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Document 61958CC0003
Joined opinion of Mr Advocate General Lagrange delivered on 19 January 1960. # Barbara Erzbergbau AG and others v High Authority of the European Coal and Steel Community. # Joined cases 3-58 to 18-58, 25-58 and 26-58. # Federal Republic of Germany v High Authority of the European Coal and Steel Community. # Case 19-58.
Verbundene Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange vom 19. Januar 1960.
Barbara Erzbergbau AG und andere gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Verbundene Rechtssachen 3-58 bis 18-58, 25-58 und 26-58.
Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Rechtssache 19-58.
Verbundene Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange vom 19. Januar 1960.
Barbara Erzbergbau AG und andere gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Verbundene Rechtssachen 3-58 bis 18-58, 25-58 und 26-58.
Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Rechtssache 19-58.
Englische Sonderausgabe 1960 00375
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1960:1
SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS
HERRN MAURICE LAGRANGE
19. Januar 1960
Übersetzt aus dem Französischen
GLIEDERUNG
I. — Verfahrens- und Zuständigkeitfragen |
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II. — Auslegung der Vertragsbestimmungen |
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1. Allgemeine Betrachtungen |
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2. Auslegung von Artikel 70 Absatz 4 |
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a) „Ausnahmetarife im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung und Stahlerzeugung“ |
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b) „Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Vertrages“ |
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III. — Anwendung auf den vorliegenden Fall |
Herr Präsident, meine Herren Richter!
Meine Ausführungen beziehen sich einmal auf die Klage der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und zum anderen auf die Klagen einer ganzen Reihe von deutschen Hütten- und Bergwerksunternehmen, die von den beteiligten Ländern als Streithelfer unterstützt werden; diese Klagen richten sich gegen zwei am 3. März 1958 im Amtsblatt veröffentlichte Entscheidungen zu den in Artikel 70 des Vertrages und in § 10 des Abkommens über die Übergangsbestimmungen erwähnten Ausnahmetarifen. Es handelt sich um die Entscheidung betreffend die Beförderung von mineralischen Brennstoffen für die Eisen- und Stahlindustrie und um die Entscheidung betreffend die Beförderung von Eisenerz, die sich beide auf die in Deutschland geltenden Ausnahmetarife beziehen. Diese Entscheidungen werden angefochten, soweit darin die Aufhebung einiger der geprüften Ausnahmetarife angeordnet wird, die nicht als „Wettbewerbstarife“ (welche nach Ansicht der Hohen Behörde an sich zulässig sind), sondern als „Unterstützungstarife“ anzusehen sind, deren Beibehaltung, ebenfalls nach Ansicht der Hohen Behörde die Zustimmung der Hohen Behörde erfordert. Die Hohe Behörde glaubte diese Zustimmung in den verschiedenen streitigen Fällen ganz oder teilweise verweigern zu müssen, und setzte gleichzeitig für die vollständige oder teilweise Aufhebung dieser Tarife bestimmte Fristen.
Meine Herren, ich glaube, ich kann es mir ersparen, Ihnen eine Darlegung des Sachverhalts zu geben. Sie bestünde nämlich lediglich aus der chronologischen Darstellung der Untersuchung der Ausnahmetarife im Hinblick auf die Bestimmungen von Artikel 70 des Vertrages und von § 10 des Übergangsabkommens, ein Problem, das mit dem der Anwendung aller dieser Bestimmungen mehr oder weniger eng verbunden ist. Diese Darstellung wäre zwangsläufig unvollständig oder aber viel zu lang und könnte in keinem Fall so zutreffend und genau sein, wie nur Berichte von Fachleuten und Ausführungen von verantwortlichen Politikern auf einem solchen Gebiet sein können. Deshalb verweise ich für diese zum rechten Verständnis der Begleitumstände des Rechtsstreits unerläßlichen Kenntnisse einmal auf die von der Hohen Behörde einleitend zu ihren beiden Schreiben vom 12. Februar 1958 ausdrücklich erwähnten Unterlagen und zum anderen auf die Ausschuß- und Diskussionsberichte der Gemeinsamen Versammlung. Ich nenne insbesondere a) in der ersten Kategorie 1.) das Schreiben des Bundeswirtschaftsministers vom 28. Februar 1957 mit Anlagen, 2.) das Protokoll der Sitzung vom 11. und 12. März 1957 in Luxemburg; b) in der zweiten Kategorie 1.) den von Herrn Armengaud als Berichterstatter vorgelegten Bericht des Investitionsausschusses der Gemeinsamen Versammlung über die im Januar 1957 unternommene Studien- und Informationsreise in die Zonenrandgebiete der Bundesrepublik Deutschland (Dok. Nr. 33 1956/1957), 2.) den von Herrn Kapteyn als Berichterstatter vorgelegten Bericht des Ausschusses für Verkehrsfragen vom 10. Oktober 1957 über die Koordinierung des europäischen Verkehrs, insbesondere Seite 42 bis 44, sowie eine Anzahl interessanter Anlagen, darunter z. B. eine zusammenfassende Darstellung der Geschichte der Interstate Commerce Commission der Vereinigten Staaten von Amerika, über die in diesem Verfahren soviel gesprochen worden ist (Dok. Nr. 6 1957/1958). Alle diese Unterlagen, außer der letzten, sind übrigens in den Anlagen zur Klagebeantwortung der Hohen Behörde in der Rechtssache 19/58 enthalten.
Ich werde auch davon absehen, eine Zusammenfassung der verschiedenen schriftlich und mündlich so klar und vollständig vorgetragenen Auffassungen zu geben, da selbst eine gründliche, ins einzelne gehende (und in diesem Falle überdies langweilige) Untersuchung nicht ausreichen würde, um alle Feinheiten genau wiederzugeben. Ich werde lediglich versuchen, auf Grund all der Ausführungen, die ich gelesen und gehört habe, eine einwandfreie Auslegung der in Rede stehenden Bestimmungen im allgemeinen Rahmen des Vertrages und unter Berücksichtigung der darin genannten Ziele vorzunehmen. Sodann werde ich untersuchen, ob die angefochtenen Entscheidungen mit den in dieser Weise ausgelegten Gesetzesvorschriften im Einklang stehen oder nicht.
I. — VERFAHRENS- UND ZUSTÄNDIGKEITSFRAGEN
Zuvor ist aber noch zu einer Reihe von Verfahrens- und Zuständigkeitsfragen Stellung zu nehmen.
Zunächst zwei Fragen im Zusammenhang mit der von der Regierung der Bundesrepublik erhobenen Klage 19/58. Diese Klage stützt sich, wie auch die übrigen, auf Artikel 33 des Vertrages und enthält lediglich den Antrag, die angefochtenen Entscheidungen parte in qua für nichtig zu erklären. Die Klägerin erwähnt jedoch daneben auch ausdrücklich Artikel 88 und Artikel 37.
Der Hinweis auf Artikel 88 im Abschnitt E der Klage ist kurz: „Die Entscheidungen haben, obgleich sie sich nicht ausdrücklich auf Artikel 88 MUV stützen, so starke Züge der in diesem Artikel vorgesehenen Entscheidungen, daß die Klägerin es für denkbar hält, daß den Entscheidungen vom Gerichtshof diese Bedeutung beigemessen wird. Schon aus diesem Gesichtspunkt wäre der Gerichtshof im gegenwärtigen Rechtsstreit zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung befugt“.
Meine Herren, ich hatte bereits Gelegenheit, meinen Standpunkt zu dieser Frage bei der Untersuchung der Rechtssache 3/59 darzulegen. Hinsichtlich der Ausnahmetarife für Kohle, welche für die Eisen- und Stahlindustrie bestimmt ist, sowie der Ausnahmetarife für Eisenerze war die Hohe Behörde keineswegs „der Auffassung, daß die Bundesrepublik einer ihr nach diesem Vertrag obliegenden Verpflichtung nicht nachgekommen ist“, um den Wortlaut von Artikel 88 zu wiederholen. Es bestand demnach für sie auch keine Veranlassung, „diese Verletzung durch eine mit Gründen versehene Entscheidung festzustellen“. Die Hohe Behörde hat einerseits anerkannt, daß die als „Wettbewerbstarife“ angesehenen Tarife nicht vertragswidrig seien, und daß ihre Aufhebung daher nicht anzuordnen sei (selbstverständlich hat die Regierung der Bundesrepublik kein Interesse daran, diese Auffassung und diesen Standpunkt der Hohen Behörde zu bestreiten, sie hat es auch nicht getan). Die Hohe Behörde hat andererseits gegenüber den sogenannten „Unterstützungstarifen“ von der ihr nach Artikel 70 Absatz 4 des Vertrages in Verbindung mit § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens verliehenen Befugnis Gebrauch gemacht und diese Tarife entweder genehmigt oder ihre Beseitigung innerhalb bestimmter Fristen verlangt. Da es sich um Tarife handelt, die bei der Einsetzung der Hohen Behörde bereits in Kraft waren, war ihre Beibehaltung bis zum Eingreifen der Hohen Behörde auf Grund der ausdrücklichen Bestimmungen des Übergangsabkommens rechtmäßig. Es bestand für die Bundesregierung keinerlei Verpflichtung, diese Tarife zu beseitigen, solange sich die Hohe Behörde nicht in Ausübung ihrer Befugnisse auf diesem Gebiet dazu entschloß, die Beseitigung der Tarife vorzuschreiben, und selbstverständlich würde in noch stärkerem Maße das gleiche gelten, wenn man davon ausginge, daß die betreffenden Tarife, oder doch einige von ihnen, ohne eine Genehmigung vertragsgemäß wären. Die einzige von der Hohen Behörde „festgestellte Verfehlung“ der Bundesregierung bestand, wie Sie wissen, darin, daß sich die Bundesregierung geweigert hat, die mit der vorliegenden Klage angefochtenen Entscheidungen auszuführen, solange der Gerichtshof noch nicht über diese Klage entschieden hat. Darum geht es in der Rechtssache 3/59, die Ihnen jetzt zur Beratung vorliegt.
Zu Artikel 37 erklärt die Klägerin in Abschnitt II ihrer Erwiderung, „daß es — entgegen der Auffassung der Beklagten — durchaus nicht sicher ist, ob die angefochtene Entscheidung nicht zugleich eine Entscheidung im Sinne des Artikels 37 Absatz 3 … darstellt“, und „sie hält es nicht für ausgeschlossen, daß der Gerichtshof ihre Rechtsauffassung teilt“.
Meine Herren, vielleicht mag der Gerichtshof einen derartigen Standpunkt teilen; ich kann Ihnen dazu aber nur sagen, daß der Generalanwalt des Gerichtshofes diesen Standpunkt keineswegs teilt. Der rechtliche Anwendungsbereich von Artikel 37 weist derartige Besonderheiten auf, daß es nach meiner Ansicht nicht in Frage kommen kann, das darin vorgesehene Verfahren mit dem gewöhnlichen Verfahren nach Artikel 33 zu vermengen. Will sich ein Staat auf Artikel 37 berufen, so muß der an die Hohe Behörde gerichtete Antrag so beschaffen sein, daß für die Hohe Behörde kein Irrtum über den Gegenstand des Antrags möglich ist, damit sie, wie es in Artikel 37 selbst vorgeschrieben ist, den Rat anrufen und ihre Entscheidung in der ganz außergewöhnlichen Sicht der hier in Rede stehenden Bestimmung erlassen kann. Die Bundesregierung behauptet aber nicht einmal, die Hohe Behörde mit einem solchen Antrag befaßt zu haben, der dann als Gegenstand der angefochtenen Entscheidungen angesehen werden müßte. Jedenfalls sagt sie nicht, mit welchem Schreiben oder mit welcher Urkunde aus dem mit der Hohen Behörde geführten Briefwechsel das Verfahren nach Artikel 37 eingeleitet worden sein soll. Wir wissen im übrigen, daß die Klägerin dieses Verfahren nach der Klageerhebung eingeleitet hat.
Die von den Unternehmen erhobenen Klagen 3 bis 18/58, 25 und 26/58 sind, wie die Hohe Behörde zugibt, gegen Entscheidungen gerichtet, denen ein individueller Charakter zukommt und die die Klägerinnen betreffen. Diese Auffassung dürfte auch mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Einklang stehen. Soweit in den Klagen gewisse Bestimmungen der streitigen Entscheidungen angefochten wurden, welche die Unternehmen nicht berühren, wurden die Klageanträge in den Erwiderungen entsprechend berichtigt und begrenzt. Die Zulässigkeit der von den Unternehmen erhobenen Klagen ist somit nicht strittig. Ich glaube auch nicht, daß Einwendungen gegen die Zulässigkeit von Amts wegen zu erheben wären.
Ich wende mich nun der Frage zu, ob die Hohe Behörde zu dem fraglichen Zeitpunkt zuständig war, die angefochtenen Entscheidungen zu erlassen. Die Klägerinnen machen ausdrücklich den Klagegrund der Unzuständigkeit geltend mit der Begründung, die Entscheidungen seien nach Ablauf der Übergangszeit erlassen worden. Sie seien nämlich erst mit ihrer Zustellung an die Bundesregierung am 14. Februar 1958 verbindlich geworden, während die Übergangszeit bereits am 9. Februar abgelaufen sei. Da es sich um Tarife handele, die bei Vertragsabschluß bereits in Kraft waren, sei für ihre Aufhebung nur § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens maßgebend. Die Hohe Behörde habe aber ihre auf dieser Bestimmung beruhende Befugnis nur während der Übergangszeit ausüben können. Die Bundesregierung beschränkte sich in ihrer Klage darauf, diese Frage aufzuwerfen, ohne ausdrücklich die Unzuständigkeit geltend zu machen. Diese Haltung ist verständlich, wenn man erfährt, daß die Bundesregierung im Verlauf der früheren Verhandlungen den Standpunkt vertreten hat, die Hohe Behörde behalte ihre hier erörterten Befugnisse auch nach Ablauf der Übergangszeit. Selbst wenn dieser Klagegrund in den übrigen Klagen nicht ausdrücklich geltend gemacht worden wäre, müßte er aber von Amts wegen geprüft werden.
Bei dieser Prüfung ergibt sich eine ganze Reihe von Fragen.
Zunächst die von mir bereits kurz erwähnte Frage: War die Hohe Behörde verpflichtet, die ihr nach § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens zustehende Befugnis vor Ablauf der Übergangszeit auszuüben?
Ich glaube sicher, daß diese Frage zu bejahen ist. Die Hohe Behörde hatte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die ihr im Vertrag und im Übergangsabkommen verliehenen Befugnisse auszuüben und dafür zu sorgen, daß die beim Inkrafttreten des Vertrages bestehenden Verhältnisse, soweit sie den Vorschriften des Vertrages zuwiderliefen, beseitigt wurden. Dazu war die Übergangszeit da. Man könnte sogar die Frage stellen, ob diese mit dem Vertrag nicht in Einklang stehenden Verhältnisse nicht gemäß § 1 Ziffer 5 Absatz 2 des Übergangsabkommens schon bis zum Ablauf der Übergangszeit hätten beseitigt werden müssen.
Heißt das aber, wie es die Klägerinnen, zumindest aber die Unternehmen, zu glauben scheinen, daß es der Hohen Behörde rechtlich unmöglich wäre, tätig zu werden, wenn sie von ihren Befugnissen auf Grund von § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens nicht vor Ablauf der Übergangszeit Gebrauch gemacht hat? Nach meiner Ansicht zweifellos nicht. Die Übergangszeit wurde nämlich im Interesse der Unternehmen geschaffen, um Störungen zu vermeiden, die sich bei einer plötzlichen Integration hätten ergeben können. Dies kommt wörtlich zum Ausdruck in § 1 Absatz 1 des Übergangsabkommens, wonach es Zweck des Übergangsabkommens ist, „die Maßnahmen vorzusehen, die für die Errichtung des gemeinsamen Marktes und zur fortschreitenden Anpassung der Produktion an die neu geschaffenen Verhältnisse erforderlich sind, und gleichzeitig die Möglichkeit zur Beseitigung von Störungen des Gleichgewichts zu geben, die sich aus früheren Verhältnissen ergeben“. Es würde den Vertragsprinzipien zuwiderlaufen, wollte man zulassen, daß vertragswidrige diskriminierende Verhältnisse während der restlichen 45 Jahre nach Ablauf der Übergangszeit deswegen erhalten blieben, weil die Hohe Behörde sie so belassen hat, wie sie waren, anstatt während dieser Zeit die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um diese Verhältnisse schrittweise und ohne Störungen zu beseitigen. Damit würde eine wirkliche Vorzugsstellung und eine Quelle ständiger Ungleichheit geschaffen zugunsten derer, die das Glück hatten, den Anpassungsmaßnahmen zu entgehen, und zum Nachteil derer, die ordnungsgemäß verpflichtet waren, den sie begünstigenden Diskriminierungen ein Ende zu machen. Das hieße, mit einem Wort, endgültig auf die Errichtung des gemeinsamen Marktes verzichten.
Nach meiner Auffassung würde sich daraus folgende rechtliche Situation ergeben: Die Hohe Behörde könnte keine Entscheidung mehr erlassen auf Grund einer Befugnis, die sich aus einer Bestimmung des Übergangsabkommens herleitet. Es bliebe dann eine dem Vertrag, im vorliegenden Fall — wie angenommen werden soll — dem Artikel 70 Absatz 1 widersprechende Lage bestehen. Man müßte jedoch die Möglichkeit einer Genehmigung gemäß Artikel 70 Absatz 4 in Betracht ziehen. Falls man zu dem Ergebnis käme, daß die Lage in Widerspruch zu Absatz 1 steht und auch nicht genehmigungsfähig im Sinne von Absatz 4 ist, wäre es Sache des betreffenden Staates, dieser Lage gemäß Artikel 86, notfalls auf Empfehlung der Hohen Behörde, ein Ende zu machen. Dieses Verfahren hat die Hohe Behörde bei den Entscheidungen vom 9. Februar über die Beförderung von mineralischen Brennstoffen, soweit sie nicht für die Eisen- und Stahlindustrie bestimmt sind, angewandt, da hierfür Artikel 70 Absatz 4 nicht in Frage kam.
In diesem Falle entgingen den Beteiligten die Sicherheiten, die ihnen ausdrücklich gewährt sind in § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens, wonach die Hohe Behörde verpflichtet ist, die erforderlichen Fristen einzuräumen, um jede schwere wirtschaftliche Störung zu vermeiden. Es ist jedoch zuzugeben, daß solche Fristen wohl auch nach den allgemeinen Billigkeitsregeln zugestanden werden müßten, für die sich leicht eine Grundlage finden ließe in den allgemeinen, zu Beginn des Vertrages, insbesondere in Artikel 2 Absatz 2 aufgeführten Grundsätzen. Man kann sogar die Frage stellen, ob man nicht auf einem anderen juristischen Weg zu dem gleichen Ergebnis gelangen könnte; danach wäre 1.) die Hohe Behörde verpflichtet, auf Grund von Artikel 70 Absatz 1 und 4 tätig zu werden, und 2.) wären angemessene Fristen festzusetzen, um jede schwere Störung zu vermeiden. Dies würde, falls man annimmt, daß die Hohe Behörde im vorliegenden Fall tatsächlich so gehandelt hat, dazu führen, daß die Entscheidungen nicht wegen Überschreitung der Frist für nichtig zu erklären sind.
Aber, meine Herren, man mag hierüber denken, wie man will, nach meiner Ansicht kann der Gerichtshof nicht umhin, die Frage zu entscheiden, ob die Frist gewahrt worden ist. Selbst wenn man von der auch von mir vertretenen Ansicht ausgeht, daß der Ablauf der Frist die Hohe Behörde nicht von ihrer Interventionspflicht befreit, sondern im Gegenteil diese Intervention um so zwingender erscheinen läßt, je später sie erfolgt, so steht doch fest, daß die Hohe Behörde zweifellos einen Fehler beging, wenn sie es während der gesamten Dauer der Übergangszeit unterließ, unter den im Übergangsabkommen vorgesehenen Voraussetzungen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den — wie unterstellt werden soll — diskriminierenden und vertragswidrigen Verhältnissen ein Ende zu machen. Unter Umständen könnte man aus einem solchen Fehler eine Haftung der Hohen Behörde oder, genauer gesagt, der Gemeinschaft herleiten.
Sind die angefochtenen Entscheidungen vor Ablauf der Übergangszeit ergangen?
Rufen wir uns noch einmal die verschiedenen hierfür maßgebenden Daten ins Gedächtnis zurück:
9. Februar: An diesem Tag sind nach den Angaben im Text der Entscheidungen selbst, so wie sie zugestellt und veröffentlicht wurden, die Entscheidungen erlassen worden;
11. Februar: Datum des Protokolls über die 417. Sitzung der Hohen Behörde (vorgelegter Protokollauszug), die am 9. Februar 1958 um 20.30 Uhr in Luxemburg stattgefunden hat; in dem Protokollauszug heißt es, daß der Wortlaut der in der Anlage enthaltenen Schreiben von der Hohen Behörde festgelegt worden ist;
12. Februar: Datum der zugestellten und veröffentlichten Schreiben;
14. Februar: An diesem Tag sind nach Aussagen der Klägerinnen die Schreiben zugegangen;
3. März: Datum der Nummer des Amtsblattes, in der die Veröffentlichung erfolgte.
Erster Punkt: Ist für die Frage, ob die Entscheidung innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Frist erlassen worden ist, zwischen dem Datum der Entscheidung und dem seiner Zustellung zu unterscheiden, oder muß davon ausgegangen werden, daß die Entscheidung erst durch ihre Zustellung „vollkommen wird“? (Es handelt sich ja um eine individuelle Entscheidung; das gleiche würde für die Veröffentlichung gelten, wenn es sich um eine allgemeine Entscheidung handelte.) Die Parteien haben lange Ausführungen hierzu gemacht und insbesondere auf die Rechtsprechung in Frankreich und in Deutschland verwiesen. Die aus der deutschen Rechtsprechung zitierten Stellen sind nach meiner Auffassung weder in dem einen noch in dem anderen Sinne ausschlaggebend. Dagegen gibt es in Frankreich eine ganz eindeutige Entscheidung des Conseil d'Etat, in der die Unterscheidung bestätigt wird: Die Zustellung oder die Veröffentlichung ist zur Vervollständigung des Verwaltungsaktes nicht erforderlich, sondern haben nur für seine Durchführung und für die Ingangsetzung der Klagefrist Bedeutung.
Daraus folgt, daß ein Verwaltungsakt, der gesetzlich nur innerhalb einer bestimmten Frist ergehen kann, auch dann ordnungsgemäß ist, wenn seine Zustellung oder seine Veröffentlichung erst nach Ablauf der betreffenden Frist erfolgt ( 1 ).
Daraus folgt weiter — und hier handelt es sich um eine wichtige Konsequenz —, daß ein Verwaltungsakt mit allgemeinem Charakter vor der Veröffentlichung von seinem Urheber zum Gegenstand von individuellen Durchführungsentscheidungen gemacht werden kann; natürlich können diese Entscheidungen erst dann verbindlich werden, wenn die allgemeine Regelung selbst veröffentlicht worden ist; eine verfrühte Durchführung dieser Entscheidungen kann sogar die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes selbst nach sich ziehen. Ich verweise hierzu auf ein interessantes Urteil betreffend eine Gesellschafterin der Comédie Française, Madame Berthe Bovy, vom 23. Juli 1943 - Rec. S. 203.
Meine Herren, die grundsätzliche Unterscheidung zwischen den Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Verwaltungsaktes und den Voraussetzungen für seine Anwendbarkeit dürfte wohl kaum angreifbar sein. Dieses Prinzip ist auch sehr deutlich in den Artikeln 14 und 15 des Vertrages verankert. Die eigentliche Frage geht darum, ob diese Unterscheidung geeignet ist, den der Verwaltung Unterworfenen ausreichende Garantien hinsichtlich des Zeitpunktes zu geben, an dem sämtliche Voraussetzungen für das Zustandekommen eines Verwaltungsaktes tatsächlich erfüllt waren. Und beim öffentlichen Recht zu bleiben: Sicher kann die Regelung, nach der an die erwähnte Unterscheidung rechtliche Wirkungen gebunden sind, in einigen Fällen Anlaß zur Beanstandung geben, und zwar deshalb, weil sehr oft die Ausarbeitung von Verwaltungsentscheidungen im Geheimen erfolgt und weil es fast unmöglich ist, die erforderlichen Nachprüfungen vorzunehmen, ganz zu schweigen von dem unerfreulichen Verdacht, der bei den der Verwaltung Unterworfenen entstehen kann, und von deren Unfähigkeit, im allgemeinen auch nur den Beginn eines Beweises zu erbringen. Dies trifft aber nicht zu, wenn, wie im vorliegenden Falle, die Entscheidungen von einem Gremium ausgehen, dessen Beratungen bestimmten Formvorschriften unterliegen (Quorum, Mehrheit usw…), deren Beachtung in einem Protokoll bescheinigt wird. Außerdem bietet dieses Gremium auch schon in seiner Zusammensetzung die beste Gewähr dafür, daß diese Vorschriften beachtet werden. Ich glaube sogar, daß die Unterscheidung hier eine Regel ordnungsmäßiger Verwaltung darstellt. Sie ist nämlich geeignet, etwaigen Bestrebungen Einhalt zu bieten, die darauf gerichtet sind, bei geringfügigen Angelegenheiten Entscheidungen zuzustellen oder zu veröffentlichen, die in Wirklichkeit in den Amtsstuben ausgearbeitet worden sind, ohne daß sie tatsächlich in die Tagesordnung einer Sitzung der Hohen Behörde aufgenommen und im Sitzungsbericht aktenkundig gemacht worden sind. Die zuletzt erwähnten Formalitäten, deren Erfüllung sich leicht nachprüfen läßt, bieten die besten Garantien für alle Beteiligten.
Ich möchte meine Auffassung somit dahingehend zusammenfassen, daß maßgeblicher Zeitpunkt der Tag ist, an dem die Entscheidungen von der Hohen Behörde im Verlauf einer ordnungsgemäß abgehaltenen Sitzung beschlossen worden sind und nicht der Zeitpunkt ihrer Zustellung.
Zweiter Punkt: An welchem Tag lief die Frist ab, die für den Erlaß der Entscheidung der Hohen Behörde maßgebend war? „Fünf Jahre nach der Errichtung des gemeinsamen Marktes für Kohle“, heißt es in § 1 Ziffer 4 des Übergangsabkommens. Es besteht vollständige Übereinstimmung darüber, daß der letzte Tag der Übergangszeit der 9. Februar 1958 war, da der gemeinsame Markt für Kohle am 10. Februar 1953 geschaffen worden ist. Sie werden sich jedoch daran erinnern, daß am Schluß der mündlichen Verhandlung auf den Umstand hingewiesen wurde, daß der 9. Februar 1958 ein Sonntag war, weswegen die Frist sich nach einer allgemein anerkannten Regel um einen Tag verlängert habe.
Man kann sich diesen Standpunkt zu eigen machen, aber es sind doch auch einige Zweifel hinsichtlich dieser Lösung erlaubt. Kann man sagen, die Verlängerung einer Frist auf Grund der Tatsache, daß der letzte Tag auf einen Sonntag fällt, sei einer jener „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, die auch ohne eine ausdrückliche Vorschrift Anwendung finden können? Im innerstaatlichen Recht wohl kaum. Im französischen Recht gibt es eine Vorschrift, nämlich den Artikel 1033 des Code de procédure civile, der durch eine Gesetzesverordnung vom 31. August 1937 abgeändert wurde. Danach werden die an einem Samstag oder an einem Feiertag endenden Fristen bis zum „ersten Werktag“, der diesem Samstag oder diesem Feiertag folgt, verlängert. Diese Vorschrift bezieht sich aber nur auf die Verfahrensfristen; es ist zweifelhaft; ob sie sich zugunsten der Verwaltung auch auf solche Fälle anwenden läßt, in denen es sich um Fristen für die Ausübung einer Befugnis handelt. Die Lage in den anderen Ländern der Gemeinschaft ist mir nicht bekannt.
Ich glaube aber nicht, daß zu diesem Punkt eine eindeutige Stellungnahme nötig ist, weil nach meiner Auffassung (und das ist der dritte Punkt) nach dem Stand der Akten und den vorgelegten Unterlagen als erwiesen anzusehen ist, daß die angefochtenen Entscheidungen am 9. Februar 1958 ergangen sind. Zunächst geht aus dem Wortlaut der Entscheidungen, wie sie im Amtsblatt veröffentlicht wurden, hervor, daß sie von der Hohen Behörde im Verlaufe ihrer Sitzung vom 9. Februar 1958 beschlossen worden sind. Ferner geht aus dem von mir bereits erwähnten beglaubigten Auszug aus dem „Protokoll der 417. Sitzung der Hohen Behörde, die am 9. Februar 1958 um 20.30 Uhr in Luxemburg stattgefunden hat“ ganz deutlich hervor: 1.) daß die Hohe Behörde am 9. Februar 1958 tatsächlich eine Sitzung abgehalten hat; 2.) daß das Gremium beschlußfähig war (es waren acht Mitglieder anwesend); 3.) daß die Frage der Eisenbahnausnahmetarife (sogar als einzige Frage) auf der Tagesordnung stand; 4.) daß es sich darum handelte, auf der Grundlage verschiedener, bereits besprochener Entwürfe, eine „formelle Entscheidung“ zu dieser Frage zu erlassen (dies erklärt die trotz der Bedeutung des behandelten Themas nicht sehr lange Dauer der Beratung); 5.) daß die Hohe Behörde nach Prüfung der verschiedenen Entwürfe und „nach Vornahme einiger Abänderungen nacheinander den Wortlaut“ der einzelnen Schreiben „festgelegt hat“. Schließlich ergibt sich aus den auf Verlangen des Gerichtshofes vorgelegten Unterlagen, daß im Verlauf dieser Sitzung tatsächlich die als Anlage dem Protokoll beigefügten Schreiben angenommen, mit dem so beschlossenen Wortlaut den beteiligten Regierungen zugestellt und danach im Amtsblatt veröffentlicht worden sind. Die Tatsache, daß die Urschrift dieser Schreiben erst am 11. Februar, d. h. an dem Tag, an dem das Protokoll ausgefertigt wurde, als Anlagen dem Protokoll beigefügt wurden, ist durchaus normal: Protokolle können nicht immer am selben Tag aufgesetzt und unterzeichnet werden.
Zu der Bemerkung, die Sitzung habe sich noch einige Zeit nach Mitternacht ausgedehnt, möchte ich offen sagen, daß ich sie nicht für beachtenswert halte. Ich möchte nicht auf gewisse Gepflogenheiten in einigen Ländern hinweisen, wo es in solchen Fällen üblich ist, „die Saaluhr anzuhalten“ (aber gibt es bei der Hohen Behörde eine solche Saaluhr?). Wir können uns lediglich an das Protokoll halten, wonach die 417. Sitzung der Hohen Behörde am 9. Februar und nicht am 10. stattgefunden hat.
Ich fasse meine Ansicht dahin zusammen, daß die angefochtenen Entscheidungen vor Ablauf der Übergangszeit ergangen sind und schlage daher vor, den von den Klägerinnen vorgebrachten Klagegrund der Unzuständigkeit ratione temporis zurückzuweisen.
II. — AUSLEGUNG DER VERTRAGSBESTIMMUNGEN
1. Allgemeine Betrachtungen
Wir wollen nun versuchen, die im vorliegenden Falle anwendbaren Bestimmungen — Artikel 70 des Vertrages und § 10 des Übergangsabkommens — im Zusammenhang mit den allgemeinen Bestimmungen des ersten Titels, und zwar insbesondere des Artikels 4 genau zu prüfen.
In Artikel 4 des Vertrages wird feierlich erklärt:
„Als unvereinbar mit dem gemeinsamen Markt für Kohle und Stahl werden innerhalb der Gemeinschaft gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages aufgehoben und untersagt:
…
b) |
Maßnahmen oder Praktiken, die eine Diskriminierung zwischen Erzeugern oder Käufern oder Verbrauchern herbeiführen, insbesondere hinsichtlich der Preis- und Lieferbedingungen und der Beförderungstarife, sowie usw…; |
c) |
von den Staaten bewilligte Subventionen oder Beihilfen oder von ihnen auferlegte Sonderlasten, in welcher Form dies auch immer geschieht." …“ |
Der Gerichtshof der EGKS hat in seinem Urteil 7 und 9/54 (RsprGH II d. 91) erklärt: „Die Bestimmungen von Artikel 4 sind selbständig und ohne weiteres anwendbar, wenn sie nicht in einem Teil des Vertrages näher bestimmt werden. Werden hingegen die Bestimmungen von Artikel 4 in anderen Teilen des Vertrages genannt, näher bestimmt oder geregelt, so müssen die Texte, die sich auf ein und dieselbe Bestimmung beziehen, im ganzen betrachtet und gleichzeitig angewendet werden.“
Das gilt für die Vorschriften über die Nichtdiskriminierung bei Preisen, wie der Gerichtshof in seinem Urteil 1/54 (RsprGH I d. 23) festgestellt hat; das gilt aber auch für das Gebiet der Beförderungstarife, die, wie Sie gesehen haben, in Artikel 4 b gleichzeitig mit den Preisen genannt sind. Ganz offensichtlich spielt Artikel 70 für die Beförderungstarife im Verhältnis zu der Verbotsvorschrift von Artikel 4 eine ähnliche Rolle wie Artikel 60 für die Preise. Das ist leicht verständlich, wenn man an die Bedeutung der Transportkosten bei der Bildung der von den Käufern der EGKS-Erzeugnisse bezahlten Preise denkt. Darüber hinaus zeigt auch die Art der Abfassung dieser beiden „Durchführungsbestimmungen“ (Artikel 60 und Artikel 70) auf frappierende Weise durch analoge Definitionen des Diskriminierungsbegriffs die Ähnlichkeit der beiden Situationen: „diskriminierende Praktiken“ auf dem Gebiet der Preise sind solche Praktiken, „die auf dem gemeinsamen Markt die Anwendung von ungleichen Bedingungen auf vergleichbare Geschäfte durch ein- und denselben Verkäufer mit sich bringen, insbesondere wenn die Käufer wegen ihrer Nationalität unterschiedlich behandelt werden“ (Artikel 60), während nach Artikel 70 „anerkannt“ wird, „daß die Errichtung des gemeinsamen Marktes die Anwendung solcher Transporttarife für Kohle und Stahl erforderlich macht, die den in vergleichbarer Lage befindlichen Verbrauchern vergleichbare Preisbedingungen bieten“ und daß „im Verkehr zwischen den Ländern der Gemeinschaft insbesondere die auf dem Herkunfts- oder Bestimmungsland der Erzeugnisse beruhenden Diskriminierungen bei den Frachten und Beförderungsbedingungen aller Art verboten“ sind. Wir haben also in beiden Fällen eine Definition der Diskriminierung, die auf dem Begriff der Vergleichbarkeit beruht, und in beiden Fällen liegt die Betonung — durch das Wort „insbesondere“ — auf den nationalen Diskriminierungen.
Aus dieser Nebeneinanderstellung der Texte läßt sich bereits eine erste Schlußfolgerung ziehen, nämlich die, daß Artikel 70 Absatz 1 eine Rechtsvorschrift enthält, die von sich aus rechtliche Wirkungen zu zeitigen vermag. Es handelt sich nicht, wie behauptet wurde, lediglich um eine „Verwirrung stiftende“ Klausel, die nur zusammen mit Artikel 67 angewandt werden kann. Es ist doch kaum vorstellbar, daß die Verfasser des Vertrages Diskriminierungen auf dem Gebiet der Verkehrstarife in den Verbotsvorschriften des Artikels 4 erwähnt hätten, wenn sie damit nicht die Absicht verfolgt hätten, diese Diskriminierungen als solche als vertragswidrig anzusehen und sie unmittelbar auszuschließen. Artikel 70 Absatz 1 kann keine geringere Bedeutung als Artikel 4 haben. Ganz offensichtlich bezieht er sich auf das in diesem Artikel ausgesprochene Verbot und nicht auf Artikel 67. Die letztgenannte Bestimmung findet nur auf Verzerrungen oder Störungen Anwendung, die „die Maßnahme eines Mitgliedstaates“ für den gemeinsamen Markt auf Gebieten hervorrufen kann, die unter der nationalen Kompetenz verblieben sind, für die der Vertrag keine besonderen Vorschriften enthält und der Gemeinschaft keine eigene Zuständigkeit verleiht, wie z. B. im Steuerwesen. Auf dem Gebiet der Verkehrstarife dagegen wurde der Artikel 67 als unzureichend angesehen; hier sind besondere Vorschriften vorhanden, und hier hat auch eine Kompetenzübertragung stattgefunden. Diese Vorschriften müssen angewendet und die entsprechenden Befugnisse ausgeübt werden.
Richtig ist allerdings, daß nur eine teilweise und begrenzte Zuständigkeitsübertragung stattgefunden hat, und zwar auch hinsichtlich der Beförderungstarife für Erzeugnisse der Gemeinschaft. Die Zuständigkeiten sind hier mit den Mitgliedstaaten geteilt. Tatsächlich hat die Hohe Behörde nur eine geringe Anzahl von eigenen Befugnissen, wie z. B. die nach Artikel 70 Absatz 4. In den meisten Fällen ist die Hohe Behörde vor allem die „treibende Kraft“ und übernimmt die Aufgabe der Koordinierung, während die Entscheidung den Regierungen vorbehalten bleibt, aber die hierfür maßgebenden Grundregeln in den Bestimmungen des Vertrages und des Übergangsabkommens sind durchaus verbindlich und direkt anwendbar, und die Artikel 86 und 88 dienen als rechtliche Hilfsmittel bei der Anwendung dieser Bestimmungen.
Nachdem wir zunächst die Ähnlichkeiten mit den Vorschriften über die Nichtdiskriminierung bei Preisen erkannt haben, beginnen wir nun auch die Unterschiede festzustellen. Diese rühren offensichtlich daher, daß im Rahmen der EGKS nur eine teilweise Integration erfolgt ist und daß es keine europäische Verkehrsgemeinschaft gibt; sie beruhen aber auch auf der Natur der Dinge. Bei den Preisen genügte es, den Inhalt der Vorschrift über die Nichtdiskriminierung festzustellen und im Rahmen des Möglichen genau zu bestimmen sowie eine allgemeine Kontrollvorschrift, die Veröffentlichungspflicht, zu schaffen; hierzu dienen der Artikel 60 und die von der Hohen Behörde für seine Anwendung getroffenen Regelungen. Es bleibt hier nur noch das Problem der Überwachung der Unternehmen, welche verpflichtet sind, die erlassenen Vorschriften zu befolgen um so die Beachtung der Regel sicherzustellen. Diese Regelung konnte bei der Eröffnung des gemeinsamen Marktes eingeführt und seither ohne Zuhilfenahme von Übergangsmaßnahmen durchgeführt werden.
Ganz anders ist es bei den Verkehrtarifen. Die vollständige Ausschaltung jeder tariflichen Diskriminierung, auch bei Beschränkung auf die Beförderung von Erzeugnissen der Gemeinschaft, bildet ein schwieriges Unterfangen, denn es ist dabei zu berücksichtigen, daß das Verkehrswesen und das Wirtschaftsleben ebensowenig wie die Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten miteinander verschmolzen wurden. Nicht nur die rein wirtschaftlichen Bedingungen des „Preises“ für Tranportleistungen unterscheiden sich in den einzelnen Ländern je nach den allgemeinen wirtschaftlichen Voraussetzungen (Löhne usw…) und auch nach den eigentlichen Transportbedingungen selbst (Anlagekosten, Verkehrsdichte, Bestehen mehrerer miteinander im Wettbewerb stehender Transportarten usw…); auch die auf dem Gebiet des Verkehrswesens verfolgte Politik ist in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich. So wurde z. B. in den Niederlanden von jeher aus Tradition die kommerzielle Seite des Transportwesens betont. In Deutschland wurde ebenfalls aus Tradition eine echte Tarifpolitik betrieben, die im Dienst der allgemeinen Wirtschaftspolitik steht, während in Frankreich, wo zu allen Zeiten der Begriff „service public“ im Vordergrund stand, seit vielen Jahren unablässige Bemühungen im Gange sind, die darauf hinzielen, so weit wie möglich den wirtschaftlichen und technischen Betriebsbedingungen Rechnung zu tragen.
Im Gegensatz zum Preisrecht handelte es sich daher bei den Fragen der Verkehrstarife, die der Vertrag zu lösen hatte, im wesentlichen um Übergangsprobleme, denn es mußte geklärt werden, wie die Voraussetzungen für die Errichtung des gemeinsamen Marktes auf diesem Gebiet geschaffen werden sollten. Dies erklärt auch, warum es während der Vorarbeiten zum Vertrag lange Zeit nur eine Vorschrift gab, die in das Abkommen über die Übergangsbestimmungen aufgenommen werden sollte und die den Zweck hatte, das Programm für die nacheinander zu treffenden Maßnahmen zur Erreichung der Vertragsziele festzulegen. Hieraus erklärt es sich auch, daß nach dem „Schnitt“, den man für erforderlich hielt, damit in den Vertrag selbst eine Aufzählung der materiell-rechtlichen Vorschriften über die Nichtdiskriminierung aufgenommen werden konnte, auch jetzt noch in Artikel 70 Spuren einer „programmatischen“ Ausdrucksweise zu finden sind, die in ihrer dynamischen Ausgestaltung normalerweise nur in Übergangsbestimmungen einen Platz haben sollte. Es handelt sich um Ausdrücke wie z. B. „die Errichtung des gemeinsamen Marktes“ in Absatz 1 oder „die Beseitigung dieser Diskriminierungen“ in Absatz 2.
Aber diese stilistischen Unvollkommenheiten können den Juristen nicht irreführen: Die in Artikel 70 enthaltenen und mit Recht in den Vertrag aufgenommenen Grundbestimmungen sind bleibende Vorschriften, deren strenge Einhaltung je nach der Verwirklichung der einzelnen, im Übergangsabkommen vorgesehenen Etappen geboten ist, die aber nach ihrem Inhalt auch für die Ziele dieser Verwirklichung selbst bestimmend sind. Sobald sie vollständig verwirklicht sind, d. h. sobald das in § 10 des Übergangsabkommens vorgezeichnete Programm in seiner Gesamtheit erfüllt ist, werden allein die Bestimmungen von Artikel 70 in Kraft bleiben, und — wie auf allen anderen Gebieten — wird die Aufgabe der Hohen Behörde lediglich darin bestehen, sich zu vergewissern, daß die beseitigten Diskriminierungen nicht wieder auftauchen und daß keine neuen Diskriminierungen entstehen.
Wir haben also auf der einen Seite die Grundregeln, die materiell-rechtlichen Vorschriften, die in Artikel 70 genannt sind, und auf der anderen Seite das in § 10 aufgestellte Programm. Zwischen diesen beiden Texten bestehen Parallelen, die zwar nicht auf den ersten Blick ins Auge fallen, die sich jedoch bei einiger Aufmerksamkeit recht gut erkennen lassen.
Da ist zunächst die allgemeine Definition des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung in Artikel 70 Absatz 1, die, wie wir gesehen haben, für die Zukunft das Verbot diskriminierender dieser Bestimmung widersprechender Maßnahmen mit einschließt. Eine ausdrückliche Neuformulierung des Verbots wurde nicht für zweckmäßig gehalten, da es bereits in Artikel 4 b ausgesprochen ist. Die zur Beseitigung der bestehenden tariflichen Diskriminierungen dienende „Parallelbestimmung“ ist im wesentlichen in § 10 Absatz 2 Ziffer 3 enthalten und kommt in den Worten „aufeinander abgestimmt“ zum Ausdruck. Hierin liegt das zur Stunde noch nicht gelöste grundlegende Problem auf diesem Gebiet. Eine erste Harmonisierungsmaßnahme, die man ergreifen zu können und in Kraft setzen zu müssen glaubte, ohne die vollständige Harmonisierung abzuwarten, war die Einführung von direkten internationalen Tarifen mit degressivem Charakter unter Berücksichtigung der Gesamtentfernung. Wir finden sie in § 10 Absatz 2 Ziffer 2. Diese Vorschriften wurden eingehalten, weil die Sachverständigen und die Regierungen in dem anerkennenswerten Geiste der Zusammenarbeit, der in der Anfangszeit herrschte, diese direkten internationalen Tarife in Rekordzeit zur Anwendung bringen konnten.
Aber neben dem allgemeinen Problem der Harmonisierung sind noch zwei Diskriminierungsfälle in besonderen Bestimmungen geregelt worden:
1.) |
Im internationalen Bereich: Der Fall tariflicher Diskriminierungen, die auf dem Ursprungsland oder dem Bestimmungsland der Erzeugnisse beruhen; hierfür findet sich die Grundregel in Artikel 70 Absatz 2 und die „Parallelbestimmung“ in § 10 Absatz 2 Ziffer 1. |
2.) |
Im innerstaatlichen Bereich: Der Fall der „Ausnahmetarife im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung und Stahlerzeugung“. Es ist nicht gesagt, daß diese Maßnahmen notwendigerweise diskriminierend sind, wohl aber, daß ihre „Anwendung … der vorherigen Genehmigung der Hohen Behörde bedarf, die sich vergewissert, daß die Maßnahmen mit den Grundsätzen des Vertrages im Einklang stehen“, und daß die Hohe Behörde „die Genehmigung bedingt oder befristet erteilen kann“. Es sind also gewisse Unterschiede zu machen (wir werden versuchen herauszufinden, welche). Die „Parallelbestimmung“ hierzu ist in § 10 Absatz 7 zu finden, der zur Beseitigung derjenigen „Ausnahmetarife im Binnenverkehr“ bestimmt ist, die als den Grundsätzen des Vertrages widersprechend angesehen werden, falls nicht „für ihre Abänderung die Fristen“ bewilligt werden, „die erforderlich sind, um jede schwere wirtschaftliche Störung zu vermeiden“. |
Um im Bereich der Verkehrstarife die Voraussetzungen für die Errichtung des gemeinsamen Marktes zu schaffen, d. h. um zur tatsächlichen Anwendung der in Artikel 4 aufgestellten und in Artikel 70 Absatz 1 näher erläuterten Vorschrift zu kommen, wollten die Verfasser des Vertrages also stufenweise vorgehen und mit den Maßnahmen anfangen, die am dringendsten und auch am leichtesten durchführbar erschienen. Aus der soeben vorgenommenen Untersuchung läßt sich klar erkennen, daß man zwar die Harmonisierung für erforderlich gehalten hat für die vollständige Erreichung des angestrebten Zieles, daß man aber auch glaubte, vorher unabhängig von dieser Harmonisierung gewisse Teilreformen durchführen zu müssen.
Die Eigenständigkeit der Vorschriften über diese Teilmaßnahmen ergibt sich nicht nur aus den „Parallelen“, die wir in jedem einzelnen Fall zwischen Artikel 70 und § 10 beobachten konnten, sondern auch daraus, daß zur Durchführung der einzelnen Maßnahmen besondere und verschieden lange Fristen festgesetzt worden sind. So mußte die Beseitigung der im Widerspruch zu Artikel 70 Absatz 2 stehenden Diskriminierungen (auf dem Herkunfts- oder Bestimmungsland beruhende tarifliche Diskriminierungen) bis zur Errichtung des gemeinsamen Marktes für Kohle, d. h. bis zum 10. Februar 1953 erfolgt sein. Was die direkten internationalen Tarife angeht, die bereits eine Maßnahme der Harmonisierung darstellen, so war die Hohe Behörde verpflichtet, sie nach 21/2 Jahren in Kraft zu setzen, auch wenn die Zustimmung der Regierungen zur Gesamtharmonisierung noch nicht vorlag. Für die Abänderung der Ausnahmetarife im Binnenverkehr, die uns hier interessieren, war die Frist, wie wir gesehen haben, ebenso lang wie die Übergangszeit selbst. Dagegen wurden für die Harmonisierungsmaßnahmen keine Fristen festgesetzt; die Vorschrift ist so abgefaßt, daß sie keine rechtliche Verpflichtung für die Regierungen mit sich bringt, diese Maßnahmen vor Beendigung der Übergangszeit in Kraft zu setzen, eine Vorsichtsmaßnahme, die sich natürlich aus den bei der Erfüllung dieser Aufgabe vorauszusehenden Schwierigkeiten ergab.
Diese Feststellung ist nach meiner Ansicht von wesentlicher Bedeutung. Sie hat zur Folge, daß die Sonderbestimmungen von Artikel 70 Absatz 4, solange die so sehr erwünschte und so langwierige Harmonisierung noch nicht erfolgt ist, in der Weise angewandt werden müssen, daß von den in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Tarifbestimmungen in ihrer augenblicklichen Fassung ausgegangen wird; in gleicher Weise konnten auch die in Artikel 70 Absatz 2 genannten Diskriminierungen im internationalen Verkehr in dem unverändert gebliebenen Rahmen der einzelnen staatlichen Tarifsysteme aufgehoben und direkte internationale Tarife eingeführt werden. Jede andere Auffassung würde die Ergebnisse der dieser Harmonisierung dienenden Untersuchungen willkürlich vorwegnehmen und in unzulässiger Weise den nach Artikel 70 Absatz 5 in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbliebenen Bereich verletzen.
2. Auslesung von Artikel 70 Absatz 4
Welchen Sinn hat nun von diesem Gesichtspunkt aus der vierte Absatz von Artikel 70, auf dessen richtige Auslegung es in diesem Rechtsstreit vor allem ankommt? Es ergeben sich zwei Fragen:
a) |
Was ist unter „Ausnahmetarifen im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung und Stahlerzeugung“ zu verstehen? |
b) |
Welche Bedeutung hat die Wendung „mit den Grundsätzen des Vertrages im Einklang stehen“, was Voraussetzung für die Genehmigung dieser Tarife ist? |
Die Antwort auf die erste Frage läßt sich nach' meiner Ansicht nur im Bereich des Verkehrs und in der ihm eigenen Sprache finden, und zwar insbesondere auf dem Gebiet des Eisenbahnverkehrs, der von der genannten Bestimmung hauptsächlich betroffen wird.
Man braucht kein Verkehrsexperte zu sein, um zu wissen, daß in den Ländern der Gemeinschaft, jedenfalls aber in Deutschland und Frankreich (den beiden einzigen Ländern, für die die Hohe Behörde Tarifentscheidungen erlassen hat) ständig zwischen „Regeltarifen“ und „Ausnahmetarifen“ unterschieden wird. „Regeltarife“ sind jedoch, zumindest auf dem Gebiet des Güterverkehrs, nicht nur diejenigen, die auf jede Beförderungsart anwendbar sind und nach Gewicht oder Wert berechnet werden. Zunächst wird nach den technischen Beförderungsbedingungen unterschieden zwischen: Einzel- und Waggonbeförderung und — wie in Frankreich — Beförderung in ganzen Zügen. Weiter kann nach der Art der beförderten Güter unterschieden werden (z. B. in Frankreich zwischen Transport von Koks und Kohle, deren auf die Tonne berechnete Tarife sich entsprechend dem verschiedenen Volumen dieser beiden Güter unterscheiden). Noch weitergehende Unterscheidungen können nach der Herkunft oder nach dem Bestimmungsort der Güter getroffen werden. Das sind dann, wie z. B. in Deutschland, die Ausnahmetarife oder AT für gewisse Transporte von mineralischen Brennstoffen oder von Eisenerz, die gegenüber dem allgemeinen, auf diese Güter anwendbaren Tarif Ermäßigungen bieten. Aber wenn es sich auch bei diesen Tarifen um „Ausnahmetarife“ handelt, so können sie doch eine sehr breite Grundlage haben, wie z. B. der AT 6 B 1, der grundsätzlich für alle Brennstofftransporte vom Ort der Kohleförderung ab gilt.
Dieser Tarif hat in Wirklichkeit den Charakter eines echten Binnentarifs mit allgemeinem Geltungsbereich und hat deswegen auch als Grundlage für den sogenannten EGKS- Tarif 102 gedient; im deutschen Bereich ist dies der auf Grund von § 10 des Übergangsabkommens ausgearbeitete direkte internationale Tarif. Aber auch diese Tarife stellen immer noch nicht die in Artikel 70 Absatz 4 genannten „Ausnahmetarife im Binnenverkehr“ dar, die „zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung oder Stahlerzeugung“ geschaffen wurden.
Dagegen ist zu fragen, ob die Tarife AT 6 B 30 bis 33 sowie die Ausnahmetarife für die Beförderung von Eisenerz hierunter fallen, die von der Hohen Behörde geprüft und in den angefochtenen Entscheidungen behandelt wurden. Alle diese Tarife gelten nämlich nur für Transporte entweder von bestimmten Revieren zu bestimmten Bahnhöfen (Kohle) oder von bestimmten Bahnhöfen bzw. Häfen zu bestimmten Bahnhöfen (Erz). Hier besteht also eine so starke örtliche Bindung, daß die betreffenden Tarife offensichtlich als eine Begünstigung bestimmter Unternehmen erscheinen, die den normalen Tarif nur auf Grund ihres Standortes nicht zu zahlen brauchen. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise, daß diese Tarife (die als solche zweifellos die Bezeichnung Ausnahmetarife verdienen) zugunsten der Unternehmen geschaffen oder beibehalten wurden, denen sie zustatten kommen. Hier begegnen wir der klassischen Unterscheidung zwischen „Wettbewerbstarifen“ und „Unterstützungstarifen“. Wenn der Ausnahmecharakter des Tarifs, d. h. die Ermäßigung, die er gegenüber dem Grundtarif bietet, auf der tatsächlichen oder möglichen Existenz eines anderen Verkehrsmittels beruht, so ist diese Ermäßigung nicht zugunsten des Unternehmens, sondern zugunsten des Verkehrsträgers eingeführt worden, der ohne diese Ermäßigung Gefahr liefe, seine Transportaufträge zu verlieren. Vom Standpunkt des Unternehmens aus gesehen, handelt es sich lediglich um einen ihm zugute kommenden günstigeren Standort, den es in Kenntnis der Sachlage sogar selbst hat wählen können. Selbstverständlich müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, damit ein solcher Tarif nicht als diskriminierend anzusehen ist: es muß das tatsächliche oder mögliche Bestehen eines Wettbewerbs durch andere Verkehrsträger ausreichend nachgewiesen sein; es muß der Tarif an den Tarif des konkurrierenden Verkehrsträgers richtig angepaßt sein; es muß nachgeprüft werden, ob der Tarif dieses Verkehrsträgers ebenfalls ordnungsgemäß zustande gekommen ist, und es muß schließlich nachgeprüft werden, ob der Wettbewerbstarif innerhalb der Grenzen bleibt, bei deren Unterschreitung er unter Berücksichtigung der Betriebsbedingungen den Charakter einer Subvention annehmen würde. In der grundsätzlichen Frage aber dürfte es nach meiner Ansicht keine Schwierigkeiten geben: Ein ausreichend gerechtfertigter und ordnungsgemäß zustande gekommener Wettbewerbstarif bedarf nicht der Zustimmung der Hohen Behörde gemäß Artikel 70 Absatz 4. Hierüber sind sich die Parteien im übrigen einig.
Bedeutet dies, daß jeder andere wirkliche Ausnahmetarif, d. h. jeder Tarif, der durch seine örtliche Begrenzung in geographischer Hinsicht vom normalen Tarif abweicht, unter Artikel 70 Absatz 4 fällt? Ich glaube es nicht, zumindest nicht, wenn man die Frage, wie es mir geboten erscheint, unter verkehrstechnischen Gesichtspunkten betrachtet.
Man kann sich nämlich einen Fall vorstellen, bei dem die Beseitigung des Ausnahmetarifs nur zu einer Verkehrsverlagerung führen würde, ohne notwendigerweise den Betrieb des betreffenden Unternehmens zu gefährden, das sich lediglich nach anderen Lieferquellen oder nach anderen Absatzgebieten umsehen würde. Dieser Fall kommt dem der Wettbewerbstarife ziemlich nahe. Es ist dabei Sache des Verkehrsträgers, die Vorteile und Nachteile der beiden Lösungen gegeneinander abzuwägen, d. h. die Wirkungen des auf der einen Seite zu erleidenden Verkehrsverlustes mit den Wirkungen der auf der anderen Seite zu erwartenden Zunahme zu vergleichen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Verkehrszunahme bei Verbindungswegen auftreten wird, für die der normale Tarif Anwendung findet. Hierbei sind vielerlei Gesichtspunkte von Bedeutung. Zunächst die Auswirkungen des Verkehrsverlustes: Wird er dazu führen, daß die Linie unter weit kostspieligeren Bedingungen betrieben werden muß (was ein Nachteil wäre) oder gar zu ihrer Schließung (was dagegen ein Vorteil wäre)? Wird der neue Verkehrsstrom mit einer vorteilhaften „Rückfracht“ verbunden sein oder im Gegenteil zu einem Ausfall der Rückfracht führen? Wenn die Beibehaltung des Ausnahmetarifs unter Abwägung aller dieser Faktoren für den Verkehrsträger vorteilhaft erscheint, so kann man nicht sagen, daß er „zugunsten des Unternehmens“ angewandt wird; er fällt dann nicht unter Artikel 70 Absatz 4.
Selbstverständlich darf der Ausnahmetarif in diesem Fall wie auch im Fall des Wettbewerbs mit einem anderen Verkehrsmittel keineswegs dazu führen, daß der Betrieb der Linie ein Verlustgeschäft würde, denn dann würde er den Charakter einer Subvention annehmen.
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß nach meiner Auffassung der Anwendungsbereich von Artikel 70 Absatz 4 auf den Fall zu beschränken ist, bei dem ein „Ausnahmetarif“ tatsächlich dazu dient, die Betriebsbedingungen des oder der Unternehmen zu begünstigen, welche die darin vorgesehenen örtlichen Voraussetzungen erfüllen. Das heißt natürlich nicht, daß der Urheber des Tarifs (ein Verkehrsträger oder eine Behörde) im Privatinteresse des Unternehmens handelt; normalerweise handelt er entweder im öffentlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Interesse (Regionalpolitik, industrielle Dezentralisierung usw…) oder im Interesse des Verkehrsträgers selbst (Notwendigkeit der Verkehrserhaltung); diese beiden Interessen können sich übrigens auch überschneiden. Aber welches Ziel auch immer verfolgt wird, es wird den beteiligten Unternehmen dabei in Form des Ausnahmetarifs eine Unterstützung gewährt. So ist es bei den AT 6 B 30 bis 33 und bei den Ausnahmetarifen für Eisenerz, soweit sie nicht den Charakter von ordnungsgemäß berechneten Wettbewerbstarifen haben und soweit sie nicht auf der Befürchtung beruhen, es könnte zu einer „Verkehrsverlagerung“ mit den von uns soeben untersuchten Auswirkungen kommen: Insoweit ist ihre Beibehaltung von der Zustimmung der Hohen Behörde gemäß Artikel 70 Absatz 4 abhängig.
Zweite Frage: Was bedeutet die Wendung „die sich vergewissert, daß die Maßnahmen mit den Grundsätzen des Vertrages im Einklang stehen“? Um welche Grundsätze handelt es sich? Welche Befugnisse hat die Hohe Behörde hierbei?
Sie kennen die Ansicht der Beklagten zu diesem Punkt: Unterstützungstarife seien als solche diskriminierend; sie stünden als solche in Widerspruch zu den Bestimmungen von Artikel 70 Absatz 1 und müßten daher grundsätzlich beseitigt werden. Dennoch sei die Hohe Behörde auf Grund einer Art Ermessensbefugnis, die in der mündlichen Verhandlung mit dem „Dispens“ des kanonischen Rechts verglichen wurde, berechtigt, Ausnahmen von der Verbotsvorschrift zuzulassen, wenn sie der Ansicht sei, daß diese Ausnahmen für die Verfolgung der Vertragsziele „notwendig“ sind.
Meine Herren, ich kann einer solchen Theorie, die übrigens in den angegriffenen Entscheidungen nicht zum Ausdruck kommt, nicht zustimmen (tatsächlich ist in den Entscheidungen keinerlei Theorie zu erkennen).
Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung fand seinen Niederschlag in der Vorschrift des Artikels 4 und eine genaue Definition in Artikel 70 Absatz 1; er kann keine Ausnahme zulassen und keine Abweichungen dulden. Im Gegenteil, es ist einer jener Grundsätze, — ähnlich wie das Verbot der Subventionen, das ebenfalls in Artikel 4 niedergelegt ist — deren Beachtung die Hohe Behörde nachzuprüfen hat, wenn ein Genehmigungsantrag gemäß Artikel 70 Absatz 4 gestellt wird. Warum aber, so wird man fragen, ist eine solche Zustimmung notwendig? Ganz einfach deswegen, weil es sich hier um einen Fall handelt — Ausnahmetarife zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen —, bei dem die Vermutung besteht, daß eine den Wettbewerb im gemeinsamen Markt verfälschende Unterstützung oder Diskriminierung gegeben ist: Daher die obligatorische vorhergehende Einschaltung der Hohen Behörde, die über die Anwendung der Grundsätze des Vertrages zu wachen hat.
Eine solche Auslegung setzt natürlich voraus, daß „Unterstützungstarife“ nicht notwendigerweise in jedem Falle gegen die Grundsätze des Vertrages verstoßen. Es ist nun zu ermitteln, ob und inwieweit diese These zutrifft.
Hierbei hängt alles davon ab, welche Auffassung von der Vorschrift der Nichtdiskriminierung auf dem Gebiet der Beförderungstarife die richtige ist.
Ich glaube, man muß diese Vorschrift im Rahmen der in dem betreffenden Lande geltenden Verkehrsordnung beurteilen: Wir haben gesehen, daß dies die einzig sinnvolle Auslegung ist, wenn es sich, wie in diesem Falle, darum handelt, während der Übergangszeit den auf die Beseitigung oder Abänderung der Ausnahmetarife im Binnenverkehr gerichteten Teil des in § 10 aufgestellten „Planes“ zur Anwendung zu bringen, bevor die einzelnen Tarifordnungen aufeinander abgestimmt werden konnten. In den Augen der Verfasser des Vertrages gilt die Anwendung eines Tarifs mit allgemeinem Geltungsbereich oder doch wenigstens eines lediglich nach der Art der Beförderungsbedingungen abgestuften Tarifs zweifellos von vornherein als nichtdiskriminierend. Im Gegensatz dazu werden die von dem normalen Tarif abweichenden sogenannten „Unterstützungstarife“allein deshalb wenn auch nicht unbedingt als diskriminierend, so doch wenigstens als „verdächtig“ im Hinblick auf die Regel angesehen; es ist dann eine nähere Prüfung am Platze. Diese Auffassung ist vielleicht vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen nicht vollkommen; sie ist aber verhältnismäßig einfach und paßt recht gut zu der allgemeinen Doktrin, die sich aus der Gesamtheit der Vertragsbestimmungen ergibt.
Einer der wichtigsten Grundsätze nämlich, die nach Auffassung der Verfasser des Vertrages den gemeinsamen Markt beherrschen, beruht auf dem Begriff der Gleichheit im Verhältnis zu den „natürlichen“ Bedingungen und insbesondere auf der Beachtung der geographischen Gegebenheiten (protection géographique). Hier begegnen wir dem meiner Ansicht nach grundlegenden Irrtum, den die meisten Klägerinnen mit der Annahme begehen, daß die Möglichkeit, wenn nicht gar die Verpflichtung bestehe, bei den Verkehrstarifen die örtliche Lage eines Unternehmens als eine gegebene Tatsache zu berücksichtigen und die Tarife entsprechend zu gestalten. Diese Auffassung wurde in besonders eindrucksvoller Weise von Professor Mestmaecker vorgetragen, der das Land Hessen vertritt. Nach meiner Ansicht ist aber das Gegenteil richtig: Der Verkehr ist eine gegebene Tatsache, der sich die Unternehmen anpassen müssen, und der Verkehr selbst muß so angelegt sein, daß er nicht zu einer Diskriminierung führt. Bei der Beseitigung von Diskriminierungen kann es unter Umständen zu Strukturveränderungen und Produktionsverlagerungen kommen. Im übrigen sind aber alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden, um allzu heftige Auswirkungen dieser Verlagerungen abzuschwächen. Das ist die Vorbedingung, die im Vertrag als erforderlich angesehen wird, damit „in fortschreitender Entwicklung die Voraussetzungen“ geschaffen werden, „die von sich aus die rationellste Verteilung der Erzeugung auf dem höchsten Leistungsstande sichern“, wie es in Artikel 2 heißt, d. h. ein echter, auf europäischer Ebene angelegter gemeinsamer Markt für die Grunderzeugnisse.
Die aus den Bestimmungen über die Preise hergeleitete Begründung für die gegenteilige Auffassung erscheint mir keineswegs schlüssig. Denn auf dem Gebiet der Preise sind zweifellos die Grundsätze maßgebend, die ich soeben aufgezeigt habe: Insbesondere wird der Faktor „Verkehr“ als eine gegebene Tatsache angesehen, da die natürlichen Vorteile, die sich aus der Beachtung der geographischen Lage ergeben, als ein wesentliches Element des Wettbewerbs gelten, der nicht verfälscht werdendarf.
Allerdings erfährt dieser Grundsatz gewisse Abschwächungen, wie z. B. durch die Wahl der Parität, durch das Recht der Preisausrichtung (Artikel 60) oder durch die Möglichkeit der Festsetzung von „Zonenpreisen“ (Artikel 62). Aber diese Abschwächungen sind begrenzt und die Tatsache, daß sie bestehen, bestätigt nur die Regel. Ich werde nachher prüfen, ob nicht gerade auch die Bestimmungen von Artikel 70 Absatz 4 einen abschwächenden Charakter haben. Im Augenblick wollen wir nur folgendes festhalten:
1) |
Für den Diskriminierungsbegriff ist das Tarifsystem selbst maßgebend und nicht die Standortbedingungen der Unternehmen; |
2) |
Bei der Anwendung von § 10 Absatz 7 ist bis zur erfolgten Harmonisierung der Tarifordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten davon auszugehen, daß nach der augenblicklich geltenden Tarifordnung die Vermutung besteht, daß Unterstützungstarife diskriminierend sind. |
Unter diesen Umständen ist jeder Hinweis auf das amerikanische, aus dem Interstate Commerce Act abgeleitete System und auf die Rechtsprechung der Interstate Commerce Commission abzulehnen. Es handelt sich dabei um die Anwendung einer umfassenden Rechtsordnung über das Transportwesen, die von einem Bundesstaat in Ausübung voller Souveränität ausgearbeitet worden ist. Europa ist noch nicht so weit, auch, nicht das Klein-Europa der sechs Staaten! Außerdem unterscheiden sich die für die Organisation des Verkehrswesens in den Vereinigten Staaten maßgebenden Grundsätze ganz erheblich von den für die westeuropäischen Länder und insbesondere für Deutschland geltenden Grundsätzen. In den Vereinigten Staaten gilt das Prinzip der freien Organisation des Verkehrswesens, das auf dem Wettbewerb zwischen den einzelnen Verkehrsarten, unter Umständen sogar auf dem Wettbewerb zwischen einzelnen Unternehmen des gleichen Beförderungszweiges beruht. Der Gesetzgeber hat lediglich die Aufgabe, darüber zu wachen, daß das freie Spiel des Wettbewerbs nicht verfälscht wird. Dies ist nichts anderes als die praktische Nutzanwendung der amerikanischen Idee von der Freiheit des Handels und des Wettbewerbs auf das Verkehrswesen; diese Idee hat übrigens auf viele Teile des EGKS-Vertrages stark eingewirkt.
So lesen wir in Anlage D zu dem Bericht von Herrn Kapteyn über die Koordinierung des europäischen Verkehrswesens, den wir bereits erwähnt haben und der eine eingehende Behandlung des Interstate Commerce Act und seiner Anwendung enthält:
„Das Ziel der Verkehrsgesetzgebung besteht darin, die freie Entwicklung und den freien Betrieb in allen Verkehrszweigen durch Privatinitiative zu fördern und dies durch solche behördlichen Vorschriften zu ermöglichen, wie sie von Zeit zu Zeit notwendig sind, um sicherzustellen, daß jedes Verkehrsunternehmen seine Aufgabe im öffentlichen Interesse erfüllt und dabei ein gerechtes und angemessenes Entgelt für die von ihm geleisteten Verkehrsdienste erhält. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Selbstverantwortlichkeit der Verkehrsträger für die von ihnen aufzustellenden Tarife und Verkehrsbedingungen.“
Das Allgemeininteresse ist also dadurch zu wahren, daß die Tätigkeit der in ihrer Organisation und in ihrer Preisbildung freien Transportunternehmer überwacht wird, nicht aber dadurch, daß der Staat als Herr der Tarifbildung unmittelbar eingreift. Der Gegensatz zwischen den beiden Systemen ist auffallend. Man kann sogar sagen, daß die hier von mir vertretene Auffassung, derzufolge der Verkehrsstandpunkt maßgeblich ist, der amerikanischen Auffassung näherkommt als die von den Klägerinnen vertretene Auffassung, und daß die Beseitigung der hinsichtlich des Transports als diskriminierend angesehenen Ausnahmetarife im Binnenverkehr einen ersten Schritt darstellt auf dem Wege zu einer auf gesunden wirtschaftlichen Grundsätzen beruhenden Harmonisierung der Tarifordnungen im Rahmen der Gemeinschaft.
Wenn man also davon ausgeht, daß die „Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Vertrages“, insbesondere mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung (die rechtliche Voraussetzung für die Genehmigung von Unterstützungstarifen durch die Hohe Behörde nach Artikel 70 Absatz 4) nach verkehrspolitischen Gesichtspunkten zu betrachten ist, wird es leichter sein festzustellen, in welchen Fällen Unterstützungstarife als genehmigungsfähig angesehen werden können.
Wir haben bereits gesehen, unter welchen Voraussetzungen Wettbewerbstarife als zulässig anzusehen sind. Ich glaube, in der gleichen Sicht müssen wir auch die Unterstützungstarife prüfen, d. h. es ist vor allem das Interesse des Verkehrsträgers an der Beibehaltung der Tarife zu berücksichtigen, das mit dem Interesse des Unternehmens zusammentreffen muß. Es ist demnach in jedem Fall festzustellen, ob die, wie wir annehmen wollen, einem oder mehreren bestimmten Unternehmen in Form eines besonderen tariflichen Vorteils gewährte „Unterstützung“ erforderlich ist, um den Verkehr unter solchen Bedingungen aufrechtzuerhalten, die dem tariflichen Vorteil nicht den Charakter einer Subvention geben.
Hierzu gehört natürlich in erster Linie, daß die Betriebsbedingungen des Unternehmens die Anwendung des normalen Tarifs nicht zulassen, d. h. mit anderen Worten, daß das Unternehmen den ermäßigten Tarif tatsächlich benötigt, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies ist die erste Voraussetzung für die Gewährung eines Unterstützungstarifs; liegt sie nicht vor, so stellt die Ermäßigung eine Diskriminierung der anderen Unternehmen dar. Diese Feststellung geht, wohlgemerkt, von dem Gedanken aus, daß der „normale“ Tarif der Grundtarif ist, von dem wir annehmen, daß er richtig errechnet und im Hinblick auf eine wirtschaftlich gesunde Betriebsweise des betreffenden Verkehrsträgers ausreichend differenziert ist.
Dies ist vielleicht im Augenblick nicht der Fall, aber die Hohe Behörde ist nicht befugt, darüber zu befinden; sie kann, wie ich bereits sagte, gegenwärtig nur die Tarifordnung in ihrer bestehenden Form zugrunde legen.
Wenn man annimmt, daß die Notwendigkeit eines Ausnahmetarifs für ein Unternehmen erwiesen ist, so sind noch die Gründe zu ermitteln, die die Aufrechterhaltung des Verkehrs mit Hilfe des Unterstützungstarifs rechtfertigen können.
Die in den vorliegenden Rechtssachen geltend gemachten Gründe gehen, wie Sie wissen, hauptsächlich von regional-wirtschaftlichen Erwägungen aus, die Ihnen in überreichem Maße vorgetragen worden sind. Diese Erwägungen sind zweifacher Natur. Die einen beruhen auf den ständigen Gegebenheiten der Regionalwirtschaft. Diese verlange die Aufrechterhaltung der augenblicklichen industriellen Standortverteilung, die nur mit Hilfe einer ganzen Reihe von Maßnahmen erreicht werden könne, von denen die Unterstützungstarife zu den wichtigsten gehörten. Die anderen Erwägungen hängen mit den gegenwärtigen politischen Verhältnissen zusammen; sie gehen aus von den wirtschaftlichen Auswirkungen, die die Zonenteilung auf die Betriebsbedingungen der in unmittelbarer Nähe der Zonengrenze gelegenen Unternehmen hat.
Für den letzteren Fall kann es nach meiner Ansicht keine Zweifel über den einzuschlagenden Weg geben; auch die Parteien sind sich darüber einig. Zweifellos rechtfertigen die Auswirkungen der Zonenteilung auf die Betriebsbedingungen der Unternehmen (Verlust ihrer natürlichen Rohstoffquellen oder ihrer normalen Absatzgebiete) gegebenenfalls die Gewährung eines Unterstützungstarifs. Hier spielen nicht nur soziale Erwägungen, welche die Hohe Behörde zu berücksichtigen hat, und menschliche oder gar nationale Erwägungen, die sie nicht außer acht lassen darf, eine berechtigte Rolle. Auch im wirtschaftlichen Interesse der Verkehrsträger (auf das ich immer wieder zurückkomme) sind die zur Aufrechterhaltung des Verkehrs erforderlichen tariflichen Opfer durch den außergewöhnlichen und vermutlich vorübergehenden Charakter dieser Verhältnisse gerechtfertigt.
Sehr viel heikler ist die Lage im ersten Fall, bei dem es sich um Regionalpolitik im eigentlichen Sinne handelt; wenn sie uneingeschränkt Berücksichtigung finden müßte, hätte der Gerichtshof zu einer der schwierigsten und in der Lehre umstrittensten wirtschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen.
Die Wirtschaftler waren lange Zeit hindurch geneigt, die Regionalpolitik, eine Quelle mehr oder weniger künstlicher Eingriffsmittel, als im Widerspruch zu den Wirtschaftsgesetzen stehend anzusehen und anzunehmen, daß sie die aus dem natürlichen freien Spiel dieser Gesetze zu erwartenden nützlichen Ergebnisse verhindere. Der Staat konnte nach ihrer Ansicht allenfalls eingreifen, um allzu heftige Auswirkungen dieses natürlichen Spiels auf die bedrohten Gegenden zu mildern und hauptsächlich im sozialen Interesse für die erforderlichen Übergangslösungen zu sorgen.
Heute aber sind viele Wirtschaftler nicht mehr dieser Ansicht, sondern suchen zu beweisen, daß es eine wirtschaftlich gesunde Regionalpolitik gibt, deren Entstehung oder Entwicklung aus berechtigten Gründen von der öffentlichen Hand begünstigt werden kann; auf diese Weise wollen sie auch das Problem der sogenannten „unterentwickelten“ Gebiete unter Bedingungen lösen, die sowohl für das gesamte Land als auch für das betreffende Gebiet zuträglich sind ( 2 ). Aber natürlich müssen hierfür gewisse Voraussetzungen gegeben sein. Insbesondere muß es in dem betreffenden Gebiet, und sei es auch nur potentiell, eine Reihe von Rohstoffquellen und Absatzmärkten geben, die eine rationelle wirtschaftliche Entwicklung zu fördern vermögen, z. B.: Bisher noch schlecht ausgenutzte Energiequellen, in deren Umgebung auf Grund ausreichender (bereits bestehender) oder verhältnismäßig leicht zu schaffender Verbindungsmöglichkeiten sowie auf Grund ausreichender Arbeitskräfte usw… die Entwicklung von Industrien vorgesehen werden kann. In diesem Fall dient die dem Gebiet gewährte Unterstützung vor allem als Starthilfe, etwa durch Begünstigung von Investitionen bei den Grundindustrien, um die herum sich neue Produktionsstätten bilden können oder durch Erleichterungen für die Umstellung bestehender Industriebetriebe: Wasserkraftwerke, Erdölraffinerien in der Nähe eines Hafens usw… Hierbei muß vor allem das vermieden werden, was man schematische Aufschlüsselung in zahllose Teile — „pointillisme“ — nennt, d. h. die Ausstreuung der Unterstützungsgelder in willkürlicher Gleichmäßigkeit, die in dem Bestreben, alle zufrieden zu stellen, schließlich nur zu einer Vergeudung der vorhandenen Mittel führt. Mit anderen Worten, es müssen auch im regionalen Rahmen die wirtschaftlichen Gesetze bei den erforderlichen Umgruppierungen und Produktionsverlagerungen maßgebend sein; ferner sind alle Maßnahmen als zeitlich begrenzt anzusehen, da die Unterstützung fortfallen soll, sobald in dem betreffenden Gebiet die natürlichen Voraussetzungen für eine normale wirtschaftliche Entwicklung erreicht sind.
So stellt sich, wenn ich sie richtig verstanden habe, die moderne Theorie der wirtschaftlichen Regionalpolitik in allgemeinverständlicher Sprache dar.
Man könnte und sollte zweifellos auch noch von einer anderen Überlegung ausgehen, die sich übrigens an die erste anschließt, nämlich von der industriellen Dezentralisierung, die eines der größten Probleme für unsere westlichen Länder bildet. Auch da haben die Wirtschaftler ihre eigenen Vorstellungen, insbesondere die, daß es auch vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus Grenzen für die Vorteile einer geographischen Zusammenfassung gibt. Denn nach Erreichung eines gewissen Sättigungsgrades sind die Unternehmen nicht mehr daran interessiert, ihre Anlagen in unmittelbarer Nähe der großen Produktionszentren zu errichten.
Meine Herren, wenn man sich zu der Frage äußern müßte, ob die von der Bundesregierung und den Ländern durchgeführten Maßnahmen zum Schutze bestimmter Gebiete tatsächlich den orthodoxen Charakter haben, dessen Hauptwesenszüge ich Ihnen soeben ins Gedächtnis gerufen habe, so dürften ernste Zweifel erlaubt sein. Denn in dem Schreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft vom 28. Februar 1957 (S. 17 des bereits zitierten Dokuments) finden wir folgende Stelle: „Das Sieg-Lahn-Dill-Gebiet ist wegen seiner ungünstigen geographischen Verhältnisse einer wirtschaftlichen Erschließung nur relativ schwer zugänglich“. Auch in dem Vermerk über die Sitzung, die am 11. und 12. März 1957 in Luxemburg stattgefunden hat (in dem bereits zitierten Dokument S. 5), können wir über die Unterstützungstarife für das Sieg-Lahn-Dill-Gebiet lesen: „Auf die Anfrage der Vertreter der Hohen Behörde, zu welchem Zweck die verschiedenen erwähnten Hilfsmaßnahmen gewährt würden, ob es sich um Anpassungsmaßnahmen im Rahmen eines Gesamtplanes der Regierung zur Entwicklung dieses Gebietes oder um Dauermaßnahmen handele, entgegnen die deutschen Vertreter, daß dieses Gebiet nicht unterentwickelt, aber infolge seiner besonders gearteten Wirtschaftsstruktur außerordentlich krisenanfällig sei. Die Bundesregierung strebe an, das Gebiet durch gelenkte Maßnahmen mit der Zeit krisenfest zu machen.“
Aber ich glaube nicht, meine Herren, daß die Hohe Behörde diese verschiedenen Erwägungen anstellen muß. Wenn sie es täte, würde sie nämlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten eingreifen, die sowohl Herr ihrer allgemeinen (und regionalen) Wirtschaftspolitik als auch ihrer Verkehrspolitik geblieben sind, soweit die Erfordernisse einer Vereinheitlichung der Tarife dem nicht entgegenstehen. Man kann jedenfalls nicht zulassen, daß die Hohe Behörde über Fragen von solcher Tragweite bei der Ausübung einer Genehmigungsbefugnis urteilen darf, wie sie ihr nach Artikel 70 Absatz 4 im Falle der Ausnahmetarife zusteht. Fragen dieser Art können höchstens im Rahmen der Harmonisierung behandelt werden; einstweilen jedoch muß die Anwendung von Artikel 70 Absatz 4, wie ich bereits wiederholt betont habe, im Hinblick auf die gegenwärtige Lage auf dem Gebiet des Verkehrs und erst recht im Hinblick auf die gegenwärtige Lage auf dem Gebiet der allgemeinen Wirtschaftspolitik erfolgen.
Somit verbietet sich von selbst jede Heranziehung der Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und sei es auch nur im Wege der Analogie. Eine solche gegenseitige Annäherung der Verträge ist in Artikel 232 dieses Vertrages allerdings nicht untersagt. Sie ist im Gegenteil nach meiner Auffassung immer dann erwünscht, wenn die unterschiedlichen Vorschriften der beiden Verträge dem nicht entgegenstehen. Aber gerade im vorliegenden Fall besteht ein solcher Gegensatz: Er ergibt sich im wesentlichen aus dem unterschiedlichen Zweck der beiden Verträge, von denen einer nur eine Teilintegration herbeiführen sollte, während der andere auf eine nicht so tiefgreifende, aber ganz erheblich umfassendere Integration gerichtet ist, die zum großen Teil auf der fortschreitenden Entwicklung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik einschließlich des Verkehrswesens beruht. Gerade diese Faktoren aber sind für die Anwendung von Artikel 70 Absatz 4 nicht gegeben. Im übrigen ist zu bemerken, daß nach Artikel 80 des EWG-Vertrages das Verbot von Unterstützungstarifen ohne besondere Genehmigung der Kommission erst vom Beginn der zweiten Stufe, d. h. frühestens vom Beginn des vierten Jahres nach Inkrafttreten des Vertrages, an gilt.
Die Hohe Behörde kann also nach meiner Ansicht bei der Anwendung von Artikel 70 Absatz 4 nicht darüber urteilen, ob die erwähnte Regionalpolitik wirtschaftlich gesund ist. Sie darf diese Politik aber auch nicht außer acht lassen. Sie muß sie in ihrer bestehenden Form als eine Tatsache hinnehmen. Die Hohe Behörde hat dann folgende Frage zu prüfen: Kann erwartet werden, daß bei Aufrechterhaltung eines Ausnahmetarifs, der — wie angenommen werden soll — notwendig ist, um die Stillegung oder die Umstellung eines Unternehmens und damit einen Verkehrsverlust zu vermeiden, das betreffende Unternehmen nach einer angemessenen Frist in der Lage sein wird, den allgemeinen Tarif zu zahlen, und zwar auf Grund der für die fortschreitende Entwicklung des Wirtschaftslebens des betreffenden Gebietes vorhersehbaren maßgeblichen Faktoren, zu denen unter Umständen auch die zu erwartende Auswirkung anderer Unterstützungsmaßnahmen zu rechnen ist, die dem betreffenden Gebiet, vielleicht zu Unrecht, vermutlich aber für die Dauer gewährt werden? Auf diese Weise bleibt die Hohe Behörde im Bereich ihrer Zuständigkeit, wenn sie sich darauf beschränkt, die Frage lediglich vom Verkehrsstandpunkt aus zu prüfen. Auf der anderen Seite gibt es von diesem Standpunkt aus gesehen weder eine unzulässige Diskriminierung noch eine verbotene Subvention.
Eine Diskriminierung hinsichtlich des Verkehrs kann gegenüber anderen Unternehmen des gemeinsamen Marktes schon deshalb nicht gegeben sein, weil der Ausnahmetarif — wie angenommen werden soll — vom Standpunkt des Verkehrs aus gerechtfertigt ist. Man kann sich außerdem immer ein anderes Unternehmen vorstellen, das sich in dieser Hinsicht genau in der gleichen Lage befindet und dem daher aus den gleichen Gründen natürlich auch der gleiche Tarif zugestanden werden müßte. Es handelt sich also lediglich um eine Einengung des Anwendungsbereichs der Vorschrift über die Nichtdiskriminierung, eine Erscheinung, die immer dann auftritt, wenn interventionistische Maßnahmen getroffen werden. Der Gerichtshof der EGKS hat in den Schrottprozessen aus Anlaß der Entscheidung Nr. 2/57 bereits entsprechende .schlüssige Erfahrungen gemacht.
Auch eine verbotene Subventionierung kann nicht vorliegen, da der Verkehrsträger nur ein zeitlich begrenztes Opfer bringt, das verhindern soll, daß ein für seinen Betrieb — wie angenommen werden soll — bedeutender Verkehrsverlust entsteht. Die Lage scheint mir in etwa der eines Industriellen oder eines Kaufmanns zu entsprechen, der es auf sich nimmt, eine Zeitlang unter seinem Gestehungspreis zu verkaufen, um einen vorübergehend in Schwierigkeiten geratenen wichtigen Kunden nicht zu verlieren.
Auf diese Weise werden die „Grundsätze“ des Vertrages beachtet, da der „Ausnahmetarif im Binnenverkehr“ mit ihnen im „Einklang“ steht, um die Worte von Artikel 70, Absatz 4 zu wiederholen. Dies führt zu einer Auslegung, von der ich nicht behaupten möchte, daß sie jede Kritik ausschließt — ich bin weit davon entfernt —, die aber nach meiner Ansicht zumindest den Vorteil bietet, dem Artikel 70 Absatz 4 einen Sinn zu geben und ihn in einen Sachzusammenhang zu bringen, der mit den Grundlinien des Vertrages ganz deutlich übereinstimmt; insbesondere erhält Artikel 70 Absatz 4 nach dieser Auslegung den Charakter einer Abschwächungsmaßnahme auf dem Spezialgebiet des Verkehrswesens, ähnlich den Abschwächungsmaßnahmen auf anderen Gebieten, z. B. bei den Preisen, und nicht den einer Ausnahme, was dem Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung widerprechen würde.
Wie Sie sehen, trägt dieses System in weiterem Umfang zu einer Annäherung der Bestimmungen von Artikel 70 Absatz 4 an die des § 10 Absatz 7 bei, insofern als bei beiden der zeitlich begrenzte Charakter der vorgesehenen Maßnahmen betont wird. Die Befristung, welche die Hohe Behörde nach Ende der Übergangszeit für die Genehmigung zur Einführung eines Unterstützungstarifs auf Grund von Artikel 70 Absatz 4 vorsehen kann, ist vielleicht nicht von längerer Dauer — unter Umständen ist sie sogar kürzer — als die Frist, die sie auf Grund von § 10 für die Beseitigung der bestehenden Tarife zu setzen hat. Aber der Hauptunterschied liegt in den Gründen, welche die Maßnahme rechtfertigen. Im Fall des Artikels 70 Absatz 4 steht die beschränkte Geltungsdauer des Tarifs mit den Grundsätzen des gemeinsamen Marktes in Einklang und wird als notwendig angesehen für das ordnungsgemäße Funktionieren des Marktes. Im Fall des § 10 Absatz 7 dagegen fordern dieselben Grundsätze eine Beseitigung des Tarifs, wobei hier die Frist vor allem in Erwägungen sozialer Art ihre Rechtfertigung findet. Daher ist im ersten Fall eine Befristung möglich, während sie im zweiten Fall zwingend vorgeschrieben ist, weil erforderlichenfalls Anpassungsbeihilfen zu gewähren sind.
Was allerdings den letzten Punkt angeht — es wurde nicht versäumt, darauf hinzuweisen — so stehen die Vorschriften des § 23 kurz vor ihrem Außerkrafttreten. Das ist jedoch ein Problem, welches auf die verspätete Anwendung von § 10 Absatz 7 zurückzuführen ist. Hierfür ist sowohl die Hohe Behörde verantwortlich, weil sie mit dem Erlaß ihrer Entscheidungen bis zum letzten Tag der Übergangszeit gewartet hat, als auch die Bundesregierung, die es unterlassen hat, diese Entscheidungen auszuführen; auf diese Weise hat sie bisher nicht gestattet, daß mit der Verwirklichung des in den Entscheidungen vorgesehenen Planes zur Beseitigung der Tarife begonnen wird und damit den Unternehmen, die unter Umständen die Leidtragenden dieser Maßnahmen sein werden, die Möglichkeit genommen, rechtzeitig um den Schutz des § 23 zu ersuchen. Wie dem auch sei, es ist mir nicht klar, wie nach rechtlichen Gesichtspunkten aus dieser Sachlage für die Klägerinnen ein Recht auf Beibehaltung der Ausnahmetarife hergeleitet werden kann.
III. — ANWENDUNG AUF DEN VORLIEGENDEN FALL
Es ist nunmehr zu untersuchen, ob die angefochtenen Entscheidungen unter Berücksichtigung der von mir vorgeschlagenen Auslegung rechtmäßig sind. Ich werde mich hierbei sehr kurz fassen und nacheinander die folgenden Fälle prüfen: 1.) die in der Kohlen-Entscheidung bezeichneten Tarife mit Ausnahme von Abschnitt B, der den AT 6 B 31 betrifft, und von Abschnitt C Ziffer 2, der den AT 6 B 33 und den Schiff fahrtsabgabentarif für den Mittellandkanal betrifft; 2.) die in der Eisenerz-Entscheidung bezeichneten Tarife; 3.) den Sonderfall des AT 6 B 31; 4.) den Sonderfall des AT 6 B 33 und des Schiffahrtsabgabentarifs für den Mittellandkanal.
1. |
Kohlentarife. - Es handelt sich um den AT 6 B 30 (Frachtsatzzeiger 1), der in Abschnitt A der Kohlen-Entscheidung behandelt wird. Dieser Tarif findet Anwendung bei der Beförderung mineralischer Brennstoffe von den Ausgangsbahnhöfen des rheinischen Kohlenreviers, des westdeutschen Braunkohlenreviers, des Aachener Reviers und des Ruhrreviers nach verschiedenen Bestimmungsbahnhöfen des Sieg-Lahn-Dill-Gebiets.
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2. |
Eisenerztarife. -Auch hier wurde der potentielle Wettbewerb, der im Hinblick auf die geplante Kanalisierung der Lahn geltend gemacht wurde, nicht als erwiesen angesehen, was auch nicht ernstlich bestritten worden ist. Darüber hinaus geht es bei dieser Frage um weit mehr als bei der Kohle. Es steht nämlich zu befürchten, daß gewisse Eisenerzgruben nicht in der Lage sind, die Belastung durch den normalen Tarif zu tragen; eine Stillegung dieser Erzgruben kann zu Veränderungen in den Betriebsbedingungen der Bundesbahn führen, da es sowohl zu Verkehrsumleitungen als auch zum Verlust einer bisher sicheren Rückfracht kommen kann. Schwierigkeiten verschiedener Art ergeben sich übrigens nur für die AT 7 B 3 (Abschnitt I), 7 B 26 und 7 B 35, die unter Ziffer 1, 2 und 3 der Entscheidung behandelt werden.
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3. |
AT 6 B 31. -Dies ist ein Unterstützungstarif zugunsten der Maximilianshütte und der Luitpoldhütte in der Oberpfalz für die Beförderung von Kohle. Die Hohe Behörde hat jedoch anerkannt, daß die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten, denen sich diese beiden Unternehmen infolge der Nähe der Zonengrenze gegenübersehen (Verlust eines Teils ihrer früheren natürlichen Absatzgebiete, Unterbrechung der Verbindungen mit ihren ehemaligen integrierten Werken jenseits der Zonengrenze, Zustrom von Flüchtlingen usw…) eine Tarifermäßigung erforderlich machten. Bei den Braunkohlenbriketts hat sie die gegenwärtig gewährte Ermäßigung als gerechtfertigt anerkannt und ihre Beibehaltung genehmigt. Was die Steinkohle und den Steinkohlenkoks angeht, so hat sie auf die Tatsache hingewiesen, daß den Unternehmen bereits früher „erhebliche Tarifermäßigungen“ gewährt wurden; da sie jedoch nur die auf Grund der gegenwärtigen politischen Verhältnisse neu eingetretenen Umstände berücksichtigen wollte, hat sie die gegenüber dem Grundtarif 6 B 1 zulässige Ermäßigung auf 8 % statt wie bisher auf 21 % festgesetzt. Die Klägerinnen behaupten, die Entscheidung über die Festlegung des Ermäßigungssatzes auf 8 % sei unzureichend begründet; sie bestreiten noch die Rechtmäßigkeit der Berechnung dieses Satzes. Meine Herren, ich will nicht noch einmal auf die langen Erörterungen zu dieser Frage zurückkommen. Ich möchte lediglich feststellen, daß die Hohe Behörde hier einen weiten Ermessensspielraum besaß. Sie war nämlich einerseits berechtigt, den Teil der Ermäßigung, der unabhängig vom Vorliegen neuer politischer Verhältnisse den Charakter eines Unterstützungstarifs trägt, unberücksichtigt zu lassen. Andererseits hatte sie abzuwägen, in welchem Umfang eine Unterstützung mit Hilfe einer Tarifermäßigung in Anbetracht dieser Umstände für die Aufrechterhaltung normaler Wettbewerbsbedingungen notwendig war. Sie ist bei einem Satz von 8 % stehen geblieben, nicht so sehr deshalb, weil dieser die rechnerische Differenz zwischen dem gegenwärtigen Ermäßigungssatz (21 %) und dem ehemaligen Satz (13 %) darstellt, sondern weil der Satz von 8 % in etwa der Tarifermäßigung entspricht, die in dieser Gegend für andere Kohlentransporte gewährt wird. Vorsichtshalber hat sie sogar bestimmt, daß die letzte Stufe der Tariferhöhung (4 %), die grundsätzlich am 1. Juli 1960 erfolgen soll, hinausgeschoben werden kann, falls zu diesem Zeitpunkt „nicht zu verantwortende wirtschaftliche oder soziale Störungen“ festgestellt werden sollten. All dies zeugt nach meiner Auffassung von einer Beurteilung, die „nach Abwägung aller in Betracht zu ziehenden Umstände“ erfolgt ist, wie es in der angefochtenen Entscheidung heißt. Es ist eine Beurteilung, die weder einen rechtlichen oder wesentlich tatsächlichen Irrtum noch einen Ermessensmißbrauch oder Begründungsmangel erkennen läßt. Ein besonderer Einwand ist zu der Rechtssache Nr. 17/58 in der Erwiderung erhoben worden: Er stützt sich auf die in der Entscheidung vorgenommene unterschiedliche Behandlung von Braunkohlenbriketts und Steinkohle. Diese Unterschiedlichkeit, meine Herren, ergibt sich aber aus der verschiedenen Sachlage: Im ersten Fall bleibt die Ermäßigung in vollem Umfang bestehen, weil, wie es in der Entscheidung heißt, „die beiden Unternehmen für ihre Versorgung mit Braunkohlenbriketts … auf Lieferungen aus dem Rheinland angewiesen“ sind, während sie früher ihren gesamten Bedarf an Braunkohlenbriketts aus dem Osten deckten. Die Steinkohle ist dagegen von jeher aus dem Ruhrrevier gekommen; hier handelt es sich also lediglich um die Auswirkung der neuen politischen Verhältnisse auf die Gesamtsituation der Unternehmen. |
4. |
At 6 B 33 und Tarifstelle 71 b des Schiffahrtsabgabentarifs für den Mittellandkanal. - Diese Frage betrifft die Hüttenwerke Ilsede-Peine (18/58) und die Hüttenwerke Salzgitter (25/58). Der AT 6 B 33 wird als Wettbewerbstarif gegenüber dem Verkehr auf dem Mittellandkanal betrachtet, was natürlich von den Klägerinnen, denen diese Kennzeichnung zugute kommt, nicht bestritten wird. Die Hohe Behörde hat aber die Beseitigung der Tarifstelle 71b des Schiffahrtsabgabentarifs für den Mittellandkanal angeordnet, die eine Ermäßigung für Transporte von Minden in Ost-Westrichtung zu den Eisenerzbergwerken und den Stahl- und Eisenhüttenwerken gewährt, weil es sich um einen Unterstützungstarif diskriminierender Natur handele, der nicht für eine Genehmigung im Sinne von Artikel 70 Absatz 4 in Frage komme. Es besteht kein Zweifel, daß es sich bei dieser Abgabe um einen Ausnahmetarif diskriminierender Natur handelt. Die einzige Frage, auf die eingegangen werden soll, ist die, ob die Hohe Behörde befugt ist, auf Grund von Artikel 70 über eine Schiffahrtsabgabe zu entscheiden, d. h. über eine Gebühr, deren Höhe vom Staat festgesetzt wird und die nach Ansicht der Klägerin den Charakter einer Steuer hat. Meine Herren, in den Artikeln 4 und 70 ist von „Beförderungstarifen“ die Rede. Ganz ohne Zweifel wird normalerweise der Ausdruck „Tarif“ dann gebraucht, wenn es sich um Schienen- oder Straßentransporte handelt. Ich halte es aber für sicher, daß die einschlägigen Bestimmungen des Vertrages für alle öffentlichen Beförderungsmittel gelten, d. h. für alle diejenigen, die gewerbsmäßig von einem Unternehmen oder von der öffentlichen Hand betrieben werden. Die Schiffahrtsabgaben, die für die Benutzung eines Kanals erhoben werden, sind ein Bestandteil des Beförderungspreises und damit der Produktionskosten der beförderten Güter. Ein Vergleich mit dem Tarif des konkurrierenden Verkehrsträgers (in unserem Fall der Eisenbahn) würde ein schiefes Bild ergeben, wenn man diesen Umstand nicht berücksichtigte. Die Tatsache, daß die Gebühr vom Staat in Form einer Abgabe festgesetzt wird, ist nach meiner Ansicht nicht ausschlaggebend, denn es handelt sich um eine Abgabe, die dem Preis für eine Dienstleistung entspricht, und nicht um eine Steuer. |
Ich beantrage,
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die Klage der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Rechtssache Nr. 19/58 abzuweisen und die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen; |
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die Klagen in den verbundenen Rechtssachen Nr. 3 - 18/58, 25 und 26/58 abzuweisen und die Kosten den einzelnen Klägerinnen insoweit aufzuerlegen, als sie jeweils betroffen sind; |
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die durch die Streithilfeanträge verursachten Kosten den Antragstellerinnen aufzuerlegen. |
( 1 ) Bereits zitierte Urteile: Greuter, 23. Juni 1928, Rec. S. 791; Albonico, 23. Dezember 1949, Rec. S. 572.
( 2 ) Vgl. z. B.: „Les conditions d'une politique de développement regional dans les pays du marché commun“ von Joseph Lajugie, Revue d'Economie politique, Mai-Juni 1959.