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Document 61974CC0024

Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 17. September 1974.
Caisse régionale d'assurance maladie de Paris gegen Giuseppina Biason.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour d'appel de Paris - Frankreich.
Rechtssache 24-74.

Sammlung der Rechtsprechung 1974 -00999

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1974:86

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 17. SEPTEMBER 1974

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Durch Gesetz vom 30. Juni 1956 wurde in Frankreich der „Fonds national de solidarité“ geschaffen. Sein Zweck ist es, bedürftigen Personen, d. h. Personen, deren Einkommen eine bestimmte Grenze nicht übersteigt, zusätzliche Leistungen zu gewähren zur Ergänzung verschiedener, wegen des Alters gezahlter, aber unzulänglicher Leistungen. Solche Zulagen erhalten Franzosen mit Wohnsitz in Frankreich, wenn sie Anspruch auf gesetzliches Altersgeld haben und mindestens 65 Jahre, bei Arbeitsunfähigkeit 60 Jahre alt sind. Aufgrund eines Gesetzes vom 2. August 1957 wird die Zulage auch Inhabern einer lebenslänglichen Invalidenrente gewährt, wenn ihre Berufs- oder Erwerbsfähigkeit um zwei Drittel vermindert ist und sie das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht haben. Ausdrücklich vorgesehen ist allerdings in Artikel L 699 des Code de la Sécurité sociale, daß die Zulage gestrichen wird, wenn ein Berechtigter seinen Wohnsitz aus dem Hoheitsgebiet der Französischen Republik verlegt.

Nach Erlaß des Gesetzes vom 2. August 1957 wurde am 6. Februar 1960 auch ein Nachtrag zum Französisch-Italienischen Protokoll über soziale Sicherheit vom 11. Januar 1957 vereinbart. Danach steht ein Anspruch auf Zahlung der Zulage gleichermaßen italienischen Staatsangehörigen zu, wenn sie im Falle der Invalidität Leistungen nach einem französischen System der sozialen Sicherheit beziehen. Auch hier ist freilich ausdrücklich bestimmt, daß der Anspruch nur Personen mit Wohnsitz im französischen Mutterland zusteht und daß die Zahlung eingestellt wird, wenn der Berechtigte seinen Wohnsitz aus dem Hoheitsgebiet des französischen Mutterlandes verlegt.

Diese Regelung ist auch für Fräulein Giuseppina Biason, die Beklagte des Ausgangsverfahrens, das zu der heute zu behandelnden Vorlage geführt hat, von Bedeutung. Fräulein Biason, eine italienische Staatsangehörige, ging nämlich in Frankreich, wo sie auch wohnte, eine Zeitlang einer bezahlten Beschäftigung nach. Seit dem 15. Juni 1971 erhält sie französische Invalidenrente. Von diesem Tag an und mit Rücksicht auf den geringen Umfang der Invalidenrente sowie ihre Bedürftigkeit wurde ihr auch eine Zulage aus dem Fonds national de solidarité français gezahlt. Mit Wirkung vom 1. April 1972 indessen wurde diese Zulage gestrichen, nachdem Fräulein Biason ihren Wohnsitz nach Italien verlegt und der französischen Sozialversicherung davon Mitteilung gemacht hatte.

Wegen dieser Streichung kam es auf Antrag von Fräulein Biason zu einem Verfahren vor der Commission de première instance du contentieux de la sécurité sociale in Paris. Dieses Gericht erließ am 21. März 1973 eine Entscheidung, nach der das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt werden sollte, ob die genannte Zulage trotz Wohnsitzverlegung, insbesondere aufgrund der Bestimmungen des Französisch-Italienischen Abkommens über soziale Sicherheit vom 31. März 1948 und des zwischen Belgien, Frankreich und Italien abgeschlossenen Abkommens vom 19. Januar 1951, weiterzuzahlen sei.

Zu einem Vorabentscheidungsverfahren kam es freilich nicht, vielmehr legte die Caisse régionale d'assurance maladie de Paris, die Beklagte des erstinstanzlichen Verfahrens, beim Appellationsgericht in Paris Berufung gegen die genannte Entscheidung ein.

Das Appellationsgericht glaubte in der Beurteilung des Falles unterscheiden zu können zwischen der Zeit vor dem 1. Oktober 1972, in der die Verordnung Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer noch in Kraft war, und dem Zeitraum nach dem 1. Oktober 1972, von dem an die Ratsverordnung Nr. 1408/71 die Verordnung Nr. 3 abgelöst hat. Für den zuletzt genannten Zeitraum gelangte es zu der Ansicht, die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 seien klar und nicht auslegungsbedürftig. Da die Verordnung ihrem Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b zufolge für „Leistungen bei Invalidität…“ gelte und da gemäß Artikel 1 Buchstabe t Leistungen und Renten im Sinne der Verordnung sämtliche Leistungen und Renten einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, aller Zuschläge, Anpassungsbeträge und Zulagen seien, falle die erwähnte französische Zulage, die an die Invalidität anknüpfe, in den Anwendungsbereich der Verordnung. Aus Artikel 6 der Verordnung sei ferner zu entnehmen, daß sie an die Stelle bestimmter Abkommen über soziale Sicherheit, also auch an die Stelle des Französisch-Italienischen Abkommens vom 31. März 1948, des Belgisch-Französisch-Italienischen Abkommens vom 19. Januar 1951 und des Nachtrages vom 6. Februar 1960 zum Französisch-Italienischen Protokoll vom 11. Januar 1957 getreten sei. Weil außerdem Artikel 10 der Verordnung bestimme, daß „Geldleistungen bei Invalidität …, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist…, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden [dürfen], weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat“, sei die Caisse régionale als verpflichtet anzusehen, an Fräulein Biason die französische Zulage ab 1. Oktober 1972 weiterzuzahlen.

Hinsichtlich der Zeit vor dem 1. Oktober 1972 kam das Appellationsgericht dagegen zu der Auffassung, das Franzö sisch-Italienische Abkommen vom 31. März 1948 und der Nachtrag vom 6. Februar 1960 zum Französisch-Italienischen Protokoll vom 11. Januar 1957 seien nicht anwendbar, weil ihre jetzt interessierenden Bestimmungen nicht in Anhang D zur Verordnung Nr. 3 aufgeführt seien. Hinsichtlich dieses Zeitraumes soll es nach Ansicht des Appellationsgerichtes für die Entscheidung des ihm unterbreiteten Falles auf die Auslegung von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 3 ankommen, nach dem die Verordnung auf Rechtsvorschriften Anwendung findet, die sich auf Leistungen bei Invalidität einschließlich derjenigen beziehen, die zur Erhaltung oder Besserung, der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind. Demgemäß wurde in einem Urteil vom 2. März 1974 außer der Zuerkennung eines Anspruchs auf die Zulage für die Zeit nach dem 1. Oktober 1972 die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage folgender Frage zur Vorabentscheidung gemäß Artikel 177 des EWG-Vertrags angeordnet:

„Kommen einer Versicherten, die im Rahmen der Krankenversicherung eine aufgrund entgeltlicher Beschäftigung in dem Mitgliedstaat ihres Wohnsitzes erworbene Invalidenrente bezieht und die aufgrund dieser Rente einen Anspruch auf eine Zulage hat, für den Zeitraum vom 1. 4.1972 bis zum 1.10.1972, in dem sie ihren Wohnsitz nach Italien verlegte, insbesondere die Bestimmungen der seinerzeit geltenden Verordnung Nr. 3 — Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b — in der Weise zugute, daß der Anspruch der Invalidenrente in Italien fortbesteht?“

Zu dieser Frage, zu der sich die Regierung der Französischen Republik, die Regierung der Italienischen Republik und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften geäußert haben, gebe ich folgende Stellungnahme ab:

1. 

Aus dem Schriftsatz der französischen Regierung ist zu entnehmen, daß gegen das Vorlageurteil des Appellationsgerichtes Kassationsbeschwerde eingelegt worden ist. Sie kann dazu führen, daß das Urteil des Appellationsgerichtes aufgehoben und die Entscheidung bedeutungslos wird, die der Europäische Gerichtshof auf dieses Vorlageurteil hin erläßt. So ergibt sich die Frage, ob man das Verfahren vor diesem Gerichtshof nicht so lange ruhen lassen sollte, bis über die Kassationsbeschwerde entschieden ist.

Nach der neuesten Rechtsprechung kann diese Frage jedoch ohne weiteres verneint werden.

War nämlich der Gerichtshof in der Rechtssache 31/68 (S.A. Chanel/Cepeha Handelsmaatschappij NV, Beschluß vom 16. 6.1970 — Slg. 1970, 404) noch geneigt, das Vorlageverfahren mit Rücksicht darauf auszusetzen, daß die Anfechtung des damals in Frage stehenden Vorlageurteils aufschiebende Wirkung hatte, so steht nunmehr fest, daß die Anfechtung von Vorlageurteilen als solche grundsätzlich für das Verfahren vor diesem Gerichtshof ohne Bedeutung ist. Ich erinnere dazu an die Rechtssache 127/73 (EuGH 30.1.1974 — Belgische Radio en Televisie u. a./SV SABAM und NV Fonior — Slg. 1974, 51), in der festgehalten wurde, das Vorlageverfahren sei fortzusetzen, solange die Vorlage nicht zurückgenommen oder aufgehoben worden ist.

Entsprechend ist also auch jetzt zu verfahren, d. h. es besteht, da das Vorlageurteil des Pariser Appellationsgerichtes nicht zurückgenommen oder aufgehoben worden ist, kein Anlaß, das Vorlageverfahren zu unterbrechen.

2. 

Wie ich vorhin dargelegt habe, möchte das Appellationsgericht wissen, ob für die Zeit vor Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71, also nach Maßgabe der Vorschriften der Verordnung Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, anzunehmen ist, daß ein Versicherter, der in einem Mitgliedstaat aufgrund entgeltlicher Beschäftigung eine Invalidenrente erhält und in diesem Mitgliedstaat auch Anspruch auf eine Zulage zur Invalidenrente hat, diesen Anspruch selbst dann behält, wenn er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt.

a)

Dazu hat die Kommission mit Recht bemerkt, daß diese Frage zunächst eine Untersuchung der Natur der in Frankreich zu der Invalidenrente aus dem Solidaritätsfonds gewährten Zulage verlangt. Es muß also ermittelt werden — und das dabei gefundene Ergebnis wird übrigens gleichermaßen für die Verordnung Nr. 3 wie die Verordnung Nr. 1408/71 von Bedeutung sein —, ob es sich bei der in Frage stehenden französischen Zulage — wie die französische Regierung meint — um eine Fürsorgeleistung handelt, die von der Verordnung Nr. 3 nach deren Artikel 2 Absatz 3 und von der Verordnung Nr. 1408/71 nach deren Artikel 4 Absatz 4 überhaupt nicht erfaßt wird, oder ob die Zulage — das ist die Meinung der italienischen Regierung und der Kommission — wenigstens unter bestimmten Umständen als eine Leistung bei Invalidität angesprochen werden kann und deswegen zum Bereich der Sozialversicherung und nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 3 bzw. nach Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 zum Anwendungsbereich dieser Verordnungen gehört.

Die Antwort auf diese erste Frage ist, wie die italienische Regierung und die Kommission mit Recht hervorgehoben haben, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes klar vorgezeichnet. Insbesondere ist von Interesse, was der Gerichtshof in der Rechtssache 1/72 (EuGH 22. 6. 1972 — Frilli/Belgischer Staat — Slg. 1972, 457) zur Auslegung der Verordnung Nr. 3 im Hinblick auf ein belgisches Gesetz ausgeführt hat, das bedürftigen Alten ein garantiertes Mindesteinkommen sichert.

In jener Sache wurde bekanntlich festgestellt, gewisse nationale Rechtsvorschriften stünden beiden Kategorien, der Fürsorge und der Sozialversicherung, gleich nahe. Das zu beurteilende belgische Gesetz nähere sich der Fürsorge insofern, als es Leistungen von der Bedürftigkeit abhängig mache und keinerlei Berufstätigkeits-, Mitgliedschafts- oder Beitragszeiten verlange. Der Sozialversicherung dagegen stehe die betreffende gesetzliche Regelung nahe, weil sie eine Beurteilung nach dem Einzelfall nicht vorsehe und den Begünstigten eine gesetzlich umschriebene Stellung einräume, die ihnen einen Anspruch auf eine der von Artikel 2 der Verordnung Nr. 3 erfaßten Altersrenten ähnliche Leistung gebe. Da aber — so fährt das Urteil fort — die Verordnung Nr. 3 auf alle Leistungen bei Alter Anwendung finde und da gemäß ihrem Artikel 1 Buchstabe s unter Leistungen im weitesten Sinne alle Leistungen oder Renten einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, aller Erhöhungen, Aufwertungsbeträge und Zuschläge zu verstehen seien, könne angenommen werden, daß Rechtsvorschriften, „die allen alten Einwohnern einen gesetzlich geschützten Anspruch auf eine Mindestrente geben, im Falle von Arbeitnehmern oder ihnen Gleichgestellten, die in einem Mitgliedstaat Beschäftigungszeiten zurückgelegt, ihren gewöhnlichen Aufenthalt und einen Rentenanspruch haben, dem Gebiet der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 51 des Vertrages und der dazu ergangenen Durchführungsvorschriften zuzurechnen“ seien.

Tatsächlich lassen sich diese Feststellungen wie übrigens auch die in der Rechtssache 187/73 (EuGH 28. Mai 1974 — Callemeyn/Belgischer Staat) zur Gewährung von Behindertenbeihilfe an Empfänger von Invalidenrenten getroffenen — mutatis mutandis — auf den Fall der französischen Zulage übertragen, die bedürftigen Alten mit unzulänglicher Altersrente und Personen mit unzulänglicher Invalidenrente gewährt wird.

In diesem Fall ist einerseits eine Annäherung an die Fürsorge festzustellen, weil die Bedürftigkeit eine Rolle spielt — das Einkommen darf einen bestimmten Umfang nicht überschreiten —, weil die Leistungen nicht von Berufstätigkeits-, Mitgliedschafts- und Beitragszeiten abhängen und weil ein Rückgriff des leistenden Trägers zunächst auf unterhaltspflichtige Familienangehörige, ab 1. Januar 1974 nur noch auf den Nachlaß des Begünstigten möglich ist. Eine Annäherung an die Sozialversicherung ist zum anderen insofern festzustellen, als keine Beurteilung der Umstände des Einzelfalles im Sinne einer Ermessensausübung stattfindet, vielmehr ein gesetzlicher Anspruch gegeben ist, und zwar auf Leistungen, die den Altersrenten und Invalidenrenten im Sinne der Verordnung Nr. 3 ähnlich sind. Weil zudem — wenn wir uns auf die Besonderheiten des Falles beschränken wollen, der im Ausgangsverfahren zu beurteilen ist — in Artikel 2 Buchstabe b der Verordnung Nr. 3 ebenso wie in Artikel 4 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 „Leistungen bei Invalidität“ genannt sind und weil nach Artikel 1 Buchstabe s der Verordnung Nr. 3 ebenso wie nach Artikel 1 Buchstabe t der Verordnung Nr. 1408/71 „die Ausdrücke ‚Leistungen‘ oder, Renten' die Leistungen oder Renten einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, aller Erhöhungen, Aufwertungsbeträge und Zuschläge“ bedeuten, können die französischen Vorschriften über die Gewährung einer Zulage aus dem nationalen Solidaritätsfonds, jedenfalls soweit sie auf Arbeitnehmer angewandt werden, die Beschäftigungszeiten in Frankreich zurückgelegt haben und deshalb einen Anspruch auf Invalidenrente haben, der Sozialversicherung zugerechnet werden.

Dafür spricht im übrigen auch — ohne daß dies freilich entscheidend wäre — der Umstand, daß die einschlägigen Vorschriften in den Code de la Sécurité sociale aufgenommen wurden. Desgleichen erscheint interessant, daß das in Frage stehende System offenbar dem System der sozialen Sicherheit im Sinne des Vorläufigen Europäischen Abkommens über die Systeme der sozialen Sicherheit und des Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit zuzurechnen ist.

Umgekehrt können — dies sei der Vollständigkeit halber gesagt — nicht von Bedeutung sein die von der französischen Regierung aus der französischen Literatur angeführte Definition der Sozialversicherung, die von ihr angezogenen Argumente aus französischen Gesetzestexten mit einschlägigen Defintionen und Bestimmungen über die Organisation der Sozialversicherung sowie die Tatsache, daß die Gewährung und Finanzierung der Zulage anders ist als die der ergänzten Grundleistungen, und der Umstand, daß die Zulage von bilateralen Abkommen über Sozialversicherung nicht erfaßt wird. Solche nationalen Besonderheiten können für unsere Beurteilung nicht maßgeblich sein. Entscheidend muß es vielmehr auf die Definitionselemente ankommen, die sich dem System des Gemeinschaftsrechts entnehmen lassen und die eine für alle Mitgliedstaaten gleiche Umgrenzung des Anwendungsbereichs der Verordnungen über die soziale Sicherheit erlauben.

b)

Konnte so der erste Teil der gestellten Frage verhältnismäßig leicht beantwortet werden, so trifft dies für einen zweiten Teil nur scheinbar zu, nämlich für die Frage, ob Leistungen von der Art der französischen Zulage „exportiert“ werden können, ob also ein Wohnsitz-wechsel über die Grenzen des gewährenden Mitgliedstaates hinaus ohne Einfluß auf die Gewährung der Zulage ist.

Insofern bestimmt Artikel 10 der Verordnung Nr. 3, daß Renten und Sterbegelder, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten erworben worden sind, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, weil der Berechtigte im Hoheitsgebiet eines anderen als dem des Mitgliedstaates wohnt, in dem der verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Dies findet — so heißt es in Artikel 10 Absatz 2 weiter — auf Leistungen keine Anwendung, die im Anhang E aufgeführt sind. Da die jetzt interessierende französische Zulage im Anhang E nicht aufgeführt ist, scheint somit die Frage ihrer Exportierbarkeit keine Probleme aufzuwerfen. Entsprechendes gilt für Artikel 10 der Verordnung Nr. 1408/71. Hier lesen wir: „Die Geldleistungen bei Invalidität, Alter oder für die Hinterbliebenen, die Renten bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und die Sterbegelder, auf die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten Anspruch erworben worden ist, dürfen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, nicht deshalb gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, weil der Berechtigte im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats als des Staates wohnt, in dessen Gebiet der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“ Da auch hier für die französische Zulage keine abweichende Anordnung zu finden ist, scheint die Situation nach der Verordnung Nr. 1408/71 ebenfalls klar zu sein.

Wie die Kommission uns gezeigt hat, dürfte die Beurteilung indessen nicht so einfach sein.

Man kann sich fragen, ob das Grundgebot des Artikels 51 des EWG-Vertrags, nach dem der Rat ein System einführt, welches die Zahlung der Leistungen an Personen sichert, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen, in den Verordnungen Nr. 3 und 1408/71 umfassend, d.h. unter Einschluß besonderer Systeme, wie der französischen Zulagen aus dem Solidaritätsfonds, verwirklicht worden ist. Meines Erachtens hat die Ansicht einiges für sich, man habe bei der Einführung der Exportmöglichkeit in den erwähnten Verordnungsbestimmungen die Erkenntnis vor Augen gehabt, daß die Sozialversicherungssysteme der meisten ursprünglichen Mitgliedstaaten den Sinn hatten, gewisse Einkünfte zu sichern, die im Zusammenhang mit einem früheren Arbeitslohn stehen, also gleichsam eine Fortsetzung des Arbeitseinkommens darstellen. Anders verhält es sich offensichtlich in Staaten, deren Sozialversicherung alten und arbeitsunfähigen Einwohnern ein Mindesteinkommen garantieren soll. Solche Systeme weisen fürsorgerechtliche Züge auf, und hier ist folglich der fürsorgerechtliche Gedanke der Solidarität einer Gemeinschaft, der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, wichtig. Demgemäß kann für sie, d.h. für Systeme, die zunehmend an Bedeutung gewinnen, der Wohnsitz — da es nach dem Gemeinschaftsrecht auf die Staatsangehörigkeit nicht ankommen darf — eine maßgebliche Rolle spielen mit der denkbaren Konsequenz, daß in Ermangelung dieses verbindenden Elementes Zahlungen durch einen Mitgliedstaat nicht mehr geleistet werden und dafür die Zahlungspflicht eines anderen Mitgliedstaates, in dem ein neuer Wohnsitz begründet wird, in Betracht kommt.

Zu übersehen ist außerdem nicht, daß die Anwendung des Grundsatzes der Exportierbarkeit auf Leistungen der zuletzt genannten Art praktische Schwierigkeiten von beträchtlichem Umfang mit sich bringt. Sie ergeben sich daraus, daß eine Einkommensbewertung in einem anderen Mitgliedstaat erforderlich wird, was offenbar eine weitgehende Zusammenarbeit der Verwaltungen voraussetzt, daß ein Rückgriff auf Unterhaltspflichtige oder auf einen Nachlaß in einem anderen Mitgliedstaat notwendig werden kann und daß im Falle der Leistung durch mehrere Mitgliedstaaten eine Aufteilung nach bestimmten Grundsätzen erwogen werden muß. Dafür sehen die Texte der Gemeinschaftsverordnungen in ihren bisher geltenden Fassungen keinerlei Bestimmungen vor.

Aus diesen Erkenntnissen wird man wohl zumindest ableiten dürfen, daß eine generelle Anwendung der in den Artikeln 10 der Gemeinschaftsverordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 vorgesehenen Exportmöglichkeiten auf alle Fälle zusätzlicher Sozialversicherungsleistungen oder garantierter Mindesteinkommen nicht in Betracht kommen kann. Zu welch schokkierenden Ergebnissen dies führen könnte, hat uns die Kommission mit Deutlichkeit vor Augen geführt. Der Grundsatz des Artikels 10 bedarf deshalb einer Einschränkung, und zwar auch im Hinblick auf Leistungen von der Art, um die es im vorliegenden Fall geht.

Dabei laßt sich an einen Vorbehalt anknüpfen, der in dem bereits erwähnten Urteil 1/72 (Frilli) mit Nachdruck hervorgehoben wurde. Er findet sich im Anschluß an die Feststellung, es sei Recht und Pflicht der Gerichte, „den Schutz der Wanderarbeitnehmer in allen Fällen zu gewährleisten, in denen dies nach den Grundsätzen der Sozialgesetzgebung der Gemeinschaft möglich ist“, und er ist in die Worte gefaßt „ohne daß das System der einschlägigen nationalen Gesetzgebung dadurch erschüttert wird“.

Im Hinblick darauf könnte man vielleicht daran denken, dem Umstand Bedeutung zuzuerkennen, daß gemäß Anhang E der Verordnung Nr. 3 zu den Leistungen, die nicht in das Ausland gewährt werden, die französische Zulage für alte Arbeitnehmer gehört und daß es demzufolge absurd erscheinen könnte, wenn etwas Abweichendes gelten sollte für eine Zulage aus dem Solidaritätsfonds, die zu jener Alterszulage hinzutritt und sie zu ergänzen bestimmt ist. Letztlich mag dies freilich — weil es für das Ausgangsverfahren ohne Relevanz ist — dahingestellt bleiben. Denn man muß sich — unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Ausgangsverfahrens, in dem es um eine Zulage zur Invalidenrente geht — vor Augen halten, daß bei der Invalidenversicherung die Dauer der Versicherung oder die Dauer eines Aufenthalts in einem bestimmten Land nicht die gleiche Wirkung auf den Leistungsanspruch hat wie bei Altersrenten. Dieser Umstand kann es auch bei Berücksichtigung des im Urteil Frilli enthaltenen Vorbehaltes erlauben, die Artikel 10 der Gemeinschaftsverordnungen mit ihren Exportmöglichkeiten zumindest auf einen Fall anzuwenden, in dem es um die Gewährung von Zulagen an einen Arbeitnehmer geht, der in einem Mitgliedstaat aufgrund früherer Berufstätigkeit eine Invalidenrente bezieht und der in diesem Mitgliedstaat im Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität seinen Wohnsitz hatte. Auf diese Weise kann den im Verfahren sichtbar gewordenen Bedenken am ehesten Rechnung getragen, d.h. eine Erschütterung des französischen Systems im Sinne des Urteils Frilli vermieden und gleichzeitig eine im Interesse des Schutzes der Wanderarbeitnehmer weite Auslegung der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 ermöglicht werden. Dementsprechend sollte also auf den zweiten Teil der aufgeworfenen Frage geantwortet werden.

3. 

Mein Urteilsvorschlag zu dem Vorabentscheidungsersuchen des Appellationsgerichtes Paris lautet nach alledem wie folgt:

Eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gewährte Zulage, die arbeitsunfähigen Einwohnern eine Mindestinvalidenrente sichert, ist, soweit sie Arbeitnehmer im Sinne der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 betrifft, die in dem betreffenden Mitgliedstaat eine Invalidenrente beziehen, als Leistung bei Invalidität im Sinne von Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 3 und Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen. War der Berechtigte im Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität in dem Mitgliedstaat wohnhaft, in dem der zur Zahlung der Zulage verpflichtete Träger seinen Sitz hat, so kann ihm gemäß Artikel 10 der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 1408/71 die Zulage nicht entzogen werden, wenn er seinen Wohnsitz später in einen anderen Mitgliedstaat verlegt.

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