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Document 61971CC0043

Schlussanträge des Generalanwalts Dutheillet de Lamothe vom 30. November 1971.
Politi s.a.s. gegen Finanzministerium der Italienischen Republik.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale civile e penale di Torino - Italien.
Rechtssache 43-71.

Sammlung der Rechtsprechung 1971 -01039

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1971:115

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ALAIN DUTHEILLET DE LAMOTHE

VOM 30. NOVEMBER 1971 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Der Sachverhalt, der vorliegender Rechtssache zugrunde liegt, ist einfach.

Die Firma Politi führte 1966 gekühltes Schweinefleisch aus Schweden und darauf Schweinefleisch und Schweineschinken, gefroren, aus Belgien nach Italien ein.

Im Jahre 1969 führte sie in zwei Partien Schweinefleisch und genießbare Schlachtabfälle von Schweinen aus Frankreich und gekühltes Schweinefleisch aus Irland ein.

Für alle diese Einfuhren zogen die italienischen Finanzbehörden sie zu einer sogenannten „Statistikgebühr“ und zu einer „Abgabe für Verwaltungsleistungen“ heran.

Nach Ansicht der Firma Politi standen im Falle der Einfuhren von 1966 die Artikel 14 und 18 der Verordnung Nr. 20/62 „über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Schweinefleisch“ und im Falle der Einfuhren von 1969 die Artikel 17 Absatz 2 und 19 der an die Stelle der Verordnung Nr. 20 getretenen Verordnung Nr. 121/67 der Erhebung dieser Abgaben entgegen.

Bekanntlich untersagen die zitierten Verordnungsbestimmungen den Mitgliedstaaten, nach Inkrafttreten der Abschöpfungsregelung Abgaben zollgleicher Wirkung zu erheben.

Diese Abschöpfungsregelung galt nach dem anfänglichen, in der Verordnung Nr. 20 vorgesehenen System mit unterschiedlichen Einzelbestimmungen und Sätzen sowohl für Einfuhren aus Mitgliedstaaten der Gemeinschaft wie für solche aus dritten Ländern.

Seit Inkrafttreten der Verordnung Nr. 121/67 bestehen Abschöpfungen nur noch für Erzeugnisse aus dritten Ländern.

Die Klägerin machte die ihr nach ihrer Ansicht aufgrund dieser Vorschriften zustehenden Ansprüche im Mahnverfahren nach Artikel 633 der italienischen Zivilprozeßordnung gegen den italienischen Staat geltend.

Dies ist ein summarisches Verfahren, in dem ein Gläubiger bei einem Richter beantragt, seine Forderung anzuerkennen und dem Schuldner die Bezahlung der Schuld zu befehlen.

Der mit diesem Antrag befaßte Präsident des Tribunale civile Turin war der Auffassung, daß der Antrag eine Anzahl die Auslegung der darin angeführten Gemeinschaftsverordnungen betreffende Vorfragen aufwerfe, und hat Ihnen gemäß Artikel 177 EWGV die Fragen vorgelegt, die Sie vor Augen haben.

Bevor ich auf diese Fragen eingehe, will ich zwei Vorbemerkungen über einige Punkte machen, die im Laufe des Verfahrens, insbesondere neulich in der mündlichen Verhandlung, aufgeworfen worden sind.

1. 

Der Vertreter der Italienischen Republik hat in seinem Plädoyer die Anwendbarkeit des Artikels 177 im vorliegenden Fall verneint.

Ausgehend von einigen Besonderheiten des italienischen Mahnverfahrens und insbesondere von dessen „summarischem“ Charakter hat er die Auffassung vertreten, Sie könnten in einem solchen Verfahren nicht wirksam angerufen werden.

Sie haben in Ihrer Rechtsprechung schon im voraus über diesen Einwand entschieden.

Ihre Urteile SACE Bergamo vom 17. Dezember 1970 (33/70, Slg. 1970, 1213) und Firma Eunomia vom 26. Oktober 1971 (18/71, Slg. 1971, 811) schließen stillschweigend, aber notwendigerweise die Entscheidung ein, daß Sie von italienischen Richtern in dem von der italienischen Zivilprozeßordnung vorgesehenen Mahnverfahren wirksam angerufen worden seien..

Die Schwierigkeit ist Ihnen auch gewiß nicht entgangen, denn

mein dienstälterer Kollege, Generalanwalt Roemer, hatte Sie in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache SACE Bergamo ausdrücklich darauf hingewiesen und

Sie haben in der Rechtssache Eunomia die übliche Fassung der Begründung Ihrer Kostenentscheidung geändert, um den Besonderheiten des italienischen Mahnverfahrens Rechnung zu tragen.

2. 

Der Vertreter der Regierung der Italienischen Republik und der Firma Politi haben darauf hingewiesen, daß an dem Tage, an dem der Präsident des Tribunale Turin die Verfügung erlassen hat, mit der er Ihnen die Sache vorgelegt hat, in der italienischen Gazzetta Ufficiale ein Gesetz Nr. 447 vom 24. Juni 1971 verkündet worden ist, das die beiden umstrittenen Abgaben abschafft und hierbei zumindest bei einer dieser Abgaben eine gewisse Rückwirkung vorsieht.

Hieraus ziehen der Vertreter der italienischen Regierung und der der Firma Politi verschiedene Schlußfolgerungen.

Für den Vertreter der italienischen Regierung macht dieser Umstand die Ihnen vom Präsidenten des Tribunale civile Turin vorgelegten Fragen gewissermaßen gegenstandslos.

Für den Vertreter der Firma Politi hingegen müßte er Sie veranlassen, in Ihrem Urteil den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem — selbst jüngeren — nationalen Recht erneut zu bekräftigen.

Eine solche Bekräftigung, so sagte er Ihnen in der mündlichen Verhandlung, sei notwendig, denn während der genannte Grundsatz heute in den Niederlanden — aufgrund einer Verfassungsbestimmung —, im Großherzogtum Luxemburg und im Königreich Belgien — gemäß der höchstrichterlichen Rechtsprechung —, sowie in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt werde und während gewisse Tendenzen in der Rechtsprechung der französischen Cour de cassation hoffen ließen, daß auch dieses hohe Gericht ihn anerkennen könnte ( 2 ), stünden seiner Anerkennung in Italien noch gewisse Hindernisse entgegen.

Meines Erachtens würden Sie sich jedoch zu den für die Anwendung des Artikels 177 bereits von Ihnen erarbeiteten Grundsätzen in Widerspruch setzen, wenn Sie diesem Ansinnen entsprächen:

a)

Nach Ihrer Auffassung behält ohne Rücksicht darauf, ob neue Tatsachen oder Geschehnisse Auswirkungen auf die vor dem innerstaatlichen Richter anhängige Klage haben können, die Vorlageentscheidung dieses Richters die Kraft, Sie wirksam mit der Sache zu befassen, solange sie nicht von ihm selbst oder durch eine Entscheidung eines ihm übergeordneten Gerichts aufgehoben ist.

Außerdem sei noch angemerkt, daß mit Sicherheit nicht alle Fragen, wegen deren der Präsident des Tribunale Turin Sie angerufen hat, seit Inkrafttreten des italienischen Gesetzes vom 24. Juni 1971 gegenstandslos sind.

b)

Nach Ihrer Rechtsprechung hat derjenige, der das Verfahren in Gang gesetzt hat, in dem der nationale Richter Sie angerufen hat, keine Möglichkeit, eine Änderung oder Ergänzung der Ihnen von diesem Richter vorgelegten Fragen zu erreichen.

Vorliegend hat Ihnen der Präsident des Tribunale civile Turin keine Frage nach der Vereinbarkeit des italienischen Gesetzes vom 24. Juni 1971 mit den Gemeinschaftsverordnungen gestellt.

Sie haben also über diesen Punkt nicht zu entscheiden.

Sollte er den italienischen Richtern Schwierigkeiten bereiten, können sie Ihnen jederzeit neue Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts vorlegen.

Nach diesen beiden Vorbemerkungen will ich mich nun den vorgelegten Fragen zuwenden, die im wesentlichen drei Probleme auf werfen:

1.

Sind Abgaben wie die „Statistikgebühr“ und die „Abgabe für Verwaltungsleistungen“, die eine Zeitlang in Italien erhoben wurden, als Abgaben zollgleicher Wirkung in dem Sinne anzusehen, den die Verordnungen Nrn. 20/62 und 121/67 diesem Ausdruck geben?

2.

Gelten die Bestimmungen dieser Verordnungen, welche die Erhebungen von Abgaben zollgleicher Wirkung untersagen, unmittelbar und begründen sie Rechte der einzelnen, welche die nationalen Gerichte zu wahren haben?

3.

An welchem Tage sind diese Bestimmungen in Kraft getreten und haben solche Rechte begründet?

I

Zum ersten dieser Probleme will ich mich kurz fassen, weil es meines Erachtens durch die Rechtsprechung bereits in jeder Hinsicht gelöst ist.

1.

Für die sogenannte Statistikgebühr haben Sie mit Urteil 24/68 vom 1. Juli 1969 (Kommission gegen Italienische Republik, Slg. 1968, 193) entschieden; daß sie als Abgabe zollgleicher Wirkung im Sinne der Artikel 9, 12 und 13 EWGV sowie der Verordnungen über die Agrarmarktorganisationen anzusehen ist (Entscheidungsgründe, zu Randnr. 18).

2.

Für die sogenannte Abgabe für Verwaltungsleistungen haben Sie mit Ihrem Urteil 8/70 vom 18. November 1970 (Kommission gegen Italienische Republik, Slg. 1970, 961) entschieden, daß sie eine Abgabe zollgleicher Wirkung im Sinne von Artikel 9 EWGV ist.

Da Sie im zitierten Urteil vom 1. Juli 1969 festgestellt haben, daß der Ausdruck Abgabe zollgleicher Wirkung in den Agrarmarktverordnungen den gleichen Sinn hat wie in Artikel 9 EWGV, ist die Frage somit meines Erachtens auch für letztere Abgabe entschieden.

II

Was das zweite Problem anbelangt, so läßt sich wohl nicht bestreiten, daß die angeführten Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 20/62 und 121/67 unmittelbar gelten und Rechte der einzelnen begründen, welche die nationalen Gerichte zu wahren haben.

Übrigens haben Sie bereits in Ihrem Urteil vom 18. November 1970 festgestellt, daß sie gemäß Artikel 189 EWGV unmittelbar gelten.

Die Rechte, welche sie für die einzelnen begründen, sind daher am Tage ihrer Inkraftsetzung entstanden.

Übrigens sei hierzu bemerkt, daß Sie gerade für die beiden umstrittenen Abgaben entschieden haben, daß ihre Erhebung bei Einfuhren von Waren, für die keine Marktordnung und keine Gemeinschaftsverordnung besteht, von einem bestimmten Zeitpunkt an der Richtlinie 68/31 der Kommission widerspricht, welche die Verpflichtung der Mitgliedstaaten regelt, die Abgaben zollgleicher Wirkung abzuschaffen; und in dem zitierten Urteil SACE haben Sie sogar unbedenklich festgestellt, daß die Bestimmungen dieser Richtlinie in Verbindung mit Artikel 9 EWGV und einer Entscheidung des Rates unmittelbare Wirkungen erzeugt und Rechte der einzelnen begründet haben, welche die nationalen Gerichte zu wahren haben.

Dies gilt a fortiori bei den Bestimmungen der Marktorganisationsverordnungen, welche die Abschaffung der Abgaben zollgleicher Wirkung ausdrücklich vorsehen.

III

Das Problem, von welchem Tage an die angeführten Bestimmungen der Verordnungen über die Marktorganisation für Schweinefleisch für die einzelnen Rechte begründet haben, ist ein wenig verwikkelt.

1.

Die Verordnung Nr. 20 sah für Einfuhren aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (Artikel 14 Absatz 1) und für Einfuhren aus dritten Ländern (Artikel 18 Absatz 1) ausdrücklich vor, daß die Anwendung der Abschöpfungsregelung „mit der Erhebung von Zöllen oder Abgaben gleicher Wirkung unvereinbar“ sei (so Artikel 14 für den innergemeinschaftlichen Handel) oder zur Folge habe, daß die Erhebung von Abgaben zollgleicher Wirkung „unterbleibt“ (so Artikel 18 für den Handel mit dritten Ländern).

Diesen beiden Bestimmungen ist klar zu entnehmen, daß sie Rechte für die einzelnen erst vom Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Abschöpfung an erzeugt haben.

Artikel 23 der Verordnung Nr. 20 sah den 1. Juli 1962 als einheitlichen Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Abschöpfungen vor.

Es erwies sich aber als unmöglich, vor dem 1. Juli 1962 alle notwendigen Maßnahmen zu treffen.

Deshalb haben eine Reihe von Verordnungen, die im Sitzungsbericht aufgezählt sind, wiederholt Änderungen des ursprünglichen Artikels 23 vorgesehen.

Diesen Verordnungen ist zu entnehmen, daß die Abschöpfungsregelung in Kraft getreten ist

am 30. Juli 1962 für die unter Buchstabe a der Tabelle des Artikels 1 der Verordnung Nr. 20 aufgeführten Waren (lebende Tiere) und für geschlachtete Schweine;

am 2. September 1963 für die übrigen in dieser Tabelle aufgeführten Waren, insbesondere die Schlachtabfälle.

Es sei bemerkt, daß die Verordnungen, welche die Höhe der Abschöpfungen regeln, an den gleichen Tagen in Kraft getreten sind, womit eine der Schwierigkeiten ausgeräumt ist, auf welche der italienische Richter offenbar gestoßen ist.

Die Artikel 14 und 19 der Verordnung Nr. 20 haben also je nach Lage des Falles vom 30. Juli 1962 oder vom 2. September 1963 an Rechte der einzelnen begründet.

2.

Die Verordnung Nr. 121/67 hat nur Verbote wiederholt, die bereits bestanden.

Die Bestimmungen ihrer Artikel 17 und 19 haben also ab 1. Juli 1967, dem Zeitpunkt, zu dem nach Artikel 32 der Verordnung deren Regelung in Kraft getreten ist, Rechte der einzelnen begründet.

Nach alledem beantrage ich, die vom Präsidenten des Tribunale civile Turin vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten;

1.

Abgaben von der Art der in Italien erhobenen „Statistikgebühren“ und „Abgaben für Verwaltungsleistungen“ sind als Abgaben zollgleicher Wirkung im Sinne der Verordnungen Nrn. 20/62 und 121/67 anzusehen.

2.

Die Bestimmungen dieser Verordnungen, welche die Erhebung von Abgaben zollgleicher Wirkung verbieten, gelten unmittelbar und verleihen den einzelnen Rechte, welche die innerstaatlichen Gerichte zu wahren haben.

3.

Die Bestimmungen dieser Verordnungen haben solche Rechte begründet

ab 30. Juli 1962 hinsichtlich der in Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 20 aufgeführten Erzeugnisse und der geschlachteten Schweine;

ab 2. September 1963 hinsichtlich der unter Artikel 1 Absatz 1 Buchstaben b und c dieser Verordnung aufgeführten Erzeugnisse;

ab 1. Juli 1967 hinsichtlich der seit diesem Zeitpunkt durchgeführten Einfuhren.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.

( 2 ) Vgl. Obergerichtshof in Luxemburg, 14. Juli 1954; belgische Cour de cassation (Erste Kammer), 27. Mai 1971, Belgischer Staat gegen Fromagerie „Le Ski“ (Journal des Tribunaux 1971, S. 160); Bundesverfassungsgericht, 9. Juni 1971, Firma Lütticke; französische Cour de cassation (Strafkammer), Union des transports aériens (JCP semaine juridique 1970, Nr. 1653).

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