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Document 61971CC0007

    Schlussanträge des Generalanwalts Roemer vom 18. November 1971.
    Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik.
    Versorgungsagentur.
    Rechtssache 7-71.

    Sammlung der Rechtsprechung 1971 -01003

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1971:107

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS KARL ROEMER

    VOM 18. NOVEMBER 1971

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    In dem Verfahren, das uns heute beschäftigt, stehen sich zum erstenmal ein Organ der Gemeinschaften und ein Mitgliedstaat im Streit um Fragen des Euratom-Rechts gegenüber. Der Untersuchung dieses Falles ist folgendes vorauszuschicken.

    Gleichzeitig mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sind deren Mitgliedstaaten übereingekommen, ihre Käfte auf dem Gebiet der Entwicklung der Atomenergie zu vereinen. Aus der dafür geschaffenen Rechtsordnung, dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, interessiert jetzt zunächst Artikel 2 d, der bestimmt, daß die Gemeinschaft zur Erfüllung ihrer Aufgabe nach Maßgabe des Vertrages „für regelmäßige und gerechte Versorgung aller Benutzer der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen Sorge zu tragen“ hat. Detaillierte, im gegenwärtigen Zusammenhang nicht mit allen Einzelheiten anzuführende Regeln finden sich dafür im Zweiten Titel, Kapitel VI des Vertrages. Für sie ist kennzeichnend die obligatorische Zentralisierung von Angebot und Nachfrage betreffend Erze, Ausgangsstoffe und besondere spaltbare Stoffe. Sie erfolgt bei einer Handelsagentur, der Versorgungsagentur, einer Anstalt des öffentlichen Rechts mit Rechtspersönlichkeit und finanzieller Autonomie, die unter der Aufsicht der Kommission arbeitet. Diese Agentur hat ein Bezugsrecht für die in Artikel 197 des Vertrages aufgeführten Erzeugnisse; es muß ihr jeder Produzent der Gemeinschaft die von ihm hergestellten Stoffe unter näher definierten Bedingungen anbieten. Die Agentur hat auch ein ausschließliches Recht zum Abschluß von Lieferverträgen über solche Stoffe mit Benutzern in der Gemeinschaft, und zwar sowohl was Lieferungen aus dem Bereich der Gemeinschaft angeht, als auch soweit es sich um Verträge über außergemeinschaftliche Aufkommen handelt. Auf diese Weise soll den Benutzern der Gemeinschaft der gleiche Zugang zu den genannten Stoffen gesichert werden. — Die Versorgungsagentur hat ihre Tätigkeit gemäß einer Entscheidung der Kommission vom 5. Mai 1960 am 1. Juni 1960 aufgenommen. Abgesehen von den Vertragsbestimmungen des Zweiten Titels, Kapitel VI, sind für sie die Vorschriften einer vom Rat am 6. November 1958 festgelegten Satzung maßgeblich. In ihr ist unter anderem angeordnet, daß die Agentur nach kaufmännischen Grundsätzen arbeitet, aber keinen Erwerbszweck verfolgt. Außerdem regelt sie die Einzelheiten der vom Rat vorzunehmenden Bestellung eines aus Vertretern der Erzeuger und Verbraucher sowie Sachverständigen zusammengesetzten Beirats. Für das „Verfahren betreffend die Gegenüberstellung von Angeboten und Nachfragen bei Erzen, Ausgangsstoffen und besonderen spaltbaren Stoffen“ ist eine von der Agentur nach Einholung der Stellungnahme des Beirats erlassene und von der Kommission durch Entscheidung vom 5. Mai 1960 gebilligte Vollzugsordnimg vom 5. Mai 1960 verbindlich. Ihre Einzelheiten werden uns später begegnen. — Aus der Vielfalt der in Betracht kommenden Vertragsbestimmungen will ich im gegenwärtigen Zusammenhang nur noch Artikel 70 erwähnen, demzufolge die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Schürfung und der Erzreserven die Tätigkeit der Gemeinschaft durch Berichte erleichtern, die sie für ihre Hoheitsgebiete jährlich der Kommission vorzulegen haben.

    Offensichtlich konnte die Entwicklung dieses neuartigen Gebietes bei der Festlegung des Vertragstextes nicht mit Sicherheit vorausgesehen werden. Deshalb enthält das VI. Kapitel des Zweiten Titels in Artikel 76 Absatz 2 eine Schlußbestimmung, die folgendes besagt: „Nach Ablauf von sieben Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages kann der Rat diese Bestimmungen in ihrer Gesamtheit bestätigen. Bestätigt er sie nicht, so werden nach dem im vorstehenden Absatz bestimmten Verfahren neue Vorschriften über den Gegenstand dieses Kapitels erlassen.“ Vor allem um die Auslegung dieser Vorschrift geht es im gegenwärtigen Rechtsstreit.

    Wie wir im Verfahren gehört haben, hat die Kommission schon im November 1964 dem Rat einen Vorschlag zur Änderung des erwähnten Vertragskapitels unterbreitet. Darüber wurde Anfang 1965 — auch unter Einschaltung des Parlaments — beraten; es kam aber weder zu einer Bestätigung der Vertragsbestimmungen in ihrer ursprünglichen Fassung noch zum Erlaß neuer Vorschriften. Dieser Zustand dauert immer noch an; auch zur Zeit sind die Ratsberatungen noch nicht abgeschlossen und ist ein Ende der Verhandlungen trotz anscheinend intensiver Bemühungen nicht abzusehen. Daraus ergeben sich die Schwierigkeiten des jetzt zu behandelnden Verfahrens.

    Die französische Regierung steht nämlich auf dem Standpunkt, die Vorschriften von Titel 2, Kapitel VI des Euratom-Vertrages seien nur für eine Dauer von sieben Jahren wirksam geworden. Da ihre Bestätigung nicht vor Ablauf dieser Frist oder kurze Zeit danach beschlossen worden sei, komme nur noch der Erlaß neuer Vorschriften in Betracht. Bis zu ihrem Inkrafttreten seien die ursprünglich geltenden Bestimmungen nicht weiter anwendbar, es müsse vielmehr davon ausgegangen werden, daß der Vertrag insoweit eine Lücke enthalte. Auf diese Interpretationsmöglichkeit, jedenfalls auf die Unsicherheit der Rechtslage, hat die französische Regierung schon im Jahre 1964 (unter anderem auf der Ministerratstagung vom 28. November 1964) aufmerksam gemacht. Entsprechend ihrer Rechtsansicht hat sie im November 1965 den staatlichen und privaten französischen Unternehmen mitgeteilt, die Vorschriften des VI. Kapitels seien nicht mehr anwendbar (dies ergibt sich aus einem an die Versorgungsagentur gerichteten Schreiben eines französischen Unternehmens vom 10. September 1970). Demgemäß verhielt sich das französische Atomenergie-Kommissariat, das — wie die Kommission ausgeführt hat — „eine Skala von Befugnissen in sich vereinigt, die diese Institution … zum bevorzugten Instrument der Kernenergienutzung in ihren unterschiedlichen Aspekten macht“, und das „einerseits der Regierung zugleich sehr nahesteht und gleichsam mit ihr verbunden ist, andererseits aber mit großer Handlungsfreiheit ausgestattet ist“ (so die Ordonnance no 45-2563 vom 18. Oktober 1945 über die Errichtung eines Atomenergie-Kommissariats). Tatsächlich hat das Kommissariat — und zwar offenbar im Jahre 1968 — ohne Wissen der Agentur Verträge über die Einfuhr von angereichertem Uran und Plutonium sowie Verträge über die Lieferung von angereichertem Uran unmittelbar abgeschlossen. Auch hat es der Agentur das Bestehen einer Verpflichtung betreffend die Verarbeitung von aus Südafrika eingeführten Stoffen und die Materialmengen, die Gegenstand der betreffenden Übertragung waren, nicht angezeigt. Darüber hinaus hat die Französische Republik der Kommission nach 1964 nicht mehr die jährlichen Berichte über die Entwicklung der Schürfung und der Erzeugung, die voraussichtlichen Reserven und die auf französischem Hoheitsgebiet durchgeführten oder geplanten Investitionen übermittelt. Als die Kommission aus Kontrollberichten von den genannten Transaktionen erfuhr, richtete ihre Generaldirektion „Energie“ am 24. April 1969 ein Schreiben an das französische Atomenergie-Kommissariat. Darin vertrat die Generaldirektion „Energie“ die Ansicht, der direkte Abschluß von Einfuhr- und Lieferverträgen stelle einen Verstoß gegen die Bestimmungen des Kapitels VI des Euratom-Vertrags dar, die immer noch in Kraft seien. Das Atomenergie-Kommissariat äußerte darauf in einem Schreiben an die Generaldirektion „Energie“ vom 30. Mai 1969 die Auffassung, das genannte Kapitel VI sei ab 1. Januar 1965 ungültig geworden, eine Auffassung, die auch in einem Schreiben des Interministeriellen Fachkomitees für Fragen der Anwendung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft an den Generaldirektor der Versorgungsagentur vom 5. Januar 1970 wiederholt wurde.

    Diese Einstellung veranlaßte die Kommission, nach deren Überzeugung das Kapitel VI auch nach dem 1. Januar 1965 zumindest provisorisch in Geltung blieb, ein Verfahren zur Feststellung einer Vertragsverletzung gemäß Artikel 141 des Euratom-Vertrags einzuleiten. In einem an den französischen Außenminister gerichteten Schreiben vom 12. März 1970 legte der Präsident der Kommission im einzelnen dar, welche Verstöße gegen die Bestimmungen des Euratom-Vertrags die Französische Republik nach Ansicht der Kommission begangen hat; dazu sollte die französische Regierung ihre Bemerkungen mitteilen. Diese Äußerung erfolgte in einem Schreiben der Ständigen Vertretung Frankreichs an den Präsidenten der Kommission vom 20. Mai 1970. In ihm blieb die französische Regierung bei ihrer bereits bekanntgegebenen, grundsätzlichen Auffassung. Darüber hinaus nahm sie im einzelnen zu den konkreten Vorwürfen Stellung. Außerdem vertrat sie den Standpunkt, die fraglichen Bestimmungen des Euratom-Vertrags seien von Anfang an der tatsächlichen Situation nicht angemessen gewesen und deshalb nur rein formal angewandt worden.

    Immer noch von der Unhaltbarkeit des französischen Standpunkts überzeugt, erließ die Kommission am 14. Oktober 1970 eine förmliche Stellungnahme gemäß Artikel 141 des Euratom-Vertrags. In ihr wurde die Darstellung der von der französischen Regierung angeblich begangenen Verstöße wiederholt und der Versuch unternommen, die französischen Verteidigungsargumente im einzelnen zu widerlegen. Die Stellungnahme schloß mit der Aufforderung, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Stellungnahme innerhalb von 45 Tagen nachzukommen.

    Da dies nicht geschehen ist, hat die Kommission am 11. März 1971 den Gerichtshof angerufen. Sie bleibt dabei, die Französische Republik habe im Hinblick auf die bereits erwähnten, von der französischen Regierung erteilten Anweisungen und im Hinblick auf die Tatsache, daß sie für die Tätigkeit des französischen Atomenergie-Kommissariats die Verantwortung trage, eine Reihe von Verstößen gegen die Bestimmungen des Euratom-Vertrags begangen. Dementsprechend lautet ihr Feststellungsantrag. Die französische Regierung ist demgegenüber der Ansicht, die eingereichte Klage sei unzulässig. Sie hält darüber hinaus in jedem Falle dafür, daß die Klage als unbegründet zurückgewiesen werden muß.

    Wie dieser Streit zu beurteilen ist, möchte ich nunmehr im einzelnen untersuchen. Dabei werde ich mich im wesentlichen an das Schema halten, das die Parteien für ihre streitige Auseinandersetzung gewählt haben, auch wenn so die Probleme der Zulässigkeit und der Begründetheit nicht eindeutig voneinander getrennt werden.

    1. 

    Auf eine Zulässigkeitsfrage sollte allerdings gleich zu Beginn eingegangen werden, weil sie sich mit Deutlichkeit von der Hauptsache abhebt. Das ist die von der französischen Regierung in der Duplik zum erstenmal geäußerte Ansicht, die Klage sei verspätet eingereicht worden. Nach Auffassung der französischen Regierung ergibt sich dies daraus, daß sie die Vorschriften, deren Nichtbeachtung ihr jetzt vorgeworfen wird, schon im Jahre 1965 als ungültig bezeichnet hat. Auch habe sie in der Folgezeit immer wieder durch Äußerungen und Handlungen (Nichtvorlage der Berichte nach Artikel 70, Unterlassung eines Vorschlags für die Ernennung von Beiratsmitgliedern, Vorbehalte zum Haushalt für das Jahr 1967, Vorbehalte zu einer aufgrund von Artikel 74 erlassenen Kommissionsverordnung) zu erkennen gegeben, daß sie an dieser Meinung festhalte. Die Kommission hätte demnach schon früher den Standpunkt der französischen Regierung beurteilen lassen, d. h. durch Klage eine Klärung der Rechtslage herbeiführen können; nicht angängig sei es dagegen, den Gerichtshof erst fünf Jahre nach dem Beginn des nunmehr kritisierten Zustandes anzurufen.

    Wenn wir uns fragen, was von dieser Einwendung zu halten ist, so muß zunächst einmal bedacht werden, daß es der Kommission vorwiegend um die Feststellung von Verstößen geht, die im Jahre 1968 begangen worden sein sollen, und zwar in Form des Abschlusses von Einfuhr- und Lieferverträgen ohne Beteiligung der Versorgungsagentur. Diese Vorgänge haben offenbar wegen ihrer besonders spürbaren Auswirkungen auf das Funktionieren des gemeinschaftlichen Versorgungssystems für die Aktion der Kommission den Ausschlag gegeben. Rechnet man aber von der Entdeckung dieser Verstöße an, berücksichtigt man weiterhin, daß schon im April 1969 eine erste Reaktion der Kommission erfolgte, und hält man sich schließlich den weiteren Gang der Dinge, die für die Durchführung des notwendigen Vorverfahrens erforderlichen Zeiträume vor Augen, so kann in der Tat schwerlich von einer unzulässigen Verzögerung der Einleitung des Gerichtsverfahrens gesprochen werden.

    Darüber hinaus darf man auch nicht vergessen — und das erscheint ebenso bedeutsam —, daß Artikel 141 des Euratom-Vertrags für die Durchführung eines Verfahrens zur Feststellung einer Vertragsverletzung Fristen überhaupt nicht vorsieht. Dies ist wohl bedacht und durchaus gerechtfertigt. Tatsächlich handelt es sich um ein sehr eingreifendes Verfahren, um eine „ultima ratio“ (wie der Gerichtshof zu dem analogen Verfahren des Artikel 88 des Montanvertrags einmal festgestellt hat (Rechtssache 20/59, Slg. 1960, 713). So gesehen ist es nicht sinnvoll, bei jedem Anlaß unmittelbar seine Auslösung zu betreiben. Seine übermäßige Beanspruchung kann nämlich die Wirksamkeit des Verfahrens verringern, das ohnehin in Ermangelung irgendwelcher Sanktionen nur mit beschränkter Effizienz ausgestattet ist. Auch bringt das Verfahren naturgemäß bis zu einem gewissen Grad das Prestige des betroffenen Mitgliedstaates ins Spiel, und dies, obgleich es sich nur um ein objektives, die Rechtslage klärendes Verfahren ohne jede moralische Wertung handelt. Solchen Erkenntnissen erscheint es angemessen, jeglichen Automatismus bei der Einleitung des Verfahrens, jeden Zwang zu seiner Eröffnung auszuschließen und stattdessen der Kommission eine Ermessensbefugnis hinsichtlich des Ob und des Wann der Verfahrenseinleitung zuzugestehen. Dabei können mancherlei Gesichtspunkte eine Rolle spielen, etwa Versuche zur Herbeiführung einer gütlichen Einigung (die zeitraubend sein mögen) oder — wie im gegenwärtigen Fall — die Tatsache, daß erste Manifestationen der französischen Regierung zur Ungültigkeit der Versorgungsbestimmungen des Vertrages nur verhältnismäßig geringfügige, ein Gerichtsverfahren nicht rechtfertigende Auswirkungen hatten, die Tatsache weiterhin, daß sich die Gemeinschaft im Jahre 1965 und danach in einer schweren Krise befand, deren Beilegung nicht durch die Einleitung von Streitigkeiten minderen Ranges erschwert werden durfte, sowie danach möglicherweise die Annahme, es sei in absehbarer Zeit eine Neuregelung der betreffenden Bestimmungen zu erreichen. Solange solche Erwägungen erkennbar sind, ist zumindest von einer sachgerechten Ausübung des Ermessens zu sprechen und die Annahme einer unzulässigen Verfahrensverzögerung auszuschließen.

    Aus all 'den angezeigten Gründen kann auch nicht daran gedacht werden, die Rechtsprechung des Verfahrens 59/70 auf den jetzigen Fall zu übertragen, also die Feststellungen des Gerichtshofes zu dem von einem Mitgliedstaat gegen die Kommission wegen des Verhaltens eines anderen Mitgliedstaates eingeleiteten Karenzverfahren, Feststellungen, nach denen die Befassung der Kommission innerhalb einer angemessenen Frist nach Bekanntwerden des auslösenden Ereignisses erfolgen muß, wenn nicht ein Verlust des Klagerechts eintreten soll. Daß ich derartige Überlegungen grundsätzlich für bedenklich halte, habe ich früher schon zum Ausdruck gebracht. Meine Bedenken sind inzwischen nicht geschwunden, vielmehr bin ich immer noch der Ansicht, daß es nicht angebracht erscheint, im Wege der Rechtsprechung Fristen in das Rechtsschutzsystem der Verträge einzuführen, wo diese selbst auf die Einführung verzichtet haben. Davon abgesehen läßt sich jetzt auch sagen, daß die Unterschiedlichkeit der Fallgestaltung eine Übernahme der Feststellungen des Urteils 59/70 in das gegenwärtige Verfahren verbietet. Kennzeichnend für das Verfahren 59/70 war nämlich, daß es sich um eine Karenzklage gegen ein Organ handelte, die im Hinblick auf das Verhalten Dritter eingebracht wurde (bekanntlich ging es um staatliche Maßnahmen zugunsten der Wirtschaft eines Mitgliedstaates, deren Interessen natürlich berücksichtigt werden mußten), und bedeutsam ist nicht zuletzt auch, daß in jenem Verfahren bei der Beurteilung der Klagebefugnis des klagenden Mitgliedstaates auf dessen allgemeine, in Artikel 86 des Montanvertrags verankerte Kooperationspflicht verwiesen werden konnte. — Es erscheint mir kaum nötig zu betonen, daß derartige Überlegungen im gegenwärtigen Zusammenhang sicher ausscheiden.

    Mit Rücksicht darauf, daß Artikel '141 des Euratom-Vertrags keine Fristen für die Verfahrenseinleitung vorsieht und weil im Hinblick auf den im Verfahren bekanntgewordenen Sachverhalt auch nicht von einem Mißbrauch des Ermessens der Kommission bei der Wahl des Zeitpunktes der Verfahrenseinleitung gesprochen werden kann, ist somit festzuhalten, daß der von der französischen Regierung erhobene Verspätungseinwand die Zulässigkeit der Klage nicht in Frage zu stellen vermag.

    2. 

    Das gegen die Klage vorgebrachte Hauptargument, dem wir uns jetzt zuwenden, besagt bekanntlich, die Vorschriften des VI. Kapitels des Euratom-Vertrags seien zu der Zeit, für die der französischen Regierung ihre Mißachtung vorgeworfen wird, nicht mehr gültig gewesen. Insofern verweist die französische Regierung auf Artikel 76 Absatz 2, die Schlußbestimmung des VI. Kapitels. Aus ihr ergibt sich nach Auffassung der französischen Regierung, daß die Entscheidung darüber, was auf dem Gebiet der Versorgung zu gelten hat, vor Ablauf von sieben Jahren seit dem Inkrafttreten des Vertrages, also vor dem 1. Januar 1965 getroffen werden mußte, damit im Falle der Nichtbestätigung der ursprünglich geltenden Bestimmungen neue Vorschriften am 1. Januar 1965 in Kraft treten konnten. Allenfalls lasse sich sagen, es habe noch für eine kurze Zeit nach Ablauf der Siebenjahresfrist die Möglichkeit der Bestätigung der alten Vorschriften bestanden. Da sie innerhalb einer vernünftigen Frist nicht ausgenützt worden sei, müsse das Außerkrafttreten der ursprünglich geltenden Bestimmungen angenommen und davon ausgegangen werden, daß der Rat zum Erlaß neuer Vorschriften verpflichtet sei (ein Ziel, das die Kommission selbst übrigens mit ihren Vorschlägen vom November '1964 anstrebe und das offenbar dem Willen aller Mitgliedstaaten entspreche). Bis zum Erlaß derartiger neuer Vorschriften — eine andere Schlußfolgerung bleibe nicht — könne aber nur vom Vorhandensein einer gemeinschaftlichen Lücke gesprochen werden. — Diesen Standpunkt verwirft die Kommission mit Entschiedenheit. Sie vertritt ihrerseits die Ansicht, es sei in jedem Falle über den 1. Januar 1965 hinaus eine vorübergehende, provisorische Gültigkeit der ursprünglich in den Vertrag aufgenommenen Bestimmungen anzunehmen, und dies ohne zeitliche Beschränkung bis zum Erlaß neuer Vorschriften oder bis zur Bestätigung der ursprünglichen Texte.

    Versucht man eine Lösung dieses Problems zunächst unter Heranziehung des Wortlauts von Artikel 76 Absatz 2, so erkennt man, daß die Entscheidung nach dem deutschen und niederländischen Text ziemlich eindeutig ist. Hier heißt es nämlich: „Nach Ablauf von sieben Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages kann der Rat diese Bestimmungen in ihrer Gesamtheit bestätigen“ („Na verloop van zeven jaar … kan de Raad … bevestigen“). Das bedeutet einmal: Es wird ein Zeitraum visiert, der am 1. Januar 1965 beginnt, es kommt offensichtlich darauf an, daß die erwähnte Siebenjahresfrist abgelaufen ist. Für den visierten Zeitraum ist zum anderen eine Bestätigung vorgesehen. Das kann nur bedeuten eine Bestätigung geltender Texte, eine Schlußfolgerung übrigens, die sich auch daraus ergibt, daß für die Bestätigung eine einfache Mehrheit genügt, während für den Erlaß neuer Vorschriften Einstimmigkeit im Rat erforderlich ist. Somit zeigen der deutsche und der niederländische Text mit Klarheit, daß das Kapitel VI nicht mit Wirkung vom 1. Januar 1965 außer Kraft getreten sein kann. — Weniger eindeutig sind dagegen der französische und der italienische Text, wo die Wendungen gebraucht werden „à l'issue d'une période de sept ans“ bzw. „allo scadere die un periodo di sette anni“. Sie könnten tatsächlich dahin verstanden werden, eine eventuelle Bestätigung hätte am Ende, bei Ablauf der Siebenjahresfrist erfolgen müssen, die notwendigen Entscheidungen hätten also spätestens am 31. Dezember 1964 getroffen werden müssen. Indessen lassen sich gegen diese Annahme gewichtige Überlegungen aus Sinn und Zweck des VI. Kapitels anführen. Bei der Ausarbeitung des Euratom-Vertrags — das kann den vorbereitenden Arbeiten entnommen werden — bestand offenbar kein zuverlässiges Bild von der künftigen Entwicklung in diesem neuartigen Bereich mit weltweit sich ändernden Faktoren, und dies namentlich auch, was die Versorgungsprobleme angeht. Deshalb entschloß man sich zunächst, eine vorläufige, befristete Regelung einzuführen und nach der Sammlung der notwendigen Erfahrungen das endgültige System festzulegen. Der Sinn des Artikels 76 ist es also im wesentlichen, eine Erprobungszeit zu fixieren. Damit und mit der unzweifelbar vorhandenen Absicht, sie voll ausnutzen zu lassen, wäre aber offensichtlich die Forderung schlecht in Einklang zu bringen, die Entscheidung über das endgültige Regime spätestens am 31. Dezember 1964 zu treffen. In der Tat darf man nicht vergessen, daß es hierzu langwieriger Vorbereitungen bedurfte, es mußten die gemachten Erfahrungen überprüft und es mußte erwogen werden, ob sie eine Fortführung des Regimes rechtfertigen oder ob eine Neuregelung angemessener wäre, bei deren Festlegung bekanntlich mehrere Organe (Kommission, Rat und Versammlung) mitzuwirken haben. Hätte diese Entscheidung also spätestens am 31. Dezember 1964 getroffen werden müssen, so wäre der Erprobungszeitraum des Artikels 76 unter Umständen erheblich abgekürzt worden, was — wie gesagt — dem Sinn der Regelung nicht entspricht. — Demgegenüber läßt sich auch nicht auf den Kunstgriff des Anhaltens der Uhr verweisen, der es erlaubt hätte, die notwendige Entscheidung zu Beginn des Jahres 1965 zu treffen, die Erprobungszeit also nur unerheblich abzukürzen. Meines Erachtens kann schwerlich angenommen werden, die Vertragsautoren hätten dieses ungewöhnliche Verfahren, das nicht überall bekannt ist und das sicher auf manche Bedenken stößt, bei der Festlegung des Artikels 76 im Auge gehabt. Auch darf, abgesehen vom Problem der Rückwirkung, das sich im Falle einer mit Wirkung vom 1. Januar 1965 in Kraft tretenden Neuregelung gestellt hätte, nicht vergessen werden, daß diese Methode bei der Durchführung der Vertragstexte noch nie auf Sachverhalte angewandt wurde, die ein kompliziertes und zeitraubendes Verfahren unter Beteiligung nahezu aller Gemeinschaftsorgane erforderten. — Überlegungen aus Sinn und Zweck der zu beurteilenden Vorschrift führen demnach dazu, den italienischen und französischen Text gleichfalls nicht dahin zu verstehen, daß die nach Artikel 76 Absatz 2 fällige Entscheidung spätestens bei Ablauf der dort genannten Frist getroffen werden mußte.

    Deshalb erscheint es übrigens auch verfehlt, im gegenwärtigen Zusammenhang auf die ähnlich formulierte Vorschrift des Artikels 37 des EWG-Vertrags zu verweisen und geltend zu machen, die dort gebrauchte Wendung „am Ende der Übergangszeit“ („à l'expiration de la période de transition“) bedeute nach der Rechtsprechung (Rechtssache 20/64, Slg. 1963-3, 10) „spätestens am Ende der Übergangszeit“. Es darf in der Tat nicht übersehen werden, daß die vom Gerichtshof gefundene Auslegung einem Sachverhalt gilt, in dem für die schrittweise Erfüllung von Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (Umformung von Handelsmonopolen) ein Endzeitpunkt gesetzt wurde. Diese Auslegung läßt sich also nicht ohne weiteres auf die Bestimmung des Artikels 76 des Euratom-Vertrags übertragen, in der es wesentlich um die Ausarbeitung einer neuen Regelung nach Ablauf einer bestimmten Periode geht. — Da schließlich die französische Regierung selbst einräumt, die Wendung „à l'issue de“ sei nicht völlig eindeutig, kann nach alledem nur angenommen werden, daß die in Artikel 76 vorgesehenen Entscheidungen (Bestätigung oder Erlaß neuer Vorschriften) noch nach dem 1. Januar 1965 ergehen konnten, daß also die ursprünglich geltende Regelung nicht mit dem Ablauf des 31. Dezember 1964 außer Kraft getreten ist, sondern zumindest vorübergehend darüber hinaus anwendbar blieb.

    Die Prüfung des gegenwärtig interessierenden Fragenkreises ist damit freilich noch nicht abgeschlossen. Hilfsweise macht die französische Regierung nämlich auch geltend, es könne — die vorübergehende Weitergeltung des Kapitels VI unterstellt — allenfalls angenommen werden, es sei dafür eine angemessene Frist in Betracht gekommen. Da die Bestätigung der ursprünglich geltenden Bestimmungen nicht vor ihrem Ablauf erfolgt sei, hätten sie ihre Gültigkeit verloren. Nunmehr könne nur noch der Erlaß neuer Vorschriften in Betracht kommen. Tatsächlich läßt sich für diese Deutung auf den französischen und italienischen Wortlaut von Artikel 76 Absatz 2 hinweisen, wo mit den Formulierungen „à l'issue de“ und „allo scadere di“ eine enge Bindung der Bestätigungsentscheidung an den Ablauf der Siebenjahresfrist zum Ausdruck gebracht worden sein könnte (während der deutsche und der niederländische Text offenbar nicht so zu verstehen sind). — Wiederum lassen sich jedoch gewichtige sachliche Bedenken gegen die Richtigkeit dieses Standpunktes vorbringen. So ist es nach meiner Überzeugung mit dem elementaren Prinzip der Rechtssicherheit schlecht in Einklang zu bringen, das Außerkrafttreten von Vertragsvorschriften nach dem Ablauf einer nicht näher bestimmten Frist anzunehmen, und dies ohne klare und ausdrückliche Anordnung des Außerkrafttretens, also in der Annahme, zu der Frage der Bestätigung sei eine stillschweigende negative Entscheidung möglich.

    Ohne das gleichzeitige Inkrafttreten neuer Bestimmungen würde dies zudem einen Bruch der Kontinuität auf einem für die Gemeinschaft grundlegend wichtigen Gebiet bedeuten, dem eine sehr detaillierte Regelung mit außerordentlich weitgehendem Integrationseffekt gewidmet ist. Es würde insoweit nichts anderes als eine zeitweilige Desintegration eintreten. Daß dies von den Vertragsautoren gewollt gewesen sein könnte, erscheint kaum annehmbar, ist doch in Artikel 2 Buchstabe d des Vertrages als ständige Aufgabe und Verpflichtung der Gemeinschaft die Sicherstellung einer regelmäßigen und gerechten Versorgung aller Benutzer der Gemeinschaft mit Erzen und Kernbrennstoffen angegeben. Auch darf der Zusammenhang des jetzt interessierenden Kapitels mit anderen Vertragskapiteln ohne zeitliche Begrenzung der Geltung nicht außer acht gelassen werden, namentlich der Zusammenhang mit der Überwachung der Sicherheit, die sicher durch eine gemeinsame Versorgungsregelung unter Einschluß der Kontrolle der Verwendung der gelieferten Stoffe (Artikel 60) erleichtert wird. Endlich wäre auch zu bedenken, daß die Versorgungsagentur langfristige Verträge abgeschlossen haben mag, deren rechtliches Schicksal gänzlich ungewiß wäre bei der Annahme, die einschlägigen Bestimmungen seien nach einer bestimmten Zeit außer Kraft getreten und der Versorgungsagentur damit die Rechtsbasis entzogen worden. — Angesichts dieser wesentlichen Überlegungen erscheint tatsächlich kein anderer Schluß möglich als der, die vorläufige Weitergeltung des Kapitels VI anzunehmen, und zwar bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung oder bis zur Bestätigung der ursprünglichen Texte, die tatsächlich immer noch möglich erscheint, weil sie weder im Jahre 1965 noch später ausdrücklich ausgeschlossen worden ist (wie wir von der Kommission gehört haben, wurde ihr Vorschlag jedenfalls im Januar 1965 vom Rat ohne Aussprache an das Parlament verwiesen).

    Gegen diese Annahme läßt sich auch nicht — was auf den ersten Blick bestechend erscheint — einwenden, damit gelange man in Wahrheit zur Anerkennung einer stillschweigenden Bestätigungsentscheidung. Tatsächlich kann davon nicht die Rede sein, weil Bestätigung die endgültige Beibehaltung der gegenwärtig geltenden Vorschriften bedeutet. Ihre vorübergehende Weiteranwendung dagegen hat nicht die gleichen Wirkungen. Insbesondere verlangt sie selbstverständlich eine derartige Ausgestaltung der bei ihrer Anwendung zu fixierenden Bedingungen, daß der künftigen Regelung möglichst wenig vorgegriffen wird. — Auch möchte ich der französischen Regierung insoweit nicht folgen als sie sagt, es sei im Interesse einer sinnvollen Fortführung der Integration angemessener, von der Existenz einer rechtlichen Lücke auszugehen, die die verantwortlichen Gemeinschaftsorgane nachdrücklich zum Handeln zwinge, als Regeln weiterhin anzuwenden, die sich schon früh als unangemessen erwiesen haben und die nie richtig angewandt worden seien. Auf die zuletzt genannte Bemerkung werde ich in einem anderen Zusammenhang noch ausführlich zu sprechen kommen. Jetzt möchte ich mich mit der Feststellung begnügen, daß mir die Annahme kaum verständlich erscheint, es werde die Fortführung der Integration, die von allen gewollt wird, nicht erschwert durch einen Rückfall in nationalstaatliche Regelungen mit allen ihren Nachteilen (etwa wie sie sich aus dem Wegfall der ständigen Unterrichtung der Gemeinschaftsinstanzen ergeben). Nach meiner Überzeugung kann man einen derartigen Zustand kaum zuträglicher finden als die vorübergehende Weiteranwendung einer detaillierten und in ihren wesentlichen Elementen offensichtlich auf Fortführung angelegten Gemeinschaftsregelung.

    Am Ende dieser Erwägungen sollten wir somit festhalten, daß in einer sicherlich nicht als befriedigend geltenden Situation der Ansicht der Kommission von der vorübergehenden Fortgeltung des Kapitels VI des Euratom-Vertrags vor der Annahme der Vorzug zu geben ist, es habe insoweit von einem bestimmten Zeitpunkt des Jahres 1965 an eine Lücke im Gemeinschaftsrecht bestanden.

    3. 

    Folgt man dieser Ansicht, so macht die Beantwortung der Frage keine besonderen Schwierigkeiten, ob das Verhalten des französischen Atomenergie-Kommissariats in den Jahren 1965 ff., das der französischen Regierung unbestreitbar zuzurechnen ist, ebenso wie das Verhalten der französischen Regierung selbst, eine Mißachtung der Vorschriften des Kapitels VI und der dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen darstellt.

    Das gilt zunächst einmal für die Einfuhr ren angereicherten Urans und Plutoniums unter Ausschluß der Versorgungsagentur. Von ihnen hat auch die französische Regierung nicht behauptet, sie seien mit den Bestimmungen des Kapitels VI, wie sie ursprünglich zu verstehen waren, vereinbar. — Das gleiche gilt für das zu Analysezwecken aus Südafrika eingeführte Uranhexafluorid, das der Versorgungsagentur wenigstens gemäß Art. 75 des Euratom-Vertrags hätte gemeldet werden müssen. — Hinsichtlich der Lieferung angereicherten Urans an ein italienisches öffentliches Unternehmen hat die Kommission unwidersprochen vorgetragen, sie sei von der Versorgungsregelung erfaßt worden, auch wenn es sich um eine Lieferung zum Zwecke der Entwicklung eines Schiffsantriebs gehandelt habe. Auch insoweit hätte also die Versorgungsagentur eingeschaltet werden müssen. — Was schließlich die gemäß Artikel 70 von den Mitgliedstaaten jährlich an die Kommission zu richtenden Berichte über die Entwicklung der Schürfung und der Erzeugung, die voraussichtlichen Reserven und die in ihren Hoheitsgebieten durchgeführten oder geplanten Investitionen im Bergbau angeht, so hat die französische Regierung zwar versucht, ihre fehlende Übermittlung durch den Hinweis darauf zu rechtfertigen, daß die vom französischen Atomenergie-Kommissariat jährlich erstellten Berichte der Kommission übersandt worden sind. Ein Vergleich dieser Berichte mit früheren, gemäß Artikel 70 gelieferten Berichten zeigt jedoch nur, daß letztere wesentlich ausführlicher waren (zumindest was Schürfung und Erzeugung anbelangt). Es ist namentlich auch erwiesen, daß die Berichte des Atomenergie-Kommissariats nichts über die in Artikel 70 erwähnten Investitionen enthalten. Sic können also die in Artikel 70 vorgesehenen Berichte nicht ersetzen, womit feststeht, daß diese Vorschrift von der französischen Regierung gleichfalls nicht beachtet worden ist.

    4. 

    Zu der Feststellung, die Französische Republik habe den Vertrag verletzt, der Klage müsse stattgegeben werden, berechtigen diese Erkenntnisse freilich noch nicht. Es gilt vielmehr, zusätzlich eine Reihe anderer, nach Auffassung der französischen Regierung relevanter Einwendungen zu prüfen.

    Unter ihnen kommt der Bemerkung besondere Bedeutung zu, die Vorschriften des VI. Kapitels des Euratom-Vertrags seien nie richtig, sondern nur scheinbar und oberflächlich angewandt worden, sie hätten keine praktische Bedeutung gehabt, und es könne deshalb ein Interesse daran nicht anerkannt werden, ihre Mißachtung durch Frankreich feststellen zu lassen.

    In diesem Zusammenhang verdient meines Erachtens vorweg hervorgehoben zu werden, daß die französische Regierung nicht vorgebracht hat, die genannten Vorschriften seien vollkommen bedeutungslos geblieben, jedenfalls wurde nicht gesagt, die Artikel 70 und 75 seien nicht zur Anwendung gelangt, also die Vorschriften, die eine jährliche Berichterstattung der Mitgliedstaaten an die Kommission bzw. eine Anzeigepflicht in gewissen Fällen vorsehen. Schon dieser Erkenntnis kommt für die Beurteilung des gegenwärtigen Falles eine gewisse Bedeutung zu.

    Was das mangelhafte Funktionieren des Kapitels „Versorgung“ im übrigen betrifft, so sind mehrere Aspekte auseinanderzuhalten. Ein erster bezieht sich auf das System des Art. 60, in dem im wesentlichen die Gegenüberstellung von Angebot und Bedarf an Erzen, Ausgangsstoffen usw. durch die Versorgungsagentur geregelt ist. Dieses System hat nach Ansicht der französischen Regierung insofern nicht funktioniert, als Verträge über die Lieferung von Natururan unmittelbar zwischen Lieferanten und interessierten Abnehmern ausgehandelt werden konnten und lediglich nachträglich der Versorgungsagentur mitgeteilt werden mußten, weiterhin insofern, als auch bei Verträgen über besondere spaltbare Stoffe in Wahrheit eine unmittelbare Aushandlung zwischen den Parteien und nur eine formelle Bestätigung durch die Versorgungsagentur stattgefunden haben soll, sowie schließlich insofern, als die abgeschlossenen Lieferverträge regelmäßig eine Laufdauer von mehr als zehn Jahren hatten, was nach dem Vertrag die Ausnahme bilden soll.

    Zu diesem Vorbringen ist zunächst einzuräumen, daß in Artikel 5 der Vollzugsordnung der Versorgungsagentur vom 5. Mai 1960 vorgesehen ist, die Kommission könne, wenn sie für bestimmte Erzeugnisse auf Veranlassung der Agentur nach Anhörung des Beirats feststellt, „daß das Angebot die Nachfrage offensichtlich übersteigt“, die Agentur auffordern, ein vereinfachtes Verfahren anzuwenden. Die Agentur legt daraufhin nach Stellungnahme des Beirats die allgemeinen Bedingungen fest, denen die im vereinfachten Verfahren abgeschlossenen Lieferverträge entsprechen müssen. Die Verträge werden unmittelbar von den Interessenten ausgehandelt, danach der Agentur mitgeteilt und „gelten als von ihr abgeschlossen, wenn sie nicht binnen acht Tagen nach Eingang der Verträge den Beteiligten gegenüber Einspruch erhebt“. Diese Regelung ist für Natururan und Thorium zur Anwendung gelangt. Aufgrund einer Mitteilung der Versorgungsagentur vom 23. November 1960, deren Gültigkeitsdauer mehrere Male verlängert worden ist, konnten derartige Verträge ab 1. Dezember 1960 von den Interessenten unmittelbar ausgehandelt und und unterzeichnet werden. Die dafür maßgeblichen, von der Agentur festgelegten allgemeinen Bedingungen wurden im Amtsblatt vom 30. November 1960 veröffentlicht. Sie bestimmen unter anderem, welche Angaben (über Preise und Verwendungszweck) die Verträge enthalten müssen und für welche Dauer sie abgeschlossen werden können.

    Fragt man sich, ob dieses vereinfachte Verfahren durch Artikel 60 des Euratom-Vertrags gedeckt ist, so muß sicherlich berücksichtigt werden, daß die Versorgungsregelung insgesamt einen Kompromiß darstellt zwischen dirigistischen und marktwirtschaftlichen Tendenzen. Es liegt im Wesen eines derartigen Systems, das maßgebliche Ziel der Sicherung des gleichen Zugangs zu den Versorgungsquellen mit einem möglichst kleinen Verwaltungsapparat anzustreben und hoheitliche Eingriffe nur soweit unbedingt erforderlich vorzunehmen. In einer Situation, in der es an der Nachfrage praktisch fehlt (wie namentlich in den Jahren 1960 ff., in denen nur Verträge über ganz geringe Mengen abgeschlossen worden sind), bei Vorhandensein eines ausgeprägten Käufermarktes also, kann das genannte Ziel zweifellos ohne zentralisierte Gegenüberstellung von Angebot und Nachfrage erreicht werden. Das ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil aufgrund der von der Versorgungsagentur angestellten Marktuntersuchungen und der allgemeinen Unterrichtung der Unternehmen über Angebote, Absatz,, Preistendenzen usw. die Anwendung zutreffender Marktpreise gewährleistet erscheint. Dazu kann außerdem die nachträgliche Kontrolle der Verträge durch die Versorgungsagentur, der bekanntlich ein Einspruchsrecht zusteht, beitragen. So gesehen entspricht also das vereinfachte Verfahren durchaus dem Sinn und Zweck von Artikel 60 des Euratom-Vertrags. Auch kann man schwerlich bestreiten, daß seine Fixierung durch die allgemeine Formulierung des letzten Absatzes von Artikel 60 gedeckt ist, heißt es dort doch lediglich, die Vollzugsordnung solle regeln, „wie Angebote und Nachfragen einander gegenüberzustellen sind“ („les modalités de confrontation des offres et des demandes“). Wie man insoweit von einer unzulässigen Auflockerung des Systems und einer Vertragsdurchbrechung sprechen könnte, sehe ich jedenfalls nicht. Darüber hinaus kann nach dem, was wir im Verfahren gehört haben, auch nicht davon die Rede sein, dieses System habe in den Jahren 1965 ff. nicht mehr funktioniert. Nach den unwidersprochenen Ausführungen der Kommission wurden nämlich noch in den Jahren 1967 und 1969 Verträge über größere Mengen Natururan zu Weltmarktpreisen auf der geschilderten Basis abgeschlossen.

    Hinsichtlich der Lieferung angereicherten Urans, die, wie auch die Lieferung von Plutonium, notwendig über die Versorgungsagentur erfolgt — ein vereinfachtes Verfahren gibt es insofern nicht —, ist zu bemerken, daß in diesem Bereich — jedenfalls was angereichertes Uran angeht — das Monopol der Atomenergie-Kommission der Vereinigten Staaten bestimmend ist und andererseits nur wenige Unternehmen als Abnehmer in Betracht kommen. Eine regelrechte Gegenüberstellung mehrerer Angebote und Nachfragen findet also im allgemeinen nicht statt, die Lieferungen werden offenbar unterschiedlos nach den im Federal Register veröffentlichten Preisen durchgeführt. — Dennoch erscheint die Einschaltung der Versorgungsagentur nicht bedeutungslos. Zunächst darf nicht vergessen werden, daß für Plutonium offenbar auch andere Lieferländer (England, Kanada) in Betracht kommen. In bezug auf angereichertes Uran müssen die Lieferungen im Rahmen des zwischen der Euratom und den USA im Jahre 1958 (aufgrund einstimmigen Ratsbeschlusses) abgeschlossenen Abkommens notwendig unter Einschaltung der Versorgungsagentur, d. h. aufgrund von Dreiecksverhandlungen, erfolgen. Daß dabei, d. h. auf einem Gebiet, in dem der staatliche Wille eine maßgebliche Rolle spielt, die Mitwirkung eines hoheitlichen, für alle Verbraucher handelnden Gemeinschaftsorganes beträchtliches Gewicht hat, von aktivem Einfluß ist, darf ohne weiteres vermutet werden. So war und ist die Aktion der Versorgungsagentur anscheinend auch bei den Bemühungen um die Erhöhung des Lieferplafonds bedeutungsvoll, es wurden und werden die entsprechenden Verhandlungen maßgeblich von den durch die Versorgungsagentur vorgenommenen Bedarfsuntersuchungen beeinflußt. Desgleichen hat die Agentur nach den Erklärungen der Kommission bei der Ausarbeitung von Musterverträgen, beim Abschluß von Rahmenverträgen und bei der Sammlung von Aufträgen mitgewirkt sowie mitunter gemeinsame Verträge über angereichertes Uran untetzeichnet. Endlich ist die Tätigkeit der Versorgungsagentur bei der Ausführung der Lieferverträge und der Abwicklung der damit verbundenen Formalitäten von beträchtlichem Wert. So gesehen läßt sich meines Erachtens schwerlich die Ansicht vertreten, es seien die Bestimmungen der Versorgungsregelung des Euratom-Vertrags und die Einschaltung der Versorgungsagentur ohne Nutzen und Bedeutung gewesen. Das gilt übrigens auch für die Zeit nach 1964, denn selbst für diese Periode bleibt die Versorgung mit angereichertem Uran (und zwar offenbar auch der französischen Unternehmen) — wie die Kommission unwidersprochen ausgeführt hat — durch die Versorgungsagentur gesichert. Dazu läßt sich unter anderem auf die Gesamtberichte der Kommission, auf die Sonderdokumentation über die Versorgungsagentur, ihre Umsatzzahlen sowie auf Untersuchungen über den Plutoniumbedarf aus den Jahren 1967 und 1969 und entsprechende Verhandlungen verweisen.

    Zu der Tatsache schließlich, daß die Verträge über die Lieferung angereicherten Urans aus den USA in der Regel für eine Laufzeit von mehr als zehn Jahren abgeschlossen wurden, muß gesagt werden, daß solche Abweichungen von der Regel, wenn die Kommission ihre Zustimmung erteilt, in Artikel 60 des Euratom-Vertrags ausdrücklich vorgesehen sind. In dieser Hinsicht kann also nicht von einer Mißachtung der Vertragsbestimmungen gesprochen werden, zumal die Kommission offenbar darauf geachtet hat, daß der Lieferplafond nicht vorzeitig erreicht und die Versorgung anderer Verbraucher nicht gefährdet wurde. Außerdem ist die geschilderte Praxis zu sehen im Hinblick auf den Umstand, daß Kündigungsklauseln existieren. Sie ermöglichen es gegebenenfalls, andere Versorgungsquellen in Anspruch zu nehmen, und schließen damit eine vollständige Abhängigkeit von den amerikanischen Lieferanten aus.

    Was die ersten, soeben behandelten Aspekte des Vorwurfs der mangelhaften, lediglich formalen Anwendung des VI. Vertragskapitels angeht, so läßt sich demnach festhalten, daß die Ausführungen der französischen Regierung, stellt man sie den Erklärungen der Kommission gegenüber, kaum geeignet sind, den Nachweis von der praktischen Bedeutungslosigkeit der jetzt interessierenden Bestimmungen zu führen.

    Dies trifft übrigens auch — um das Ergebnis vorwegzunehmen — für die Bemerkung der französischen Regierung zu, die Agentur habe es unterlassen, Handelsbestände anzulegen, und die Kommission habe die Einrichtung von Sicherheitsbeständen, wie sie in Artikel 72 des Vertrages erwähnt sind, nicht beschlossen. Insoweit darf nicht vergessen werden, daß Artikel 72 lediglich eine Kann-Bestimmung enthält, also eine Ermessensbefugnis vorsieht. Wenn von ihr kein Gebrauch gemacht wurde, so berechtigt dies sicherlich nicht zu dem Schluß, das Kapitel „Versorgung“ sei praktisch bedeutungslos geblieben.

    Endlich läßt sich für die Zwecke der Verteidigung auch nichts aus der Rüge gewinnen, die Kommission habe jahrelang keine Stellungnahmen und Empfehlungen nach Artikel 70 des Vertrages abgegeben. — In diesem Zusammenhang muß man sich daran erinnern, daß die Mitgliedstaaten der Kommission nach Artikel 70 des Vertrages jährlich einen Bericht über die Entwicklung der Schürfung und der Erzeugung usw. zu erstatten haben, daß die Berichte dem Rat mit der Stellungnahme der Kommission vorgelegt werden und daß die Kommission an die Mitgliedstaaten Empfehlungen für die Entwicklung der Schürfung und der Erzgewinnung richten kann. Nun steht zwar insofern fest, daß die Kommission bei der Übermittlung der ersten beiden, für die Jahre 1958 und 1959 bestimmten Berichte ausdrücklich von einer Stellungnahme abgesehen hat (das läßt sich aus Noten des Rates vom Mai 1960 und Mai 1961 entnehmen), und daß sie erst später aktiv geworden ist. Bei Berücksichtigung aller Umstände dürfte dieses Verhalten aber schwerlich angreifbar sein. So ist einmal auf die anfangs getroffene Feststellung der Kommission zu verweisen, im Hinblick auf die eingeleiteten Schürfungsmaßnahmen, die Produktion, die Marktlage und die voraussichtlichen Reserven erscheine eine Stellungnahme nicht erforderlich. Sodann hat die Kommission offenbar (wie sich aus einer Note des Rates aus dem Jahre 1962 über die Berichte für das Jahr 1960 ergibt) zu dieser Zeit damit begonnen, zusammen mit der Versorgungsagentur Studien über die langfristige Versorgung durchzuführen, die auch noch im Jahre 1963 andauerten.

    Außerdem ist zu beachten, daß der Beirat der Versorgungsagentur erst im Jahre 1963 seine Untersuchungen über einen langfristigen Vergleich zwischen Nachfrage und verfügbaren Mengen abgeschlossen und der Kommission damit die Entwicklung einer eigenen Auffassung und die Vorbereitung von Maßnahmen ermöglicht hat. Dies erklärt, daß erst in einer Ratsnote vom März 1964 eine Stellungnahme der Kommission erwähnt wird. In ihr ist von der Notwendigkeit die Rede, Schürfungsanstrengungen auf breiter Basis zu unternehmen, Maßnahmen im Rahmen einer gemeinsamen Versorgungspolitik zu treffen und Experten-Untersuchungen zu organisieren, deren Ergebnisse dann tatsächlich in einem Bericht von 1966 niedergelegt sind. Nach meiner Meinung läßt dies ein verantwortungsbewußtes Verhalten der Kommission durchaus erkennen und schließt die Feststellung aus, es seien die in Artikel 70 des Vertrages vorgesehenen Kompetenzen nicht aktiviert worden. Kann somit zwar der Eindruck bestehen, das Versorgungssystem des Kapitels VI habe nicht so funktioniert wie ursprünglich vorgesehen (als von einer Mangellage und einer schnelleren Entwicklung der Urannutzung ausgegangen wurde), so ist andererseits doch keinesfalls die Schlußfolgerung angebracht, die Vorschriften des VI. Kapitels seien toter Buchstabe geblieben oder in einer gegen Sinn und Zweck der Regelung verstoßenden Weise angewandt worden. Damit steht meines Erachtens fest, daß sich die Klage nicht mit der Begründung zurückweisen läßt, es bestehe kein praktisches Interesse daran, die der Französischen Republik vorgeworfene Mißachtung der Vertragsvorschriften feststellen zu lassen.

    5. 

    Ein weiteres Argument, das zur Zurückweisung der Klage führen soll, lautet bekanntlich dahin, die Rechtslage hinsichtlich des Kapitels „Versorgung“ sei vom Jahre 1965 an infolge der Untätigkeit des Rates unklar gewesen. Damit' verbiete sich die Feststellung einer Vertragsverletzung und die Verurteilung der Französischen Republik ebenso wie in dem von der Kommission gegen die Französische Republik eingeleiteten Verfahren 26/69 (Slg. 1970, 579 ff.).

    In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst nicht verhehlen, daß man die in Bezug genommenen Deduktionen des genannten Urteils problematisch finden kann. Indem sie auf die Klarheit oder Unklarheit der Rechtslage abstellen, scheinen sie davon auszugehen, daß im Falle der Unklarheit der Rechtslage ein Rechtsirrtum des betreffenden Mitgliedstaates vorliegen kann. Damit führen sie offenbar, weil Rechtsirrtümer in die Kategorie des Verschuldens gehören, eine Art Schulddenken in das Verfahren zur Feststellung einer Vertragsverletzung ein. Wäre das Urteil tatsächlich in diesem Sinne zu verstehen, so müßte das bedauerlich gefunden werden. Es brächte nämlich eine unnötige Belastung des Verfahrens nach Artikel 169 EWG-Vertrag bzw. 141 Euratom-Vertrag mit sich, in dem es nicht um Schuld und Moral, sondern einfach um die Klärung der Rechtslage geht. Außerdem wäre zu befürchten, daß das Verfahren (insbesondere im Hinblick auf die Anwendung des Artikels 171 EWG-Vertrag bzw. 143 Euratom-Vertrag) seine Wirksamkeit gerade in den Fällen verlieren würde, für die es im Grunde gedacht ist, nämlich dann, wenn Zweifel über Sinn und Tragweite von Vertragsvorschriften bestehen.

    Davon abgesehen scheint mir aber auch ein erheblicher Unterschied der Sachverhalte einerseits des Verfahrens 26/69 und andererseits des gegenwärtig zu behandelnden Falles zu bestehen, ein Unterschied, der es verbietet, die Thesen des Urteils 26/69 auf das gegenwärtige Verfahren anzuwenden. Der Sachverhalt der Rechtssache 26/69 war dadurch gekennzeichnet, daß sich bestimmte rechtliche Konsequenzen aus der Ausnahmeregelung eines Vertragsprotokolls und einer dem Vertrag beigefügten Absichtserklärung klar aufdrängten, bei der Ausarbeitung einer speziellen Agrarmarktverordnung aber nicht berücksichtigt worden waren. Es fehlte an deren notwendiger Anpassung, und insofern war es möglich, von einer Rechtslücke zu sprechen. — Anders verhält es sich dagegen im jetzigen Fall.

    Hier ist nicht eine Art Zwischenbestätigung des Rates für die fortdauernde Anwendung des Kapitels VI des Euratom-Vertrags erforderlich, vielmehr führt bereits eine vernünftige Interpretation der Vertragsvorschriften zu diesem Ergebnis. Außerdem kann man der Meinung sein, es lasse sich die vorhin entwickelte Interpretation ohne übermäßige Schwierigkeiten ermitteln, wenn man den Wortlaut aller sprachlichen Fassungen des Vertrages berücksichtigt und namentlich das Gewicht der Grundsatzbestimmungen des Artikels 2 d nicht übersieht. Endlich erscheint bedeutsam, daß sowohl die Kommission wie das Sekretariat des Ministerrats schon früh der These zuneigten, das Kapitel VI sei nicht mit dem 1. Januar 1965 unwirksam geworden und der Standpunkt der französischen Regierung infolgedessen unhaltbar.

    Bedenkt man all dies, so ist es in der Tat schwerlich vertretbar, die Klage mit der Begründung zurückzuweisen, die von Januar 1965 an bestehende Rechtslage sei unklar gewesen.

    6. 

    Das gleiche gilt — was sich schnell zeigen wird — für die Bemerkung der französischen Regierung, es sei nicht erwiesen, daß durch ihr Verhalten eine Schädigung der Interessen anderer, insbesondere eine Beeinträchtigung der Versorgung von Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten, eingetreten sei.

    Dazu ließe sich einmal sagen, daß wesentliche Voraussetzung für die Durchführung eines Verfahrens nach Artikel 141 des Euratom-Vertrags die Mißachtung des Gemeinschaftsrechts ist, daß im Vertrag aber nirgends von einem zusätzlichen Element (Interessenbeeinträchtigung oder dergleichen) die Rede ist. — Darüber hinaus ist im gegenwärtigen Verfahren eine Beeinträchtigung wesentlicher Interessen anderer Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft nicht auszuschließen. Die Bedingungen der unter Ausschluß der Versorgungsagentur zustande gekommenen Geschäfte, namentlich ihre Preisbedingungen, sind im einzelnen nicht bekannt, es fehlt also insofern an der notwendigen Markttransparenz. Auch kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, daß eine Diskriminierung anderer Unternehmen nicht in Betracht kommt. Schließlich gilt es nicht zuletzt an die Nachteile zu denken, die sich aus der unzulänglichen Unterrichtung der Gemeinschaftsinstanzen in den von der Kommission kritisierten Fällen auf die Dauer ergeben mögen.

    Das alles berechtigt nach meiner Überzeugung dazu, auch den soeben behandelten Einwand der französischen Regierung als nicht stichhaltig zurückzuweisen.

    7. 

    Eine letzte Gruppe von Einwendungen, die die französische Regierung erhoben hat, kann unter dem Stichwort „Verfahrensmißbrauch“ zusammengefaßt werden. Dieser Vorwurf besagt in seinem Kern, es hätte in einer Situation, wie sie nach dem 1. Januar 1965 bestanden hat, vernünftigerweise eine Untätigkeitsklage gegen den Rat erhoben werden müssen, weil sie allein auf den schnellen Erlaß einer neuen Versorgungsregelung hinwirken könnte. Das gegen die Französische Republik eingeleitete Verfahren bezwekke dagegen eine Bestätigung der ursprünglich fixierten Regelung und damit im Grunde eine Verzögerung bei der Einführung des neuen Systems. — Dazu kommen einige, zum Teil in anderem Zusammenhang geäußerte Bemerkungen, wie die, die Kommission habe nicht genügend zur Herbeiführung einer neuen Regelung getan und eine eventuelle Verurteilung Frankreichs im Verfahren nach Artikel 141 sei in jedem Falle für das wesentliche Ziel der Annahme neuer Bestimmungen ohne Nutzen. — Sehen wir also zu, was zu diesem Vorbringen noch gesagt werden muß.

    a)

    Was zunächst die angeblich unzulängliche Initiative der Kommission im Hinblick auf die Einführung einer neuen Versorgungsregelung angeht, so könnte man sich insofern mit einem Hinweis auf die Feststellungen des Urteils 90 und 91/63 (Slg. 1964, 1333) begnügen, nach denen die Nichterfüllung von Verpflichtungen, die einer Gemeinschaftsinstanz obliegen, die Mitgliedstaaten nicht von der Erfüllung ihrer Verpflichtungen entbindet. Darüber hinaus ist der Vorwurf der Untätigkeit aber auch kaum fundiert, denn die Kommission hat nicht nur rechtzeitig (im November 1964) einen Vorschlag für den Erlaß neuer Versorgungsbestimmungen gemacht, sie hat auch in den folgenden Jahren aktiv an der Ausarbeitung einer neuen Regelung mitgewirkt. Ihr Vertreter dürfte das in der mündlichen Verhandlung im einzelnen deutlich gemacht haben, insbesondere unter Anspielung auf zahlreiche Kontakte, die die Kommission und ihre Dienststellen auf vielen Ebenen und in mancherlei Gremien gepflegt haben. Sie allein konnte im übrigen nicht bewirken, daß eine geänderte Versorgungsregelung schneller ergeht und die Klage dadurch überflüssig geworden wäre. Dafür liegt die Verantwortung beim Rat. Solange er aber die bestehende Regelung nicht durch eine neue ersetzt, ist die Kommission zweifellos verpflichtet, auf die Einhaltung des geltenden Rechts zu achten und zu diesem Zwecke gegebenenfalls eine Feststellungsklage nach Artikel 141 des Vertrages einzubringen.

    b)

    Soweit die französische Regierung weiterhin bemerkt, die Durchführung des Verfahrens zur Feststellung einer Vertragsverletzung und eine eventuelle Verurteilung der Französischen Republik sei für die Annahme einer neuen Regelung ohne Nutzen, sie verändere nicht die Bedingungen für diese Annahme und habe deshalb keine Berechtigung, wird man ihr wohl entgegenhalten können, es sei keineswegs sicher, daß die Feststellung von der vorläufigen Weitergeltung der ursprünglichen Regelung ohne jeglichen Einfluß auf den Fortgang der Beratungen im Rate ist. Außerdem — und das erscheint noch wesentlicher — ist es offensichtlich gar nicht Sinn der Klage, auf eine Beschleunigung der Annahme neuer Bestimmungen hinzuwirken. Ihr einziges Ziel ist es, feststellen zu lassen, daß die Französische Republik Vorschriften mißachtet hat, die noch in Geltung sind und allem Anschein nach noch eine Weile Bedeutung haben werden. Mit dieser Zielrichtung läßt sich die Klage zweifellos rechtfertigen.

    c)

    Was endlich den Vorwurf des Verfahrensmißbrauchs im eigentlichen Sinne bzw. die These angeht, die Klage verstoße gegen den Vertrag, so hat es den Anschein, daß die französische Regierung in diesem Zusammenhang von einer falschen Beurteilung der materiellen Rechtslage ausgeht. Wie wir gesehen haben ist es nicht so, daß jetzt nur noch eine Verpflichtung des Rates zum Erlaß neuer Vorschriften besteht, vielmehr muß die provisorische Weitergeltung der alten Bestimmungen angenommen und anerkannt werden, daß der Rat immer noch die Möglichkeit hat, sie zu bestätigen oder eine neue Regelung zu erlassen. — Es gilt demnach zwei Tatbestände auseinander zu halten: einmal die Tatsache, daß der Rat seiner Verpflichtung, über die künftig geltende Regelung zu entscheiden, noch nicht nachgekommen ist; zum anderen den Umstand, daß die Französische Republik die vorläufig weitergeltende Regelung nicht beachtet hat. Für den ersten Tatbestand kommt eine Karenzklage gegen den Rat in Betracht (die übrigens auch von den Mitgliedstaaten eingebracht werden kann); für den zweiten Tatbestand ist eine Klage der Kommission nach Artikel 141 die angemessene Reaktion. Die beiden Klagen verfolgen offensichtlich verschiedene Ziele, sind verschieden zu begründen und haben unterschiedliche Folgen. Irgendeine Interdependenz im Sinne des Ausschlusses der einen durch die andere ist nicht zu erkennen, vielmehr muß angenommen werden, daß eine Ermessensbefugnis der Kommission hinsichtlich der Ausübung der ihr zustehenden Rechte besteht. Daß die Kommission nicht gegen den Rat geklagt hat, kann auch nicht als ermessenmißbräuchlich angesehen werden. Insofern ist namentlich auf die von ihr geschilderten, in den vergangenen Jahren zutage getretenen Schwierigkeiten zu verweisen und der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sich andere Methoden als sinnvoller erwiesen haben, die Ratsaktion voranzutreiben.

    Schließlich kann auch nicht gesagt werden, daß die gegen Frankreich erhobene Klage in Wahrheit ein anderes Ziel verfolge und deshalb mißbräuchlich sei. Davon läßt sich meines Erachtens zunächst einmal nicht mit der Begründung sprechen, die Kommission ziele in Wahrheit auf eine Bestätigung der ursprünglichen Regelung ab, sie stelle also an den Gerichtshof das Ansinnen, eine Befugnis auszuüben, die in Wirklichkeit dem Rat vorbehalten sei. Für diese Annahme spricht meines Erachtens nichts, offensichtlich geht es der Kommission nicht um eine Gestaltung der Rechtslage im Sinne der Feststellung, die ursprünglich etablierten Texte seien endgültig beizubehalten. Ausschließlicher Gegenstand des Verfahrens ist vielmehr die Feststellung des gegenwärtig noch geltenden Zustandes, und sie fällt zweifellos in die Kompetenz des Gerichtshofs. — Zum anderen kann wohl auch nicht davon die Rede sein, mit der eingebrachten Klage und einem ihr gegebenenfalls stattgebenden Urteil solle ein Einfluß auf den Rat ausgeübt, die Tendenz der Beratung im Sinne einer Beibehaltung der bisherigen Regelung oder eines ähnlichen Systems orientiert und die Ausarbeitung einer neuen Regelung verzögert werden. Nirgendwo sind irgendwelche Indizien für eine derartige Absicht der Kommission zu erkennen, die ja selbst einen Änderungsvorschlag zur Auflockerung des bestehenden Systems vorgelegt hat. Außerdem — und das erscheint noch wesentlicher — ist das gegenwärtige Verfahren vor dem Gerichtshof objektiv gar nicht geeignet, solche Absichten zu unterstützen, weil es nur eine Aussage erlaubt zum gegenwärtigen provisorischen Rechtszustand, rechtspolitische Erwägungen über eine künftige Gestaltung also nicht präjudiziert.

    Wie immer man also den Vorwurf des Verfahrensmißbrauchs wendet und was immer man in diesem Zusammenhang an gegen die Klage sprechenden Argumenten untersucht, es bleibt letztlich kein Element, aus dem sich ihre Unzulässigkeit oder ihre Unbegründetheit ergeben könnte.

    8. 

    Abschließend kann ich meine Ansicht somit wie folgt zusammenfassen:

    Die von der Kommission eingereichte Klage ist zulässig und begründet.

    Im Hinblick darauf, daß sich die Französische Republik geweigert hat, der Kommission nach 1964 die jährlichen Berichte über die Entwicklung der Schürfung und der Erzeugung, die voraussichtlichen Reserven und die auf französischem Hoheitsgebiet durchgeführten oder geplanten Investitionen vorzulegen ;

    im Hinblick darauf, daß das französische Atomernergie-Kommissariat ohne Wissen der Agentur Verträge über die Einfuhr von 3555 kg auf 1,15 % angereichertes Uran, das aus dem Kernkraftwerk Kahl stammt, von Plutonium aus Kanada und von 116 kg Plutonium, das von der Ente nazionale per l'energia elettrica (ENEL) stammt, sowie über die Lieferung von zirka 2000 kg auf 4,7 % angereichertes Uran an das Comitato nazionale per l'energia nucleare (CNEN) abgeschlossen hat;

    endlich im Hinblick darauf, daß das französische Atomenergie-Kommissariat sich geweigert hat, der Agentur das Bestehen einer Verpflichtung betreffend die Verarbeitung von aus Südafrika eingeführten Stoffen sowie die Materialmengen, die Gegenstand der betreffenden Übertragung sind, mitzuteilen, ist festzustellen, daß die Französische Republik gegen die Verpflichtungen aus dem Zweiten Titel, Kapitel VI des Euratom-Vertrags, insbesondere gegen die Artikel 55, 56, 57, 60, 64, 70 und 75 verstoßen hat, sei es, daß sie diese Bestimmungen selbst nicht beachtet hat, oder sei es, daß sie sich einer Nichtbeachtung durch das Atomenergie-Kommissariat nicht widersetzt hat.

    Außerdem ist die Französische Republik zur Tragung der Kosten des Verfahrens zu verurteilen.

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