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Document 61961CC0013

    Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange vom 27. Februar 1962.
    Kledingverkoopbedrijf de Geus en Uitdenbogerd gegen Robert Bosch GmbH und Maatschappij tot voortzetting van de zaken der Firma Willem van Rijn.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Gerechtshof 's-Gravenhage - Niederlande.
    Rechtssache 13-61.

    Englische Sonderausgabe 1962 00099

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1962:3

    Schlußanträge des Generalanwalts

    HERRN MAURICE LAGRANGE

    27. Februar 1962

    Aus Dem Französichen übersetzt

    GLIEDERUNG

    Seite
     

    I — Sachverhalt

     

    II — Rechtliche Würdigung

     

    A — Ist der Gerichtshof ordnungsgemäß angerufen, so daß er jetzt schon entscheiden kann?

     

    B — Ist der Gerichtshof zur Entscheidung über die gestellte Frage oder die gestellten Fragen zuständig? Gegebenenfalls in welchem Umfang?

     

    C — Welche Antworten sind zu geben?

     

    1. Sind die Vorschriften der Artikel 85 ff. zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt unmittelbar auf die Angehörigen der Mitgliedstaates anwendbar?

     

    2. Ist die in Artikel 85 Absatz 2 angeordnete „Nichtigkeit“ der nach Absatz 1 verbotenen Kartelle schon wirksam, bevor die in Absatz 3 vorgesehene „Ausnahme vom Verbot“ erfolgt ist?

     

    a) Die sich aus dem Bestehen konkurrierender Zuständigkeiten ergebenden Schwierigkeiten

     

    b) Die vom Zusammenhang zwischen Absatz 1 und 3 des Artikels 85 herrührenden Schwierigkeiten

     

    3. Sind Exportverbote durch Artikel 85 Absatz 1 verboten?

     

    III — Anträge

    Herr Präsident, meine Herren Richter!

    Diese Rechtssache — die erste, die Ihnen auf Grund von Artikel 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vorgelegt wird — ist deshalb von Bedeutung, weil es bei ihr auf das Funktionieren des Instituts der Vorlegung zur Vorabentscheidung über eine Vorfrage ankommt, das offenbar eine wesentliche Rolle bei der Anwendung des Vertrages zu spielen bestimmt ist. Die fortschreitende Eingliederung dieses Vertrages in das Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten muß in der Tat seine Anwendung — und damit gegebenenfalls Auslegung — in innerstaatlichen privat- und öffentlich-rechtlichen Rechtsstreitigkeiten immer häufiger notwendig machen. Das gilt übrigens nicht nur von den Vorschriften des Vertrages selbst, sondern ebenso von den Vorschriften der zu seiner Ausführung erlassenen Verordnungen, die gleichfalls zu Auslegungsschwierigkeiten, ja sogar zu Meinungsverschiedenheiten über ihre Rechtmäßigkeit Anlaß geben können. Die Bestimmungen von Artikel 177 müssen bei richtiger — ich bin versucht zu sagen loyaler — Anwendung eine echte, fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof der Gemeinschaften unter gegenseitiger Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten gestatten. In diesem Geist wird man auf beiden Seiten die manchmal heiklen Probleme lösen müssen, die jedes Institut der Vorabentscheidung aufwirft, die aber hier durch die unterschiedliche Behandlung der Materie in den Mitgliedstaaten unvermeidlich noch erschwert werden.

    Die vorliegende Rechtssache ist auch noch unter dem zweiten Gesichtspunkt bedeutsam, daß sie die Auslegung der Artikel 85 ff. des Vertrages zum Gegenstand hat. Von dieser Auslegung kann man zumindest sagen, daß sie nicht immer leicht ist. Sie entscheidet aber über das Funktionieren eines jener besonders „neuralgischen“ Teilgebiete des Gemeinsamen Marktes, auf denen es am dringendsten erforderlich ist, die Interessen der Allgemeinheit und die Rechtssicherheit miteinander in Einklang zu bringen. Hier macht jedoch die Verkündung der Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages im Amtsblatt vom 21. Februar 1962, die die Übergangsperiode beendet, die Untersuchung einiger bis dahin sehr umstrittener Fragen überflüssig und erleichtert die Beantwortung der übrigen weitgehend. Man kann gewiß bedauern, daß es dem Gerichtshof nicht vergönnt war, die Rechtsunsicherheit zu beenden, die in dieser Übergangsperiode besonders fühlbar war und, durch die divergierende Haltung der Mitgliedstaaten noch vergrößert, der Anwendung der Antikartellgesetzgebung des Vertrages anfänglich ernsthaft geschadet hat. Dafür wird aber die Aufgabe des Gerichtshofes und der innerstaatlichen Gerichte erleichtert.

    I — Sachverhalt

    Halten wir uns kurz den Sachverhalt vor Augen.

    Die Gesellschaft deutschen Rechts Robert Bosch, Herstellerin von Kühlschränken in Stuttgart, nimmt in alle Kaufverträge mit deutschen Abnehmern eine Klausel auf, wonach „Bosch-Erzeugnisse nur mit Erlaubnis von Bosch ins Ausland ausgeführt werden dürfen“. Diese Klausel dient vornehmlich dem Zweck, das Alleinverkaufsrecht zu schützen, das die Bosch GmbH für den Verkauf ihrer Erzeugnisse im Ausland einräumt. In den Niederlanden hat die Gesellschaft van Rijn dieses Alleinverkaufsrecht für Bosch-Erzeugnisse seit 1903 inne.

    In den Jahren 1959/1960 hat die niederländische Gesellschaft de Geus Bosch-Kühlschränke aus Deutschland eingeführt. Sie hatte die Kühlschränke von deutschen Firmen erworben, die sich Bosch gegenüber verpflichtet hatten, diese Erzeugnisse nicht auszuführen. Mit Rücksicht hierauf haben Bosch und van Rijn vor der Rechtbank von Rotterdam einen Prozeß gegen de Geus angestrengt und beantragt, deren Handlungsweise für rechtswidrig zu erklären. De Geus als Beklagte in diesem Rechtsstreit hat dagegen unter anderem geltend gemacht, die Vereinbarung, auf die sich die Klägerinnen berufen, sei mit dem EWG-Vertrag unvereinbar und auf Grund von Artikel 85 Absatz 2 dieses Vertrages nichtig, weil sie eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecke und bewirke. Das Gericht hat sich auf den Standpunkt gestellt, Artikel 85 könne im gegenwärtigen Stadium der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes nicht die Nichtigkeit von Vereinbarungen bewirken, die seinen Vorschriften möglicherweise widersprechen. Es hat infolgedessen dem Antrag der Klägerinnen stattgegeben.

    Am 8. November 1960 hat die Gesellschaft de Geus gegen dieses Urteil Berufung eingelegt, mit der sie wiederum die Nichtigkeit der strittigen Vereinbarung nach Artikel 85 Absatz 2 des EWG-Vertrages geltend gemacht hat. Da Bosch und van Rijn, die Berufungsbeklagten, diesem Argument entgegengetreten sind, hat der Appellationshof in Den Haag aus der Erwägung, daß hier über eine die Auslegung des EWG-Vertrages betreffende Frage zu befinden sei, durch Urteil vom 30. Juni 1961 entschieden, den Gerichtshof der EWG nach Artikel 177 des Vertrages zu ersuchen,

    „über die Frage zu befinden, ob das Exportverbot, welches die Robert Bosch GmbH in Stuttgart ihren Kunden auferlegt hat und mit dem sich diese vertraglich einverstanden erklärt haben, gemäß Artikel 85 Absatz 2 des EWG-Vertrages nichtig ist, soweit es die Ausfuhr nach den Niederlanden betrifft“.

    Dieses Urteil ist dem Gerichtshof am 10. Juli 1961 durch den Kanzler des Appellationshofes in Den Haag übermittelt worden. Am darauffolgenden 21. September haben jedoch Bosch und van Rijn Kassationsbeschwerde dagegen eingelegt mit der Begründung, der Appellationshof habe die Sache zu Unrecht dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vorgelegt. Vom Eingang dieses bei der Kanzlei des Appellationshofes in Den Haag registrierten Rechtsmittels ist dem Gerichtshof durch eine Mitteilung des Kanzlers jenes Gerichts am 10. Oktober 1961 offiziell Kenntnis gegeben worden.

    Nach Einlegung dieser Kassationsbeschwerde hat der Prozeßbevollmächtigte von Bosch und van Rijn in einem Schriftwechsel mit dem Kanzler des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften die Ansicht vertreten, der Gerichtshof müsse das Ergebnis der Kassationsbeschwerde abwarten, ehe er über die ihm vom Appellationshof in Den Haag vorgelegte Rechtssache entscheide, denn nach Artikel 398 letzter Absatz der niederländischen Zivilprozeßordnung suspendiere die Kassationsbeschwerde die Vollstreckbarkeit des Berufungsurteils.

    Der Prozeßbevollmächtigte der Firma de Geus hat sich dagegen auf den Standpunkt gestellt, die Kassationsbeschwerde sei ohne Einfluß auf die vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Rechtssache, überdies sei nach niederländischem Recht die Entscheidung des Appellationshofes in Den Haag ein vorbereitendes Zwischenurteil im Sinne von Artikel 46 Absatz 2 der Zivilprozeßordnung, worauf Artikel 398 dieses Gesetzes nicht anwendbar sei, da vorbereitende Zwischenurteile vor Erlaß des Endurteils weder mit der Berufung noch mit der Kassationsbeschwerde angefochten werden könnten.

    Durch Schreiben vom 19. Oktober 1961 hat der Kanzler des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften den Parteien mitgeteilt, daß nach Ansicht des Gerichtshofes die Kassationsbeschwerde gegen das Urteil des Appellationshofes in Den Haag vom 30. Juni 1961 das Verfahren vor dem Gerichtshof nicht ohne weiteres unterbreche. Dieses Verfahren ist daher unter den besonderen in Artikel 20 des EWG-Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes und in Artikel 103 der Verfahrensordnung vorgesehenen Bedingungen abgelaufen. Die Parteien des Hauptprozesses haben ihre Stellungnahmen abgegeben, ebenso die EWG-Kommission und die Regierungen von vier Mitgliedstaaten, nämlich der Niederlande, der Deutschen Bundesrepublik, Frankreichs und Belgiens. Die Rechtssache ist mündlich verhandelt worden.

    II — Rechtliche Würdigung

    Ich habe vor, nacheinander die drei folgenden Fragen zu untersuchen: 1. Ist der Gerichtshof ordnungsgemäß angerufen, so daß er jetzt schon entscheiden kann? 2. Ist der Gerichtshof zur Entscheidung über die gestellte Frage oder die gestellten Fragen zuständig und gegebenenfalls in welchem Umfang? 3. Welche Antworten sind bejahendenfalls zu geben?

    A — IST DER GERICHTSHOF ORDNUNGSGEMÄSS ANGERUFEN, SO DASS ER JETZT SCHON ENTSCHEIDEN KANN?

    Es kann nicht bestritten werden und ist auch nicht bestritten, daß der Appellationshof in Den Haag den Gerichtshof ordnungsgemäß angerufen hat. Die Frage ist aber, ob die inzwischen von einer der Parteien gegen das Vorlegungsurteil eingelegte Kassationsbeschwerde unseren Gerichtshof an der Entscheidung hindern kann, solange der Kassationshof der Niederlande, der Hoge Raad, noch nicht entschieden hat. Es versteht sich von selbst, daß die Frage trotz der Entscheidung unseres Gerichtshofes, das Verfahren abrollen zu lassen, entscheidungsbedürftig bleibt; dieser Entscheidung kommt gewissermaßen nur prozeßleitende Bedeutung zu. Nur durch Urteil hätte der Gerichtshof entgegengesetzt entscheiden können, denn die Entscheidung hätte einen strittigen Punkt betroffen. Indem er dem Verfahren seinen Lauf gelassen hat, hat der Gerichtshof dagegen auch diese Frage offengelassen.

    a)

    Man könnte zunächst daran denken, daß die Frage durch Artikel 20 des EWG-Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes entschieden sei, der folgende Vorschrift enthält:

    „In den in Artikel 177 dieses Vertrages geregelten Fällen obliegt es dem Gericht des Mitgliedstaates, das ein Verfahren aussetzt und den Gerichtshof anruft, diese Entscheidung dem Gerichtshof zu übermitteln.“

    Es ist die Auffassung vertreten worden, daß nach dieser Vorschrift kraft Gesetzes das gesamte Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten einschließlich der normalen Rechtsmittelverfahren (Berufung, Kassation usw.) ipso iure allein durch die Wirkung der Vorlegung beim Gerichtshof ausgesetzt sei.

    Ich teile diese Ansicht nicht. Der Vertragstext spricht von

    „dem Gericht des Mitgliedstaates, das ein Verfahren aussetzt und den Gerichtshof anruft…“;

    damit kann meines Erachtens nur die Aussetzung des Verfahrens vor diesem innerstaatlichen Gericht gemeint sein, wobei die Worte „das ein Verfahren aussetzt“ gleichbedeutend sind mit „das eine Entscheidung aussetzt“. Es kann nicht Sache irgendeines Gerichtes sein, über die, selbst vorläufige, Schließung der gesetzlichen Rechtsmittelwege zu entscheiden. Nun werden wir gleich sehen, daß in den Rechtsordnungen der Länder der Gemeinschaft, denen die Vorlegung zur Vorabentscheidung bekannt ist, entweder regelmäßig oder doch jedenfalls häufig die normalen Rechtsmittel gegen Urteile oder Beschlüsse gegeben sind, durch die eine Entscheidung ausgesetzt wird. Man kann vernünftigerweise den Verfassern des Vertrages nicht die Absicht unterstellen, eine so wichtige, das interne Funktionieren der innerstaatlichen Justiz betreffende Regel einzuschränken, ohne dies klar zu sagen. Die von mir bekämpfte These würde auf der stillschweigenden Anerkennung einer vorgegebenen Rechtsnorm beruhen: Man müßte den Wortlaut von Artikel 20 („dem Gericht des Mitgliedstaates, das ein Verfahren aussetzt“) wie folgt interpretieren: „dem Gericht des Mitgliedstaates, durch dessen Entscheidung das gesamte Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten ausgesetzt wird“. Das ist aber etwas wesentlich anderes.

    Übrigens ist es, zumindest im gegenwärtigen Verfahrensstadium, nicht Sache des Gerichtshofes, über die Frage zu entscheiden, denn das wäre eine offensichtlich dem Hoge Raad allein vorbehaltene Entscheidung über die Zulässigkeit der in den Niederlanden eingelegten Kassationsbeschwerde. Vielleicht könnte oder müßte der Hoge Raad uns anrufen und uns die Frage vorlegen, wie Artikel 20 in diesem Punkt auszulegen ist. Im Augenblick sind wir aber nur vom Appellationshof in Den Haag angerufen, der uns diese Frage keineswegs stellt.

    b)

    Man muß daher das Problem unter einem weiteren Blickwinkel betrachten und, was Sie in solchen Fällen immer tun, die Lösung aus den allgemeinen Grundsätzen zu gewinnen suchen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen sind. Ich möchte hierzu einige Hinweise auf das französische und das deutsche Recht geben, denen beiden das System der Vorabentscheidung wohlbekannt ist.

    In Frankreich wird die Materie von dem Grundsatz der gegenseitigen Beachtung der Zuständigkeiten durch die beiden Gerichte verschiedener Ordnung beherrscht. Im Hauptprozeß kann das Aussetzungsurteil mit den gewöhnlichen Rechtsmitteln (Berufung oder Kassationsbeschwerde) angefochten werden, es ist nur das Verfahren vor dem Gericht ausgesetzt, das die Aussetzung angeordnet hat.

    Die wesentliche Norm für das Verfahren vor dem Richter der Vorfrage ist, daß er über seine eigene Zuständigkeit, und nur über sie, zu entscheiden hat. So darf er nicht prüfen, ob die Vorlegung im konkreten Fall zu Recht erfolgt ist, ob sie für die Entscheidung der Hauptsache notwendig ist usw.: täte er das, so würde er sich Entscheidungen anmaßen, für die der vorlegende Richter zuständig ist.

    Er darf dagegen den Stand des Hauptprozesses nicht unbeachtet lassen, denn er bedarf einer ordnungsgemäßen „Rechtsgrundlage“, um entscheiden zu können. Daher muß der Richter der Vorfrage von der Entscheidung absehen, wenn der Richter der Hauptsache etwa die Geduld verloren und eine Sachentscheidung erlassen hat, ohne die Vorabentscheidung abzuwarten ( 1 ) Ebenso verhält es sich, wenn das Vorlegungsurteil inzwischen vom Kassationshof aufgehoben ist ( 2 ) .

    Umgekehrt muß er aber unverzüglich über die Vorfrage entscheiden, wenn die Frist für die Berufung gegen das erstinstanzliche, die Vorlegung anordnende Urteil verstrichen ist, selbst wenn gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde eingelegt ist, da dieses Rechtsmittel „die Wirkungen des Urteils nicht aussetzt“ ( 3 ) Alle diese Entscheidungen sind das Ergebnis des Bemühens, die Einheit des Verfahrens sicherzustellen, um Verwirrung zu vermeiden, dabei aber die Zuständigkeitsverteilung zu beachten.

    In Deutschland scheinen in den gewöhnlichen Aussetzungsfällen dieselben Regeln angewandt zu werden. Vor allem besteht der Grundsatz, daß die Aussetzungsbeschlüsse den normalen Rechtsmitteln unterliegen (§ 252 ZPO). Eine wichtige Ausnahme stellt aber die Aussetzung auf Grund von Artikel 100 des Grundgesetzes dar, wonach jedes Gericht gehalten ist, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, wenn es ein Gesetz, auf Grund dessen der Rechtsstreit entschieden werden muß, für verfassungswidrig hält, oder wenn zu entscheiden ist, ob eine Völkerrechtsregel Bestandteil des deutschen Rechts und für die einzelnen unmittelbar verbindlich ist. Nach der in der Literatur herrschenden und, wie es scheint, in der Rechtsprechung der Beschwerdegerichte unbestrittenen Meinung ist in diesem Fall der Aussetzungsbeschluß nicht beschwerdefähig. Diese These wird vornehmlich mit der ausschließlichen Zuständigkeit des Verfassungsgerichts begründet.

    Zwischen diesem Fall und dem des Artikels 177 besteht offensichtlich eine gewisse Analogie, sowohl was die für beide Verfahren charakteristische Betonung des „ordre public“ betrifft wie hinsichtlich des verfassungsrechtlichen Aspekts, den in gewissem Maße auch das Verfahren nach Artikel 177 zeigt. Es ist sehr wohl möglich, daß die deutschen Gerichte auf Grund dieser Analogie gegebenenfalls entscheiden werden, daß durch die Vorlegung beim Gerichtshof nicht nur das Verfahren vor dem die Vorlegung anordnenden Gericht ausgesetzt, sondern gleichzeitig der Rechtsmittelweg verschlossen wird. Das ist aber allein ihre Sache. Stellen wir schließlich noch fest, daß in Italien der Gesetzgeber eingeschritten ist. Es handelt sich um Artikel 3 des Gesetzes Nr. 204 vom 13. März 1958, wodurch die Protokolle über die Vorrechte und Befreiungen und über die Satzung des Gerichtshofes ratifiziert wurden. Er lautet:

    „Zur Anwendung von Artikel 150 des Euratom-Vertrages, 21 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes der Euratom, 177 des EWG-Vertrages und 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes erlassen die Organe der ordentlichen und besonderen Gerichtsbarkeit einen Beschluß, worin sie das die Vorfrage enthaltende Ersuchen formulieren und begründen, die unmittelbare Übersendung der Akten an den Gerichtshof anordnen und den Rechtsstreit aussetzen ( 4 ) . Der Kanzler sorgt dafür, daß eine Abschrift dieses Beschlusses auf ungestempeltem Papier zusammen mit den Akten durch eingeschriebenen Brief mit Rückschein an den Kanzler des Gerichtshofes gesandt wird.“

    Erlaubt die Wahl des Ausdrucks „.. den Rechtsstreit (le litige) aussetzen“ statt „. . das Verfahren (la procédure)“ die Annahme, daß der italienische Gesetzgeber die die Vorlegung anordnende Entscheidung der Anfechtung mit Rechtsmitteln habe entziehen wollen? Auch dies zu entscheiden sind die innerstaatlichen Gerichte allein berufen. Übrigens ist diese Annahme vielleicht doch nicht zwingend, wenn man sich vor Augen hält, daß die Vorlegung durch einen nach italienischem Recht ohnedies unanfechtbaren Beschluß angeordnet wird.

    Meine Herren, dieser Überblick zeigt mit hinreichender Deutlichkeit, daß in den sechs Ländern der Gemeinschaft kein unbestreitbarer Rechtssatz gilt, wonach Entscheidungen, die ein Verfahren zur Vorabentscheidung über eine Vorfrage aussetzen, der Anfechtung mit Rechtsmitteln entzogen wären, was den Gerichtshof der Notwendigkeit entheben würde, den Stand der innerstaatlichen Verfahren zu beobachten. Vor allem in den Niederlanden scheint ein solcher Rechtssatz nicht zu bestehen. Auch der Vertrag enthält keine solche Vorschrift. Artikel 20 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes kann meines Erachtens nicht in diesem Sinne ausgelegt werden.

    Es scheint mir deshalb notwendig zu prüfen, ob für Ihre Entscheidung zu der Zeit, zu der sie ergeht, noch eine ordnungsgemäße Grundlage vorhanden ist.

    Hierbei lasse ich das Argument beiseite, das Urteil des Gerichtshofes in Den Haag sei nur ein vorbereitendes (jugement préparatoire), jedoch kein echtes Zwischenurteil (jugement interlocutoire) und könne daher nach den Artikeln 336 und 399 der niederländischen Zivilprozeßordnung nicht mit der Kassationsbeschwerde angefochten werden. Diese Frage betrifft die Zulässigkeit des beim niederländischen Kassationshof eingelegten Rechtsmittels. Zu ihrer Entscheidung ist jenes hohe Gericht allein zuständig. Was uns betrifft, so können wir nur die Existenz des Rechtsmittels zur Kenntnis nehmen und prüfen, ob dieses kraft Gesetzes das Urteil des Appellationshofes seiner Wirksamkeit beraubt, soweit darin die Anrufung unseres Gerichtshofes angeordnet ist.

    Die Schwierigkeit kommt daher, daß nach Artikel 398 der Zivilprozeßordnung

    „die Kassationsbeschwerde außer in den Fällen, in denen der Richter die vorläufige Vollstreckbarkeit angeordnet hat, aufschiebende Wirkung hat“.

    Ich glaube aber nicht, daß die Anrufung des Gerichtshofes zur Vorabentscheidung über eine Vorfrage auf Grund von Artikel 177 des Vertrages als „Vollstreckungsmaßnahme“ im verfahrensrechtlichen Sinne dieses Wortes, d. h. in bezug auf die Parteien, betrachtet werden kann. Hier ist keine Mitwirkung der Parteien erforderlich, alles bleibt unverändert; übrigens könnte auch von vorläufiger Vollstreckbarkeit keine Rede sein. Wir haben ein Verfahren vor uns, worin der „ordre public“ vorherrscht, das ohne aktive Teilnahme der Parteien abläuft und keine Auswirkungen auf ihr Vermögen und ihre Rechtsbeziehungen hat. Überdies dürften Sie, selbst wenn Sie noch Zweifel hätten, nicht über eine Streitfrage des internen Rechts entscheiden. Sie dürfen dieses Recht nur anwenden, wenn die Anwendbarkeit offensichtlich und unbestreitbar ist.

    Somit ist der Gerichtshof ordnungsgemäß angerufen und muß entscheiden, wenn er seine Zuständigkeit für die ihm vorgelegte Frage für gegeben erachtet. Nur wenn das Urteil des Gerichtshofes in Den Haag aufgehoben und infolgedessen rückwirkend außer Kraft gesetzt werden sollte, müßten Sie von einer Entscheidung absehen, weil dann die dafür notwendige „Rechtsgrundlage“, nämlich das Vorlegungsurteil, nicht mehr bestehen würde.

    Ohne Zweifel besteht die Gefahr, daß dies geschehen kann, nachdem Sie Ihr Urteil gefällt haben, das dann jeder Bedeutung für die Entscheidung des Hauptprozesses beraubt wäre. Diese Gefahr muß meines Erachtens aber in Kauf genommen werden; dies gilt zumindest in einer Rechtssache wie der vorliegenden, bei der zweifellos die Interessen der Parteien, deren Rechte übrigens ebenso wie die Vorrechte der nationalen Gerichte im innerstaatlichen Verfahren hinreichend geschützt sind, hinter der grundsätzlichen Bedeutung der Auslegung, die man von Ihnen erwartet, bei weitem zurücktreten müssen.

    B — IST DER GERICHTSHOF ZUR ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE GESTELLTE FRAGE ODER DIE GESTELLTEN FRAGEN ZUSTÄNDIG? GEGEBENENFALLS IN WELCHEM UMFANG?

    Rufen wir uns den Wortlaut der vom Appellationshof in Den Haag im Tenor seines Urteils gestellten Frage ins Gedächtnis zurück:

    „Der Gerichtshof der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird ersucht, über die Frage zu befinden, ob das Exportverbot, welches die Robert Bosch GmbH in Stuttgart ihren Abnehmern auferlegt hat und mit dem sich diese vertraglich einverstanden erklärt haben, gemäß Artikel 85 Absatz 2 des EWG-Vertrages nichtig ist, soweit es die Ausfuhr nach den Niederlanden betrifft.“

    Meine Herren, nähme man dieses Ersuchen im buchstäblichen Sinne, so müßte der Gerichtshof sich ohne Zweifel für unzuständig erklären, darüber zu entscheiden.

    Artikel 85 Absatz 2 schreibt bekanntlich vor, daß

    „die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig sind“.

    Die Frage läßt sich daher auch dahingehend stellen, ob die strittigen Vereinbarungen unter das im Absatz 1 enthaltene Verbot fallen. Nirgends ist aber eine Zuständigkeit des Gerichtshofes zur Entscheidung hierüber begründet.

    Während der Übergangszeit, d. h. bis zur Verkündung der Durchführungsverordnung, hätte der Gerichtshof nur gegen eine begründete Entscheidung der Kommission nach Artikel 89 Absatz 2 des Vertrages angerufen werden können, durch die eine Zuwiderhandlung gegen die „in den Artikeln 85 und 86 niedergelegten Grundsätze“ nach einer auf Antrag eines Mitgliedstaates oder von Amts wegen angestellten Untersuchung festgestellt worden wäre. Das war die einzige Zuständigkeit, die der Exekutive der Gemeinschaft und infolgedessen auch dem Gerichtshof, der nach Artikel 173 berufen ist, die Entscheidungen der Kommission auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, zugestanden war.

    Es war Sache der nach Artikel 87 erlassenen Verordnung,

    „die Aufgaben der Kommission und des Gerichtshofes bei der Anwendung der in diesem Absatz vorgesehenen Vorschriften gegeneinander abzugrenzen“ (Buchstabe d),

    ferner

    „das Verhältnis zwischen den innerstaatlichen Rechtsvorschriften einerseits und den in diesem Abschnitt enthaltenen oder auf Grund dieses Artikels getroffenen Bestimmungen andererseits festzulegen“ (Buchstabe e).

    Nun wird dem Gerichtshof durch die Verordnung außer der normalen Überwachung der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Kommission keine besondere Zuständigkeit übertragen. Die Befugnisse der Kommission bei der Anwendung von Artikel 85 bestehen zur Zeit: 1. in der Ausstellung von „Negativattesten“. Hiernach kann die Kommission

    „auf Antrag der beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen feststellen, daß nach den ihr bekannten Tatsachen für sie kein Anlaß besteht, gegen eine Vereinbarung, einen Beschluß oder eine Verhaltensweise auf Grund von Artikel 85 Absatz 1 oder von Artikel 86 des Vertrages einzuschreiten“;

    2.

    in der Befugnis, auf Antrag oder von Amts wegen die Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften der Artikel 85 oder 86 festzustellen; 3. in der Ausübung einer ausschließlichen Zuständigkeit für die „Unanwendbarkeitserklärungen“, d. h. für die Ausnahmen vom Verbot, nach Artikel 85 Absatz 3.

    Wir werden sogleich sehen, ob und in welchem Umfang die innerstaatlichen Gerichte nach der Verkündung der Verordnung zur Entscheidung über die Verbote von Artikel 85 Absatz 1 und über die Folgen der durch diese Verbote nach Absatz 2 bewirkten Nichtigkeit zuständig geblieben sind. Sicher ist jedenfalls, daß der Gerichtshof keine Zuständigkeit auf diesem Gebiet hat, außer wenn er mit einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission befaßt wird.

    Hierauf hat die französische Regierung in ihrer Stellungnahme zum vorliegenden Rechtsstreit aufmerksam gemacht. Sie hat aus diesem Grunde den Gerichtshof zur Entscheidung über die ihm vorgelegte Frage für unzuständig erachtet.

    Aber, meine Herren, wenn der Gerichtshof auch gewiß unzuständig ist, über das Ersuchen, wie es dem Tenor des Vorlegungsurteils bei wortlautgetreuer Auslegung zu entnehmen ist, d. h. über den konkreten Fall zu entscheiden, — so hat er doch nach Artikel 177 die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Auslegung des Vertrages. Deshalb stellt sich für Sie die Frage, ob Sie sich nicht zuerst um die Auslegung des Vorlegungsurteils bemühen und versuchen müssen, aus ihm herauszuziehen, was unter Ihre Zuständigkeit fällt, d. h. die abstrakten Schwierigkeiten der Vertragsauslegung betrifft, die der Rechtsstreift aufwirft und die dem Ersuchen zugrunde liegen. Ich denke, daß ein solcher Versuch gemacht werden kann und muß, wenn man sich an die Gründe des Urteils erinnert, die die abstrakten Auslegungsfragen genügend deutlich hervortreten lassen, über die der Gerichtshof in Den Haag aufgeklärt zu werden wünscht.

    Welches sind diese Gründe? Ich glaube sie in extenso wiedergeben zu müssen:

    „Die zweite Rüge lautet wie folgt: Zu Unrecht habe die Rechtbank entschieden, daß die Artikel 85 bis 90 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) auf die in Frage stehenden Exportverbote nicht anwendbar seien. Eine Feststellung dieses Wortlauts ist im Urteil der Rechtbank nicht anzutreffen, doch läßt sich aus den Ausführungen der Berufungsklägerin entnehmen, daß sich ihre Rüge gegen die Feststellung der Rechtbank richtet, im gegenwärtigen Zeitpunkt sei eine Nichtigkeit der in Frage stehenden Vereinbarung gemäß Artikel 85 Absatz 2 des EWG-Vertrages nicht gegeben, eine Feststellung, welche die Rechtbank auf die Erwägung stützt, der Gemeinsame Markt sei mit dem Inkrafttreten des EWG-Vertrages nicht eo ipso verwirklicht worden, sei vielmehr durch die Bestimmungen dieses Vertrages als noch in ‚statu nascendi‘ befindlich gekenzeichnet. Hiergegen hat die Berufsklägerin eingewandt, nach dem System des EWG-Vertrages seien die unter Artikel 85 Absatz 1 fallenden Vereinbarungen ohne weiteres nichtig; zwar seien auf Grund von Artikel 88 vorläufig die nationalen Behörden befugt, über die Zulässigkeit von Wettbewerbsregelungen zu entscheiden, doch seien nach dem hier anwendbaren deutschen Recht die in Frage stehenden Vereinbarungen nichtig, solange keine Erlaubnis gemäß dem genannten Artikel 88 erteilt worden sei. Demgegenüber haben die Berufungsbeklagten in erster Linie ausgeführt, die Artikel 85 bis 90 des EWG-Vertrages seien für die Angehörigen der Signatarstaaten nicht unmittelbar bindend. Weiter haben sie erklärt, auch wenn man annehmen wollte, diese Vorschriften besäßen unmittelbare Verbindlichkeit, so wären die in Rede stehenden Regelungen mit dem in ihnen enthaltenen Exportverbot dessenungeachtet auf Grund der im Urteil der Rechtbank enthaltenen, vorstehend widergegebenen Erwägungen rechtsgültig.

    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß eine Frage betreffend die Auslegung des EWG-Vertrages aufgeworfen worden ist, über die eine Entscheidung erforderlich ist. Der Gerichtshof ersucht daher vor einer näheren Auseinandersetzung mit den geltend gemachten Rügen den Gerichtshof der EWG nach Artikel 177 des vorgenannten Vertrages, über diese Frage zu befinden.“

    Diesen Entscheidungsgründen kann man wohl zwei die Auslegung des Vertrages betreffende Fragen entnehmen. Die erste ist eine Frage des zeitlichen Geltungsbereichs: Sind die Vorschriften der Artikel 85 ff. zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt unmittelbar auf die Angehörigen der Mitgliedstaaten anwendbar? Die zweite betrifft die Wirksamkeit der in Artikel 85 Absatz 2 angeordneten Nichtigkeit: Ist diese Nichtigkeit bereits wirksam, bevor eine Erlaubnis nach Artikel 85 Absatz 3 erteilt ist — oder dem Vertragstext besser angepaßt: bevor das sich aus Artikel 85 Absatz 1 ergebende Verbot unter den Voraussetzungen des Absatzes 3 „für unanwendbar erklärt“ ist?

    Die Antwort auf diese beiden Fragen muß gegeben werden, und zwar unter Berücksichtigung der jetzt geltenden Vorschriften der Durchführungsverordnung, bei denen es sich ja um Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften handelt, die sofort und sogar in den bereits anhängigen und noch nicht abgeschlossenen Prozessen anzuwenden sind.

    Dagegen ist es weit zweifelhafter, ob Sie eine dritte Frage beantworten müssen, die im Laufe des Verfahrens aufgeworfen worden ist: die Frage nämlich, ob Exportverbote unter das Verbot von Artikel 85 Absatz 1 fallen und vor allem, ob sie „den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind“.

    Das ist aus zwei Gründen zweifelhafter: zunächst, weil die Frage im Tenor des Vorlegungsurteils, wie wir gesehen haben, nur für den ganz konkreten Fall gestellt ist und, im Gegensatz zu den anderen Fragen, in den Gründen nicht erscheint; — außerdem deswegen, weil man sich fragen kann, ob es überhaupt möglich ist, auf diese Frage eine rein abstrakte Antwort in der Form der Vertragsauslegung zu geben. Ich will indessen einen Versuch hierzu machen, denn das ist der einzige Weg, sich Rechenschaft darüber zu geben, ob die Unterscheidung zwischen abstrakter Auslegung und konkreter Anwendung des Vertrages in diesem Punkt möglich ist oder nicht.

    Schließlich gibt es noch eine letzte Frage, bei der zweifelhaft ist, ob sie durch das Vorlegungsur teil gestellt ist: die nach der Anwendbarkeit des deutschen Rechts. Zur Entscheidung hierüber ist der Gerichtshof, wie mir scheint, sicherlich unzuständig, mag es sich nun darum handeln, ob das deutsche Recht überhaupt auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist, das heißt um ein Problem der Normenkollision, oder darum, in welcher Weise es anzuwenden] ist. Die Auslegung des Vertrages steht hier wohl nicht in Frage.

    C — WELCHE ANTWORTEN SIND ZU GEBEN?

    1. Sind die Vorschriften der Artikel 85 ff. zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt unmittelbar auf die Angehörigen der Mitgliedstaaten anwendbar?

    Gegen die Theorie der unmittelbaren Anwendbarkeit sind bekanntlich zwei Einwendungen erhoben worden. Die erste besteht in der These, die Antikartellvorschriften des Vertrages könnten erst angewandt werden, wenn der Gemeinsame Markt verwirklicht sei, was noch nicht der Fall ist, da die vorgesehenen Stufen trotz gewisser „Beschleunigungen“ noch längst nicht vollständig durchlaufen sind. Diese These muß erwähnt werden, weil sie von der Rechtbank in Rotterdam im vorliegenden Rechtsstreit vertreten worden ist.

    Sie kann meiner Meinung nach nicht als richtig anerkannt werden. Die Anwendung der Vorschriften der Artikel 85 ff. ist eine der unerläßlichen Voraussetzungen — und zwar eine der wichtigsten — für die schrittweise Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und stellt nicht nur eine Erscheinungsform seines Funktionierens dar. Darüber hinaus sind die Vertragsvorschriften in diesem Punkt eindeutig. Das einzige Problem betrifft — oder genauer betraf — die Übergangszeit, d. h. den Zeitraum vom Inkrafttreten des Vertrages bis zur Verkündung der Ersten Durchführungsverordnung. Es handelte sich um ein auch im innerstaatlichen Recht wohlbekanntes, rein juristischtechnisches Problem, ob nämlich ein Gesetz (im vorliegenden Fall der Vertrag) schon anwendbar ist, bevor die zu seiner Ausführung vorgesehenen Verordnungen ergangen sind. Dieses Problem ist jetzt überholt. Die Gesetzgebung der Gemeinschaft ist seit der Verkündung der Verordnung in vollem Umfang anwendbar, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Übergangsbestimmungen der Verordnung. Somit ist der erste Einwand unbegründet und der zweite jetzt gegenstandslos.

    Was die Niederlande betrifft, so ist ein diesem Land eigentümliches Hindernis ebenfalls verschwunden. Es handelt sich um das Gesetz vom 5. Dezember 1957, das die Anwendung der Artikel 85 und 86 vom vorherigen Einschreiten der zuständigen Behörden nach den innerstaatlichen Gesetzen abhängig macht. Artikel 2 dieses Gesetzes sieht vor, daß

    „es mit dem Inkrafttreten der nach Artikel 87 zu erlassenen Vorschriften außer Kraft tritt“.

    Das ist geschehen.

    2. Ist die in Artikel 85 Absatz 2 angeordnete „Nichtigkeit“ der nach Absatz 1 verbotenen Kartelle schon wirksam, bevor die in Absatz 3 vorgesehene „Ausnahme vom Verbot“ erfolgt ist?

    Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der Vertrag dem Gerichtshof in dieser Materie keine besondere Zuständigkeit einräumt, so daß er nur seine gewöhnliche Befugnis zur Überwachung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Exekutive hat. Demnach sind, soweit die Vorschriften von Artikel 85 Absatz 1 anwendbar sind, die innerstaatlichen Gerichte zuständig, über die Gültigkeit der Kartelle im Hinblick auf diesen ersten Absatz zu entscheiden und die Schlußfolgerungen aus der Nichtigkeit zu ziehen, die sich an die verbotenen Vereinbarungen knüpfen. Der erste Artikel der Verordnung stellt übrigens noch einmal fest, daß das Verbot von Artikel 85 Absatz 1 gilt,

    „ohne daß dies einer vorherigen Entscheidung bedarf“.

    Da der Vertrag durch die Ratifikation der innerstaatlichen Gesetzgebung einverleibt ist, müssen ihn die nationalen Gerichte anwenden, soweit nicht Vorschriften entgegenstehen, die den Behörden der Gemeinschaft Zuständigkeiten übertragen. Solche Vorschriften enthält der Vertrag nicht, wir finden sie aber in der Verordnung.

    Die erste ist in Artikel 9 Absatz 1 enthalten und betrifft die in Artikel 85 Absatz 3 vorgesehene Ausnahme vom Verbot:

    „Vorbehaltlich der Nachprüfung der Entscheidung durch den Gerichtshof ist die Kommission ausschließlich zuständig, Artikel 85 Absatz 1 nach Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages für nicht anwendbar zu erklären.“

    In diesem Punkt ist die Rechtslage klar: Die Begründung der ausschließlichen Zuständigkeit der Kommission zieht notwendigerweise die Unzuständigkeit der innerstaatlichen Gerichte nach sich. Diese Zuständigkeitsregelung liegt übrigens sicherlich innerhalb der Grenzen der in Artikel 87 enthaltenen, sehr weitgehenden Ermächtigung zum Erlaß der Verordnung.

    Dagegen schafft die Verordnung keine ausschließliche Zuständigkeit für die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1. Hieraus ergeben sich zwei Gruppen von Schwierigkeiten. Die eine rührt vom Bestehen konkurrierender Zuständigkeiten auf diesem Gebiet her, die andere von dem offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Anwendung von Absatz 1 und Absatz 3 des Artikels 85, ganz abgesehen von Artikel 86 über die beherrschenden Stellungen.

    a)

    Die sich aus dem Bestehen konkurrierender Zuständigkeiten ergebenden Schwierigkeiten

    Wie bereits erwähnt, verleiht die Verordnung der „Kommission drei Zuständigkeiten: die zur Ausstellung von „Negativattesten“ im Hinblick auf Artikel 85 Absatz 1 oder Artikel 86, die zur Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 oder Artikel 86 und die zur Entscheidung über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3.

    Ich lasse diese letztere, die den soeben besprochenen Fall der ausschließlichen Zuständigkeit betrifft, beiseite.

    Was die Negativatteste angeht, so legt die Fassung der Vorschrift („Die Kommission kann … feststellen, daß nach den ihr bekannten Tatsachen für sie kein Anlaß besteht, gegen eine Vereinbarung, einen Beschluß oder eine Verhaltensweise auf Grund von Artikel 85 Absatz 1 oder von Artikel 86 des Vertrages einzuschreiten.“) die Auslegung nahe, daß die Erteilung eines Negativattestes die Zuständigkeit der nationalen Gerichte zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer Vereinbarung mit Artikel 85 Absatz 2 (oder über das Vorliegen einer beherrschenden Stellung im Fall des Artikels 86) nicht berührt.

    Bei der Befugnis zur Feststellung von Zuwiderhandlungen handelt es sich wirklich um eine konkurrierende Zuständigkeit, die die Gefahr entgegengesetzter Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte und der Kommission (oder unter Umständen des Gerichtshofes, der mit einer Klage gegen eine Entscheidung der Kommission befaßt ist) heraufbeschwört.

    Die Verordnung hat diese Konsequenz allerdings durch die folgende Vorschrift von Artikel 9 Absatz 3 zu vermeiden gesucht:

    „Solange die Kommission kein Verfahren nach Artikel 2, 3 oder 6 eingeleitet hat, bleiben die Behörden der Mitgliedstaaten zuständig, Artikel 85 Absatz 1 und Artikel 86 nach Artikel 88 des Vertrages anzuwenden, auch wenn die für die Anmeldung nach Artikel 5 Absatz 1 und Artikel 7 Absatz 2 vorgesehenen Fristen noch nicht abgelaufen sind.“

    Kann man aus diesem Text e contrario schließen, daß „die Behörden der Mitgliedstaaten“einschließlich der Gerichte dieser Staaten nicht mehr zuständig sind, sobald die Kommission „ein Verfahren nach Artikel 2, 3 oder 6 eingeleitet hat“? Das gilt sicherlich für Artikel 6, der den Fall der ausschließlichen Zuständigkeit zur Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 betrifft. Für die „Negativatteste“ nach Artikel 2 trifft es meines Erachtens dagegen nicht zu. Sehr zu wünschen, aber doch recht zweifelhaft, ist es für die Feststellung von Zuwiderhandlungen nach Artikel 3. Auf alle Fälle wird man das mit der Frage der Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 oder Artikel 86 befaßte innerstaatliche Gericht für berechtigt halten müssen, das Verfahren auszusetzen, wenn es erfährt, daß die Kommission, vielleicht erst durch den Prozeß aufmerksam gemacht, beschlossen hat, ihrerseits eines der in Artikel 9 Absatz 3 der Verordnung erwähnten Verfahren einzuleiten. Die Erteilung oder Verweigerung des Negativattestes wird eine für die Entscheidung des Gerichts bedeutsame Tatsache sein. Es wird ferner der Entscheidung über eine Zuwiderhandlung, vor allem wenn sie Gegenstand eines Urteils des Gerichtshofes gewesen ist, zu folgen verpflichtet sein, und zwar rechtlich, wenn man solchen Entscheidungen materielle Rechtskraft zuerkennt, zumindest aber moralisch. Ich glaube übrigens nicht, daß diese Frage im vorliegenden Rechtsstreit entschieden werden muß.

    b)

    Die vom Zusammenhang zwischen Absatz 1 und 3 des Artikels 85 herrührenden Schwierigkeiten

    Wir stoßen hier auf den wesentlichen Mangel der durch Artikel 85 ff. des Vertrages getroffenen Regelung, nämlich die fehlende Anpassung des Kontrollsystems an die materiellrechtlichen Vorschriften.

    Diese materiellrechtlichen Vorschriften beruhen auf einem offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Vorschriften von Artikel 85 Absatz 1, welche die verbotenen Vereinbarungen abgrenzen, und den Vorschriften von Artikel 85 Absatz 3, welche die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Verbot festlegen. Es genügt, die Vorschriften von Absatz 3 Buchstaben a und b zu lesen, um sich hiervon zu überzeugen. Logischerweise müßten dieselben Behörden oder Gerichte in einem und demselben Verfahren für die Entscheidung sowohl über die Vereinbarkeit einer gegebenen Vereinbarung mit den Vorschriften des ersten Absatzes wie über die „Unanwendbarkeitserklärung“ des Verbots auf Grund von Absatz 3 zuständig sein.

    Übrigens läßt auch der Wortlaut von Artikel 88, der für die Dauer der Übergangszeit die innerstaatlichen Gesetze neben den Vertragsbestimmungen der Artikel 85 und 86 für anwendbar erklärt, diesen Zusammenhang deutlich erkennen und beweist zugleich, daß die Verfasser des Vertrages sich seiner bewußt waren, da die Vorschrift die Notwendigkeit hervorhebt, bei dieser konkurrierenden Anwendung vor allem Absatz 3 des Artikels 85 zu beachten. Es hätte auch den elementarsten Erfordernissen der Billigkeit widersprochen, die Anwendung des Verbots von Absatz 1 mit der daran geknüpften Sanktion der Nichtigkeit und allen Folgerungen, die die innerstaatlichen Gerichte daraus hätten ziehen können und sogar müssen, zuzulassen, ohne den Unternehmen die Möglichkeit zu geben, sich gegebenenfalls auf die Vorschriften von Absatz 3 zu berufen.

    Aus diesem Grunde war die sogenannte „Legalausnahmetheorie“, auf der das französische System aufgebaut ist, den gangszeit sehr gut angepaßt. Diese Theorie führt in der Tat dazu, daß durch dieselbe Behörde und gegebenenfalls durch dasselbe Gericht gleichzeitig die Anwendbarkeit des Verbots und die etwaige Ausnahme davon geprüft werden müssen. Unter diesen Umständen ergeben sich aus der Beachtung der Nichtigkeitswirkung keine Schwierigkeiten.

    Deshalb war diese Theorie meines Erachtens auch die einzige, welche die unmittelbare Anwendung von Artikel 85 in den Ländern ohne Antikartellgesetzgebung rechtfertigen konnte. Die ordentlichen Gerichte waren nach ihr ohne weiteres sowohl für die Anwendung von Absatz 3 wie von Absatz 1 zuständig.

    Nach der entgegengesetzten, vor allem in Deutschland und ständig von der Kommission vertretenen Theorie, die für die Anwendung von Absatz 3 eine Entscheidung mit konstitutiver Wirkung verlangt, war offensichtlich die unmittelbare Anwendung von Artikel 85 unmöglich, solange nicht eine geeignete nationale Behörde ermächtigt war, die nach dieser Theorie zur Anwendung von Absatz 3 erforderlichen Entscheidungen zu treffen. Das räumt übrigens die deutsche Regierung in Absatz IV ihres Schriftsatzes ausdrücklich ein:

    „Die Anwendung des Artikels 85 Absatz 3 des EWG-Vertrages obliegt gemäß Artikel 88 des EWG-Vertrages vorerst den Behörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Dabei bestimmt das jeweilige nationale Recht, welche Behörden der Mitgliedstaaten hierzu befugt sind.“

    Es war daher Sache der Staaten ohne einschlägige Gesetzgebung, die notwendigen Vorschriften zu erlassen. Da dies aber nicht geschehen ist, konnte — immer nach dieser Theorie — in diesen Staaten die Anwendung von Artikel 85 während der Ubergangszeit nicht mehr in Frage kommen, denn die Anwendung von Absatz 1 war, wie gesagt, ohne die Möglichkeit der Anwendung von Absatz 3 nicht denkbar. Es ist sogar die Ansicht vertreten worden, daß die in einigen Mitgliedstaaten mangels einer geeigneten gesetzlichen Regelung bestehende Unmöglichkeit der Vertragsanwendung diese in der ganzen Gemeinschaft ausschließe. Das ging aber meines Erachtens zu weit. Es entsprach dem Geist des Vertrages, daß dieser zusamBedürfnissen der Vertragsanwendung selbst schon in der Übernien mit der entsprechenden innerstaatlichen Gesetzgebung in Kraft trat, wo es möglich war.

    Gegenwärtig ist die Streitfrage überholt, da die Verordnung der zweiten Theorie den Vorzug gegeben hat, der man übrigens zugestehen muß, daß sie mit der Fassung von Absatz 3

    „Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden auf Vereinbarungen …“

    besser übereinstimmt als die erste. Die Theorie der Legalausnahme hätte eine andere Formulierung erfordert, etwa

    „Die Bestimmungen des Absatzes 1 gelten als unanwendbar …“

    oder einfach „. . sind nicht anzuwenden …“. Bei dieser Sachlage kann nicht behauptet werden, daß die Verordnung in diesem Punkt dem Vertrag widerspreche und deshalb rechtswidrig sei. Eine solche Verordnung für rechtswidrig zu erklären, wäre so schwerwiegend, daß der Gerichtshof dies meines Erachtens nur tun dürfte, wenn die Rechtswidrigkeit feststünde, was hier bei weitem nicht der Fall ist.

    Nun besteht der Widerspruch, auf den ich hingewiesen habe, darin, daß im Gegensatz zur Regelung im EGKS-Vertrag (Artikel 65) die ausschließliche Zuständigkeit nur für die Ausnahme vom Verbot und nicht für die Feststellung der Unvereinbarkeit und der aus ihr folgenden Nichtigkeit begründet ist.

    Deshalb enthält die Verordnung eine ganze Reihe von Vorschriften, die eine möglichst ausgewogene Anwendung des gesamten Artikels 85 und des Artikels 86 gewährleisten sollen. Das Hauptstück des Systems ist die Verpflichtung für die Unternehmen, die eine „Unanwendbarkeitserklärung“ nach Artikel 85 Absatz 3 anstreben, ihre Vereinbarungen bei der Kommission anzumelden; diese kann eine günstige Entscheidung bis zum Tag der Anmeldung zurückwirken lassen (Artikel 4 Absatz 1 und Artikel 6 Absatz 1). Die Anmeldung ähnelt übrigens sehr stark einem Antrag auf Genehmigung und die „Unanwendbarkeitserklärung“ einer Genehmigung („Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar erklärt werden“). Trotz verschiedenen Wortlauts ist das System erkennbar von Artikel 65 Absatz 2 des EGKS-Vertrages beeinflußt.

    In diesem System (ich spreche bisher nur von der endgültigen Regelung für die nach Inkrafttreten der Verordnung vereinbarten Kartelle und von der allgemeinen Regelung; bekanntlich gibt es noch eine Übergangsregelung und für gewisse Arten von Kartellen eine geschmeidigere Vorzugsbehandlung) — in diesem System also scheint ein hohes Maß an Ausgewogenheit erreicht zu sein. Die Nichtigkeit einer dem Artikel 85 Absatz 1 widersprechenden Vereinbarung kann immer vor den innerstaatlichen Gerichten geltend gemacht werden, und das Gericht kann, selbst wenn die „Anmeldung“ im Laufe des Prozesses erfolgt, entscheiden und gegebenenfalls die Konsequenzen aus der Nichtigkeit einer nach seiner Auffassung Artikel 85 Absatz 1 widersprechenden Vereinbarung zumindest für die Zeit vor der Anmeldung ziehen, denn eine spätere „Unanwendbarkeitserklärung“ kann jedenfalls gewiß nicht über diesen Zeitpunkt hinaus zurückwirken. Dagegen wird das Gericht gut tun, mit dem Ausspruch der Nichtigkeitswirkung für die Zeit nach der Anmeldung das Ergebnis des Verfahrens vor der Kommission abzuwarten. Ist es hierzu rechtlich verpflichtet? Meines Erachtens kann man das mangels jeder ausdrücklichen Vorschrift dieses Inhalts nicht annehmen. Insbesondere erlauben die bereits erwähnten Vorschriften von Artikel 9 Absatz 3 der Verordnung diese Annahme nicht. Überdies kann es durchaus angebracht erscheinen, diese Frage dem verständigen Urteil des Richters zu überlassen: Es sind Fälle möglich, in denen die Vorschriften von Absatz 3 offensichtlich nicht anwendbar sind und die nach Aufdeckung des Sachverhalts und nach Klageerhebung erfolgte Anmeldung nur der Prozeßverschleppung dienen soll. Zu wirklichen rechtlichen Unzuträglichkeiten könnte es aber dann kommen, wenn das Gericht die Unvereinbarkeit einer Vereinbarung mit den Vorschriften von Artikel 85 Absatz 1 annähme, später jedoch die Kommission (oder gegebenenfalls der Gerichtshof) hierzu die entgegengesetzte Ansicht verträte und infolgedessen eine „Unanwendbarkeitserklärung“ nach Absatz 3 für gegenstandslos und daher unmöglich hielte.

    Das ist aber eine unvermeidliche Folge konkurrierender Zuständigkeiten.

    Bei den Kartellen, denen die „Vorzugsbehandlung“ nach Artikel 4 Absatz 2 zugute kommt, ist dem innerstaatlichen Richter gleichfalls größte Zurückhaltung zu empfehlen, falls sie bei der Kommission angemeldet sind. Die Unanwendbarkeitserklärung der Kommission nach Artikel 85 Absatz 3 kann für diese Kartelle auf einen Zeitpunkt zurückwirken, den die Kommission nach freiem Ermessen bestimmt und der vor der Anmeldung liegen kann (Artikel 6 Absatz 2 der Verordnung).

    Es verbleiben noch die zur Zeit des Inkrafttretens der Verordnung bereits bestehenden Kartelle, die Gegenstand der Sondervorschriften der Artikel 5 und 7 der Verordnung sind. Wenn diese Kartelle vor dem 1. August 1962 (oder vor dem ersten Januar 1964, falls ihnen die Vorzugsbehandlung zugute kommt) angemeldet werden, so „gilt das Verbot des Artikels 85 Absatz 1 nur für den Zeitraum, den die Kommission festsetzt“, vorausgesetzt, daß die Unternehmen die Vereinbarungen aufheben oder „derart abändern, daß sie nicht mehr unter das Verbot des Artikels 85 Absatz 1 fallen oder daß sie die Voraussetzungen des Artikels 85 Absatz 3 erfüllen“. Das bedeutet, daß die Kommission dem Verbot jede Rückwirkung nehmen und damit die Wirksamkeit der Vereinbarung in der Vergangenheit voll aufrechterhalten kann; sie kann dies sogar in der Zukunft, wenn sie den Beteiligten Anpassungsfristen bewilligt. In diesen Fällen ist die ihrem Wesen nach rückwirkende Nichtigkeit (ex tunc) völlig wirkungslos.

    Auch hier verpflichtet keine Vorschrift des Vertrages oder der Verordnung das Gericht zur Aussetzung, selbst wenn die Anmeldung schon erfolgt ist oder im Laufe des Prozesses vorgenommen wird. In solchen Fällen müssen aber die innerstaatlichen Gerichte wegen der Folgen, die eine spätere günstige Entscheidung der Kommission haben kann, selbstverständlich die größte Vorsicht walten lassen. Gegebenenfalls werden sie indessen auch die folgende Vorschrift der Verordnung beachten müssen (Artikel 7 Absatz 1 am Ende) :

    „Eine Entscheidung der Kommission nach Satz 1 kann denjenigen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen nicht entgegengehalten werden, die der Anmeldung nicht ausdrücklich zugestimmt haben.“

    In dieser Weise, meine Herren, müssen sich meines Erachtens die konkurrierende Zuständigkeit der innerstaatlichen Gerichte und der Kommission zur Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 und 2 und die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission zur Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 ineinanderfügen. Zweifellos ist das Resultat nicht ganz befriedigend, das ist aber die Folge des doppelten rechtlichen Kompromisses, das dem Vertrag nach der von mir vorgeschlagenen Auslegung zugrunde liegt: 1. des Kompromisses zwischen der Theorie der „Legalausnahme“, die allein mit der Nichtigkeit nach Artikel 85 Absatz 2 voll vereinbar ist, und der Theorie der „konstitutiven Wirkung“, der logischerweise, wie nach deutschem Recht, die Befugnis der Kartellbehörden entsprechen müßte, die gesetzwidrigen Vereinbarungen „für unwirksam zu erklären“, was sich von der Nichtigkeit kraft Gesetzes stark unterscheiden würde; 2. des Kompromisses über die Zuständigkeit, die der Vertrag nicht regelt und die die Verordnung nicht, wie im EGKS-Vertrag, ausschließlich den Behörden und dem Gerichtshof der Gemeinschaft hat übertragen wollen oder übertragen zu können gemeint hat.

    In der Verordnung hat man die größten Anstrengungen gemacht, die aus diesem doppelten Kompromiß entstandenen Schwierigkeiten möglichst zu verringern. Die Lösung der verbleibenden Schwierigkeiten wird, wie auf dem Gebiet der Vorlegung zur Vorabentscheidung, meines Erachtens wesentlich erleichtert, wenn ein echter Geist der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und den Behörden der Gemeinschaft entsteht. Dieser Geist, das wissen wir alle, ist die wesentliche Voraussetzung für den Erfolg des Vertrages von Rom, der selbst in seinem Text immer wieder an ihn appelliert. Ich habe keinen Zweifel, daß er sich in der Rechtsprechung ebenso zeigen wird, wie er sich auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet in öffentlichen und privaten Beziehungen bereits gezeigt hat. Ohne ihn ist kein Gemeinschaftsleben vorstellbar.

    3. Sind Exportverbote durch Artikel 85 Absatz 1 verboten?

    Ich will unter den bereits gemachten Vorbehalten und so kurz wie möglich diese Frage erörtern und dabei sorgfältig jede Stellungnahme zum konkreten Fall, für die unser Gerichtshof im gegenwärtigen Verfahren nicht zuständig ist, vermeiden.

    Einen ersten Punkt, der übrigens im Lauf des Prozesses nicht bestritten worden zu sein scheint, halte ich für sicher: daß unter Artikel 85 die „vertikalen“ Vereinbarungen ebenso fallen wie die „horizontalen“, d. h. die im alleinigen Interesse eines Verkäufers abgeschlossenen ebenso wie die von mehreren Verkäufern oder Fabrikanten im gemeinsamen Interesse getroffenen. Ich nehme hierfür Bezug auf die Stellungnahme der deutschen Regierung (Absatz 1), die ich für überzeugend halte. In der sehr vollständigen und ins einzelne gehenden deutschen Gesetzgebung fallen die vertikalen Vereinbarungen wohl unter das Gesetz, unterliegen aber einer liberaleren Sonderregelung. Im Recht des EWG-Vertrages gibt es keine solche Sonderregelung, es versteht sich aber von selbst, daß die Besonderheiten der vertikalen Vereinbarungen hinsichtlich der Beeinträchtigung des Wettbewerbs bei der etwaigen Bewilligung der Vergünstigung des Absatzes 3 berücksichtigt werden müssen.

    Die Verordnung scheint vertragliche Exportverbote als unter das Verbot von Artikel 85 fallend zu betrachten. Hierauf deutet Artikel 4 Absatz 3 hin, der eine Vorzugsbehandlung vorsieht für „Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, wenn an ihnen nur Unternehmen aus einem Mitgliedstaat beteiligt sind und die Vereinbarungen, Beschlüsse oder Verhaltensweisen nicht die Ein- oder Ausfuhr zwischen Mitgliedstaaten betreffen“. Das steht auch mit dem Vertrag gut im Einklang, der ja einen Gemeinsamen Markt errichtet, dessen erste Voraussetzung die Beseitigung aller Hemmnisse für den Warenaustausch zwischen den Teilnehmerstaaten ist.

    Indessen erscheint es schwierig, die Frage unabhängig von den übrigen Vertragsbestimmungen zu prüfen, im vorliegenden Fall von den Klauseln, die grundsätzlich den Verkauf auf dem Binnenmarkt auf solche Käufer beschränken, die sich verpflichten, die Ware nicht auszuführen, ferner von dem ausschließlichen Recht zum Vertrieb der Ware im Ausland, das gewissen Käufern eingeräumt wird, z. B. van Rijn für die Niederlande. Es handelt sich da um eine ganze Vertriebsorganisation. Hier berühren wir aber unvermeidlich den konkreten Fall und überschreiten unsere Zuständigkeit.

    Eine andere, im Laufe des Verfahrens erörterte Streitfrage betrifft den Sinn des Nebensatzes

    „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind“.

    Bosch hat behauptet, ihr Verteilungssystem könne nur zur Entwicklung des Handels mit Kühlschränken zwischen den Mitgliedstaaten beitragen und infolgedessen diesen Handel nicht „beeinträchtigen“. Hier stellt sich eine Frage der abstrakten Vertragsauslegung, nämlich welcher Sinn dem Ausdruck „beeinträchtigen“ zukommt. Sicher ist, daß das französische Wort „affecter“ nur „beeinflussen“, „einwirken auf“ bedeutet, wobei die Einwirkung wohltätig oder schädlich sein kann. Das Wort hat nicht notwendigerweise einen abwertenden Sinn.

    Zwischen den in den vier Sprachen gebrauchten Ausdrücken bestehen aber recht merkliche Nuancen: das italienische „pregiudicare“ ist vielleicht nicht abwertender als „affecter“; im Deutschen scheint das Wort „beeinträchtigen“ es schon mehr zu sein, und im niederländischen Text finden wir den Ausdruck „ongunstig beïnvloeden“, was „einen ungünstigen Einfluß ausüben“ bedeutet. Bekanntlich sind alle vier Sprachen maßgebend, was letzten Endes bedeutet, daß keine maßgebend ist …

    Bei dieser Sachlage muß man sich, wie bei der Auslegung unklarer oder widersprüchlicher innerstaatlicher Vorschriften, an den Sinnzusammenhang der Vorschriften halten.

    Ich bin sehr versucht, auch hier der Meinung der Bundesregierung zu folgen, die im Absatz C I 2 b der Stellungnahme wie folgt dargelegt ist:

    „Die Wortinterpretation schafft also keine Klarheit; diese ist aber aus Sinn und Zweck des Artikels 85 zu gewinnen. Die Vorschrift beruht auf dem in Artikel 3 Buchstabe f niedergelegten Grundsatz des Vertrages, demzufolge die Gemeinschaft ein System zu errichten hat, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt. Schutzobjekt des Artikels 85 ist somit das freie Spiel des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes. Dieses Schutzobjekt wird verletzt oder — was nach Artikel 85 genügen würde — zumindest gefährdet, wenn eine Wettbewerbsbeschränkung im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 den Warenstrom von seinem normalen, natürlichen Wege ablenkt, weil eine damit etwa verbundene Förderung des Warenstroms in der einen Richtung regelmäßig eine ungünstige Beeinflussung des Warenstroms einer anderen Richtung zur Folge haben wird. Daher ist bereits jede nicht ganz unerhebliche Beeinflussung des Wirtschaftsverkehrs eine Beeinträchtigung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1.

    Zudem stellt diese Vorschrift es nicht darauf ab, ob eine Wettbewerbsbeschränkung den Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich beeinträchtigt, sondern setzt lediglich voraus, daß sie zu einer Beeinträchtigung ‚geeignet‘ ist. Die Eignung zu einer ungünstigen Beeinflussung ist aber jeder Wettbewerbsbeschränkung immanent, deren Auswirkungen auf den Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht ganz unerheblich ist.

    Bei der Prüfung der Frage, ob eine Wettbewerbsbeschränkung innerhalb des Gemeinsamen Marktes geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, kann man es also nicht auf irgendwie geartete ‚schädliche‘ oder ‚günstige‘ Auswirkungen auf den Geschäftsverkehr abstellen, weil ‚günstige‘ Auswirkungen regelmäßig von ‚schädlichen‘ Auswirkungen begleitet werden. Nur im Rahmen des Artikels 85 Absatz 3 des EWG-Vertrages kann abgewogen werden, ob die günstigen Auswirkungen so überwiegen, daß eine Nichtanwendung des Verbots des Artikels 85 Absatz 1 des EGW-Vertrages gerechtfertigt ist.

    Ferner ist umstritten, ob jede Wettbewerbsbeschränkung, die den Wirtschaftsverkehr zwischen Mitgliedstaaten betrifft, mag sie auch geringfügig sein, zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels geeignet ist, oder ob diese Voraussetzung nur dann vorliegt, wenn die Wirkung der Wettbewerbsbeschränkung ein bestimmtes Ausmaß erreicht. Ein solches quantitatives Element ist zu bejahen. Zwar findet die Annahme, daß eine Eignung zur Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels nur dann gegeben ist, wenn die Wettbewerbsbeschränkung einen wesentlichen Teil des tatsächlichen oder möglichen Handelsvolumens betrifft, in Artikel 85 Absatz 1 des EWG-Vertrages keine Stütze. Eine Wettbewerbsbeschränkung kann jedoch nur dann geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen, wenn ihr Einfluß auf die Marktverhältnisse nicht ganz unerheblich ist.“

    Diese Theorie halte ich für eine vernünftige Auslegung des Ausdrucks „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind“ in Artikel 85 Absatz 1. Die Auslegung kann abstrakt gegeben werden, unabhängig von jeder Stellungnahme zum konkreten Fall.

    Trotzdem wage ich nicht vorzuschlagen, sie zu geben, weil die Frage, wie oben ausgeführt, durch das Vorlegungsurteil nicht gestellt ist.

    Die übrigen Fragen der Auslegung von Artikel 85, die dieser Rechtsstreit aufwirft, sind von der Untersuchung des konkreten Falles nicht zu trennen und überdies nicht Gegenstand einer Frage des Appellationshofes in Den Haag.

    Zu erörtern bleibt die Kostenfrage. Sie ist heikel, da wir in dem ausschließlich dem „ordre public“ angehörigen Verfahren nach Artikel 177 keine „Parteien“ im verfahrensrechtlichen Sinn des Wortes vor uns haben.

    Es sind mehrere Lösungen möglich: Man kann daraus, daß das Verfahren dem „ordre public“ angehört, die äußersten Konsequenzen ziehen und entscheiden, daß die Kasse des Gerichtshofes alle Kosten zu tragen hat. Man kann auch die Kosten der Partei auferlegen, die im Hauptprozeß unterliegt (ich halte es aber kaum für angängig, die Erstattung der vor unserem Gerichtshof entstandenen Kosten vom Ergebnis eines vor den innerstaatlichen Gerichten fortzusetzenden Prozesses abhängig zu machen). Man kann die Entscheidung ferner danach treffen, ob die von den Parteien des Hauptprozesses in ihren Schriftsätzen vertretenen Rechtsansichten sich als richtig erwiesen haben oder nicht: in diesem Fall müßten die Gesellschaften Bosch und van Rijn in die Kosten verurteilt werden. Schließlich kann man auch jeder Partei ihre eigenen Auslagen auferlegen. Ich neige zu dieser letzteren Lösung.

    III — Anträge

    Ich beantrage zu entscheiden,

    daß Artikel 85 des EWG-Vertrages meinen Ausführungen entsprechend wie folgt auszulegen ist:

    1.

    Die Vorschriften von Artikel 85 des Vertrages sind mindestens seit dem Inkrafttreten der auf Grund von Artikel 87 erlassenen Durchführungsverordnung in den Mitgliedstaaten in vollem Umfang und unmittelbar anwendbar.

    2.

    Die in Artikel 85 Absatz 2 vorgesehene Nichtigkeit der nach Absatz 1 desselben Artikels verbotenen Vereinbarungen oder Beschlüsse ist wirksam, solange die Vorschriften dieses Absatzes nicht von der Kommission für unanwendbar erklärt sind oder solange die Kommission nicht von den Befugnissen Gebrauch gemacht hat, die ihr nach Artikel 7 der Verordnung in bezug auf die zur Zeit des Inkrafttretens der Verordnung bereits bestehenden Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen zustehen. Die Kommission ist auf Grund von Artikel 9 der Verordnung vorbehaltlich der Kontrolle ihrer Entscheidung durch den Gerichtshof ausschließlich zuständig, die Vorschriften von Artikel 85 Absatz 1 nach Artikel 85 Absatz 3 für unanwendbar zu erklären;

    daß der Gerichtshof für die Entscheidung über den weiteren Inhalt des ihm vom Appellationshof in Den Haag vorgelegten Ersuchens unzuständig ist;

    daß jede Partei ihre eigenen Auslagen zu tragen hat.


    ( 1 ) Conseil d'État, Reynaud, 9. Mai 1913, Rec. des arrêts du Conseil d'État, S. 52.

    ( 2 ) Conseil d'État, Ministre de la Justice, 13. April 1907, Rec. S. 354.

    ( 3 ) Conseil d'État, Élections d'Yholdy, 16. November 1923, Rec. S. 732.

    ( 4 ) Anm. des Übersetzers; Der italienische Gesetzestext lautet: ‚… e sospendono il giudizio in corso‘. Er ist im französischen Original der Schlußanträge übersetzt mit: ‚… et suspendent le litige en instance‘.

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