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Document 61976CC0007

    Schlussanträge des Generalanwalts Warner vom 22. Juni 1976.
    Société IRCA (Industria romana carni e affini SpA) gegen Staatliche Finanzverwaltung.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Ufficio di conciliazione di Roma - Italien.
    Rindfleisch.
    Rechtssache 7-76.

    Sammlung der Rechtsprechung 1976 -01213

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1976:97

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS JEAN-PIERRE WARNER

    VOM 22. JUNI 1976 ( 1 )

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    In dieser Rechtssache geht es um die Gültigkeit einer Verordnung der Kommission vom 23. März 1973, die bestimmte Kürzungen der insbesondere im Handel mit Rindfleisch geltenden Währungsausgleichsbeträge festsetzte oder festsetzen wollte. Die Rechtssache ist weitgehend eine Wiederholung der Rechtssache 46/75, IBC/Kommission, (noch nicht veröffentlicht), in der ich meine Schlußanträge am 17. Dezember 1975 vortrug und der Gerichtshof sein Urteil am 27. Januar 1976 erließ. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, daß es sich bei der Rechtssache IBC/Kommission um eine Schadensersatzklage nach Artikel 178 des Vertrages handelte, während die heutige Rechtssache dem Gerichtshof vom Giudice Conciliatore von Rom gemäß Artikel 177 vorgelegt worden ist. In der Rechtssache IBC/Kommission wies der Gerichtshof die Klage als unzulässig ab und brauchte daher nicht auf die Begründetheit der Sache einzugehen. Hier dagegen steht außer Zweifel, daß die Vorlage zulässig ist. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß in der Rechtssache IBC/Kommission die Frage, ob die Verordnung wegen ihrer Rückwirkung ungültig ist, zu spät aufgeworfen wurde, um berücksichtigt werden zu können, während diese Frage im vorliegenden Fall dem Gerichtshof vom Giudice Conciliatore ausdrücklich vorgelegt worden ist.

    Sie werden sich erinnern, daß die Währungsausgleichsbeträge mit der Ratsverordnung (EWG) Nr. 974/71 vom 12. Mai 1971 im Anschluß an die Erweiterung der Bandbreiten der Währungen einiger Mitgliedstaaten eingeführt wurden.

    Nach Artikel 1 Absatz 1 dieser Verordnung in der Fassung des Artikels 2 der Ratsverordnung (EWG) Nr. 509/73 vom 22. Februar 1973 werden von dem Mitgliedstaat, dessen Währung über die durch die am 12. Mai 1971 geltende internationale Regelung genehmigte Bandbreite hinaus stärker bewertet wird, Ausgleichsbeträge bei der Einfuhr von Agrarerzeugnissen erhoben und bei der Ausfuhr gewährt, und umgekehrt werden von dem Mitgliedstaat, dessen Währung über die Bandbreite hinaus schwächer bewertet wird, Ausgleichsbeträge bei der Ausfuhr solcher Erzeugnisse erhoben und bei der Einfuhr gewährt. Italien ist natürlich ein Land, dessen Währung abgewertet wurde mit der Folge, daß dort Ausgleichsbeträge bei der Einfuhr gewährt werden.

    Durch Artikel 3 der Verordnung Nr. 509/73 wurde in die Verordnung Nr. 974/71 ein neuer Artikel 4 a eingefügt, der, soweit er hier einschlägig ist, wie folgt lautet:

    „1.   Im Handel mit Drittländern werden

    a)

    die bei der Einfuhr gewährten Ausgleichsbeträge von der Einfuhrbelastung abgezogen …

    2.   Im Handel zwischen den Mitgliedstaaten und mit Drittländern dürfen die Ausgleichsbeträge, die auf Grund einer niedrigeren Bewertung der betreffenden Währung anwendbar sind, nicht höher sein als die Belastung bei der Einfuhr aus Drittländern.“ (ABl. L 50 vom 23. Februar 1973)

    Wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen erläutert hat, bezweckte diese Bestimmung zu verhindern, daß Einfuhren aus Drittländern unter den Weltmarktpreisen auf den Gemeinschaftsmarkt gelangten.

    Nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 974/71 werden die Durchführungsbestimmungen zu dieser Verordnung, „in denen gegebenenfalls weitere Abweichungen von den Verordnungen über die gemeinsame Agrarpolitik vorgesehen werden können“, nach dem „Verwaltungsausschußverfahren“ erlassen, das in allen Verordnungen über die gemeinsamen Agrarmarktorganisationen vorgesehen ist. Sie wissen, daß die Kommission nach diesem Verfahren sofort anwendbare Maßnahmen zu erlassen ermächtigt ist, die vom Rat abgeändert werden können, wenn sie nicht der Stellungnahme des zuständigen Verwaltungsausschusses entsprechen. Im Fall vom Rindfleisch ist dieses Verfahren in Artikel 27 der Ratsverordnung (EWG) Nr. 805/68 vom 27. Juni 1968 vorgesehen, mit der die gemeinsame Marktorganisation für diesen Sektor errichtet wurde.

    In Ausübung oder vermeintlicher Ausübung ihrer Befugnisse aus Artikel 6 der Verordnung Nr. 974/71 erließ die Kommission am 1. März 1973 die Verordnung (EWG) Nr. 648/73, die zweierlei bewirkte. Erstens wurden die Bestimmungen früherer Kommissionsverordnungen, die Einzelheiten für die Anwendung der Ausgleichsbeträge enthielten, aufgehoben und durch eine einheitliche Fassung ersetzt. Zweitens wurden mit Artikel 6 Bestimmungen zur Durchführung des neuen Artikels 4 a Absatz 2 der Verordnung Nr. 974/71 geschaffen.

    Artikel 6 der Verordnung Nr. 648/73 hat folgenden Wortlaut:

    „1.   Für die Anwendung von Artikel 4 a Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 974/71 setzt die Kommission die Beträge fest, um die die Währungsausgleichsbeträge anzupassen sind.

    2.   Die nach Absatz 1 festgesetzten Abzüge werden in regelmäßigen Abständen geändert, wenn die Veränderung der Belastung bei der Einruhr aus dritten Ländern dies erforderlich macht.“ (ABl. L 64 vom 9. März 1973)

    Die Verordnung Nr. 648/73 wurde am 9. März 1973 im Amtsblatt veröffentlicht und trat drei Tage später in Kraft.

    Ebenfalls am 9. März 1973 wurde im Amtsblatt die Verordnung (EWG) Nr. 649/73 veröffentlicht, die die Kommission am 1. März 1973 erlassen hatte. In dieser Verordnung wurden unter Hinweis auf zwei Anhänge die vom 26. Februar 1973 an geltenden Ausgleichsbeträge festgesetzt oder sollten festgesetzt werden. Dies geschah laut Artikel 1 „vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 4 a Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 974/71“. Die Verordnung trat am Tag ihrer Veröffentlichung in Kraft.

    Am 5. März 1973 erließ die Kommission die Verordnung (EWG) Nr. 741/73, mit der die Ausgleichsbeträge durch Bestimmung neuer Anhänge zur Verordnung Nr. 649/73 geändert wurden. Die Verordnung Nr. 741/73 trat am 19. März 1973, dem Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt, in Kraft; jedoch sollte sie bereits vom 5. März 1973 an anwendbar sein.

    Am 23. März 1973 erließ die Kommission die Verordnung (EWG) Nr. 905/73, mit der sie, um Artikel 4 a Absatz 2 der Verordnung Nr. 974/71 durchzuführen, gemäß Artikel 6 der Verordnung Nr. 648/73 die Beträge festsetzte oder festsetzen wollte, um die die mit den Verordnungen Nrn. 649/73 und 741/73 bestimmten Ausgleichsbeträge anzupassen waren. Die Verordnung Nr. 905/73 sollte am Tag ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt — das heißt am 7. April 1973 — in Kraft treten, die in ihr festgesetzten Beträge sollten jedoch vom 26. Februar und am 5. März 1973 an gelten.

    In dieser Rechtssache geht es um eine Einfuhr, die am 22. März 1973 durchgeführt wurde, also nachdem die Verordnung Nr. 648/73, 649/73 und 741/73 in Kraft getreten waren, jedoch bevor die Verordnung Nr. 905/73 auch nur erlassen wurde. Es handelte sich um eine Einfuhr von 569 Partien Fleisch und Schlachtabfall von Rindern aus Argentinien, die von der Klägerin des Verfahrens vor dem Ufficio di Conciliazione Rom, von der Firma Industria Romania Carni e Affini S.p.A., getätigt wurde.

    Zu der Zeit bestand die Belastung bei einer solchen Einfuhr nur aus einem Wertzoll von 10 %. Der Gesamtwert des von der Klägerin des Ausgangsverfahrens importierten Rindfleischs belief sich auf 15635670 Lire, was eine Belastung von 1563570 Lire ergab.

    Nach dem Vortrag der Klägerin betrug der für diese Einfuhr geltende Ausgleichsbetrag 114,09 Lire pro kg. Da das eingeführte Rindfleisch ein Gesamtgewicht von 19800 kg aufwies, belief sich der effekitve Ausgleichsbetrag auf 2258982 Lire. Dieser Betrag hätte, so behauptet die Klägerin, nach Artikel 4 a der Verordnung Nr. 974/71 mit dem Zoll verrechnet werden müssen mit der Folge, daß sie nichts zu zahlen gehabt hätte.

    Die italienische Zollverwaltung kürzte indessen in Anwendung oder vermeintlicher Anwendung der Verordnung Nr. 905/73 den Ausgleichsbetrag auf eine Summe, die unter dem festgesetzten Zoll lag, und belastete die Klägerin dann mit 56790 Lire. Die Klägerin erklärt, sie könne die Erstattung dieser Summe verlangen, beschränke jedoch ihre Forderung, um die Zuständigkeitsgrenzen des Ufficio di Conciliazione nicht zu überschreiten, auf 50000 Lire.

    Die Klägerin des Ausgangsverfahrens trägt im wesentlichen zwei Thesen vor.

    Die erste lautet, daß es einen den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten gemeinsamen allgemeinen Grundsatz gebe, der die rückwirkende Anwendung von Rechtsvorschriften verbiete. Die Verordnung Nr. 905/73, die am 7. April 1973 in Kraft getreten sei, habe daher auf eine am 22. März 1973 durchgeführte Einfuhr nicht angewandt werden dürfen.

    Die zweite These besteht darin, daß die Verordnung Nr. 905/73 und Artikel 6 der Verordnung Nr. 648/73 (aufgrund dessen die Verordnung Nr. 905/73 erlassen wurde) jedenfalls in vollem Umfang ungültig seien. Die Gründe, die die Klägerin des Ausgangsverfahrens zur Unterstützung dieser These vorträgt, sind im wesentlichen die gleichen, die die Klägerin in der Rechtssache IBC/Kommission geltend machte.

    Vier Fragen sind dem Gerichtshof vom Giudice Conciliatore vorgelegt worden; sie spiegeln die Thesen der Klägerin des Ausgangsverfahrens wider. In der Tat wurden die Fragen, wie aus dem Vorlagebeschluß hervorgeht, von der Klägerin formuliert und auf ihr Betreiben dem Gerichtshof vorgelegt. Die erste Frage wirft das Problem der Rückwirkung auf. Jede der drei anderen stellt die Gültigkeit der Verordnungen Nrn. 905/73 und 648/73, auch abgesehen vom Gesichtspunkt der Rückwirkung der Verordnung Nr. 905/73, aus einem der von der Klägerin behaupteten Gründe in Frage. Was die Verordnung Nr. 648/73 anbelangt, so gehe ich davon aus, daß sich die Fragen nur auf Artikel 6 beziehen.

    Ich bin zu dem Schluß gelangt, daß es, außer im Hinblick auf einen Gesichtspunkt, wenig Zweck hätte, wenn ich auf das Vorbringen der Klägerin zur Unterstützung ihrer zweiten These, mit anderen Worten: auf die zweite, dritte und vierte Frage, die der Giudice Conciliatore dem Gerichtshof vorgelegt hat, im einzelnen einginge. Dieses Vorbringen ist, obgleich in anderer Reihenfolge und bis zu einem gewissen Grade mit anders gesetztem Akzent, wie gesagt, im wesentlichen das gleiche wie das der Klägerin in der Rechtssache IBC/Kommission. Ich habe die Gründe, aus denen dieses Vorbringen zurückzuweisen ist, in meinen Schlußanträgen in jener Rechtssache dargelegt, und ich glaube, ich würde Ihre Zeit ungebührlich in Anspruch nehmen, wenn ich mich nun wiederholte. Es war unvermeidlich, daß die Argumentation der Klägerin in der vorliegenden Rechtssache weitgehend aus einer höflichen, aber entschiedenen Kritik meiner Ausführungen in der Rechtssache IBC/Kommission bestand. Ich meinerseits hoffe, nicht für unhöflich gehalten zu werden, wenn ich mich in der Hauptsache auf die Feststellung beschränke, daß mich diese Argumentation nicht von der Unrichtigkeit meines Standpunkts überzeugt hat. Sie hat mich sogar in der Ansicht bestärkt, daß ich recht hatte.

    Der eine Gesichtspunkt, mit dem ich mich befassen muß, ist folgender.

    Sie erinnern sich, daß die Kommission sowohl in der Rechtssache IBC/Kommission als auch im vorliegenden Fall erläutert hat, wie sie die Beträge, um die die im Handel mit Rindfleisch geltenden Währungsausgleichsbeträge anzupassen waren, festsetzte und warum sie es auf diese Weise tat. Kurz gesagt, es bestand ein Unterschied zwischen Rindfleisch einerseits und allen anderen Agrarerzeugnissen andererseits, der darin lag, daß bei Rindfleisch die Belastung bei der Einfuhr aus Drittländern aus einem Wertzoll bestand (oder diesen in bestimmten Fällen einschloß), während die entsprechenden Belastungen bei allen anderen Agrarerzeugnissen (meistens Abschöpfungen) unter Bezugnahme auf eine Gewichtseinheit oder ähnliches ohne Rücksicht auf den Wert festgesetzt wurden. Dies bedeutete, daß es bei anderen Erzeugnissen als Rindfleisch keine Schwierigkeiten bei der Berechnung des Betrags gab, um den jeder Ausgleichsbetrag zu kürzen war, damit er — in Übereinstimmung mit Artikel 4 a Absatz 2 der Verordnung Nr. 974/71 — die Belastung bei der Einfuhr aus Drittländern nicht überstieg. Da der Ausgleichsbetrag und diese Belastung beide auf die gleiche Weise festgesetzt wurden, konnten sie leicht miteinander verglichen werden. Bei Rindfleisch wechselte jedoch der Zoll pro Gewichtseinheit je nach dem Wert der Ware. Dies wäre nicht problematisch gewesen, wenn die Ausgleichsbeträge nur für die Einfuhr aus dritten Ländern gegolten hätten, da in diesem Fall jede Warensendung für die Berechnung des Zolls bewertet werden mußte. Eine solche Bewertung oder Berechnung war aber, so hat die Kommission vorgetragen, bei der Ausfuhr nach dritten Ländern oder — was vielleicht noch wichtiger war — im innergemeinschaftlichen Handel nicht erforderlich. Hätte man nun von den Zollstellen der Mitgliedstaaten verlangt, daß sie jede Warensendung, die Gegenstand derartiger Geschäfte war, bewerten, nur um festzustellen, ob und in welcher Höhe der für diese Sendung geltende Ausgleichsbetrag zu berichtigen ist, so hätte dies für sie eine unverhältnismäßige Mehrbelastung bedeutet und zu unannehmbaren Behinderungen des Handels geführt. Die Kommission sah also die einzige, wenn auch nicht völlig zufriedenstellende Lösung darin, die Anpassung der Ausgleichsbeträge für Rindfleisch pauschal zu berechnen, wobei nicht vom tatsächlichen Wert der Waren jeder einzelnen Sendung ausgegangen wird, sondern von den „Einfuhrpreisen“, die die Kommission nach Artikel 10 der Verordnung Nr. 805/68 festsetzt. (Sie wissen, daß mit dieser Verordnung die gemeinsame Marktorganisation für Rindfleisch errichtet wurde, und daß deren Artikel 10 zufolge „ausgehend von den Preisnotierungen auf den repräsentativsten Märkten der dritten Länder“ ein „Einfuhrpreis“ berechnet wird, der mit dem gemeinsamen „Orientierungspreis“ zu vergleichen ist, um festzustellen, ob bei der Einfuhr aus dritten Ländern eine Abschöpfung zusätzlich zum Zoll zu erheben ist.) Die Kommission war ferner zu der Auffassung gelangt, daß künstliche Verlagerungen von Handelsströmen entstehen könnten, wenn diese pauschale Anpassung der Ausgleichsbeträge nicht für alle Handelsgeschäfte mit Rindfleisch einschließlich der Einfuhr aus Drittländern gelten würde.

    In der Rechtssache IBC/Kommission griff die Klägerin die Argumentation der Kommission (unter anderem) mit der Begründung an, daß die nach dritten Ländern ausgeführten Waren und die, die aus Mitgliedstaaten eingeführt oder nach diesen Staaten ausgeführt werden, sowieso für die Zwecke der Mehrwertsteuer bewertet werden müßten. Die Klägerin substantiierte ihre Behauptung jedoch nicht. Die Kommission entgegnete darauf, unabhängig von der Wahrheit dieses Vorbringens hätten Waren, die aus der Gemeinschaft stammen oder sich in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr befinden, wegen der Gemeinschaftspräferenz einen höheren Marktwert als aus Drittländern eingeführte völlig gleichartige Waren, so daß, habe man Gleiches gleich behandeln wollen, auf die erstgenannten Waren eine andere Bewertungsmethode als die, die den Zwecken der Mehrwertsteuer diene, habe angewandt werden müssen, um die Höhe der Belastung zu ermitteln, die für diese Waren gegolten hätte, wenn sie aus einem Drittland eingeführt worden wären.

    Die Klägerin im vorliegenden Fall hat diesen Angriff auf die Argumentation der Kommission erneuert und damit zwei Ziele verfolgt. Erstens wollte sie unter Bezugnahme auf die Richtlinien des Rates vom 11. April 1967 über die Einführung der Mehrwertsteuer (Nr. 67/227/EWG und 67/228/EWG) und auf die Rechtsvorschriften einiger Mitgliedstaaten die Richtigkeit ihrer Behauptung beweisen, daß alle Waren, die die Grenze eines Mitgliedstaats in beiden Richtungen überschreiten, für die Zwecke der Mehrwertsteuer bewertet werden müßten. Zweitens wollte sie den Nachweis erbringen, daß aufgrund des für die Mehrwertsteuer ermittelten Werts der Waren, die aus der Gemeinschaft stammen oder sich dort im freien Verkehr befinden, die Belastung, der sie im Falle der Einfuhr aus einem Drittland unterworfen gewesen wären, durch eine einfache mathematische Formel bestimmt werden könne.

    Was den ersten Punkt betrifft, so hatte ich nicht den Eindruck, daß die Klägerin den Beweis in jeder Hinsicht erfolgreich geführt hat, wenn auch nur deshalb, weil die fraglichen Richtlinien zwar die Bewertung der Ausfuhren für bestimmte Fälle eindeutig ins Auge fassen, sie aber offenbar nicht für jeden Fall vorschreiben, und außerdem, weil die Untersuchung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten durch die Klägerin alles andere als erschöpfend gewesen ist. Dies spielt aber, für sich allein gesehen, vielleicht keine Rolle, weil die Kommission in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, daß alle Mitgliedstaaten die Angabe des Werts aller eingeführten oder ausgeführten Waren verlangen, wenn nicht im Hinblick auf die Mehrwertsteuer, so doch zumindest für statistische Zwecke. Die Kommission hat allerdings betont, es gebe außer in bezug auf die aus dritten Ländern eingeführten Waren, die für die Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs nach Maßgabe der in der Ratsverordnung (EWG) Nr. 803/68 vom 27. Juni 1968 über den Zollwert der Waren und der Kommissionsverordnung (EWG) Nr. 375/69 vom 27. Februar 1969 enthaltenen Gemeinschaftsbestimmungen zu bewerten sind, Divergenzen sowohl hinsichtlich der in den einzelnen Mitgliedstaaten — entweder für die Mehrwertsteuer oder für statistische Zwecke — verwendeten Bewertungsgrundlagen, als auch was das Ausmaß angehe, in dem die Zollstellen den von den Unternehmern angegebenen Wert zu überprüfen gehalten seien. Es gibt also keinen gemeinsamen Ansatzpunkt für die Anwendung der von der Klägerin empfohlenen mathematischen Formel, auch wenn diese im übrigen annehmbar wäre, was die Kommission jedoch bestritten hat.

    Mir scheint, die Kommission hat auch in diesem Punkt recht, zumindest insoweit, als die mangelnde Einheitlichkeit der in den Mitgliedstaaten angewandten Verfahren zur Bewertung der Ein- und Ausfuhren im Unterschied zu der Einfuhr aus Drittländern die Kommission berechtigte, anstatt die Berechnung der Anpassungen der Ausgleichsbeträge den Mitgliedstaaten zu überlassen, von ihnen allen einheitlich anzuwendende pauschale Anpassungsbeträge aufgrund ihrer Befugnisse aus Artikel 6 der Verordnung Nr. 974/71 festzusetzen.

    Damit komme ich zur Frage der Rückwirkung.

    Hierzu ist zu bemerken, daß der Gerichtshof zwar in einer ganzen Reihe von Rechtssachen Fragen nach der etwaigen rückwirkenden Anwendung von Handlungen der Gemeinschaftsorgane zu prüfen hatte, er aber — soweit ich sehe — niemals die Grenzen einer solchen rückwirkenden Anwendung definiert, geschweige denn die präzise Frage, die sich in unserem Fall stellt, entschieden hat, ob und unter welchen Umständen die Kommission die rückwirkende Anwendung einer von ihr in Ausübung ihrer Befugnisse aus einer Ratsverordnung erlassenen Verordnung ausdrücklich vorschreiben darf. Diese Frage wurde auch in den Rechtssachen 63/69 und 64/69 (Compagnie française commerciale et financière/Kommission — Slg. 1970, 205, 221) aufgeworfen, doch wies der Gerichtshof in jenen Rechtssachen die Klagen, die von einer Privatperson nach Artikel 173 des Vertrages erhoben worden waren, als unzulässig ab, so daß die Frage unbeantwortet blieb.

    Die Kommission hat sich auf zwei Quellen berufen. Die erste sind die verbundenen Rechtssachen 42 und 49/59 (SNU-PAT/Hohe Behörde — Slg. 1961, 172-174). Dort hatte sich der Gerichtshof mit dem Widerruf eines rechtswidrigen Verwaltungsakts zu befassen, ein Problem, mit dem — wie mir scheint — die vorliegende Frage wenig zu tun hat. Immerhin ist bemerkenswert, daß der Gerichtshof in jenen Rechtssachen feststellte, auch in einem solchen Fall könne ein Widerruf unzulässig sein, wenn gutgläubige Beteiligte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hätten. Die zweite Quelle ist ein Diktum von Generalanwalt Roemer in den verbundenen Rechtssachen 106 und 107/63 (Töpfer/Kommission — Slg. 1965, 547, 576 f.), in denen er ausführte, daß „derartige weitreichende und entscheidende Maßnahmen wie ein rückwirkender Einfuhrstopp auf extreme Notfälle zu beschränken sind, in denen jede andere Maßnahme versagt“. In jedem Fall war eine Entscheidung der Kommission im Streit, die diese aufgrund ihrer Befugnisse aus einer Ratsverordnung erlassen hatte. Die Entscheidung war nur insofern rückwirkend, als sie Anträge auf Einfuhrlizenzen erfaßte, die eingereicht, aber noch nicht bewilligt worden waren. Der Gerichtshof hielt die Entscheidung aus anderen Gründen für ungültig.

    Es gibt selbstverständlich eine Reihe von Fällen, in denen der Gerichtshof die Auswirkungen des allgemeinen Grundsatzes zu berücksichtigen hatte, daß neue Rechtsvorschriften nur für die künftigen Folgen eines vor ihrem Erlaß entstandenen Sachverhalts gelten, sofern nichts anderes bestimmt ist. Ich brauche Ihre Zeit nicht damit zu beanspruchen, daß ich diese Fälle oder ähnliche Fälle wie die Rechtssache 17/67 (Neumann/Hauptzollamt Hof— Slg. 1967, 591) erörtere, in der sich der Gerichtshof mit der Notwendigkeit befaßte, daß die Gemeinschaftsorgane im Interesse der Rechtssicherheit vernünftigen Gebrauch von ihrer Befugnis aus Artikel 191 des Vertrages machen, eine Verordnung am Tag ihrer Veröffentlichung in Kraft zu setzen (a.a.O. S. 610 f.), oder die Rechtssache 74/74 (CNTA/Kommission — Slg. 1975, 533), in der es darum ging, daß unter gewissen Umständen zum Schutz des berechtigten Vertrauens Übergangsmaßnahmen erforderlich sind (a.a.O. S. 548 f.). Diese Probleme unterscheiden sich von denen, die die vorliegende Rechtssache, in der wir mit einer im eigentlichen Sinne rückwirkenden Bestimmung befaßt sind, aufwirft.

    Eine Rechtssache, die ich noch erwähnen muß, ist die Rechtssache 37/70 (Rewe-Zentrale/Hauptzollamt Emmerich — Slg. 1971, 23), in der der Gerichtshof bestimmte aufgrund von Artikel 226 des Vertrages erlassene Entscheidungen der Kommission trotz ihrer ausdrücklichen Rückwirkung für gültig hielt, die die Bundesrepublik Deutschland ermächtigten, Schutzmaßnahmen — einschließlich der Erhebung von Ausgleichsbeträgen bei der Einfuhr aus anderen Mitgliedstaaten — im Anschluß an die Aufwertung der DM im Oktober 1969 zu erlassen. Bei oberflächlicher Betrachtung der Gründe (a.a.O. S. 36 f.) könnte der Schluß gezogen werden, es genüge, um die Rückwirkung eines Rechtsakts zu rechtfertigen, der Nachweis, daß ohne diese Rückwirkung der Rechtsakt seinen Zweck nicht erreicht hätte. Abgesehen davon, daß es in der Rechtssache 37/70 um Entscheidungen und nicht um Verordnungen ging (was einen sachlichen Unterschied machen kann), verleiten mich zwei Überlegungen zu der Annahme, daß daraus ein solch allgemeiner Grundsatz nicht abgeleitet werden kann.

    Erstens war Artikel 226 (der nur während der Übergangszeit galt), wie sein Wortlaut zeigt, hauptsächlich eine „Dringlichkeits“-Bestimmung, von der nur bei „erheblichen“ Schwierigkeiten, welche die „wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebietes beträchtlich verschlechtern“ konnten, Gebrauch gemacht werden sollte. Die von der Kommission zu genehmigenden Maßnahmen mußten von ihr als „erforderlich“ angesehen werden, und, soweit sie Abweichungen von den Bestimmungen des Vertrages enthielten, konnten sie nur genehmigt werden, „solange dies unbedingt erforderlich [war], um die … genannten Ziele zu erreichen“. Mit den Worten von Generalanwalt Dutheillet de Lamothe (a.a.O. S. 43) war dies „geradezu ein ‚Krisenrecht‘“. Ein solcher Artikel konnte sehr wohl die Befugnis umfassen, rückwirkende Bestimmungen zu erlassen, wenn dies für die Erreichung des angestrebten Ziels erforderlich war.

    Zweitens wurden der Kommission die Befugnisse, die sie nach Artikel 226 besaß, unmittelbar durch den Vertrag und nicht durch einen Rechtsakt des Rates verliehen, so daß sie bei Ausübung dieser Befugnisse kein sekundäres Recht setzte. Ich werde zeigen, daß dies von Bedeutung sein kann.

    Da ich, wie ich meine, alle einschlägigen Stellen zitiert habe, die sich in der Rechtsprechung des Gerichtshofes finden lassen, wende ich mich nun der Europäischen Menschenrechtskonvention und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu.

    Die einzige Vorschrift der Europäischen Menschenrechtskonvention, die sich mit der Rückwirkung befaßt, ist wohl Artikel 7, der in Absatz 1 bestimmt:

    „Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.“

    Ähnliche Vorschriften, die nur für das Strafrecht gelten, enthalten die Verfassung dreier Mitgliedstaaten: Artikel 103 Absatz 2 der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 15 Absatz 5 der irischen Verfassung und Artikel 25 der italienischen Verfassung.

    Wir sind im vorliegenden Fall jedoch nicht mit Rechtsnormen über die strafrechtliche Verantwortlichkeit befaßt, sondern mit etwas ähnlichem wie Rechtsvorschriften, die eine Abgabe auferlegen oder erhöhen: Was die Einfuhr nach Italien angeht, so konnte eine Kürzung der Währungsausgleichsbeträge eine Zollerhöhung zur Folge haben. Ich sage „ähnlich wie“, denn ich übersehe nicht den Unterschied, der zwischen den eigentlich abgabenrechtlichen Bestimmungen und den Bestimmungen zur Durchführung der gemeinsamen Agrarmarktorganisationen zu machen ist.

    Für den Bereich des Zivilrechts gibt es in den Verfassungen der Mitgliedstaaten keine ausdrückliche Vorschrift darüber, bis zu welchem Grad Rechtsnormen rückwirkende Kraft haben können.

    Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch entschieden, ein Gesetz dürfe nicht rückwirkend so eingreifen, daß es ein berechtigtes Vertrauen verletze; soweit es diese Wirkung äußere, sei es als nichtig anzusehen (z. B. BVerfGE 30, 367, 385 f.).

    Dieser Grundsatz muß nach meiner Ansicht auch im Gemeinschaftsrecht gelten. Der Gerichtshof hat bereits allgemein ausgeführt, daß er keine Maßnahmen als Rechtens anerkennen könne, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten (Rechtssache 4/73, Nold/Kommission — Slg. 1974, 491, 507). Ich wäre geneigt, dies noch weiter zu entwickeln und zu behaupten, daß ein von der Verfassung eines Mitgliedstaats anerkanntes und geschütztes Grundrecht auch im Gemeinschaftsrecht anerkannt und geschützt werden muß. Der Grund hierfür liegt darin, daß das Gemeinschaftsrecht — wie der Gerichtshof mehrfach betont hat (z. B. in der Rechtssache 6/64, Costa/ENEL — Slg. 1964, 1251, 1269) — seine Existenz eigentlich der teilweisen Übertragung von Hoheitsrechten durch alle Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft verdankt. Meines Erachtens ist nicht davon auszugehen, daß irgendein Mitgliedstaat in diese Übertragung auch die Befugnis für die Gemeinschaft mit eingeschlossen hat, Recht zu setzen unter Verstoß gegen die von der eigenen Verfassung geschützten Rechte. Eine andere Auffassung würde bedeuten, daß den Mitgliedstaaten die Fähigkeit zuerkannt wird, die eigene Verfassung bei der Ratifizierung des Vertrages zu umgehen, was mir ausgeschlossen erscheint. Auf jeden Fall hat sich aber der Grundsatz, daß die Gemeinschaftsorgane nicht in der Weise Recht setzen dürfen, daß ein berechtigtes Vertrauen verletzt wird, in den Entscheidungen des Gerichtshofes bereits verfestigt. Die vorliegende Rechtssache stellt nur eine besondere Anwendung davon dar. Denn konnte dieser Grundsatz in einem Fall wie in der (bereits zitierten) Rechtssache CNTA angewandt werden, so muß dies — a fortiori — auch gelten, wenn die Rechtsvorschriften echte Rückwirkung haben.

    Mir scheint aber, die Feststellung, daß die Gemeinschaftsorgane nicht in der Weise rückwirkend Recht setzen dürfen, daß ein berechtigtes Vertrauen verletzt wird, kann für sich allein nicht genügen, damit die Klägerin des Ausgangsverfahrens obsiegt. Wie das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 19. Dezember 1961 (BVerfGE 13, 261, 272 f.) ausgeführt hat, ist das Vertrauen nicht schutzwürdig, wenn nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den die neuen Rechtsvorschriften zurückwirken, der Erlaß derartiger Vorschriften vorhersehbar war. Vorliegend, so hat die Kommission mit Nachdruck hervorgehoben, habe am 22. März 1973 (dem Zeitpunkt der fraglichen Einfuhr) niemand ein berechtigtes Vertrauen darauf haben können, daß keine Kürzungen der mit den Verordnungen Nrn. 649/73 und 741/73 festgesetzten Ausgleichsbeträge vorgeschrieben werden würde; denn es sei nicht nur nach Artikel 6 der Verordnung Nr. 648/73 eine solche Kürzung vorzuschreiben gewesen, sondern auch in Artikel 1 der Verordnung Nr. 649/73 ausdrücklich gesagt worden, daß die Ausgleichsbeträge dabei „vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 4 a Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 974/71“ bestimmt würden.

    Die vorliegende Rechtssache kann jedoch nach meiner Auffassung nicht allein unter Bezugnahme auf den Grundsatz, daß das berechtigte Vertrauen zu schützen ist, entschieden werden.

    In den Mitgliedstaaten außer Deutschland, in denen kein Verfassungsprinzip über die rückwirkende Anwendung von Rechtsvorschriften im Bereich des Zivilrechts besteht, wird ein Unterschied zwischen Gesetzen und abgeleitetem Recht gemacht.

    Was die Gesetze anbelangt, so besteht in all diesen Mitgliedstaaten ein anerkannter Grundsatz, wonach das Parlament zwar rückwirkende Bestimmungen erlassen kann, aber vermutet wird, daß es davon keinen Gebrauch gemacht hat. Demgemäß wird nur dann angenommen, daß ein Gesetz rückwirkende Kraft hat, wenn dies nach seinem Inhalt entweder ausdrücklich oder stillschweigend vorgesehen ist. Insoweit besteht eine bemerkenswerte Einmütigkeit in den Entscheidungen der höheren Gerichte der einzelnen Mitgliedstaaten. Der Grundsatz ist einheitlich, doch sein Ursprung wechselt. So leitet er sich in Belgien aus Artikel 2 des Code Civil ab, der bestimmt: „La loi ne dispose que pour l'avenir; elle n'a point d'effet rétroactif.“ Diese Bestimmung, die lediglich Gesetzeskraft hat, bindet nicht den Gesetzgeber; sie ist aber für die Gerichte verbindlich, soweit der Gesetzgeber keine Ausnahme getroffen hat. Eine ähnliche Bestimmung enthalten Artikel 2 des französischen Code Civil, Artikel 1 der Einleitenden Bestimmungen zum italienischen Codice Civile, Artikel 2 des luxemburgischen Code Civil und Artikel 4 des niederländischen Wet Algemene Bepalingen. In anderen Ländern ist der Grundsatz von den Gerichten — ohne Unterstützung durch irgendeine Vorschrift — entwickelt worden. Nirgendwo aber ist er besser gefestigt als in England und Schottland. Natürlich unterliegt dieser Grundsatz Ausnahmen. So wird er verschiedentlich für nicht anwendbar erklärt auf Gesetze zur Auslegung bestehenden Rechts, auf Verfahrensgesetze und auf Gesetze, die Privatpersonen Rechtsvorteile verschaffen. Es kann gut sein, daß in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten die Ausnahmen nicht die gleiche Einheitlichkeit aufweisen, die in bezug auf den Grundsatz selbst besteht. Doch ist dies für unsere Zwecke belanglos. Insbesondere braucht in unserem Fall nicht geprüft zu werden, ob die Verordnung Nr. 905/73 wegen ihrer Rückwirkung als ungültig anzusehen ist, soweit sie bewirkte, daß die von den italienischen Exporteuren zu zahlenden Ausgleichsbeträge gekürzt wurden und diesen Personen dadurch ein Rechtsvorteil verschafft wurde.

    Was das abgeleitete Recht betrifft, so besteht nicht genau die gleiche Einmütigkeit. Der am weitesten anerkannte Grundsatz — der auch am konsequentesten mit der für die Gesetze geltenden Regel übereinstimmt — ist der, daß das abgeleitete Recht nur rückwirkende Kraft haben kann, wenn und soweit das Ermächtigungsgesetz dies entweder ausdrücklich oder stillschweigend erlaubt. Das ist offenbar Rechtens in Belgien (hierzu verweise ich zum Beispiel auf das Urteil des Conseil d'État vom 28. Oktober 1969 in der Rechtssache Nr. 13760De Paepe, AACE, S. 914), Dänemark (vgl. hierzu M. Serensen „Statsfortfatningsret“, 2. Aufl., S. 218), Frankreich, wo es aber noch einen anderen Grundsatz gibt, den ich gleich erwähnen werde und der unter bestimmten Umständen im Bereich der Wirtschaft gilt, (hierzu P. Devolvé, „Le Principe de Non-Rétroactivité dans la Jurisprudence Économique du Conseil d'État“ in „Mélanges offerts à Marcel Wahne, Le Juge et le Droit Public“, Band II, S. 357 — 360), Italien (vgl. hierzu Landi & Potenza, „Manuale di Diritto Amministrativo“, 5. Aufl., S. 41) und Irland (vgl. hierzu das Urteil des Supreme Court in der Rechtssache McGrath und Harte, IR 68 [1941], S. 77). Dies entspricht zweifellos auch der allgemeinen Meinung in allen Teilen des Vereinigten Königreichs. Ich glaube, der Grund, warum es dort keine gerichtliche Entscheidung zu diesem Punkt gibt, liegt darin, daß dieser Grundsatz so völlig anerkannt ist, daß die Verfasser von abgeleiteten Rechtsvorschriften darauf bedacht sind, nicht von ihm abzuweichen. Ein Mißklang geht vom Recht der Niederlande aus, wo der Hoge Raad entschieden hat, daß sekundäre Rechtsvorschriften Rückwirkung haben können, es sei denn, daß das Ermächtigungsgesetz dies ausdrücklich verbietet. Die entsprechenden Entscheidungen des Hoge Raad sind jedoch von der Literatur kritisiert worden, und einige untere Instanzen sind ihnen nicht gefolgt, sondern haben die allgemeiner anerkannte Regel angewandt. In Luxemburg soll die Rechtslage unsicher sein (vgl. hierzu P. Pescatore „Introduction à la Science du Droit“, S. 317). Schließlich sollte ich erwähnen, daß das deutsche Recht — wenn ich nicht irre — in dieser Hinsicht ähnlich ist wie das der meisten anderen Mitgliedstaaten, insofern als nach Artikel 80 Absatz 1 der Verfassung ein zum Erlaß von abgeleiteten Rechtsvorschriften ermächtigendes Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß dieser Ermächtigung bestimmen muß.

    Die besondere französische Regel, auf die ich hingewiesen habe, greift dann ein, wenn sich ein Zeitraum, wie etwa ein Wirtschaftsjahr, abgrenzen läßt, der eine gewisse Einheit und Unteilbarkeit aufweist. Der Conseil d'État hat entschieden, daß in einem solchen Fall abgeleitete Rechtsvorschriften unter bestimmten Umständen auf den Beginn dieses Zeitraums zurückwirken können. Man kann sich vorstellen, daß diese Regel gegebenenfalls auch auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen anwendbar ist. Sie scheint mir aber für den vorliegenden Fall keine Bedeutung zu haben.

    Lassen wir also diese besondere Regel beiseite, so stellt sich nach meiner Ansicht die Frage, wohin uns die Orientierung, die uns die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten geben, in bezug auf das Gemeinschaftsrecht führt.

    Ich für meinen Teil habe in dieser Beziehung keinen Zweifel. Wenn eine Bestimmung des Vertrages den Rat oder die Kommission unmittelbar ermächtigt, Recht zu setzen, so ist die Lage ähnlich wie bei einem nationalen Parlament, das Gesetze erlassen kann. Abgesehen von der Einschränkung, daß ein berechtigtes Vertrauen nicht verletzt werden darf, steht es dem betreffenden Gemeinschaftsorgan frei, rückwirkende Bestimmungen zu erlassen, jedoch wird vermutet, daß es davon keinen Gebrauch gemacht hat. Die von ihm erlassenen Rechtsakte werden nur als rückwirkend angesehen, wenn und soweit aus deren Fassung entweder ausdrücklich oder stillschweigend die eindeutige Absicht hervorgeht, daß diese Akte Rückwirkung haben sollen. Braucht die Kommission dagegen, um Recht setzen zu können, eine Ermächtigung durch den Rat, so muß sie sich innerhalb der Grenzen dieser ihr vom Rat ausdrücklich oder stillschweigend erteilten Ermächtigung halten. Sie kann deshalb keine rückwirkenden Bestimmungen erlassen, wenn sie nicht vom Rat hierzu ermächtigt wurde.

    Wendet man dieses Kriterium auf den vorliegenden Fall an, so ist klar, daß weder Artikel 6 der Verordnung Nr. 974/71 noch Artikel 27 der Verordnung Nr. 805/68 der Kommission ausdrücklich die Befugnis zum Erlaß rückwirkender Bestimmungen verleihen. Kann davon ausgegangen werden, daß der Rat der Kommission eine solche Befugnis stillschweigend erteilt hat? Ich denke, nein. Nichts in der Natur der Währungsausgleichsbeträge oder der an ihnen vorzunehmenden Anpassungen erfordert eine Befugnis der Kommission zur rückwirkenden Festsetzung.

    Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen als Grund dafür, daß sie im Februar/März 1973 rückwirkende Maßnahmen ergriff, angegeben, die Ereignisse seien so schnell eingetreten, daß ihre Dienststellen Mühe gehabt hätten, mit ihnen Schritt zu halten. Am 1. Februar seien die Agrarverordnungen auf die neuen Mitgliedstaaten anwendbar geworden, am 13. sei der Dollar abgewertet worden, am selben Tag sei Italien vom Baseler Übereinkommen zurückgetreten, am 1. März seien bestimmte Devisenmärkte geschlossen worden und am 19. März sei die DM aufgewertet worden. Ich unterschätze nicht die Belastung, die diese rasch aufeinanderfolgenden Ereignisse den Dienststellen der Kommission auferlegt haben müssen. Aber aus dem Umstand allein, daß sie eingetreten sind, kann nicht der Schluß gezogen werden, daß der Rat die Kommission zu einem früheren Zeitpunkt hätte ermächtigen müssen, rückwirkende Bestimmungen über die Ausgleichsbeträge oder deren Anpassungen zu erlassen. Allzu häufig wird auf nationaler Ebene von der Befugnis zum Erlaß rückwirkender Bestimmungen Gebrauch gemacht, nicht etwa weil dies nach der Natur des zu behandelnden Problems erforderlich wäre, sondern einfach um die Aufgaben für die Exekutive zu erleichtern. Es wäre bedauerlich, wenn sich diese Praxis in der Gemeinschaft breitmachen würde.

    Aus diesen Gründen bin ich der Auffassung, daß Sie auf die Ihnen vom Giudice Conciliatore von Rom vorgelegten Fragen für Recht erkennen sollten:

    1.

    Die Verordnung Nr. 905/73 war ungültig, soweit sie für Einfuhren nach Italien gelten sollte, die vor dem 7. April 1973 stattfanden.

    2.

    Im übrigen hat die Prüfung der vorgelegten Fragen keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, daß diese Verordnung oder die Verordnung Nr. 648/73 ungültig war.


    ( 1 ) Aus dem Englischen übersetzt.

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