Mai 1977(1 ) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern . Sie ist der Auffassung, die Erbringung von Dienstleistungen durch Notare und Gerichtsvollzieher sei eine "wirtschaftliche Tätigkeit" im Sinne der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie, die diesen Begriff autonom definiere .

3.Die Klägerin beantragt deswegen,

- festzustellen, daß der Beklagte dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere aus den Artikeln 2 und 4 Absätze 1, 2 und 4 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17 . Mai 1977 verstossen hat, daß er die entgeltlichen amtlichen Tätigkeiten von Notaren und Gerichtsvollziehern nicht einer Mehrwertsteuerregelung unterworfen hat;

- dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen .

4 . Der Beklagte beantragt, die Klage kostenpflichtig abzuweisen .

5 . Der Beklagte vertritt die Auffassung, angesichts der gesetzlich geregelten Organisation der Berufe und der Aufgaben der Notare und der Gerichtsvollzieher sei es offensichtlich, daß ihre Tätigkeiten Amtshandlungen seien, die von einer öffentlichen Einrichtung im öffentlichen Interesse vorgenommen würden . Derartige Tätigkeiten fielen nicht unter den Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeit, da für sie die normalen Gesetze der Wirtschaft nicht gälten .

6 . Hilfsweise verweist der Beklagte darauf, daß zumindest die Ausnahmebestimmung des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie, die die Staaten, Länder, Gemeinden und sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige ansehe, auf die Amtshandlungen der Notare und Gerichtsvollzieher anzuwenden sei .

7 . In der mündlichen Verhandlung haben die Parteien dargelegt, daß die Tätigkeit der Rechtsanwälte in den Niederlanden der Mehrwertsteuer unterworfen ist .

8 . Die Tätigkeit der Notare und Gerichtsvollzieher werde in allen Mitgliedstaaten, in denen diese Tätigkeit durch Selbständige ausgeuebt werde, - mit Ausnahme von Belgien - der Mehrwertsteuer unterworfen(2 ).

9 . Zur Feststellung des Anteils an der Mehrwertsteuer, der als eigene Mittel an die Gemeinschaft abzuführen sei, würden die strittigen Umsätze der niederländischen Notare und Gerichtsvollzieher nicht herangezogen . Für die in Belgien der Mehrwertsteuer nicht unterliegenden Umsätze der Notare und Gerichtsvollzieher werde vom Königreich Belgien eine Ausgleichszahlung an die Gemeinschaft geleistet .

10 . Auf weitere Einzelheiten des Parteivortrages werde ich, soweit erforderlich, im Rahmen meiner Stellungnahme eingehen . Im übrigen verweise ich auf den Inhalt des Sitzungsberichtes .

B - Stellungnahme

11 . Zunächst werde ich die Frage behandeln, ob die strittigen Leistungen der Notare und Gerichtsvollzieher in den Anwendungsbereich des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems fallen, und danach das Problem erörtern, ob die genannten Berufsgruppen als Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten könnten und somit nicht als Steuerpflichtige anzusehen wären . Abschließend werde ich noch die Problematik ansprechen, ob es dem Beklagten gestattet war, wenigstens während einer Übergangszeit die strittigen Leistungen gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b von der Mehrwertsteuer befreit zu lassen .

Zum Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer

12 . Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer "Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt ".

13 . Als Steuerpflichtiger gilt gemäß Artikel 4 Absatz 1, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis .

14 . Unter wirtschaftlichen Tätigkeiten versteht Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie "alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufen ".

15 . Gemäß Artikel 4 Absatz 4 schließt der Begriff der "Selbständigkeit" die Lohn - und Gehaltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhältnis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsentgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitsgebers ein Verhältnis der Unterordnung schafft .

a ) 16 . Nach Auffassung der Klägerin steht es ausser Frage, daß die Dienstleistungen der Notare und der Gerichtsvollzieher wirtschaftliche Tätigkeiten im Sinne von Artikel 4 Absatz 2 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie sind . Diese Vorschrift verlange nicht die Ausübung einer gewinnbringenden oder den Marktgesetzen unterliegenden, sondern lediglich einer nachhaltigen und entgeltlichen Tätigkeit . Die von Notaren und Gerichtsvollziehern erbrachten Leistungen könnten ebensowenig wie entsprechende Handlungen von Rechtsanwälten oder Ärzten mit der Begründung von der Mehrwertsteuer befreit werden, es handele sich bei ihnen um die Ausübung öffentlicher Gewalt . Notare und Gerichtsvollzieher könnten den Urkundsbeamten der Gerichte oder den Vollstreckungsbeamten der Steuerverwaltung nicht gleichgestellt werden, da diese Beamte oder Bedienstete des Staates oder anderer öffentlicher Einrichtungen seien und als Untergebene Leistungen zugunsten und für Rechnung ihres Dienstherrn erbrächten . Die Notare und die Gerichtsvollzieher übten dagegen ihre Tätigkeiten für eigene Rechnung, unabhängig und in eigener rechtlicher Verantwortung aus . Wenn die betroffenen Berufsgruppen auch unter der Aufsicht staatlicher Behörden ständen - dies hätten sie mit anderen Gruppen von Steuerpflichtigen gemein -, so befänden sie sich doch nicht in einem Verhältnis der Unterordnung zu einem Arbeitgeber, wie dies der Fall wäre, wenn sie ihre Aufgaben als öffentliche Einrichtung wahrnähmen .

17 . Der Beklagte verweist zunächst auf die besondere, unabhängige Stellung des Notar - und des Gerichtsvollzieheramtes, die auf eine Zeit zurückgehe, in der die Rolle der juristischen Personen des öffentlichen Rechts noch nicht entwickelt gewesen sei . Eine Untersuchung der Aufgaben der Notare und der Gerichtsvollzieher sowie der gesetzlich geregelten Organisation dieser Berufe zeige, daß deren Tätigkeiten Amtshandlungen darstellten, die von einer öffentlichen Einrichtung im öffentlichen Interesse vorgenommen würden .

18 . Bei der Prüfung, ob eine Leistung als eine wirtschaftliche Tätigkeit angesehen werden könne, sei auf die Art der Leistung, nicht jedoch auf die Organisationsform, in der die betreffende Leistung erbracht werde, abzustellen . Eine wirtschaftliche Tätigkeit könne jedenfalls nicht vorliegen, wenn für diese Tätigkeit die normalen Gesetze der Wirtschaft nicht gälten, wenn die Vergütung für die Tätigkeit gesetzlich festgelegt sei und wenn die Leistung für den Bürger keine wirkliche Dienstleistung darstelle, sondern dieser die Leistung aus Gründen des Gemeinwohls zwangsläufig in Anspruch nehmen müsse .

b ) 19 . Zunächst ist zum Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer festzuhalten, daß gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie grundsätzlich alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, der Mehrwertsteuer unterliegen . Diese allgemeine Formulierung spricht für einen weitreichenden und umfassenden Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer . Ein entsprechender Anhaltspunkt ist bereits in den Erwägungsgründen zur Ersten Richtlinie des Rates vom 11 . April 1967(3 ) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer enthalten, in denen es heisst :

"Die grösste Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems wird erreicht, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben wird und wenn der Anwendungsbereich alle Produktions - und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasst ..."

20 . In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß in Durchführung des Beschlusses vom 21 . April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften(4 ) der Haushalt der Gemeinschaften, unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert wird . Diese Mittel umfassen unter anderem die Mehrwertsteuer, die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ergibt, welche einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird .

21 . Da somit die Mehrwertsteuer so allgemein wie möglich erhoben werden soll, fällt es schwer, den in Artikel 4 genannten Begriff der "wirtschaftlichen Tätigkeiten" in einer Weise einengend auszulegen, wie das der Beklagte tut . Wenn Artikel 4 den Begriff der wirtschaftlichen Tätigkeiten auch nicht umfassend definiert, so ist an dieser Bestimmung doch zu erkennen, daß ein sehr weiter Begriff der "wirtschaftlichen Tätigkeiten" gemeint sein muß; dies lässt sich an den im Absatz 2 genannten Beispielen, die alle zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten gerechnet werden, nachweisen .

22 . Für den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer ist es somit nicht erforderlich, daß Dienstleistungen primär oder ausschließlich am Marktgeschehen oder am Wirtschaftsleben orientiert sein müssen; es reicht somit aus, daß sie tatsächlich in irgendeiner Weise mit dem Wirtschaftsleben zusammenhängen .

23 . Aus diesem Grund kann es auch nicht von Bedeutung sein, daß die hier strittigen Tätigkeitsbereiche der Notare und Gerichtsvollzieher gesetzlich geregelt bzw . vorgeschrieben sind . Vergleichbares gilt z . B . auch für Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer, deren Tätigkeit unstreitig der Mehrwertsteuer unterliegt .

24 . Entscheidend ist jedoch der Umstand, daß die Sechste Umsatzsteuerrichtlinie in Artikel 6 Absatz 1 diese Problematik ausdrücklich anspricht, in dem sie bestimmt, daß eine Dienstleistung unter anderem bestehen kann

"in der Ausführung eines Dienstes aufgrund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes ".

25 . Gemessen an diesen Maßstäben kommt man nicht umhin, die gesamte Tätigkeit der Notare und Gerichtsvollzieher in den Niederlanden als Tätigkeit von Steuerpflichtigen anzusehen .

26 . Wenn die Notare und Gerichtsvollzieher zwar auch vom Staate ernannt werden, ihre Tätigkeit staatlich reglementiert und auch überwacht wird, so ist dennoch festzuhalten : Sie üben ihre Tätigkeit selbständig aus, ohne in die staatliche Organisation eingebunden zu sein . Sie betreiben ihre Tätigkeit auf eigene Rechnung, insbesondere vereinnahmen sie die ihnen zustehenden Gebühren und Entgelte selbst . Sie betreiben ihre Tätigkeit im Rahmen einer Kanzlei oder einer Sozietät, und sie unterscheiden sich in ihrer Tätigkeit somit nicht wesentlich von den Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern oder Steuerberatern . Mit ihrer Tätigkeit bezwecken sie, auf eigene Rechnung Einnahmen zu erwirtschaften, um daraus ihren materiellen Aufwand und gleichzeitig ihr Einkommen zu bestreiten . Zu diesem Zwecke erbringen sie Dienstleistungen an Dritte, und zwar in eigener Verantwortlichkeit, somit selbständig im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie .

27 . Notare und Gerichtsvollzieher, die ihre Tätigkeit als Selbständige betreiben, fallen somit in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer als Steuerpflichtige gemäß Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 4 Absätze 1 und 2 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie .

Zur Befreiung der öffentlichen Einrichtungen von der Entrichtung der Mehrwertsteuer

28 . Es bleibt nun weiter zu prüfen, ob die niederländischen Notare und Gerichtsvollzieher hinsichtlich ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Tätigkeiten dennoch nicht als Steuerpflichtige anzusehen sind, weil auf sie die Ausnahmeregelung des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie angewandt werden könnte .

29 . Soweit hier von Bedeutung, lautet Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie wie folgt :

"Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben .

Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde ."

a ) 30 . Nach Ansicht der Klägerin hat Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie nicht zum Ziel, alle Handlungen, die im Zusammenhang mit der Ausübung öffentlicher Gewalt stuenden, von der Mehrwertsteuer auszunehmen, sondern nur diejenigen, die Bezug hätten auf die grundlegenden Befugnisse und Aufgaben der Staaten und anderer öffentlich-rechtlicher Einrichtungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, Rechtsprechung, Sicherheit und der nationalen Verteidigung .

31 . Die Tätigkeiten, die ihrer Art nach von unabhängigen Unternehmen in der Absicht, Gewinn zu erzielen, oder von Angehörigen der freien Berufe gegen ein von ihren Auftraggebern zu entrichtendes Entgelt ausgeuebt würden, könnten nicht als Ausübung öffentlicher Gewalt angesehen werden; Privatpersonen, die solche Tätigkeiten ausübten, fielen nicht unter den Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts .

32 . Gerade der Grundsatz, daß die Mehrwertsteuer eine allgemeine und umfassende Verbrauchsteuer sein solle, verlange eine enge Auslegung des Begriffs der Leistung im Rahmen der öffentlichen Gewalt .

33 . Nach Auffassung des Beklagten ist bei den Tätigkeiten, die den Behörden oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts vorbehalten seien, zu unterscheiden zwischen den wirtschaftlichen Tätigkeiten, die tatsächlichen Bedürfnissen der Verbraucher entsprächen, und den öffentlichen Dienstleistungen, zu deren Inanspruchnahme die Verbraucher aus Gründen des Gemeinwohls gesetzlich verpflichtet seien und für die aufgrund gesetzlicher Bestimmungen eine Pauschalgebühr festgelegt sei . Bei der Auslegung von Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie sei auf die Art der ausgeuebten Tätigkeiten und nicht auf ihre äussere Erscheinungsform ( Organisationsform ) abzustellen .

34 . Der Begriff der Einrichtung des öffentlichen Rechts umfasse alle Formen öffentlicher Einrichtungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten . Daß eine solche Einrichtung unabhängig sei und nicht in einem Unterordnungsverhältnis stehe, schließe die Anwendung von Artikel 4 Absatz 5 nicht aus . Anhang D der Sechsten Richtlinie, auf den Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 3 verweise, erkläre bestimmte Tätigkeiten ausdrücklich für steuerpflichtig, die oft von im Rahmen der öffentlichen Verwaltung rechtlich unabhängigen Einrichtungen ausgeuebt würden . Andererseits könnten die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Absatz 5 letzter Unterabsatz bestimmte in Artikel 13 aufgezählte Tätigkeiten auch dann als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt oblägen, wenn sie von rechtlich unabhängigen Einrichtungen ausgeuebt würden . Die Auffassung, daß die Notare und die Gerichtsvollzieher ihr Amt als Privatpersonen ausübten, verkenne den Umstand, daß diese eine amtliche Stellung innehätten und grundlegende Befugnisse und Aufgaben im Bereich der Rechtspflege wahrnähmen .

b ) 35 . Auch zur Auslegung von Artikel 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie ist auf die Erwägungsgründe zur Ersten Umsatzsteuerrichtlinie des Rates hinzuweisen, nach dem die grösste Einfachheit und Neutralität eines Mehrwertsteuersystems erreicht werde, wenn die Steuer so allgemein wie möglich erhoben und wenn ihr Anwendungsbereich alle Produktions - und Vertriebsstufen sowie den Bereich der Dienstleistungen umfasse . Ergänzend ist auf Erwägungsgrund 12 zur Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie hinzuweisen, nach dem es im Hinblick auf eine gleichmässige Erhebung der eigenen Mittel in allen Mitgliedstaaten erforderlich ist, eine gemeinsame Liste der Steuerbefreiungen aufzustellen .

36 . Die Steuerbefreiungen, die insbesondere in den Artikeln 13 und 28 dieser Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie enthalten sind, umfassen unter anderem eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts durchgeführt werden . Daraus folgt, daß der Staat und die sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht grundsätzlich nicht als steuerpflichtig anzusehen sind, sondern nur für Tätigkeiten, die den Mitgliedstaaten im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen(5 ).

37 . Die öffentliche Hand ist somit lediglich nur dann nicht als steuerpflichtig anzusehen, wenn sie im Rahmen der öffentlichen Gewalt in einem engeren Sinne tätig wird . Die Besteuerung setzt aber selbst dann bei der öffentlichen Hand wieder ein, wenn ihre Tätigkeit im Rahmen der öffentlichen Gewalt zu grösseren Wettbewerbsverzerrungen führen würde, falls sie nicht besteuert würde .

38 . Die Sechste Umsatzsteuerrichtlinie will somit den Bereich der Steuerpflichtigen und damit den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer eher erweitern, wenn sie die Möglichkeit bietet, auch Einrichtungen der öffentlichen Hand als Steuerpflichtige zu behandeln, falls die Wettbewerbssituation dies erfordert . Dagegen sieht sie keine Handhabe vor, die es gestattet, steuerpflichtige Umsätze Privater dann von der Mehrwertsteuer zu befreien, wenn diese inhaltlich Funktionen ausüben, die der Tätigkeit der öffentlichen Hand nahekommen . Dieser Grundtendenz, ein möglichst allgemeines Steuersystem einzurichten, lässt sich die Vermutung entnehmen, daß auch in Grenz - bzw . Zweifelsfällen die Steuer zu erheben ist .

39 . Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten : Die Ausgrenzung der öffentlichen Gewalt von der Anwendung der Mehrwertsteuer ist bereits durch den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie restriktiv ausgefallen . Nicht jede Tätigkeit der öffentlichen Gewalt ist von der Mehrwertsteuer befreit, sondern nur ein bestimmter Kernbereich . Darüber hinaus können Tätigkeiten der öffentlichen Hand der Mehrwertsteuer unterworfen werden, wenn dies wegen der Befürchtung grösserer Wettbewerbsverzerrungen erforderlich wird .

40 . Angesichts dieser Feststellung und angesichts der Erkenntnis, daß die Ausnahmevorschriften von Artikel 2 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie grundsätzlich eng auszulegen sind, besteht keine Möglichkeit, den Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie ausdehnend auszulegen und ihn auf privatwirtschaftlich tätige Personen auszudehnen, auch wenn diese zum Teil im Rahmen öffentlicher Aufgaben oder im öffentlichen Interesse handeln .

41 . Solange also die "Ämter" der niederländischen Notare und Gerichtsvollzieher von privatwirtschaftlich Tätigen ausgeuebt werden, diese Ämter also nicht förmlich als Einrichtungen des öffentlichen Rechts organisiert werden, besteht somit kein Anlaß, die genannten Berufsgruppen nicht als Steuerpflichtige im Sinne des Artikels 4 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie anzusehen .

42 . Für eine ausdehnende Ausnahmevorschrift des Artikels 4 Absatz 5 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie besteht auch kein Bedürfnis . Wie die in der mündlichen Verhandlung angesprochene belgische Praxis zeigt, bestand jedenfalls bei Erlaß der Richtlinie durchaus die Möglichkeit, die Tätigkeit der Notare und Gerichtsvollzieher gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F Nr . 2 weiterhin von der Umsatzsteuer zu befreien .

43 . Auf diese Regelung hat sich der Beklagte jedoch nicht berufen und auch nicht von ihr Gebrauch gemacht, da er die Auffassung vertreten hatte, die Notare und Gerichtsvollzieher seien in bezug auf ihre amtlichen Tätigkeiten nicht als Steuerpflichtige anzusehen . Vor allem aber hat er, wie er in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, auch nicht die Konsequenzen aus der Anwendung der Übergangsbestimmung des Artikels 28 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie gezogen : Gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung Nr . 2892/77 des Rates vom 19 . Dezember 1977 über die Anwendung des Beschlusses vom 21 . April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften auf die Mehrwertsteuer-Eigenmittel(6 ) sind nämlich für die Grundlage der Mehrwertsteuer-Eigenmittel unter anderem die Umsätze, die die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie weiterhin befreien, für die Bestimmung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel zu berücksichtigen . Mit anderen Worten, der Beklagte hätte - wie dies das Königreich Belgien getan hat - die "amtlichen" Umsätze der Notare und Gerichtsvollzieher bei der Berechnung und Abführung der eigenen Mittel der Gemeinschaften berücksichtigen müssen . Dies hat er jedoch unstreitig nicht getan .

44 . Da der Beklagte sich somit weder auf Artikel 28 der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie berufen noch die Konsequenzen aus dieser Bestimmung gezogen hat, hat Artikel 28 für das vorliegende Verfahren ausser Betracht zu bleiben .

C - Schlussantrag

45 . Im Ergebnis schlage ich Ihnen vor, der Klage stattzugeben und dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen .

( 1 ) ABl . 1977, L 145, S . 1 .

( 2 ) Zur Lage in Griechenland wurden keine Angaben gemacht . Dort müssen die Umsatzsteuerrichtlinien erst ab dem 1 . 1 . 1986 angewandt werden ( Richtlinie 83/648 des Rates vom 19 . Dezember 1983, ABl . 1983, L 360, S . 49 ).

( 3 ) ABl . 1967, S . 1301 .

( 4 ) ABl . 1970, L 94, S . 19 .

( 5 ) Vgl . das Urteil des Gerichtshofes vom 11 . Juli 1985 in der Rechtssache 107/84 - Kommission der Europäischen Gemeinschaften/Bundesrepublik Deutschland - Slg . 1985, 2663, Randnr . 15 .

( 6 ) Verordnung Nr . 2892/77 des Rates vom 19 . Dezember 1977 über die Anwendung des Beschlusses vom 21 . April 1970, ABl . 1977, L 336, S . 8 .

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