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Document 61969CC0004

Schlussanträge des Generalanwalts Dutheillet de Lamothe vom 17. Februar 1971.
Alfons Lütticke GmbH gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften.
Rechtssache 4-69.

Sammlung der Rechtsprechung 1971 -00325

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1971:17

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ALAIN DUTHEILLET DE LAMOTHE

VOM 17. FEBRUAR 1971 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Rom und seit der Errichtung Ihres Gerichtshofes ist die Firma Lütticke, ein bedeutendes deutsches Import- und Exportunternehmen, einer Ihrer treuesten Stammkunden.

Die Kommentatoren Ihrer Urteile und die gesamte Rechtslehre werden ihr gewiß dafür dankbar sein, daß sie wahrscheinlich von allen Privatunternehmen der Mitgliedstaaten die meisten Klagen bei Ihnen eingereicht und die meisten Urteile zur Anwendung des Vertrages von Rom veranlaßt hat.

Sicher ist, daß die Firma Lütticke schneller als viele andere Unternehmen alle Möglichkeiten entdeckt hat, welche die Vorschriften des Vertrages von Rom und des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts den Importeuren oder Exporteuren eröffnen konnte, und daß sie oft geradezu systematisch versucht hat, ihre Streitigkeiten mit den deutschen Zoll- und Steuerbehörden auf europäischer Ebene auszutragen.

Mit der vorliegenden Klage greift sie unmittelbar die Gemeinschaftsbehörden an und begehrt von Ihnen die Verurteilung der Kommission zu bedeutenden Schadensersatzzahlungen.

Wir müssen zunacnst, so glaube icn, diesen Rechtsstreit in das rechte Verhältnis zu denjenigen Verfahren setzen, aus denen heraus er sich im Grunde als hoffentlich letztes Glied ihrer Reihe entwikkelt hat.

Bekanntlich haben die vertasser des Vertrages von Rom von Anfang an gesehen, daß die Vorschriften über die Abschaffung der Zölle zwischen den Mitgliedstaaten wirkungslos wären, wenn diese Staaten, die auf dem Gebiet der inländischen Steuern grundsätzlich ihre vollen Hoheitsrechte behalten, gegebenenfalls auf dem Umweg über diese Steuern die Folgen der Abschaffung der Zölle und Abgaben gleicher Wirkung gewissermaßen ausgleichen könnten.

Daher sieht Artikel 95 des Vertrages vor, daß die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art erheben, als gleichartige inländische Waren unmittelbar oder mittelbar zu tragen haben.

Die Mitgliedstaaten dürfen ferner auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten keine inländischen Abgaben erheben, die geeignet sind, andere Produktionen mittelbar zu schützen.

Schließlich sieht Artikel 95 in Absatz 3 vor, daß spätestens mit Beginn der zweiten Stufe die Mitgliedstaaten die bei Inkrafttreten des Vertrages geltenden Bestimmungen „aufheben oder berichtigen“, die den eben erwähnten Vorschriften entgegenstehen.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Umsatzsteuer warf besonders heikle Probleme auf.

Nur ein Land, Frankreich, hatte eine sogenannte „integrierte“ Steuer oder war im Begriff sie zu erhalten: die „Mehrwertsteuer“, welche die Ware nur einmal und nicht auf mehreren Herstellungs- oder Vertriebsstufen belastet.

Alle anderen Länder dagegen hingen dem System der sogenannten „Mehrphasen“-Steuer an, welche die Ware auf mehreren aufeinander folgenden Herstellungs- und Vertriebsstufen belastet.

Um dieser Schwierigkeit zu begegnen, wurde in Artikel 97 des Vertrages vorgesehen, daß die Mitgliedstaaten, welche die Umsatzsteuer nach dem sogenannten System der „kumulativen Mehrphasensteuer“ erhoben, für inländische Abgaben, die sie von eingeführten Waren erhoben, und für Rückvergütungen, die sie für ausgeführte Waren gewährten, unter Wahrung der in den Artikeln 95 und 96 aufgestellten Grundsätze Durchschnittssätze für Waren oder Gruppen von Waren festlegen konnten.

Ferner hatte die Kommission nach dem letzten Absatz dieses Artikels geeignete Richtlinien oder Entscheidungen an den betreffenden Staat zu richten, wenn diese Durchschnittssätze nicht den genannten Grundsätzen entsprachen.

Die Gesamtheit dieser Vorschriften führte in der Auslegung, die Sie ihnen gaben, zu einer verwickelten Regelung, die sich kurz so zusammenfassen läßt, wie es Generalanwalt Gand in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache 57/65 (Firma Lütticke) sowie in den fünf Rechtssachen getan hat, über die Sie am 3. und 4. April 1968 entschieden haben:

1.

In den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten wurden zwischen zwei Mitgliedstaaten gehandelte Waren im Herkunftsland von Steuern entlastet, konnten jedoch dafür im Einfuhrland einer Steuer unterworten werden, welche die auf gleichartigen inländischen Waren lastende Umsatzsteuer ausglich.

2.

Diese Ausgleichsteuer durfte nach von den Mitgliedstaaten festgelegten Durchschnittssätzen berechnet werden, wenn diese Staaten die Umsatzsteuer nach dem System der Mehrphasensteuer erhoben, durfte jedoch nicht dazu führen, daß die eingeführte Ware eine höhere Belastung zu tragen hatte als ein gleichartiges inländisches Erzeugnis.

3.

Im Hinblick auf die Einhaltung dieser Verpflichtung sind zwei Zeitabschnitte zu unterscheiden:

Bis zum 1. Januar 1962 durften die Staaten die bestehenden Verzerrungen beibehalten, durften sie jedoch nicht erschweren oder neue Verzerrungen einführen;

dagegen mußte vom 1. Januar 1962 an die vollständige Gleichbehandlung verwirklicht sein, und hierzu mußten die Staaten, in denen es Mehrphasensteuern gab, für die Berechnung der Ausgleichsteuern solche Durchschnittssätze festlegen, die die eingeführte Ware im Verhältnis zum inländischen Erzeugnis nicht benachteiligten.

4.

Schließlich verfügte die Kommission auf diesem Gebiet nach dem letzten Absatz des Artikels 97 über besondere Befugnisse, die ich sogleich darauf untersuchen werde, ob und in welchem Maße sie mit den Befugnissen zusammenfallen, die der Kommission allgemein nach Artikel 169 des Vertrages zustehen.

Anläßlich nach dem 1. Januar 1962 vorgenommener Einfuhren von Milchpulver und Trockenmilcherzeugnissen war die Firma Lütticke der Auffassung, die Ausgleichsteuer, zu der sie von den deutschen Zollbehörden veranlagt wurde, sei entgegen Artikel 95 Absatz 1 des Vertrages nach einem die tatsächliche Steuerbelastung gleichartiger inländischer Waren übersteigenden Durchschnittssatz der von diesen Waren zu tragenden Umsatzsteuer berechnet worden.

Sie unternahm daraufhin mehrere gerichtliche und außergerichtliche Schritte.

Zunächst forderte sie die Kommission auf, gegenüber der Bundesrepublik Deutschland von ihren Befugnissen aus Artikel 169 des Vertrages Gebrauch zu machen, d. h. gegen diesen Staat ein Verfahren wegen Vertragsverletzung einzuleiten.

Als die Kommission dies ablehnte, erhob die Firma Lütticke bei Ihnen Klage gegen diese Maßnahme und hilfsweise geger die Untätigkeit der Kommission auf den Antrag der Klägerin.

Sie haben diese Klage durch Ihr Urteil 48/65 vom 1. März 1966 (Slg. 1965, 28 ff.) als unzulässig abgewiesen.

Inzwischen natte die Firma Lütticke jedoch vor den deutschen Finanzgerichten einige der an sie gerichteten Steuerbescheide angefochten.

Aufgrund dieser Klagen legte das Fianzgericht des Saarlandes Ihnen ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Frage vor, ob die Vorschriften des Artikels 95 unmittelbare Wirkungen hätten, also unmittelbare Rechte der einzelnen begründeten, welche die staatlichen Gerichte zu beachten hätten.

Auf dieses Ersuchen haben Sie durch das Urteil 57/65 vom 16. Juni 1966 (Slg. 1965, 258 ff.) festgestellt, daß Artikel 95 unmittelbare Wirkungen erzeugt.

Aufgrund dieses Urteils, das Sie durch Ihr Urteil 28/67 vom 3. April 1968 inhaltlich bestätigt haben, hatte die Firma Lütticke vor den deutschen Gerichten teilweise Erfolg.

Sie gab sich jedoch nicht zufrieden.

Mit der Behauptung, daß sie für eine Reihe von ihr abgewickelter Geschäfte geringere Steuern gezahlt haben würde als die tatsächlich ohne Erstattungsmöglichkeit gezahlten, wenn die Kommission schon 1962 gegenüber der Bundesrepublik von allen ihr nach dem Vertrag zustehenden Befugnissen Gebrauch gemacht hätte, hat sie bei Ihnen eine auf die Vorschriften des Artikels 215 Absatz 2 des Vertrages gestützte Schadensersatzklage erhoben.

Mit dieser Klage begehrt sie

1.

die Feststellung der Verpflichtung der Kommission, der Firma Lütticke allen Schaden zu ersetzen, der ihr angeblich daraus entstanden ist, daß die Kommission nicht für die Beseitigung der deutschen Umsatzausgleichsteuer auf Milchpulver mit Wirkung vom 1. Januar 1962 gesorgt hat;

2.

die Verurteilung der Kommission zur Zahlung von 124396, — DM nebst 8 % Zinsen seit dem 20. April 1968 an die Klägerin sowie zur Kostentragung.

Die Kommission beantragt, die Klage als unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen.

I

Untersuchen wir zunächst die Zulässigkeitsfragen.

Die Kommission erhebt vier prozeßhindernde Einreden. Die erste ist rein formaler Natur, die drei anderen betreffen meines Erachtens mehr die Begründetheit als im eigentlichen Sinne die Zulässigkeit der Klage.

1.

Die Kommission macht geltend, die Klage genüge den Anforderungen von Artikel 38 Absatz 1 Ihrer Verfahrensordnung nicht, da sie

zum einen auf in anderen Rechtssachen eingereichte Schriftsätze Bezug nehme, um darzutun, daß die streitige Steuer zu hoch sei,

zum anderen hinsichtlich des Zinsantrags keinerlei Begründung enthalte.

Ich glaube aber nicht, meine Herren, daß man auf diesem Gebiet übertrieben formalistisch sein sollte.

Die Firma Lütticke hat im Laufe des Verfahrens die Angriffsmittel, auf die sie ihre beiden Ansprüche stützt, ausdrücklich wiederholt oder ausgeführt.

Es trifft zwar zu, daß sie in der Klageschrift auf in anderen Verfahren bei Ihnen eingereichte Schriftsätze Bezug genommen hat, um darzutun, daß die streitige Steuer zu hoch sei.

Dieser Umstand kann aber meines Erachtens für sich allein nicht dazu führen, daß ihre Klageschrift als nicht mit Gründen versehen zu betrachten wäre, da an der Natur der vorgebrachten Angriffsmittel kein Zweifel bestehen kann und nur für die nähere Ausführung dieser Angriffsmittel auf Schriftsätze Bezug genommen wird, die in bereits entschiedenen Rechtssachen eingereicht worden sind.

Als einzige Folge kann sich aus dieser Bezugnahme nach meiner Meinung ergeben, daß es allen, der Beklagten wie dem Richter und sogar dem Generalanwalt, gestattet sein muß, sich gegebenenfalls auf Angaben in den zitierten Akten anderer Verfahren zu beziehen.

Schließlich könnte der Umstand, daß die Firma Lütticke etwa ihren Antrag auf Zuerkennung von Zinsen, der ein Nebenantrag zum Hauptantrag auf Schadensersatzleistung ist, nicht oder nicht ausreichend begründet hätte, nur dazu führen, die Zuerkennung dieser Zinsen zu versagen, nicht aber den Antrag unzulässig machen.

2.

Mit der zweiten und dritten prozeßhindernden Einrede der Kommission, die in einem, so engen Zusammenhang stehen, daß ich Sie um die Erlaubnis bitte, sie zusammen zu prüfen, berühren wir bereits etwas die Begründetheit der Klage.

Diese Einreden beruhen einerseits auf den Artikeln 97 Absatz 2 und 169 des Vertrages, andererseits auf Artikel 173.

Was die Vorschriften von Artikel 97 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 169 des Vertrages anbelangt, beruft sich die Kommission für ihre prozeßhindernde Einrede auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes.

Die Kommission erinnert Sie daran, Sie seien stets davon ausgegangen, daß Anfechtungsklagen von Einzelpersonen gegen Beschlüsse der Kommission, von den ihr in den Artikeln 169 und 97 Absatz 2 des Vertrages zugewiesenen Befugnissen Gebrauch zu machen oder nicht, unzulässig seien. Die Kommission leitet daraus ab, daß eine Schadensersatzklage unzulässig sei, wenn sie auf eine nicht mit der Anfechtungsklage angreifbare Handlung oder Unterlassung gestützt wird, sucht allerdings dieser Deduktion keine allzu große Tragweite zu geben.

Sie fügt hinzu, eine solche Klage als zulässig anzusehen, hieße die Vorschriften von Artikel 173 des Vertrages zu verletzen und mittelbar die Möglichkeit zu eröffnen, in einem Falle, in dem Artikel 173 unanwendbar ist, die Rechtmäßigkeit einer Handlung oder Untätigkeit der Gemeinschaft nachprüfen zu lassen.

Aber ich bin der Auffassung, meine Herren, daß diese These durch eines Ihrer Urteile bereits ausdrücklich abgelehnt worden ist: Es handelt sich um Ihr Urteil vom 15. Juli 1963 in der Rechtssache 25/62, Plaumann (Slg. 1963, 213 ff.). In dieser Rechtssache war einerseits ein Antrag auf Nichtigerklärung einer Maßnahme der Gemeinschaft, andererseits ein Antrag auf Zuerkennung einer Ersatzleistung für den durch die angeblich rechtswidrige Maßnahme verursachten Schaden gestellt.

Den Schlußanträgen von Generalanwalt Roemer folgend, haben Sie den Antrag auf Nichtigerklärung als unzulässig, abgewiesen, es dagegen für geboten erachtet, über den Schadensersatzantrag in der Sache zu entscheiden. Damit wurde nach meiner Auffassung unterstrichen, daß jedenfalls in dieser Materie — bestimmte dem Europäischen Beamtenrecht eigentümliche Fallgestaltungen sollen hier außer Betracht bleiben — die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Schadensersatzklage selbst dann selbständig und nicht etwa in Abhängigkeit von denen der Anfechtungsklage zu prüfen sind, wenn die Schadensersatzklage auf die Rechtswidrigkeit einer Handlung oder Untätigkeit gestützt wird. Im übrigen weisen auch die Vorschriften von Artikel 176 Absatz 2 des Vertrages in diese Richtung, indem sie vorsehen, daß diese „restitutio in integrum“, zu der die Aufhebung einer Handlung der Gemeinschaft die verantwortliche Behörde verpflichtet, „unbeschadet“ der Verpflichtungen erfolgt, die sich aus der Anwendung des Artikels 215 Absatz 2 ergeben, also gerade unbeschadet der etwaigen außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft.

Nach meiner Auffassung hat daher die Tatsache, daß die Haftungsklage im vorliegenden Fall auf eine Verkennung der Artikel 97 Absatz 2 oder 169 des Vertrages gestützt wird, zwar für die Begründetheit der Schadensersatzklage sehr große Bedeutung — hierauf komme ich gleich noch zurück —, ist aber auf ihre Zulässigkeit ohne Einfluß.

3.

Zur vierten prozeßhindernden Einrede der Kommission sind ähnliche Ausführungen zu machen wie die Ihnen soeben vorgetragenen.

Diese Einrede wird daraus hergeleitet, daß nach Ihrer Rechtsprechung Artikel 97 des Vertrages keine unmittelbaren Wirkungen erzeuge und keine individuellen Rechte der einzelnen begründe, welche die staatlichen Gerichte zu beachten hätten, und daß daher eine Schadensersatzklage, die auf die Nichtausübung der der Kommission in diesem Artikel eingeräumten Befugnisse gestützt wird, schon allein deswegen unzulässig sei.

Aber, meine Herren, das Gebiet der Schadensersatzklage ist bereits so kompliziert und schwierig, daß man es zumindest hinsichtlich der Zulässigkeit nicht noch weiter komplizieren sollte, indem man es mit anderen, davon völlig verschiedenen, Rechtsgrundsätzen verknüpft.

Der in Ihrer Rechtsprechung entwickelte Begriff der „unmittelbaren Wirkung“ dient dazu, die Vorschriften des Vertrages oder des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zu bestimmen, die für die einzelnen subjektives Recht erzeugen und daher von ihnen vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden können, und zwar insbesondere gegenüber Entscheidungen oder Maßnahmen der Behörden der Mitgliedstaaten.

Er ist daher, wenn Sie den Ausdruck gestatten, nur „äußerlich anwendbar“ und bleibt ohne Einfluß auf die Zulässigkeit einer vor dem Gerichtshof der Gemeinschaften gegen die Gemeinschaft erhobenen Haftungsklage.

Daß Veranlassung zu der Untersuchung besteht, welchen Einfluß der Begriff der unmittelbaren Wirkung auf die Frage haben kann, ob die Gemeinschaftsbehörde haftet, damit bin ich völlig einverstanden, und ich werde dies auch gleich prüfen; dies ist jedoch ein Problem der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit.

Ich meine daher, daß keine der von der Kommission erhobenen prozeßhindernden Einreden durchgreift, obwohl einige der Erwägungen, auf die sie gestützt sind, bei der Prüfung der Begründetheit zu berücksichtigen sein werden.

II

Diese Prüfung der Begründetheit würde normalerweise, wie bei jeder Haftungsklage, voraussetzen, daß nacheinander drei Fragen untersucht werden:

1.

Ist das „gerügte Verhalten“ geeignet, die finanzielle Haftung der Kommission auszulösen?

2.

Besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesem Verhalten und dem behaupteten Schaden?

3.

Sind schließlich das Bestehen des Schadens, dessen Wiedergutmachung verlangt wird, und seine Höhe erwiesen?

Hierzu müßten übrigens in vorliegender Sache zusätzlich noch die einzelnen Daten ermittelt werden, zu denen der behauptete Schaden jeweils entstanden ist, denn die Kommission hat gegenüber einigen Teilansprüchen die in Artikel 43 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes geregelte Verjährungseinrede erhoben.

Ich muß Sie aber sogleich darauf hinweisen, daß ich nach Lage der Akten zur dritten der soeben genannten Frage nicht Stellung nehmen kann und daß Sie darüber meines Erachtens auch nicht entscheiden könnten, wenn dies erforderlich sein sollte.

Wenn auch anscheinend Einigkeit darüber besteht, daß während einer gewissen Zeit der Hebesatz der von der deutschen Regierung auf Milcherzeugnisse erhobenen Ausgleichsteuer höher war als der tatsächliche Durchschnittssatz der auf gleichartigen inländischen Waren ruhenden Mehrphasensteuern, so herrscht doch über die Höhe dieses Unterschiedes die größte Ungewißheit.

Insbesondere ist zu bemerken — und dies ist nicht etwa eine der weniger bedeutsamen Eigentümlichkeiten dieser Rechtssache —, daß die Klägerin selbst Ihnen ein Sachverständigengutachten vorgelegt hat, das zu niedrigeren als den von der Klägerin ursprünglich genannten Zahlen kommt, aber auch zu anderen als den von der Kommission oder der Regierung der Bundesrepublik errechneten.

Unter diesen Umständen könnte Ihnen nur ein Sachverständigengutachten Aufschluß über diese verschiedenen Punkte geben.

Meines Erachtens brauchen Sie es aber nicht einzuholen. Ich bin zum einen der Auffassung, daß im vorliegenden Fall das gerügte Verhalten nicht geeignet ist, die finanzielle Haftung der Gemeinschaft auszulösen, und meine zum anderen — und hierauf kommt es vielleicht vor allem an —, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem beanstandeten Verhalten und dem behaupteten Schaden nicht erwiesen ist.

Ich will versuchen, Sie hiervon zu überzeugen.

Mit Ihrer Erlaubnis will ich mich diesen beiden Punkten zuwenden.

A —

Wie ich bereits sagte, ist meines Erachtens das gerügte Verhalten der Kommission, das darin besteht, daß sie von ihren Befugnissen aus Artikel 97 des Vertrages nicht oder nur verspätet oder unzureichend Gebrauch gemacht hat, seinem Wesen nach nicht geeignet, einen Schadensersatzanspruch zugunsten eines einzelnen zu eröffnen.

Wie Sie wissen, meine Herren, sieht Artikel 215 Absatz 2 des Vertrages vor, daß im Bereich der außervertraglichen Haftung die Gemeinschaft den durch ihre Organe verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ersetzt, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

Einer der allgemeinen Rechtsgrundsätze, den Sie bereits als den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten gemeinsam anerkannt haben, und zwar namentlich in Ihrem Urteil Kampffmeyer (EuGH 14. Juli 1967 — Slg. 1967, 332 ff.) besagt, daß nicht jede Verletzung einer Rechtsnorm durch die mit der Gewährleistung ihrer Anwendung oder Einhaltung betraute Behörde notwendig einen Anspruch auf Schadensersatz eröffnet.

Es gibt Falle, in denen die verletzte Rechtsnorm ihrem Wesen nach jeden Schadensersatzanspruch von Einzelpersonen ausschließt.

Ihre Rechtsprechung hat allerdings hinsichtlich der Merkmale, nach denen sich bestimmen läßt, welches diese Rechtsnormen sind, deren Verletzung keinen Schadensersatzanspruch eröffnen kann, eine gewisse Entwicklung durchgemacht.

Ihr Urteil Plaumann vom 15. Juli 1963 (Slg. 1963, 237) wählte ein scheinbar verhältnismäßig einfaches Merkmal, das an bestimmte französische Rechtsanschauungen anknüpfte: Wenn die Rechtmäßigkeit einer Handlung nicht angefochten werden konnte, so konnte für die sich aus ihr ergebenden Schadensfolgen kein Ersatz verlangt werden.

Aber Sie haben dieses Merkmal für sich allein wohl für unzureichend gehalten und sind in Ihrer späteren Rechtsprechung, insbesondere Ihrem Urteil Kampffmeyer, auf Merkmale zurückgekommen, die Sie in Ihrem Urteil Vloeberghs (EuGH 14. Juli 1961 — Slg. 1961, 429 ff.) bereits für die Anwendung von Artikel 40 des EGKS-Vertrags herausgearbeitet hatten.

Mir scheint aus dieser Rechtsprechung hervorzugehen, daß das wesentliche Merkmal jetzt in folgendem besteht: Die Rechtsnorm, deren Verletzung geltend gemacht wird, muß zum Schutz der Interessen derjenigen Personen bestimmt sein, die den Schaden erlitten haben.

Dieses Kriterium geht, worauf Sie Generalanwalt Gand in der Rechtssache Kampffmeyer hingewiesen hat, ersichtlich auf einige Grundsätze des deutschen Rechts und insbesondere des Artikels 34 des Grundgesetzes der Bundesrepublik zurück und entbehrt auch, wie Herr Gand gleichfalls hervorgehoben hat, nicht einer gewissen Analogie zu dem im italienischen Recht zum Ausdruck kommenden Gedanken, daß „Vorschriften, die ausschließlich oder hauptsächlich dem öffentlichen Interesse dienen, unter Umständen ein berechtigtes Interesse an einer Anfechtungsklage, aber kein subjektives Recht begründen, das als Grundlage für eine Schadensersatzklage dienen könnte“.

Wie dem auch sei, auf den vorliegenden Fall angewandt, reicht dieses Merkmal meines Erachtens aus, um die Abweisung der Ihnen vorliegenden Klage zu rechtfertigen.

Diese wird auf eine angebliche Verletzung der Bestimmungen von Artikel 97 letzter Absatz des Vertrages durch die Kommission gestützt.

Untersucht man nun die Tragweite dieser Vorschrift, so kann es zweifelhaft er scheinen, daß ihr Haupt- oder Nebenzweck im Schutz der Interessen der Importeure besteht.

Im Bestreben, diesen Schutzzweck darzutun, verlangt die Klägerin von Ihnen im Grunde, diesen Absatz des Artikels 97 isoliert zu betrachten, und macht geltend, die Verfasser des Vertrages hätten mit der Bestimmung „entsprechen diese Durchschnittssätze nicht den genannten Grundsätzen, so richtet die Kommission geeignete Richtlinien oder Entscheidungen an den betreffenden Staat“ zwar gewiß nicht ausschließlich die Interessen der Importeure, aber doch auch und notwendig diese Interessen schützen wollen.

Hierauf entgegnet die Kommission, da die Importeure die Umsatzausgleichsteuer auf den Verbraucher abwälzten, seien sie durch diese Bestimmung in keiner Weise betroffen.

Richtigerweise muß man meines Erachtens zur Entscheidung dieser Frage einen etwas anderen Standpunkt einnehmen und diese Bestimmung des Artikels 97 des Vertrages nicht isoliert, sondern zusammen mit Artikel 169 betrachten, mit dem sie, so meine ich, in Verbindung zu bringen ist.

Eines der Anliegen der Verfasser des Vertrages war es, der Kommission die Mittel an die Hand zu geben, die erforderlich sind, um die Einhaltung der den Mitgliedstaaten durch den Vertrag oder das abgeleitete Gemeinschaftsrecht auferlegten Verpflichtungen durchzusetzen.

Zu diesem Zweck haben sie ein allgemeines, in allen Fällen anwendbares Verfahren geschaffen, das in Artikel 169 vorgesehene Verfahren wegen Vertragsverletzung.

Jedoch waren sie der Meinung, daß in bestimmten Fällen und für bestimmte Gebiete der Erhebung der Klage wegen Vertragsverletzung ein besonderes, von dem in Artikel 169 für den allgemeinen Fall geregelten verschiedenes Vorverfahren vorzuschalten sei.

Dies haben sie z. B. für die Beihilfen mit den Vorschriften des Artikels 93 Absatz 2 des Vertrages getan.

Das gleiche haben sie meines Erachtens im letzten Absatz des Artikels 97 auch für das Gebiet der Umsatzsteuer getan.

Die Vorschriften dieses Absatzes haben keinen anderen Zweck und keinen anderen Sinn, als in einem besonderen Falle ein der Klage wegen Vertragsverletzung vorgeschaltetes Vorverfahren zu regeln, das sich von dem allgemeinen Vorverfahren des Artikels 169 unterscheidet.

Geht man von dieser Auffassung aus, so gelangt man zu der Feststellung, daß Artikel 97 letzter Absatz keine Einzelinteressen schützt, sondern das durch den Vertrag geschaffene institutionelle Gleichgewicht gewährleisten soll.

Gewiß haben an diesem institutionellen Gleichgewicht die Importeure wie alle inderen Bürger des Gemeinsamen Markes ein Interesse, jedoch in einer zu globalen, zu allgemeinen Weise, als daß nan davon ausgehen könnte, daß eine ler Wahrung dieses Gleichgewichts dielende Rechtsnorm zum Schutz ihrer Indessen bestimmt sei.

Das Interesse, das sie schützen soll, ist vielmehr die öffentliche Ordnung der Gemeinschaft.

Ich bin daher der Auffassung, daß die ihnen vorliegende Schadensersatzklage schon wegen der Rechtsnatur der Norm abzuweisen ist, deren Verletzung geltend gemacht wird.

B —

Ich meine dies aber auch, und offen gestanden vielleicht sogar vor allem, aus einem zweiten Grund.

Artikel 215 setzt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem erlittenen Schaden und dem gerügten Verhalten voraus.

Im Rahmen des EGKS-Vertrags hatten sie Veranlassung darauf hinzuweisen, daß dieser ursächliche Zusammenhang ein unmittelbarer sein muß.

Dies gilt meines Erachtens auch für die Anwendung von Artikel 215 EWG-Vertrag. Dieses Erfordernis eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem gerügten Verhalten und dem Schaden findet sich — entweder unter der gleichen Bezeichnung oder unter der etwas anderen der „adäquaten Verursachung“ — in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten gemeinsam sind.

Im vorliegenden Fall besteht nun nach meiner Ansicht kein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Schaden, den die Firma Lütticke angeblich erlitten hat, und dem Verhalten, das sie der Kommission vorwirft.

Allerdings ist der Umstand, daß der angeführte Schaden prima facie im wesentlichen auf innerstaatliche Maßnahmen zurückzugehen scheint — die Maßnahme allgemeiner Geltung, durch die die Regierung der Bundesrepublik den Durchschnittssatz der Mehrphasensteuer festgelegt hat, sowie die individuellen Akte, welche die Steuerbescheide darstellen —, für sich allein nicht entscheidend.

Die Ihren Urteilen Kampffmeyer und Becher zugrunde liegende sehr feine juristische Untersuchung zeigt, daß es Fälle geben kann, in denen die Gemeinschaftsrechtsordnung und die innerstaatliche Rechtsordnung so eng miteinander verbunden sind, daß ein gemeinsamer Irrtum der nationalen und der Gemeinschaftsbehörden die Haftung der Gemeinschaft auslösen kann.

Voraussetzung hierfür ist aber, daß zwischen der nationalen Maßnahme und der „Reaktion“, wenn ich so sagen darf, der Gemeinschaft eine so enge Verbindung besteht, daß beide nicht voneinander getrennt werden können.

Um diese Verbindung zu kennzeichnen, hätte ich natürlich Lust, den alten französischen Ausdruck „connexite“ zu gebrauchen, obwohl er einen eher verfahrensrechtlichen als materiellrechtlichen Begriff bezeichnet.

Es handelt sich um so enge Beziehungen zwischen zwei Rechtsakten, daß diese für die rechtliche Würdigung nicht voneinander getrennt werden können.

Dies war in Ihrer Rechtssache Kampffmeyer der Fall, da es sich dort in Wirklichkeit um eine von den Vorschriften einer Gemeinschaftsverordnung abweichende Maßnahme handelte, um eine Maßnahme, die von Anfang an und einseitig von einem Mitgliedstaat beschlossen worden war, jedoch durch eine Handlung der Gemeinschaft legalisiert und bestätigt worden war.

Ganz anders verhält es sich hier.

Gewiß Derunrt der umstand, daß Artikel 97 Absatz 2 keine unmittelbaren Wirkungen erzeugt, im wesentlichen nur die Ansprüche, welche die Firma Lütticke vor den deutschen Gerichten geltend machen kann, ist dagegen für die Frage einer etwaigen Haftung der Kommission nicht ausschlaggebend.

Wenn Sie aber feststellen sollen, dals der von der Firma Lütticke geltend gemachte Schaden durch das Verhalten der Kommission verursacht worden ist, müßte die Klägerin dartun (denn insoweit trägt sie die Beweislast), daß ein Tätigwerden der Kommission notwendig und nahezu selbsttätig zu einer Änderung des von der Bundesregierung angewandten Durchschnittssatzes geführt haben würde.

Die Klägerin erbringt diesen Beweis nicht, und im gegenwärtigen Entwicklungsstadium des europäischen Rechts wäre es ihr wahrscheinlich auch unmöglich, ihn zu erbringen.

Gehen wir einmal, jedoch nur für die Zwecke der Beweisführung, davon aus, daß die Kommission nach Artikel 97 Absatz 2 bereits 1962 eine Richtlinie oder Entscheidung an die Bundesregierung hätte richten müssen.

Folgt daraus, dals der behauptete Schaden mit Sicherheit nicht entstanden wäre? Ich glaube nicht.

1.

Es ist ganz und gar nicht sicher, dals die Richtlinie oder Entscheidung, welche die Kommission erlassen hätte, den Bedürfnissen der Firma Lütticke vollauf genügt hätte; ich denke hierbei insbesondere an die Rückwirkung, die dieses Unternehmen sich für die Änderung des Durchschnittssatzes der Mehrphasensteuer, nach der die Bundesregierung die Ausgleichsteuer festgesetzt hatte, gewünscht hätte.

2.

Der Regierung der Bundesrepublik wären zahlreiche Möglichkeiten offen geblieben, um die Anwendung dieser Richtlinie hinauszuschieben oder einzuschränken, auch wenn die Richtlinie die Firma Lütticke voll und ganz zufriedengestellt hätte.

So hätte die Bundesregierung bei Ihnen z. B. Anfechtungsklage gegen die Entscheidung oder Richtlinie erheben und die Aussetzung des Vollzugs bis zu dem zu erlassenden Urteil beantragen können.

Sie hatte diese Richtlinie auch, wenn sie sie ganz oder teilweise für unberechtigt hielt, ganz unbeachtet lassen und bewußt und gewollt das Risiko eingehen können, daß die Kommission gegen sie ein Verfahren wegen Vertragsverletzung nach Artikel 169 einleite.

Die Vielfalt der Fallgestaltungen, die sich so hinsichtlich der möglichen Tragweite und Folgen einer Richtlinie oder Entscheidung der Kommission denken lassen, reicht meines Erachtens aus, um das Fehlen eines unmittelbaren ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem entstandenen Schaden und der der Kommission vorgeworfenen Unterlassung darzutun.

Dies ist der zweite Grund, weshalb ich beantrage,

1.

die Klage der Firma Lütticke abzuweisen;

2.

die Verfahrenskosten der Klägerin aufzuerlegen.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.

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