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Document 61978CC0253(01)

Verbundene Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 24. Juni 1979.
Procureur de la République und andere gegen Bruno Giry und Guerlain SA und andere.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de grande instance de Paris - Frankreich.
Verbundene Rechtssachen 253-78 und 1 bis 3-79.
Anne Marty SA gegen Estée Lauder SA.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de commerce de Paris - Frankreich.
Rechtssache 37-79.
SA Lancôme und Cosparfrance Nederland BV gegen Etos BV und Albert Heyn Supermart BV.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Arrondissementsrechtbank Haarlem - Niederlande.
Rechtssache 99-79.
Wettbewerb - Parfums.

Sammlung der Rechtsprechung 1980 -02327

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1980:167

ERGÄNZENDE SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERHARD REISCHL

VOM 24. JUNI 1980

Herr Präsident,

meine Henen Richter!

In den verbundenen Rechtssachen 253/78 und 1 bis 3/79 (Guerlain, Rochas, Lanvin, Nina Ricci) sowie in den Rechtssachen 37/79 (Estéé Lauder) und 99/79 (Lancôme) habe ich am 22. November 1979 meine Schlußanträge gestellt. Mit Beschluß vom 16. Januar 1980 hat der Gerichtshof die mündliche Verhandlung wieder aufgenommen und den Parteien der Ausgangsverfahren, den Mitgliedstaaten, dem Rat und der Kommission folgende Fragen zur Stellungnahme unterbreitet:

„Für den Fall, daß

a)

das vorlegende Gericht der Ansicht ist, daß die betreffenden Vereinbarungen in den Geltungsbereich des Artikels 85 Absatz 1 fallen,

b)

die in den verbundenen Rechtssachen 253/78 und 1 bis 3/79 sowie in der Rechtssache 99/79 in Rede stehenden Vereinbarungen als „alte Vereinbarungen“ anzusehen sind, die durch die „vorläufige Wirksamkeit“ geschützt sind,

c)

die Schreiben, die die Kommission an die einzelnen Hersteller gerichtet hat, um sie über die Einstellung ihrer Verfahren zu unterrichten, nicht als Freistellungsentscheidungen im Sinne von Artikel 8 der Verordnung Nr. 17 oder als Negativatteste im Sinne von Artikel 2 dieser Verordnung zu betrachten sind,

d)

keinerlei Wahrscheinlichkeit besteht, daß die Kommission in absehbarer Zukunft derartige Entscheidungen erlassen wird:

1.

Verhindert der Schutz, den die rechtzeitig angemeldeten oder von der Anmeldung befreiten „alten Vereinbarungen“ genießen, daß auf diese Vereinbarungen das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats angewandt wird, das unter Umständen in bestimmter Hinsicht strenger ist als das Gemeinschaftsrecht?

2.

Rechtfertigen die bisher für den vorläufigen Schutz der „alten Vereinbarungen“ angeführten Gründe unter den vorgenannten Voraussetzungen, daß dieser Schutz gegenüber der Anwendung von Artikel 85 Absätze 1 und 2 des Vertrages durch ein staatliches Gericht unbegrenzt beibehalten wird?

3.

Wie ist der Fall der angemeldeten oder von der Anmeldung befreiten „neuen Vereinbarungen“ unter den in den Fragen 1 und 2 geschilderten Umständen zu lösen?“

Zu diesen Fragen nehme ich in Ergänzung meiner Schlußanträge vom 22. November 1979, auf die ich im übrigen Bezug nehme, wie folgt Stellung:

I — Zur ersten Frage

Die Angeklagten der Hauptsacheverfahren 253/78, 1-3/79 und die Beklagte des Hauptsacheverfahrens 37/79 vertreten zu dieser Frage die Auffassung, daß der vorläufige Schutz der sogenannten „Altvertrage“ einer Anwendung von Vorschriften des nationalen Rechts eines Mitgliedstaats, die strenger seien als das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft, entgegenstehe. Denn die Kommission könne jederzeit nach Artikel 7 der Verordnung Nr. 17 mit Rückwirkung entscheiden, daß die Vereinbarung nicht unter Artikel 85 Absatz 1 des EWG-Vertrags falle oder daß sie nach Artikel 85 Absatz 3 freizustellen sei. Dieser vorläufige Schutz rechtfertige sich um so mehr in Fällen wie den vorliegenden, in denen die betroffenen Firmen ihre Vereinbarungen aufgrund von Vorschlägen der Kommission geändert hätten.

Demgegenüber halten die Antragsteller der Hauptsacheverfahren 1 bis 3/79, die Beklagten des Hauptsacheverfahrens 99/79, die Regierungen des Königreichs Belgien, des Königreichs Dänemark, der Bundesrepublik Deutschland, der Französischen Republik, des Königreichs der Niederlande, des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland sowie die Kommission das weitergehende nationale Wettbewerbsrecht in den vorliegenden Fällen für anwendbar, allerdings mit verschiedenen Begründungen.

Die Antragsteller der Hauptsacheverfahren 1 bis 3/79, die Beklagten des Hauptsacheverfahrens 99/79, die deutsche Bundesregierung und die Kommission sind der Auffassung, daß dies nur in den Fällen gilt, in denen die Kommission die Einstellung des Verfahrens verfügt hat. Denn in diesen Fällen sei nicht mehr damit zu rechnen, daß die Kommission, ohne daß sich der Sachstand entscheidend ändere, ein Negativattest nach Artikel 85 Absatz 1 oder eine Freistellungsentscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 erlassen werde. In solchen Fällen bestehe also nicht mehr die Gefahr, daß die Anwendung strengeren nationalen Rechts die Ziele des Vertrages auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts gefährden könnte.

Die britische, französische, dänische, belgische und niederländische Regierung sind dagegen der Meinung, daß die vorläufige Gültigkeit der Altvereinbarungen, für sich allein betrachtet, keinesfalls der Anwendung strengerer nationaler Wettbewerbsvorschriften entgegenstehen könne. Nach Auffassung der britischen Regierung ergibt sich dies schon aus der Überlegung, daß ein Vertrag nach nationalen Vorschriften, die überhaupt nichts mit dem Wettbewerbsrecht zu tun hätten, unwirksam sein könne. Es sei nicht einzusehen, wieso man insoweit einen Unterschied zwischen wettbewerbsrechtlichen und anderen Vorschriften des nationalen Rechts machen sollte. Die französische Regierung unterstreicht dies unter Hinweis auf das Urteil in der Rechtssache 59/77 (De Bloos/Bouyer, Urteil vom 14. Dezember 1977, Slg. 1977, 2359), das hinsichtlich der Rechtswirkungen eines angemeldeten oder von der Anmeldung befreiten Altkartells auf das auf dieses anwendbare nationale Recht Bezug nimmt. Die dänische Regierung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß selbst ein Negativattest oder eine Freistellungsentscheidung der Kommission der Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts nicht entgegenstehe, so daß dies erst recht für die Fälle der vorläufigen Gültigkeit einer Vereinbarung, über deren Vereinbarkeit mit Artikel 85 die Kommission nicht entschieden habe, gelten müsse. Die belgische Regierung macht schließlich darauf aufmerksam, daß das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft andere Ziele verfolge als das nationale Wettbewerbsrecht. Die gemeinschaftsrechtliche vorläufige Gültigkeit einer Vereinbarung hindere also den nationalen Richter nur an der Anwendung des Artikels 85 Absätze 1 und 2 des EWG-Vertrags, solange die Kommission kein Verfahren eingeleitet habe, nicht dagegen an der Anwendung etwaiger weitergehender nationaler Vorschriften. Wenn schon, wie allgemein anerkannt sei, die nationalen Behörden und Gerichte Vereinbarungen, für die die Kommission ein Negativattest erteilt habe, nach nationalem Recht für unwirksam erklären könnten, so sei es unlogisch, warum sie nicht ebenso gegenüber Vereinbarungen verfahren können sollten, die an sich gegen Artikel 85 Absatz 1 verstießen, gemäß Artikel 85 Absatz 3 aber von der Kommission freigestellt seien, obwohl letztere den Wettbewerb mehr gefährdeten als erstere.

Ich habe nach alledem den Eindruck, daß sich die Diskussion im Grunde darum dreht, ob und inwieweit die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes, nämlich einerseits das Urteil der Rechtssache 14/68 (Walt Wilhelm und andere/Bundeskartellamt, Urteil vom 13. Februar 1969, Slg. 1969, 1) und andererseits die zur vorläufigen Wirksamkeit sogenannter Altkartelle ergangenen Urteile der Rechtssachen 48/72 (SA Brasserie de Haecht/Wilkin und Janssen — Haecht II —, Urteil vom 6. Februar 1973, Slg. 1973, 77) und 59/77 (Ets. A. de Bloos SPRL/Société en commandite par actions „Bouyer“, Urteil vom 14. Dezember 1977, Slg. 1977, 2359), zu modifizieren oder zu ergänzen ist.

Nach meiner Überzeugung sollte an den hier interessierenden Kernsätzen des zujn Verhältnis Wettbewerbsrecht der Gemeinschaß — nationales Recht ergangenen Urteils der Rechtssache 14/68 (Walt Wilhelm) nicht gerüttelt werden. Hiernach ist die Anwendung des nationalen Rechts nur statthaft, soweit sie die uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts und die volle Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen auf dem gesamten Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt. In dem Urteil wird ferner daran erinnert, daß das Gemeinschaftsrecht den Gemeinschaftsbehörden auch gewisse positive, obgleich mittelbare Eingriffe zur Förderung einer harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft im Sinne von Artikel 2 des EWG-Vertrags erlaube, womit zweifellos ein Hinweis auf mögliche Freistellungsentscheidungen nach Artikel 85 Absatz 3 des EWG-Vertrags gegeben werden soll. Schließlich wird noch darauf hingewiesen, daß die nationalen Behörden geeignete Maßnahmen zu ergreifen hätten, falls sich im Verlauf eines innerstaatlichen Verfahrens ergebe, daß die Kommission möglicherweise ein das gleiche Kartell betreffendes anhängiges Verfahren durch eine Entscheidung abschließen werde, mit der die Wirkungen einer Entscheidung der staatlichen Behörde nicht vereinbar wären.

Mit diesen Grundsätzen ist sicher die These nicht vereinbar, die vorläufige Wirksamkeit von Altkartellen stehe einer weitreichenden Anwendung des nationalen Rechts nicht entgegen, auch soweit dieses dem Bereich des Wettbewerbsrechts zuzuordnen sei, also ähnliche Ziele und Anliegen verfolge wie das gemeinsame Wettbewerbsrecht. Dies läßt sich auch nicht damit begründen, daß eine solche parallele Anwendung in Anbetracht teilweise abweichender Zielsetzungen oder in Anbetracht des gesonderten Aktionsfeldes nationaler Entscheidungen und ihrer territorial beschränkten Geltung unbedenklich sei. Immerhin ist im vorliegenden Fall nicht zu verkennen, daß der durch nationales Recht bewirkte Zusammenbruch eines Vertriebssystems in einem Mitgliedstaat auch Auswirkungen auf dessen Bestand in anderen Mitgliedstaaten haben müßte. Desgleichen erscheint es mir in diesem Zusammenhang nicht — wie von der dänischen Regierung erwogen — ausreichend, auf die Verpflichtung zur Änderung nationaler Entscheidungen nach dem Erlaß später ergangener Freistellungsentscheidungen gemäß Artikel 85 Absatz 3 hinzuweisen; denn eine negative nationale Entscheidung beseitigt sicher die gemeinschaftsrechtliche Wirkung der vorläufigen Gültigkeit, und es ist nicht zu erkennen, wie beim späteren Erlaß einer Entscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 eine angemessene rückwirkende Bereinigung der nationalen Rechtslage erfolgen sollte.

Was andererseits die Rechtsprechung zur vorläufigen Gültigkeit sogenannter Altkartelle angeht — in den beiden vorhin angeführten Urteilen der Rechtssachen 48/72 (Haecht II) und 59/77 (De Bloos) ist bekanntlich davon die Rede, sie sei bis zum Erlaß einer Entscheidung durch die Kommission anzunehmen —, so würde ich es für unvertretbar halten, jetzt davon mit der Begründung abzurücken, die ursprünglich ins Auge gefaßte Übergangsperiode sei inzwischen abgelaufen. Eine solche Begründung wäre sicherlich schon beim Erlaß des Urteils der Rechtssache 59/77 (14. Dezember 1977) denkbar gewesen, wurde aber offensichtlich nicht in Erwägung gezogen. Würde sie jetzt plötzlich verwendet, so käme der gerade in dieser Rechtsprechung wiederholt hervorgehobene Grundsatz der Rechtssicherheit in Gefahr. Auch darf nicht übersehen werden, daß eine völlige Klärung aller Rechtsprobleme in der Entscheidungspraxis der Kommission und in der Rechtsprechung und damit eine rechtzeitige Anpassung an sie durch die an einer Absprache Beteiligten noch nicht erfolgt ist. Wir haben vielmehr von der Kommission gehört, daß sich noch einige Fälle in der Prüfung befinden, für die immer noch eine Anwendung der Artikel 6 und 7 der Verordnung Nr. 17 mit Rückwirkung denkbar ist. Damit wäre der Erlaß entgegenstehender nationaler Entscheidungen — ich erinnere an die Grundsätze des Urteils 14/68 (Walt Wilhelm) — nicht zu vereinbaren.

Meines Erachtens kann man demnach die in den beiden erwähnten Urteilen enthaltene Wendung „bis zur Entscheidung der Kommission“ allenfalls dahin verstehen, daß es sich nicht notwendig um formelle Entscheidungen handeln muß, sondern daß Bescheide über die Einstellung des Verfahrens wie in den vorliegenden Fällen ausreichen. Offensichtlich ist nämlich der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung davon ausgegangen, daß zumindest bei korrekter Anmeldung von Wettbewerbsabsprachen in jedem Fall eine Entscheidung der Kommission ergeht. Jetzt ist deutlich geworden, daß dies — wegen der außerordentlichen Anzahl der Fälle — nicht der Realität entspricht. In vielen Fällen, in denen nach von der Kommission angeregter Änderung von Absprachen Artikel 85 Absatz 1 nach Auffassung der Kommission nicht mehr eingreift, ergingen keine förmlichen Entscheidungen im Sinne von Negativattesten, weil dies wegen des einigermaßen schwerfälligen Verfahrens die Kommission zu sehr belastet und ihren verhältnismäßig kleinen, für Wettbewerbsfragen zuständigen Apparat von wichtigeren Aufgaben abgehalten hätte. Hier beließ man es vielfach bei den aus den vorliegenden Verfahren bekannten, von einem hohen Kommissionsbeamten unterzeichneten Einstellungsbescheiden. Bei einer solchen Sachlage erscheint es durchaus vertretbar, im Zusammenhang mit der vorläufigen Gültigkeit von Altkartellen nicht nur auf formelle Kommissionsentscheidungen abzustellen. Als ausreichend kann vielmehr auch eine Stellungnahme der Kommission gelten, die in ihrer Wirkung etwa einem Negativattest gleichkommt, zumal auch eine solche in gewisser Weise die Kommission bindet, indem sie die spätere Ausübung der Gemeinschaftskompetenz nur bei einer Änderung der Tatsachen und dann wohl auch nur mit Wirkung ex nunc zuläßt. Beim Vorliegen einer derartigen Stellungnahme, aus Gründen der Rechtssicherheit aber auch nur dann — reine Untätigkeit der Kommission sollte nicht als stillschweigender Erlaß eines Negativattestes gewertet werden —, kann also davon ausgegangen werden, daß eine solche Vereinbarung aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts gültig ist und daß auch der Erlaß einer Kommissionsentscheidung auf Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 oder eines förmlichen Negativattestes nicht mehr wahrscheinlich ist. Damit ist der Weg für die Anwendung des nationalen Rechtes, auch falls es strenger sein sollte, frei.

In den Fällen der Ausgangsverfahren ist also, da die Kommission, wenn auch nicht in förmlichen Bescheiden, festgestellt hat, Artikel 85 Absatz 1 des EWG-Vertrags greife nach Änderung, der Absprachen nicht ein, nichts dagegen einzuwenden, daß etwa der französische Richter die Regeln über den „refus de vente“ anwendet, wenn sich dies nach der neuesten Entwicklung der Rechtsprechung im Parfümsektor noch rechtfertigen läßt. Dies erscheint um so unbedenklicher, als tatsächlich nicht zu erwarten ist, daß jedenfalls der französische Richter — für die Vorlage aus dem niederländischen Bereich scheint etwas anderes zuzutreffen — entgegen der Meinung der Kommission, die doch in der Regel über wirksamere Auskunftsmöglichkeiten verfügt und einen besseren Überblick hat, von der Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 auf die ihm unterbreiteten Fälle ausgeht. Sollte der nationale Richter aber die Tatbestandsmerkmale des Artikels 85 Absatz 1 als erfüllt ansehen, so wäre für die Anwendung des nationalen Rechts jedenfalls dann nichts anderes anzunehmen, wenn er zu dieser Wertung mit Rücksicht darauf gelangen sollte, daß die Vereinbarungen geändert, nämlich einschränkender gestaltet worden seien, weil bei einem derartigen Sachverhalt nicht mehr von einem vorläufigen wirksamen /1/ikartell auszugehen wäre.

II — Zur zweiten Frage

Die Angeklagten des Ausgangsverfahrens der verbundenen Rechtssachen 253/78 und 1 bis 3/79, die Beklagte des Ausgangsverfahrens der Rechtssache 37/79 sowie die britische und die französische Regierung vertreten die Auffassung, daß der vorläufige Schutz der sogenannten „Altvereinbarungen“ auch weiterhin unbegrenzt beibehalten werden sollte. Die Angeklagten und die Beklagten der genannten Ausgangsverfahren beziehen sich zur Begründung auf Artikel 7 der Verordnung Nr. 17. Die britische Regierung zieht zwar die Bezugnahme auf diese Vorschrift in Zweifel, meint aber, daß die Aufrechterhaltung des vorläufigen Schutzes der Altvereinbarungen schon deshalb gerechtfertigt sei, weil der Vertrag keinerlei Übergangsvorschrift zu Artikel 85 Absatz 2 für diese Altvereinbarungen vorsehe und bei der Bearbeitung der einzelnen Fälle durch die Kommission erhebliche Verzögerungen einträten. Nach Auffassung der französischen Regierung bilden die Absätze 1 und 3 des Artikels 85 des EWG-Vertrags eine unteilbare Einheit mit der Folge, daß nur die Kommission in der Lage sei, die Voraussetzungen der Wirksamkeit der Altvereinbarungen zu überprüfen. Infolgedessen könnten Einzelpersonen diese Wirksamkeit so lange nicht in Frage stellen, als die Kommission darüber nicht entschieden habe.

Demgegenüber vertreten die belgische, dänische und deutsche Regierung, die Kommission und die Beklagten des Ausgangsverfahrens der Rechtssache 99/79 die Auffassung, daß die Aufrechterhaltung des vorläufigen Schutzes der Altvereinbarungen nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die dänische Regierung ist der Meinung, daß die weitere Aufrechterhaltung des Schutzes der Altvereinbarungen im Ergebnis auf eine Rechtsverweigerung gegenüber denjenigen hinauslaufe, die aufgrund der Altvereinbarungen Nachteile zu erwarten hätten. Artikel 85 Absatz 1 des EWG-Vertrags sei unmittelbar anwendbar, und das Vorlageverfahren gemäß Artikel 177 sichere eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Außerdem hätten die Parteien der Altvereinbarungen genügend Zeit gehabt, diese den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften anzupassen.

Nach der Auffassung der belgischen Regierung sind die angemeldeten Altvereinbarungen, die weder Gegenstand eines Verbots noch einer speziellen oder Gruppenfreistellung sind, genau so zu behandeln wie Vereinbarungen, für die ein Negativattest erlassen worden ist. Genau so, wie die Kommission jederzeit für die Zukunft aufgrund der wirtschaftlichen oder juristischen Entwicklung eine Verbotsentscheidung aufgrund des Artikels 85 Absatz 1 des EWG-Vertrags erlassen könne, könnten dies auch die Behörden oder Gerichte des Mitgliedstaates tun.

Die deutsche Regierung ist der Meinung, daß sich die Aufrechterhaltung des vorläufigen Schutzes der Altvereinbarungen nicht mehr rechtfertige, wenn die Kommission zu erkennen gebe, daß sie keine Freistellungsentscheidung gemäß Artikel 85 Absatz 3 treffen werde.

Nach der Auffassung der Kommission dauert die vorläufige Wirksamkeit der Altvereinbarungen nur von der Anmeldung bis zu einer Entscheidung der Kommission. In dem Augenblick, in dem — wie im Falle einer Einstellung des Verfahrens — feststehe, daß die Kommission keine Freistellungsentscheidung erlassen werde, rechtfertige sich die Aufrechterhaltung des vorläufigen Schutzes nicht mehr. In diesem Fall könnten die Altvereinbarungen genau so behandelt werden wie angemeldete neue Vereinbarungen (vgl. Entscheidungserwägungen 11 und 12 in dem Urteil vom 6. Februar 1973 — Rechtssache 48/72 — Haecht II — Slg. 1973, 77 ff.). In diesem Falle könne der nationale Richter die Vereinbarung gemäß Artikel 85 Absatz 2 des EWG-Vertrags für nichtig erklären, wenn die Unvereinbarkeit der Vereinbarung mit Artikel 85 Absatz 1 außer Zweifel stehe.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes sind sogenannte Altverträge, die bei Inkrafttreten der Verordnung Nr. 17 am 13. März 1962 bestanden und rechtzeitig angemeldet worden sind, voll wirksam (vgl. Urteil vom 14. Dezember 1977 in der Rechtssache 59/77 — De Bloos/Bouyer — Slg. 1977, 2359). Wie ich bereits in meinen Schlußanträgen vom 22. November 1979 ausgeführt habe, kann ein nationales Gericht über die Nichtigkeit derartiger Verträge nach Artikel 85 erst befinden, nachdem die Kommission eine Entscheidung aufgrund der Verordnung Nr. 17 getroffen hat.

Ich halte es nicht für vertretbar, die Lehre von dieser vorläufigen Wirksamkeit gleichsam wegen Zeitablaufs aufzugeben, und ich erachte auch eine schlichte Vereinheitlichung der Regelungen für Alt- und Neuabsprachen, für die grundlegend verschiedene Ausgangspositionen und unterschiedliche Rechtswirkungen gelten (vgl. die Artikel 6 und 7 der Verordnung Nr. 17), nicht für angebracht. Ebenso habe ich Bedenken, für den Fall, daß die Prüfung einer Altvereinbarung zu dem Ergebnis führt, diese sei — ohne Veränderung der Umstände — mit Artikel 85 Absatz 1 nicht zu vereinbaren, sie nur ex nunc für nichtig zu erklären.

Für die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 durch den nationalen Richter darf nicht vergessen werden, daß in Fällen wie den vorliegenden, in denen die Kommission der Ansicht war, Artikel 85 Absatz 1 greife nicht ein, eine Prüfung nach Artikel 85 Absatz 3 überhaupt nicht vorgenommen würde. Wenn sich jetzt eventuell nach verdeutlichenden Hinweisen zu Artikel 85 Absatz 1 durch den Gerichtshof herausstellen sollte, daß die Auffassung der Kommission zu Artikel 85 Absatz 1 nicht zutrifft, so ist immer noch denkbar, daß es zu einer Entscheidung nach Artikel 85 Absatz 3 kommen könnte, weil dazu ja Anträge gestellt wurden, über die die Kommission selbst noch nicht entschieden hat; außerdem könnte die Kommission nach Artikel 7 der Verordnung Nr. 17 in einer Entscheidung eine solche Änderung der Absprachen verlangen, daß diese, was auch rückwirkend möglich ist, keinesfalls mehr von Artikel 85 Absatz 1 erfaßt werden.

Die entscheidende Frage für den nationalen Richter ist folglich, ob derartige Akte wahrscheinlich sind. Dabei können ihm die bisherige Entscheidungspraxis und die Rechtsprechung, nicht zuletzt die im vorliegenden Verfahren zu Artikel 85 Absatz 3 zu gebenden Auslegungshinweise, hilfreich sein. Sollte er danach zu der Auffassung kommen, daß weder mit einer Freistellung noch mit einem Negativattest zu rechnen sei und es auch keine vernünftigen Zweifel an der Unvereinbarkeit einer Absprache mit Artikel 85 Absatz 1 gebe, so kann er diese nach Absatz 2 für nichtig erklären. Bestehen für ihn nach der vorhandenen Praxis keine Zweifel an der Freistellbarkeit einer Absprache, so schließt dies, weil die Absprache dann als gültig anzusehen ist, die Anwendung von Artikel 85 Absatz 2 aus. Bleiben aber für den nationalen Richter, weil noch nicht alle Probleme des Artikels 85 Absatz 3, auch nicht die hinsichtlich des selektiven Vertriebs unter Berücksichtigung quantitativer Kriterien, geklärt sind, Zweifel und Bedenken übrig, so müßte er sich dann wohl — wie in einem solchen Falle bei Neuabsprachen — zu einer Aussetzung des Verfahrens entschließen, damit von einer Partei eine Stellungnahme der Kommission zu Artikel 85 Absatz 3 eingeholt werden kann.

III — Zur dritten Frage

Nach der Meinung der Angeklagten in den Ausgangsverfahren der Rechtssachen 253/78 und 1 bis 3/79 sowie der Beklagten im Ausgangsverfahren der Rechtssache 37/79 sollten angemeldete Neuverträge genau so behandelt werden wie die sogenannten Altvereinbarungen. Denn auch sie könnten jederzeit Gegenstand einer rückwirkenden Freistellung durch die Kommission sein.

Die britische, dänische, belgische, französische und deutsche Regierung sind der Auffassung, daß auch auf angemeldete Neuverträge ein möglicherweise strengeres nationales Wettbewerbsrecht angewandt werden könne. Die britische, dänische und deutsche Regierung verweisen auf das Urteil in der Rechtssache 48/72 vom 6. Februar 1973 (Haecht II, Slg. 1973, 77 ff.), wonach die Neuverträge keinerlei besonderen Schutz genießen. Nach Auffassung der französischen Regierung sollte für Neuverträge wenigstens ein gewisser Schutz in Gestalt einer „vorweggenommenen Gültigkeit“ bis zu einer etwaigen Entscheidung der Kommission gelten. Die belgische Regierung ist der Meinung, daß der nationale Richter Artikel 85 Absatz 1 so lange auf Neuverträge anwenden kann, als die Kommission kein Verfahren einleitet. Nach Auffassung der Kommission sollte der nationale Richter zunächst prüfen, ob die in Frage stehende Vereinbarung nicht, sei es aufgrund einer Gruppenfreistellung, sei es aufgrund einer individuellen Freistellung, gültig sein könnte. Sei dies der Fall, so sei die Vereinbarung als vom Standpunkt des Gemeinschaftsrechts endgültig wirksam anzusehen. Andernfalls könne der nationale Richter die Abrede für nichtig erklären, wenn ihre Unvereinbarkeit mit Artikel 85 Absatz 1 außer Zweifel stehe und feststehe, daß die Voraussetzungen des Artikels 85 Absatz 3 nicht vorlägen. Könne der nationale Richter Zweifel an der Vereinbarkeit der Abrede mit Artikel 85 nicht ausräumen, so habe er die Möglichkeit, das Verfahren auszusetzen, um den Parteien Gelegenheit zu geben, eine Stellungnahme der Kommission herbeizuführen, die ihm dann als Grundlage seiner Entscheidung dienen könne. Strengeres nationales Recht könne der staatliche Richter immer anwenden, wenn die Vereinbarung nach Gemeinschaftsrecht nichtig sei. Komme er dagegen zu dem Ergebnis, daß die Abrede endgültig wirksam sei, sei er an der Anwendung strengeren nationalen Wettbewerbsrechts gehindert.

1.

Was zunächst die Anwendung nationalen Rechts angeht, so sollte auch in diesem Zusammenhang an den im Urteil 14/68 (Walt Wilhelm und andere/Bundeskartellamt, Urteil vom 13. Februar 1969, Slg. 1969, 12 ff.) erarbeiteten Grundsätzen festgehalten werden. Es muß also dabei bleiben, daß die Anwendung nationalen Rechts nur statthaft ist, „soweit sie die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts und die volle Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen Maßnahmen auf dem gesamten Gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigt“. Dabei kann hinsichtlich des nationalen Wettbewerbsrechts im weitesten Sinne nicht mit der Überlegung gearbeitet werden, es betreffe nur die nationalen Aspekte eines Falles.

In Fällen wie den vorliegenden jedoch, in denen nach Prüfung durch die Kommission ein Bescheid etwa mit der Wirkung eines Negativattests ergangen ist, spricht tatsächlich nichts dagegen, daß ein nationaler Richter sein unter Umständen strengeres nationales Recht anwendet. Hier kann der Richter davon ausgehen, daß die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftskartellrechts nicht beeinträchtigt wird, weil die zuständige Gemeinschaftsbehörde — auch wenn ihre Wertung den nationalen Richter nicht bindet — die Auffassung geäußert hat, das Gemeinschaftsrecht greife nach einer Änderung der Absprachen nicht mehr ein. Hier kann auch die volle Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen Maßnahmen nicht beeinträchtigt werden, denn um eine solche Maßnahme handelt es sich sicher nicht bei einer Mitteilung, die den Betroffenen die Auffassung der Kommission kundtut, das Gemeinschaftsrecht sei auf ihren Fall nicht anzuwenden. Außerdem besteht hier auch nicht, weil es ja an der Wahrscheinlichkeit fehlt, daß die Kommission das Verfahren durch eine Entscheidung abschließen werde, deren Wirkungen durch eine nationale Entscheidung beeinträchtigt werden könnten, Anlaß, „geeignete Maßnahmen“ im Sinne des Urteils 14/68 zu ergreifen, nämlich das Verfahren im Hinblick auf eine etwaige mit Rückwirkung ausgestattete Freistellungsentscheidung auszusetzen.

2.

Was zum anderen die Anwendung von Artikel 85 Absätze 1 und 2 durch nationale Gerichte in Fällen angeht, in denen die Kommission das Eingreifen dieser Vorschrift schon geprüft hat und dabei zu einem in einem Einstellungsbescheid verlautbarten negativen Ergebnis gelangt ist, so stellt dies meines Erachtens kein Hindernis für die Anwendung von Artikel 85 durch ein nationales Gericht dar. Denn nationale Gerichte sind an derartige Bescheide keinesfalls gebunden; andererseits ergeben sich auch keine Hindernisse aus Artikel 9 der Verordnung Nr. 17, wozu ich zum einen auf das Urteil der Rechtssache 127/73 (Belgische Radio en Televisie und Société belge des auteurs, compositeurs et éditeurs/SV/SABAM und NV Fonior, Urteil vom 30. Januar 1974, Sig. 1974, 51) und zum anderen auf den Umstand verweise, daß Verfahren bei der Kommission — soweit sie eingeleitet worden sind — eben durch die erwähnten Bescheide abgeschlossen worden sind. In solchen Fällen möglicher unterschiedlicher Beurteilung der Anwendbarkeit von Artikel 85 Absatz 1 kommt es entscheidend, eben weil die Kommission keinen Anlaß zur Prüfung einer Freistellungsmöglichkeit nach Artikel 85 Absatz 3 gesehen hat, auf die Bewertung derartiger Freistellungsmöglichkeiten durch den nationalen Richter an. Wenn der Richter dabei — Entscheidungspraxis der Kommission und Rechtsprechung dieses Gerichtshofes können, wie schon gesagt,

von einer gewissen Hilfe sein — zu der Annahme gelangt, mit einer Freistellung sei wohl zu rechnen, so hat er die Absprache als -gültig anzusehen, womit dann natürlich auch eine Anwendung strengerer nationaler Rechtsvorschriften entfällt, die das Wesen einer derartigen möglichen Freistellung berühren würde. Meint der nationale Richter dagegen, es bestehe keinerlei Aussicht auf Erlaß einer Freistellungsentscheidung, hat er also keine Zweifel an der Unvereinbarkeit einer Absprache mit den Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft, so kann er sicher — gemäß der Rechtsprechung in der Rechtssache 48/72 (Haecht II, Slg. 1973, 77) — Artikel 85 Absätze 1 und 2 anwenden, und dies auch nicht nur mit Wirkung ex nunc. Besehen jedoch Zweifel an einer derartigen Unvereinbarkeit, so ist die einzig angemessene Lösung die, das Verfahren auszusetzen, damit eine Stellungnahme der Kommission eingeholt werden kann, die Klarheit darüber bringt, ob es bei der Einstellungsverfügung bleibt oder ob die Absprachen — eventuell nach Aufzeigung zusätzlicher Auslegungsgesichtspunkte zu Artikel 85 Absätze 1 und 3 durch den Gerichtshof — anders bewertet werden.

3.

Zu den in dem Fragenkatalog vom 16. Januar 1980 zusätzlich autgeworfenen Problemen kann demnach — und dies bringt eine gewisse Modifizierung der Antworten mit sich, die in den eingangs erwähnten Schlußanträgen vorgeschlagen worden sind — zusammenfassend wie folgt Stellung genommen werden:

a)

Im Falle rechtzeitig bei der Kommission angemeldeter oder von der Anmeldung befreiter sogenannter Altvereinbarungen, zu denen die Kommission nach Durchführung einer Prüfung kein Negativattest und keine Freistellungsentscheidung erlassen, sondern in einer Verwaltungsmitteilung erklärt hat, sie sehe keinen Anlaß, nach Artikel 85 Absatz 1 einzuschreiten, bestehen, wenn es an jeder Wahrscheinlichkeit dafür fehlt, daß die Kommission eine Freistellungsentscheidung noch erläßt, keine Bedenken gegen die Anwendung eines unter Umständen in bestimmter Hinsicht strengeren nationalen Rechts.

b)

In einem derartigen Fall kann der nationale Richter die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen nach Artikel 85 Absätze 1 und 2 feststellen.

c)

Im Falle angemeldeter oder von der Anmeldung befreiter neuer Vereinbarungen, zu denen die Kommission nach Prüfung kein Negativattest und keine Freistellungsentscheidung erlassen, sondern erklärt hat, es bestehe kein Anlaß, dagegen nach Artikel 85 Absatz 1 vorzugehen, ist, wenn mit einer Freistellungsentscheidung nicht zu rechnen ist, nichts dagegen einzuwenden, daß auf diese Vereinbarungen nationales Recht angewandt oder vom nationalen Richter festgestellt wird, sie seien gemäß Artikel 85 Absätze 1 und 2 nichtig.

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